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Winterglück am Meer

Mit Leib und Seele kümmert sich Olivia Adamsen um das Familienunternehmen. Ob sie leckeren Cider aus der eigenen Kelterei ausschenkt oder die Gäste des kleinen Bed and Breakfast »Hotel Hygge« auf der dänischen Insel Mandø umsorgt, Olivia hat ihre Berufung gefunden. Darum trifft es sie völlig unvorbereitet, als sie erfährt, dass der Betrieb vor dem Aus steht. Doch der nächste Schock folgt sogleich, denn der attraktive Jesper, in dessen Nähe sie zum ersten Mal seit Langem wieder Schmetterlinge im Bauch hat, ist nach Dänemark gekommen, um den Kauf des Geschäfts voranzutreiben. Olivia ist bereit, für ihren Traum zu kämpfen. Doch bleibt die Liebe dabei auf der Strecke?


  • Erscheinungstag: 06.12.2019
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750621
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Das Auto tauchte als kleiner, roter Fleck am Horizont auf. Es waren die Vögel, die sein Ankommen als Erstes ankündigten. Wie riesige dunkle Wolken stiegen sie in den bleigrauen Himmel auf, sobald der Wagen sie aufschreckte. Alpenstrandläufer, schätzte Olivia, die unterm Dach am Fenster des Bed and Breakfast Hotel Hygge stand und hinausschaute. Akrobatisch tanzten die Vögel durch die Luft. Die hellen Bäuche, die sich fast blendend vom Novembergrau der Umgebung und den dunkelbraunen Rücken abhoben, verrieten die kleinen Zugvögel.

Wer wie Olivia auf Mandø aufgewachsen war, kannte all die großen und kleinen Geheimnisse der Insel. Die goldglänzenden Lichtstreifen waren ihr vertraut, wo die Sonne durch die Wolkendecke brach und den Meernebel zum Glühen brachte. Der Blick in die Weite, dem sich nichts entgegenstellte. Hier und da ragten kahle Weidenstämmchen aus der Wasseroberfläche, dann näher am Ufer, wo das Meer bei Ebbe zuerst den Boden freigab, wiegten sich dichte Dünengrasbüschel im Wind. Rundgewaschene Kiesel begrenzten die Straße, und wenn sich Olivia anstrengte, konnte sie fast meinen, das Knirschen der Autoreifen zu hören, das sich mit dem Pfeifen des Windes und dem Geschnatter der Zugvögel mischte, während der Wagen über den aufgeschütteten Schotter des Weges rollte.

Sie ließ die Bettdecke fallen, die sie im Begriff war, frisch zu beziehen, und rannte nach unten.

»Sie kommen«, rief sie zu niemandem im Speziellen. Sicherlich hörte sie irgendwer. Sie wollte wetten, dass Tante Hanne und Onkel Per ebenso aufgeregt auf den Besuch warteten wie sie selbst.

Welcher ihrer Cousins hatte wohl zuerst zurück auf die Insel gefunden? Oder war es ihre Cousine? Olivia hatte nicht sehen können, wer hinter dem Lenkrad des kleinen Wagens saß. Ein Mini Cooper, so viel hatte sie zumindest ausgemacht.

Mads und Joshua planten, mit dem Auto von London nach Jütland zu kommen. Theo und die Kinder reisten aus Kopenhagen natürlich auch mit dem Wagen an, aber Olivia konnte sich kaum vorstellen, dass der hippe rote Mini Cooper ihrem ältesten Cousin gehörte. Der brauchte für sich und die drei Kinder eine Familienkutsche. Dasselbe galt für ihre Cousine Jette und deren Familie. Das hieß, die ersten Besucher waren …

An der Haustür nahm sich Olivia gerade genug Zeit, um in ihre Stiefel zu schlüpfen und einen Parker überzuwerfen, und stürmte nach draußen.

Gleichzeitig mit dem Mini erreichte sie die Parkplätze vor dem Hühnerstall gegenüber dem Haus. Die fedrigen Gesellen pickten munter im schlammigen Gras, immer unter der Aufsicht der drei Ponys der Familie, deren Koppel sich direkt an den Hühnerauslauf anschloss.

Hotel Hygge, wie sich der umgebaute Bauernhof ihrer Familie seit ein paar Jahren etwas großspurig nannte, war das letzte Gebäude auf der Gezeiteninsel. Dahinter erstreckte sich nur noch das Meer. Und der Weg, der Mandø an einigen Stunden pro Tag bei Ebbe mit dem Festland verband.

Die Beifahrertür des Minis öffnete sich, oder eigentlich die Fahrertür, denn jetzt erkannte Olivia auch das britische Autokennzeichen. Ein langes, schlankes Bein schob sich ins Freie, gefolgt vom Rest des Körpers.

Noch bevor er Gelegenheit gehabt hatte, ganz auszusteigen, fiel Olivia Mads um den Hals.

Lachend taumelte ihr Cousin nach hinten. Beinahe wäre er wieder zurück ins Auto gekippt, so ungestüm begrüßte sie ihn. Aus dem Wageninneren untermalte aufgeregtes Hundegebell ihren herzlichen Empfang.

»Hehehe!«, protestierte Mads grinsend. »Lässt du uns erst mal ankommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Chance! Ich habe mich so auf euch gefreut! Wie war die Fahrt? Ich kann nicht glauben, dass ihr nicht geflogen seid. Ich hätte euch vom Flughafen abgeholt, das wäre doch selbstverständlich gewesen!«

»Eins nach dem anderen, Cousinchen, okay?« Sanft, aber energisch löste Mads Olivias Arme von seinem Nacken. Aus dem Augenwinkel bemerkte Olivia, wie nun auch auf der rechten Autoseite die Tür aufging. »Lass mich erst mal Joshua mit den Prinzessinnen helfen, die drehen sonst noch durch.«

Mit den Prinzessinnen waren die beiden Hunde von Mads und seinem Mann Joshua gemeint. Die Vierbeiner waren verwöhnt wie königliche Hoheiten, das wusste Olivia von vorherigen Besuchen. Die Zeit, die Mads und Joshua brauchten, um die beiden Royals aus den Reiseboxen zu holen, gab Olivia die Möglichkeit, ihren Lieblingscousin in aller Ruhe zu betrachten. Er hatte sich kaum verändert, seit sie ihn das letzte Mal getroffen hatte. Das war im Sommer gewesen, bei seiner und Joshuas Hochzeit in London. Wie die meisten Mitglieder der Familie Adamsen, war Mads schlank, groß und hatte schmale Schultern. Was ihn definitiv von allen anderen Familienmitgliedern unterschied, waren seine ausgefallenen Outfits. Heute trug er eine knallenge schwarze Jeans, ein körperbetontes schwarzes Hemd mit Stehkragen, der durch mehrere dünne Silberketten betont wurde, und einen schwarzen Hut. Nur die schweren Stiefel passten auf die Insel, zumindest wenn er sie zugebunden hätte. Sein schillernder Auftritt überraschte Olivia nicht. Sie kannte Mads ihr Leben lang, und er hatte schon immer einen ganz eigenen Kleidungsstil gehabt. Die einzige Überraschung waren die Haare, die ihm in einem dichten Pony unter dem Hut in die Stirn ragten.

»Lila? Echt jetzt?« Sie musste lachen.

»Klar.« Mads, der nun seine Hündin Baby auf dem Arm trug, richtete sich wieder auf. »Immer mal was Neues. Gefällt es dir nicht?«

»Also, ich fand das Neongrün auch nicht schlecht …«

»Oder das Pink«, erklang eine weitere Stimme. Sie gehörte zu Joshua, der mit einem starken englischen Akzent sprach. Der Brite war soeben hinter Mads aufgetaucht und hielt die zweite Hündin Posh im Arm. Umständlich streckte er seinen langen Körper. Dass Joshua extra für Mads Dänisch gelernt hatte, fand Olivia jedes Mal wieder hinreißend. Klar, seine Aussprache war noch nicht perfekt und ab und zu schlichen sich ein paar grammatikalische Fehler ein. Allerdings verstand er alles und bemühte sich. Das allein zeigte, wie verliebt er in Olivias Cousin war.

»Egal mit welcher Haarfarbe, du bist immer mein Darling.« Mit der freien Hand hob Joshua Mads’ Hut an und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. Mads verdrehte die Augen, doch sein Lächeln verriet, wie sehr er die Aufmerksamkeit seines Ehemanns genoss.

»Hej, ihr zwei! Hat hier mal wer Mitleid mit den Dauersingles unter uns? Von euch bekommt man noch Typ II Diabetes, so süß seid ihr zueinander!« Breit grinsend öffnete Olivia den Kofferraum des Minis, um den beiden Neuankömmlingen mit dem Gepäck zu helfen. Dass sie so ein paar Sekunden lang ihr Gesicht verborgen konnte, passte ihr sehr gut. Mads und Joshua mussten nicht sehen, dass in ihrem Scherz ein Funken Wahrheit steckte. Sie gönnte den beiden ihr Liebesglück. Von ganzem Herzen sogar. Aber es erfüllte sie gleichzeitig mit Wehmut, was allerdings ihr Problem war und nicht das von Mads und Joshua. Es war einfach so, dass auch sie gerne hätte, was diese beiden hatten. Aber Amor meinte es nicht gut mit ihr.

»Lasst uns mal reingehen. Deine Mor hat euch mittlerweile sicher schon bemerkt und wartet mit einer Tasse Tee auf uns. Und nicht, dass eine Böe deinen Hut noch wegweht.«

Hintereinander stapften sie die wenigen Schritte vom Parkplatz zum Haus. Das niedrige Holztor, das in den Innenhof des traditionellen Vierkanthofs führte, knarrte leicht beim Öffnen.

Über die Schulter schaute sich Olivia nach den beiden Männern um, nachdem das Tor selbstschließend zugefallen war. »Ihr könnt die Hunde einfach laufen lassen. Aus dem Hof können sie nicht entwischen, und sicher freuen die beiden sich, wenn sie sich nach der Autofahrt ein wenig austoben können.«

Gesagt, getan. Sekunden später hetzten die beiden Winzlinge über das Gelände. Wie die Mähne bei einem Pony in Miniaturformat wehte Poshs Haarschopf dabei im Wind. Ihr kleiner Körper steckte in einem schicken, Strass besetzten Mäntelchen – sicherlich eine von Mads Kreationen. Den Mantel brauchte sie auch, denn außer am Kopf und am Schwanz hatte sie kein Fell. Als Olivia Posh das erste Mal gesehen hatte, dachte sie, die arme Kreatur sei krank. Bis Mads sie voller Entsetzen darüber informiert hatte, dass Posh nicht krank, sondern eine Chinese Crested sei. Eine uralte asiatische Hunderasse, die vor Jahrhunderten ursprünglich von Mönchen gezüchtet worden war. Im Vergleich dazu war die Havaneserhündin Baby mit ihrem dichten, cremefarbenen Lockenfell und dem kompakten Körper geradezu kernig.

Wie ausgelassene Kaninchenbabys jagten die Hunde durch den Innenhof. Dann entdeckte Posh die Papageien und stellte sich interessiert an dem Gitter auf. Der Ara gab einen verärgerten Laut von sich, und Posh zog das Köpfchen ein und trat den Rückzug an. Sie schnupperte an der Feuerschale, ein riesiges Gebilde aus angelaufenem Eisen, markierte einige Blumenkübel und beäugte die Sitzgarnitur, die jetzt im Winter so gut wie nie benutzt wurde.

Unterdessen hatte Baby ein Tau gefunden, das sie inbrünstig hin und her schleuderte. Die kleine Weißwuschelhündin war so vertieft in ihr Spiel, dass Olivia um ein Haar über sie gestolpert wäre, als sie ihr direkt vor die Füße purzelte. Mit einem großen Schritt rettete sich Olivia zum Eingang und öffnete die Tür.

Auf Mandø wurden Haustüren nicht abgeschlossen. Auch die in den Flügel des Hofes nicht, in dem sich die Privatwohnung von Hanne und Per befand und wo Olivia in einem Einliegerappartement unterm Dach lebte. In einem weiteren Seitentrakt des Gebäudes waren die Ferienwohnungen untergebracht, während der letzte eine Scheune und einen sogenannten Gildesal beherbergte. Einen Raum, der eigentlich für Veranstaltungen und gesellschaftliche Zusammenkünfte gedacht war, ihrer Familie seit Jahren aber nur noch als Abstell- und Rumpelkammer diente.

Olivia ging hinein, stellte den Koffer in die Garderobe und streifte sich Parka und Schuhe ab.

Wie vermutet, tönte aus Richtung der Küche das Zischen des Wasserkessels. Der Duft nach frisch Gebackenem und Zimt lag in der Luft, der Duft von Zuhause. Zur Feier des Tages machte Hanne ihr berühmtes Wienerbrød. Sofort lief Olivia das Wasser im Mund zusammen.

Sie musste schlucken, ehe sie sprechen konnte. »Hanne, schau mal, wen der Wind dir in die Küche weht!«

Ihre Tante sah auf, und Olivia nutzte die Gelegenheit, sich ein Gebäckstück vom Kuchengitter zu klauen.

Hanne hatte die Blätterteigköstlichkeit in drei verschiedenen Sorten gebacken. Mit Apfelstückchen und Mandeln in der Mitte, wie es Mads am liebsten aß, in Schneckenform mit einer knusprigen Zimtfüllung für Theo und mit Pflaumenmus für Jette. Olivia selbst war eigentlich egal, welche Sorte sie in die Finger bekam. Sie mochte jede. Selbst gegen die klebrigen Finger hatte sie nichts. Die gehörten zu Wienerbrød dazu, und nie schmeckte der Zuckerguss, mit dem die Naschereien überstrichen wurden, so gut, wie wenn man ihn sich direkt von den Fingerspitzen leckte.

Bis Hanne, Mads und Joshua mit der Begrüßung fertig waren, hatte Olivia ihr Teilchen schon zur Hälfte verspeist. Der Blätterteig war immer noch leicht warm und zerging buttrig auf der Zunge. Die Äpfel der Füllung waren wunderbar sämig, mit genau dem richtigen Biss, um nicht matschig zu schmecken. Olivia unterdrückte ein wohliges Stöhnen. Hanne war eine begnadete Bäckerin.

Als Hanne bemerkte, dass Olivia sich an den Kuchen bedient hatte, drohte ihre Tante ihr spielerisch mit dem Finger. »Hatten wir nicht gesagt, wir essen die zusammen? Mads, Joshua, wollt ihr euch setzen? Joshua, du trinkst deinen Tee mit Milch und Zucker, wenn ich mich richtig erinnere?«

Joshua nickte. Wie selbstverständlich machte sich Olivia daran, den Tisch zu decken.

»Kommt Onkel Per auch?«

»Nein, der musste die Ebbe nutzen, damit er noch einen Termin wahrnehmen kann. Aber sicher ist er vor der Flut zurück. Keine Chance, dass er die Ankunft von diesen beiden Verrückten«, liebevoll nickte sie Mads und Joshua zu, »Jette, Theo und den Kindern verpasst.«

Sofort fielen sie in eine angeregte Unterhaltung. Bei einer guten Tasse Tee, Wienerbrød und in der Gesellschaft von Menschen, die man liebte, flossen Worte ungehindert.

Auf ein Kratzen an der Tür hin ließ Mads die Hunde ins Haus. Wie eine Königin platzierte sich Posh zu seinen Füßen, während Baby sich mitten in der Küche zu einem Ball zusammenrollte und lautstark anfing zu schnarchen.

Hanne fragte ihren Jüngsten nach dem Leben in London und der Arbeit, woraufhin Mads sein Handy zückte und Bilder seiner neuen Hundemodekollektion herumzeigte. In seiner Beziehung war Mads eindeutig der quirligere. Er konnte reden wie ein Wasserfall, untermalte alles mit ausgreifenden Gesten und einem dramatischen Augenaufschlag. Joshua, mit seinen mindestens eins neunzig, dem kurz geschorenen Haar und den riesigen, durchtrainierten Oberarmen wirkte dagegen wie ein sanfter Riese. Er hörte hauptsächlich zu. Sobald er meinte, niemand schaute hin, ließ er unauffällig ein Stückchen Gebäck unter den Tisch fallen. Aus dem altmodischen Radio über der Küchenzeile drang leise Musik. So leise, dass sie kaum mehr als ein Hintergrundrauschen war. Olivia lauschte gespannt, als Mads von ihren Flitterwochen erzählte. Joshua und er hatten die Hundemodeboutique im Herzen Londons in den Händen von guten Freunden gelassen und sich zwei Wochen in einem All-inclusive-Resort in Mexiko gegönnt. Begeistert erzählte er von weißen Sandstränden, Palmen und sexy Barkeepern, die die Gäste des Resorts Tag und Nacht mit außergewöhnlichen Drinks verwöhnten. Für den Kommentar mit den sexy Barkeepern erntete er von Joshua einen tadelnden Blick.

»Ach, du Spielverderber.« Theatralisch rollte Mads mit den Augen und stieß seinen Mann mit dem Ellenbogen in die Seite. »Gib zu, du hast auch hingeguckt. Der Ring an meinem Finger macht mich zu einem verheirateten Mann, aber nicht blind.«

»Stimmt«, gab Joshua zu. »Wenn das heißt, dass ich mir auch überall ungestraft Appetit holen darf …«

»Auf keinen Fall. Du gehörst nur mir, Mister.«

Sie alle lachten. Das, dachte Olivia, das war Familie. Egal, wie lange sie sich nicht mehr gesehen hatten, wann immer sie zusammenkamen, gelang es ihnen, wieder dort anzuknüpfen, wo sie zuletzt aufgehört hatten. Sie waren wie die Zugvögel, die sich jedes Jahr in der Marsch versammelten, ehe sie weiterzogen. Kein Wunder, dass die zwei Wochen im November, wenn die Touristensaison hinter ihnen lag und sich die ganze Familie zu ihrem traditionellen Vor-Weihnachtstreffen auf ihrer kleinen, ruhigen Insel traf, Olivia die liebsten im ganzen Jahr waren.

Das Telefon klingelte, und Olivia wollte sich erheben, um das Gespräch anzunehmen, aber Hanne winkte ab.

Schon im Aufstehen wischte sie sich die Hände an der Kochschürze ab, die sie immer um die Taille gebunden hatte. »Lass nur«, meinte sie. »Ich mach das schon. Ihr jungen Leute habt sicher auch was ohne mich altes Huhn zu bequatschen. Das Zimmer für den einen Gast, den wir noch erwarten, ist schon gerichtet, aber ich habe eine Ladung Wäsche in der Maschine.«

Olivia lachte. Hanne hörte sich an, als wären Mads und sie noch dieselben Teenager, die schon vor Jahren an diesem Tisch gesessen und sich nach dem Naschen von ihrem berühmten Plundergebäck die Finger abgeschleckt hatten. Innerlich seufzte sie. Das waren die Zeiten gewesen, in denen Mads, Jette und Theo auch noch auf Mandø gelebt hatten. Als Olivia nicht die letzte von ihnen gewesen war, die nicht die Flügel ausgebreitet und flügge geworden war.

Bevor die Sentimentalität sie überwältigte, drehte sich Mads so weit auf seinem Stuhl, dass er ihr direkt ins Gesicht schauen konnte.

»Aaaalso«, sagte er, die Stimme langgezogen und die perfekt gezupften Augenbrauen gehoben. »Was hat das mit dem Dauersinglesein auf sich, das du vorhin erwähnt hast? Erzähl mir bloß nicht, es gibt immer noch keinen Mann in deinem Leben.«

»Es kann schließlich nicht jeder so ein Glück in der Liebe haben wie Jette mit ihrem Ebbe oder ihr beiden Turteltauben hier. Frag Theo, der weiß, wovon ich rede.« Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, defensiv die Arme vor der Brust zu verschränken.

»Oh, sei dir sicher, meinen lieben großen Bruder frage ich auch noch nach seinen Liebeskatastrophen. Doch jetzt geht es um dich. Was ist mit diesem Kerl, von dem du letztens geschrieben hast? Diesem …« Er machte eine Bewegung mit seinem Handgelenk, als wollte er Olivia einladen, den Satz für ihn zu Ende zu führen. Den Gefallen tat sie ihm nicht.

Schließlich fiel es ihm selbst wieder ein. »Kartoffellieferanten, das war’s. Der Typ, der das Pub mit Kartoffeln und Karotten und so versorgt.«

Olivia seufzte. »Ole«, erwiderte sie. »Und nein. Daraus ist nichts geworden. Kaum war die Saison zu Ende, ist er weitergeflattert.« Sie winkte mit den Händen, als wären sie Flügel. »Zu ruhig hier, hat er mir erklärt. Er wollte sich nach einer Stelle in Kopenhagen umsehen oder wenigstens Odense oder Nyborg. Irgendwo, wo sie nicht nur vom Tourismus leben.« Das Grinsen, das sie ihm schenkte, fühlte sich gekünstelt an. Sie konnte nur hoffen, dass Mads sie nicht durchschaute. Einen halben Sommer lang hatte sie gehofft, das mit Ole könnte was Ernstes werden. »Es ist, wie es ist. Hier sind eben alle nur auf der Durchreise.«

»Und der davor? Der aus Holland. Wolltet ihr es nicht mit einer Fernbeziehung probieren?«

Olivia schnaubte. »Ja. Das hatte ich auch geglaubt. Blöd, dass die Handynummer, die er mir gegeben hat, nicht mal seine richtige gewesen ist. Seit ich seinen Rücklichtern hinterhergewunken habe, hab ich kein einziges Lebenszeichen mehr von ihm erhalten.«

»Puh«, machte Mads, und Olivia konnte ihm nur zustimmen. An fehlendem Bemühen ihrerseits lag es sicher nicht, dass keine ihrer Beziehungen länger als ein paar Wochen gedauert hatte. Doch irgendwas war immer, und eins hatten all ihre unglücklichen Liebesgeschichten gemeinsam. Am Ende zogen die Männer weiter und sie blieb allein zurück. Sie hatte es so satt.

Mads ergriff zuerst wieder das Wort. »Es muss ja nicht immer gleich die große Liebe sein«, gab er zu bedenken. »Was ist mit einem Abenteuer? Ein bisschen Spaß. Wenn du von vornherein gar keine Erwartungen an eine Beziehung hast, kannst du auch nicht enttäuscht werden.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber Sex ist gut für den Teint. Und Himmel, Olivia, du bist sechsundzwanzig, nicht sechsundneunzig. Du musst auch mal ein bisschen leben!«

»Und wo soll ich diese Abenteuer auftreiben, bitte schön?« Resignierend warf sie die Hände in die Höhe. »Auf dieser verdammten Insel wohnen dreiunddreißig Menschen, Mads, hast du das vergessen? Dreiunddreißig! Und ich kenne jeden Einzelnen davon seit meiner Geburt.«

»In der Stadt wohnen mehr.«

»Ribe, falls du das meinst, wird doch nur Stadt genannt, weil es irgendwann einmal in grauer Vorzeit immens wichtig war. Überall sonst auf der Welt wäre ein Ort mit den paar Straßen gerade mal ein Dorf. Du weißt selbst, dass in der Nachsaison hier die Bürgersteige hochgeklappt sind.«

»Und im Sommer?«

Olivia atmete laut ein. »Ich soll mich irgendeinem Touristen an den Hals werfen? Schon wieder?« Wütend strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich bitte dich, darüber sind wir hinweg, seit wir Teenager waren. Damals war es vielleicht noch cool, sich alle zwei Wochen auf einen neuen Kerl einzulassen, aber ein bisschen mehr Beständigkeit wäre schon schön. Und wir alle hier wissen nur zu gut, wie es endet, wenn man versucht, einen Ferienflirt als eine Fernbeziehung am Laufen zu halten.« Sie schüttelte den Kopf. Leiser sprach sie weiter. »Es muss nicht die große Liebe sein, da hast du schon recht. Aber zumindest so anfühlen, als ob sie es werden könnte, sollte es sich. Alles andere ist doch nur Fake.«

»Ich glaube immer noch, es ist alles nur eine Frage der Motivation.« War ja klar, dass Mads ihre Argumente beiseite wischte. Wenn ihr Lieblingscousin sich einmal was in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht mehr locker. »Du bist so überzeugt, für immer Single bleiben zu müssen, dass du dich nun gar nicht mehr richtig bemühst.«

»Mads …«

»Nein, ehrlich. Was ist mit Online-Portalen?«

»Ich suche einen Freund, keinen neuen Autoanhänger.«

»Oder mit diesen Singlepartys?«

»Die einzige Singleparty, die ich hier kenne, wird im Altenheim veranstaltet. Das sagt wohl alles.«

»Speed-Dating?«

»Wo ich mich in der ersten Stunde gegen sechs andere Frauen durchsetzen muss, damit einer der anwesenden Typen mich auswählt? So was nenne ich einen Wettbewerb, kein Date.«

Im Hintergrund schnaubte Joshua amüsiert. »Ihr solltet eine Wette draus machen.«

Mads verdrehte die Augen. »Echt jetzt? Ihr Engländer wieder. Müsst auf alles wetten.« Dann fügte er an Olivia gerichtet hinzu: »Wusstest du, dass in der Regency-Zeit die englischen Gentlemen in ihren Clubs sogar darauf gewettet haben, welcher Regentropfen am schnellsten die Scheibe hinunterrinnt?«

Sie lachte. »Nein, das ist mir neu. Aber man lernt nie aus.«

»Well«, mischte Joshua sich wieder ein, »hier geht es um mehr als Regentropfen. Immerhin steht Olivias Liebesglück auf dem Spiel. Wenn es so einfach ist, besorg du ihr doch einen Mann.«

Eine Falte erschien auf Mads Stirn. Auf einmal wirkte er sehr konzentriert. »Okay, eine Wette also.«

Olivia verkniff sich ein Lachen. Mads war so durchschaubar. Einer Herausforderung konnte er nur selten widerstehen.

»Und wie genau soll diese Wette aussehen?«, fragte sie.

»Ich wette mit dir, dass ich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein passables Date für dich finde. Wenn ich gewinne, musst du versprechen, dass du offen an die Sache herangehst und meinem Kandidaten eine Chance gibst.«

»Innerhalb von vierundzwanzig Stunden? Bist du wahnsinnig? Wie willst du so schnell hier jemanden auftreiben, mit dem wir nicht verwandt sind?«

»Das lass meine Sorge sein. Ich lebe schließlich in London, nicht auf dem Mars.« Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wedelte damit in Olivias Richtung. »Nichts geht über ein gut gefülltes Adressbuch.«

»Und wofür genau muss ich deinem Typen eine Chance geben, sobald du ihn zu mir schickst?« Misstrauen klang in Olivias Stimme.

Mads zuckte mit den Schultern. »Was auch immer. Einen Flirt, ein Abenteuer, die große Liebe. Egal, was es ist, du musst es mit ganzem Herzen machen. Keine halben Sachen, okay?«

Kurz überlegte Olivia. »Mit passabel meinst du: ungefähr in meinem Alter, ja?«

Mads nickte.

»Und ein normaler Typ. Also einer, der nicht verrückt ist und ganz passabel aussieht und alles. Kein Model oder so, aber halt einer, mit dem man sich unterhalten kann und den man sich auch ganz gerne anschaut.«

»Schätzchen, meinst du, ich würde einen Mann aussuchen, der nicht mindestens besser als passabel aussieht?«

»Auch wieder wahr.« Sie ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen. Was hatte sie zu verlieren? Und überhaupt, hatte sie nicht vorhin noch gedacht, wie sehr sie sich wünschte, was Mads und Joshua hatten? Nur Mr. Right würde nicht einfach an ihrer Tür klopfen, und wer nicht wagte, der konnte auch nicht gewinnen, richtig? Außerdem: Wie wahrscheinlich war es schon, dass Mads diese Wette gewann? Schließlich hatte sie nicht gelogen, als sie meinte, dass der Grund für ihr marodes Liebesleben nicht fehlender Wille, sondern mangelnde Gelegenheit war. Kein Mann in ihrem Leben blieb lang genug, damit sie überhaupt die Möglichkeit hatte, sich ernsthaft zu verlieben. Und aus dem Hut zaubern – ganz egal, wie hip dieser Hut auch sein mochte – konnte nicht einmal ihr Cousin den perfekten Kandidaten.

»Okay«, meinte sie schließlich. »Die Wette gilt. Von jetzt ab vierundzwanzig Stunden. Das heißt, bis morgen zehn Uhr dreißig fällt für mich ein interessanter, attraktiver, nicht zu alter, spannender Mann vom Himmel, oder du hast die Wette verloren.« Sie streckte die Hand aus, um den Deal mit Mads zu besiegeln. »Da bin ich doch mal gespannt, wie du das bewerkstelligen willst.«

»Und was muss der Verlierer machen? Keine Wette ohne den richtigen Wetteinsatz.« Joshua nahm die ganze Sache anscheinend sehr ernst.

Sie kamen nicht mehr dazu, ihre genauen Wetteinsätze zu besprechen, denn in diesem Moment kam Hanne zurück in die Küche. Um ein Haar stolperte sie über die zusammengekugelte Baby auf dem Fußboden.

»Himmel!« Im letzten Moment fand Hanne das Gleichgewicht wieder. Sie presste sich eine Hand aufs Herz. »Ich hab sie gar nicht bemerkt! Dieser Hund sieht aus wie ein Flokati.«

»Mit der Zeit gewöhnt man sich dran«, versprach Mads. »Wer war das denn am Telefon?«

»Hach, frag lieber nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Das war Stine. Die Studentin aus Esbjerg, die im Klostergården aushilft.«

»Euer Pub?«, fragte Joshua.

Hanne nickte. »Stine hat sich den Knöchel verstaucht und kann nicht arbeiten. Dabei fängt ihre Schicht schon um zwölf an. Wie soll ich so kurzfristig einen Ersatz auftreiben? Die ganzen Saisonkräfte sind doch schon längst weitergezogen.« Das stimmte. Im November öffnete das Pub in Ribe, das ein Teil des Familienbetriebs der Adamsens war, im Grunde nur für die wenigen Einheimischen.

Olivia hob die Hand. »Ich kann einspringen.«

Hanne warf einen skeptischen Blick auf die Uhr, die über dem Türsturz an der Wand hing. »Stine war von zwölf bis zur Sperrstunde eingeteilt. Wenn du für sie einspringst, kommst du nicht mehr nach Hause.« Das war das ewige Leidwesen, wenn man auf einer Gezeiteninsel lebte. Je nach Wetter und Jahreszeit konnte es passieren, dass man stunden- oder sogar tagelang vom Rest der Welt abgeschnitten war.

Olivia zuckte mit den Schultern. »Ich nehme den Traktor.« Mit dem alten Gefährt brauchte sie zwar deutlich länger, um aufs Festland zu gelangen, dafür würde ihr der hohe Radstand des Traktors die Rückfahrt auch bei deutlich höherem Wasserstand ermöglichen.

»Wenn du sicher bist …« Hanne schien nicht überzeugt. »Du hast dich doch so auf die anderen gefreut.«

»Na, Theo und Jette bleiben ja ein paar Tage. Ich werde schon Gelegenheit haben, Zeit mit ihnen und den Kindern zu verbringen. Aber irgendwer muss ja im Klostergården aushelfen.« Ohne sich auf eine weitere Diskussion einzulassen, stand Olivia auf. Wie Mads, Theo, Jette oder Olivias Onkel und seine Frau war auch das Klostergården ein Teil von Olivia. Familie, das war mehr als ein Wort für sie. Im Gegensatz zu den meisten jungen Leuten hatte sie nie an einem anderen Ort sein wollen als dort, wo ihre Familie seit Jahrhunderten hingehörte. Durch Olivias Adern floss Salzwasser und ihr Puls schlug im Takt der Gezeiten. Die kleine Stadt Ribe, die noch kleinere Insel Mandø, die winzigen Dörfer und charmanten Weiler dazwischen, das alles war ihr Zuhause, und sie konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders glücklich zu sein.

»Ach, du bist die Beste.« Mit zwei Schritten überwand Hanne die Distanz zu Olivia und schloss die Jüngere in die Arme. »Was würden wir nur ohne dich machen?«

Ungeniert grinste Olivia. »Mehr Leute für ihre Arbeit bezahlen.« Sie löste sich aus Hannes Umarmung. »Dann lass ich euch mal alleine, ihr drei. Gebt Jette, Theo und den Kindern einen Kuss von mir, wenn sie da sind.«

»Wird erledigt«, versprach Hanne.

»Und denk an unsere Wette.« Mads zwinkerte ihr zu. Wenn es auch nur für zwei Wochen war, nichts ging über das Gefühl, ihren Lieblingscousin wieder bei sich zu haben.

Die Straße endete im Nichts – und das war nicht metaphorisch gemeint. Die Warnschilder hätten Jesper darauf vorbereiten sollen. Dreisprachig wiesen sie Reisende darauf hin, dem Weg nur bei sicherer Kenntnis der Gezeiten weiter zu folgen.

Er hatte den Warnhinweis ignoriert. Himmel, natürlich hatte er gelesen, dass Mandø eine Gezeiteninsel war – die einzige Dänemarks, um genau zu sein –, aber er war der Meinung gewesen, das Ausdrucken des Gezeitenkalenders würde als Vorbereitung genügen, um ihn trockenen Fußes auf das Eiland zu bringen. Außerdem war er dem Irrglauben aufgesessen, dass er alternativ eine Fähre nehmen könnte, wenn er sein Ziel zu einer ungünstigen Zeit erreichte.

Tja, so war das, wenn man seine Reise nicht selbst akribisch plante. An einer Haltestelle im letzten Dorf hatte er ein schiefes und leicht rostiges Schild mit der Aufschrift Mandø Traktorbus gesehen, doch das war’s schon mit öffentlichen Transportmitteln. Es gab keinen Plan mit Abfahrtszeiten oder irgendeinen Hinweis, wie man sonst die Insel erreichen konnte. Einfach gar nichts. Nicht einmal einen anderen Menschen hatte er gesehen.

Er warf einen anklagenden Blick auf den Bildschirm des Navis. Als kleiner weißer Punkt wurde sein Standort mitten im Meer angezeigt. Oder da, wo eigentlich Meer sein sollte. Momentan trennten ihn noch ungefähr zehn Schritte bis zur Grenze, wo der Asphalt der Straße von einem Meter auf den nächsten unter die Wasseroberfläche führte. Als hätte Jesper den Weg nach Atlantis gefunden. Oder wahrscheinlicher ins sagenumwobene Vineta, das passte zumindest geografisch eher.

»Verdammt!« Mit einer Hand schlug er aufs Lenkrad. Ein durchdringender Hupton durchschnitt die Stille um ihn her. Irgendwo nicht weit entfernt flatterte eine Gruppe Vögel auf. Enten vielleicht, womöglich auch Gänse. Er war eine Stadtpflanze und kannte sich mit diesen ganzen Natur-Dingen nicht so sonderlich gut aus. Schnell zog er die Hand wieder vom Lenkrad. Nicht, dass er aus Versehen mit dem Lärm Killer-Wattwürmer oder – noch schlimmer – irgendeine vom Aussterben bedrohte Kleinnagerspezies aufschreckte, die sich nur im November bei absoluter Ruhe fortpflanzte. Jesper Høgh, alleiniger Verantwortlicher für die Ausrottung des Blaufuß-Sumpf-Hamsters würde dann die Anklageschrift vor Gericht heißen, und er könnte sich ein für alle Mal die Beförderung zum Partner in der Firma aus dem Kopf schlagen.

Er seufzte. Wie auch immer, hier kam er nicht weiter. Hätte ihm seine Assistentin mal lieber ein Amphibienfahrzeug bei der Autovermietung am Flughafen in Billund reserviert. Aber Manuela war eine gute Freundin von Annkathrin, seiner frisch gebackenen Ex und größten Konkurrenz bei Windfall. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie ihn mit voller Absicht in diese Sackgasse geleitet hätte. Um ihm eins auszuwischen. Gemeinsam gegen den Super-Idioten, der sein Gewissen über die Liebe stellte. Doch Manuela war nicht da, Annkathrin genauso wenig, und so musste er sich alleine durchschlagen.

Das Beste würde sein, wenn er zurück nach Ribe fuhr. Das Pub der Familie Adamsen anzusehen, stand ohnehin auf seiner To-do-Liste, und da ihn heute niemand erwartete, würde er Gelegenheit haben, die Location ganz in Ruhe unter die Lupe zu nehmen.

Er griff nach seiner Aktentasche und suchte nach dem richtigen Ausdruck in den Unterlagen.

Da, das war es. Klostergården stand auf dem Formular, und dazu die Adresse: Torvet 5 in 6760 Ribe. Zur Abwechslung schien das Schicksal es ausnahmsweise gut mit ihm zu meinen, denn das Navigationssystem akzeptierte die Adresse sofort.

Seine Glückssträhne, die eigentlich mehr ein Glücksmoment gewesen war, hörte auf, als er rund eine Viertelstunde später zum zweiten Mal an diesem Tag in einer Sackgasse landete. Diesmal endete die Straße zumindest nicht im Meer, sondern in einer Fußgängerzone. Hinter seinen Schläfen pochte es. Dieser Tag hatte schlecht begonnen, und seither ging es stetig bergab. Sein Wecker hatte bereits um halb sechs in der Früh geklingelt, weil Jesper befürchtet hatte, zu spät am Flughafen zu sein. Gegen seine stark ausgeprägte Reisekrankheit und Flugangst hatte seine Hausärztin ihm Tabletten verschrieben. Die hatte er geschluckt, während er am Gate aufs Einchecken wartete. Mit dem Erfolg, dass ihn seither bleierne Müdigkeit quälte. Doch statt den kurzen Flug zu verschlafen, hatte er das zweifelhafte Vergnügen gehabt, direkt vor einer Familie mit einem zahnenden Kleinkind und einem Teenager mit riesigen Kopfhörern auf den Ohren zu sitzen. Das Mädchen um die dreizehn Jahre hörte so laut Musik, dass Jesper es selbst über das Schreien des Kleinkindes hatte mithören müssen. Kein Mann von zweiunddreißig Jahren sollte hundert Minuten lang Hits aus einer argentinischen Disney-Serie ausgesetzt werden. Dann, nachdem die Autovermittlung am Zielflughafen seine Buchung nicht finden konnte, bot ihm der sichtlich überforderte Angestellte am Schalter als einzigen vorhandenen Ersatz einen tiefergelegten Sportwagen an. Theoretisch war das ein Upgrade, aber Jesper fühlte sich in dem zweisitzigen Porsche Carrera wie der letzte Vollidiot. Wer kam in einem tiefergelegten Sportwagen in eine Gegend, in der Schotterstraßen im Meer verschwanden? Und bestimmt war das nicht die letzte Katastrophe, die ihm heute noch bevorstand, ehe dieser Tag endlich, endlich ein Ende nahm.

Statt das Navigationssystem nach einer Parkmöglichkeit in der Nähe zu befragen, folgte er den Hinweisschildern auf den Straßen. Neben einem Spielplatz fand er einen öffentlichen Parkplatz, wo er bis zur vier Stunden sein Auto abstellen konnte – vorausgesetzt, er hatte eine Parkscheibe. Dass er nirgends im Wagen eines von diesen Plastikdrehdingern entdeckte, auf dem er seine Ankunftszeit festhalten konnte, verwunderte ihn kaum noch. Es passte einfach zu diesem Tag. Sollte er doch ein Knöllchen kriegen. Er würde die Kosten auf seine Spesenrechnung setzen und den Kampf mit Ulrich aufnehmen, der auch nach zwanzig Jahren als Geschäftsführer der Windfall Investment Group immer noch darauf bestand, jede einzelne Reisekostenabrechnung seiner Mitarbeiter eigenhändig zu überprüfen. Wenn er ehrlich war, schätzte Jesper diese Angewohnheit seines Chefs und Mentors sogar. Nur Gewissenhaftigkeit und Nachhaltigkeit führten ans Ziel. Wer mit der Zeit nachlässig wurde, hatte schon verloren.

Natürlich fing es prompt an zu regnen, kaum dass Jesper aus dem Porsche stieg. Und selbstverständlich gelang es ihm auch noch, sich in einer Stadt mit gerade einmal einer Handvoll Straßen zu verlaufen, ehe er das Klostergården fand. Zu dem Zeitpunkt, als er endlich das Pub betrat, war er so genervt, dass er kein Auge für die Schönheit des Gebäudes hatte. Alles, was er wollte, waren ein trockenes Plätzchen, ein Drink und eine Unterkunft für die Nacht. Selbst ein wackliges Zelt irgendwo in den Dünen wäre ihm lieber als eine Nacht im Carrera.

Er zog den Wollmantel aus und schaute sich nach einer Garderobe um. Was er erspähte, war ein altmodischer Holzständer direkt hinter der Tür. Die Menge an Kleidungsstücken über dem Teil ließ darauf schließen, dass das Pub zumindest nicht verwaist war. Dazu passte auch das Stimmengewirr, das aus dem Hauptgastraum drang.

Er spürte Blicke auf sich, während er versuchte, seinen Mantel irgendwie auf dem Ständer zu platzieren. Aber das Ding wackelte und schwankte gefährlich, weil es bereits zu voll beladen war. Irgendwann verlor Jesper die Geduld. Kurzerhand ignorierte er das Wanken, stopfte seinen Mantel genervt zwischen die anderen Garderobenstücke und wandte sich zur Bar.

Er kam nicht mal zwei Schritte weit, da traf ihn ein heftiger Schlag am Hinterkopf.

»Au!« Er fuhr herum. Für eine Sekunde wurde ihm schwarz vor Augen. Durch die dunklen Nebelschwaden erhaschte er gerade noch einen Blick auf den Übeltäter. Es war der verdammte Kleiderständer, der umgekippt und ihm mit einem der hölzernen Arme einen übergebraten hatte. Zu allem Übel hatte das blöde Ding bei seinem Sturz fast seine gesamte Ladung abgeworfen. Jetzt lagen mindestens zwanzig Kleidungsstücke am Fußboden.

»Verdammt!« Jesper ging in die Hocke und begann mit der Schadensbegrenzung. Leises Lachen aus Richtung der Theke und den Tischen begleitete seine ungeschickten Bemühungen. Jedes Mal, wenn er den Garderobenständer aufstellen wollte, verfing das Ding sich in einem Kleidungsstück. Bei manchen Mänteln hatte Jesper keine Ahnung, wo oben und unten war, und sobald er versuchte, einen Aufhänger zu finden, wurde er von Stoffmassen erschlagen. Wo der Ständer ihm am Kopf getroffen hatte, breitete sich ein pochender Schmerz aus. Zusätzlich erschwert wurde die ganze Operation, weil ständig seine Brille beschlug. Vom Freien in einen warmen Raum zu kommen, vor allem wenn es draußen regnete, bedeutete nichts Gutes für Brillenträger.

Jaja, dachte er, schön, dass ihr euch wenigstens amüsiert, als ein weiteres Kichern bis zu ihm durchdrang. Es war das alte Spiel. Wer den Schaden hatte, brauchte für den Spott nicht zu sorgen. Sein Magen verkrampfte sich. Kalter Schweiß sammelte sich in seinem Nacken.

Sein Kampf mit den Regen- und Wintermänteln konnte nicht länger als ein paar Sekunden dauern. Für ihn fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Seine Bewegungen wurden immer fahriger, da spürte er eine warme Hand auf dem Handrücken.

»Warte«, hörte er eine Frau freundlich auf Dänisch sagen. »Ich helfe dir.«

Er sah hoch. Von dem Punkt, wo die Fremde ihn berührte, den Arm entlang, zu ihrem Gesicht, und für die Dauer eines Atemzugs schien sein Herz auszusetzen. Nicht nur sein Herz. Alles um ihn herum schien still zu stehen. Vergessen waren die lachenden Zuschauer, vergessen waren der anstrengende Tag und die lange Reise. Vergessen waren das ganze Chaos, das er in Berlin hinter sich gelassen hatte, und der Druck, der ihm seit Wochen förmlich die Brust zerquetschte. Vergessen waren Annkathrin und ihre ständigen Vorwürfe ihm gegenüber und Ulrich, der für ihn immer so etwas wie ein Vaterersatz gewesen war und der jetzt keinen Hehl daraus machte, dass dieser Auftrag in Jütland Jespers letzte Chance war.

All das, was ihm seit Wochen den Schlaf raubte, verblasste, sowie er seine Retterin anschaute.

Die vollen, sinnlichen Lippen standen in einem seltsamen Gegensatz zu den leicht schräg stehenden Augen, die ihrem Ausdruck etwas Geheimnisvolles verliehen. Ihre Augenbrauen waren so hell, dass sie sich kaum abzeichneten. Doch das Auffälligste an ihr waren die Haare. In wilden, fast silbrig schimmernden Locken reichten sie ihr bis zur Taille. Er öffnete den Mund. Wollte etwas sagen, doch sein Hirn versagte ihm den Dienst, also schloss er ihn wieder. Von wegen, leichte Schläge auf den Hinterkopf verbessern das Denkvermögen. Ihm fiel nichts ein, was er dieser Frau sagen konnte. Gar nichts. Wobei das natürlich auch daran liegen konnte, dass der Schlag alles andere als leicht gewesen war. Er spürte jetzt schon, wo an der Stelle an seinem Schädel eine Beule wuchs. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, wie ein kleiner Junge jammernd die Wunde zu reiben. Großartig. Das war genau der erste Eindruck, den ein Mann in Gegenwart einer Frau wie ihr hinterlassen wollte. Nach dem dritten vergeblichen Versuch, eine Antwort zu finden, hatte sie Erbarmen mit ihm.

Sie lachte. »Hvordan går det?« Ihr Lachen machte es nicht besser. Es klang wie eine wunderschöne Melodie.

Er räusperte sich. »Ja … ja … jeg er okay.« Gott, er klang, als hätte er seit Jahren kein Dänisch mehr gesprochen, was genau genommen stimmte. Dennoch hatte er gehofft, dass ihm etwas Simples, wie die Antwort auf die Frage, ob bei ihm alles in Ordnung war, deutlich souveräner über die Lippen kommen würde. Er schüttelte den Kopf. So konnte das nicht weitergehen. Um seinen Händen etwas zu tun zu geben, beschäftigte er sich mit dem umgekippten Kleiderständer. Zum gefühlt zweihundertsten Mal richtete er ihn auf. Diesmal, Wunder über Wunder, blieb das Teil tatsächlich stehen.

»Endlich.« Beim zweiten Anlauf klappte es mit dem Dänisch schon viel besser. »Das muss an dir liegen. Kaum legst du Hand an, steht der Ständer wie eine Eins.«

Olivia grinste. Hatte er das wirklich gesagt? Verdammt, ja, er hatte das gesagt. Wo auch immer Mads diesen Typen aufgegabelt hatte, ihr Cousin hatte volle Arbeit geleistet. Nicht nur, dass Mads nicht einmal vierundzwanzig Stunden gebraucht hatte, er lieferte ihr das Date sogar frei Haus in die Arbeit. Und als Bonus bewies Mads einmal mehr seinen guten Männergeschmack. Nur selten gelang es Typen, Olivia direkt mit dem ersten Satz zum Lachen zu bringen. Aber wer bitte schön brachte es fertig, einen derart idiotischen Anmachspruch von sich zu geben und dabei auszusehen wie ein unglücklicher Physikprofessor? Der Gegensatz war so extrem, dass Olivia gar nicht anders konnte als zu kichern.

Dass sie die Wette gegen Mads verloren hatte, wusste sie seit der Sekunde, in der der Fremde das Klostergården betreten hatte. Schon als er in der Tür stand, nassgeregnet wie ein begossener Pudel, hatte sie ihn bemerkt. Er war süß, attraktiv und vollkommen anders als all die anderen Pubgäste. Hinter den Gläsern einer Brille mit auffälligem Horngestell funkelten helle Augen. Er trug einen Dreitagebart, der irgendwo zwischen modisch und verwegen lag. Sein verwuscheltes Haar wirkte unordentlich, doch der graue Designer-Wollmantel und die Lederschuhe sprachen eine andere Sprache. Bestimmt war er früher einer dieser Nerds gewesen, über die sich jeder lustig machte. Als erwachsener Mann blitzte in seiner Ungeschicklichkeit genau die richtige Dosis selbstironischer Humor, was ihn sympathisch wirken ließ, während seine Kleidung für beruflichen Erfolg stand. Es war ein Mann voller Widersprüche, und das faszinierte sie sofort.

Grinsend ließ sie sich auf seinen Flirt ein. Sie hob die Hände und wackelte mit den Fingern. »Magische Hände, ganz genau.«

Erst nun schien dem Fremden die Zweideutigkeit seiner Worte aufzufallen. Seine rechte Hand landete auf seinem Hinterkopf. Er strich sich durch die Haare, sichtlich verlegen und so heftig, dass er feinen Nieselregen verteilte. »Oh Gott! So habe ich das nicht gemeint. Ich, oh, Himmel, mein Dänisch ist eingerostet und … du musst denken, ich …« Er stockte.

Sie winkte ab. »Schon in Ordnung. Ich weiß, wie du es gemeint hast. Komm, wir beseitigen das Mantelchaos gemeinsam, und danach spendiere ich dir einen Drink. Zur Beruhigung.« Sie zwinkerte ihm zu.

Zu zweit ging das Aufräumen viel einfacher. Olivia mit ihren magischen Händen hielt den Ständer fest, während er ein Kleidungsstück nach dem anderen über die Bögen drapierte.

»Ich bin übrigens Olivia«, stellte sie vor sich, nachdem sie fertig waren. Mit dem Daumen deutete sie zur Bar. »Ich arbeite hier. Aber das weißt du ja sicher schon. Was willst du trinken?«

»Ich … ähm …« Erneut griff er sich an den Hinterkopf und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht? Lass mich das mal anschauen. Das war ein ziemlicher Schlag, den du da abgekriegt hast.« Sie zupfte an seinem Hemdsärmel, um ihn dazu zu bewegen, sich zu ihr herunterzubeugen, doch aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, wie an der Theke die Gäste langsam ungeduldig wurden. Mist. Im Leben nicht hätte sie damit gerechnet, dass ausgerechnet an dem Tag, als ein sympathischer, attraktiver Fremder in ihr Pub stolperte, das Klostergården nahezu voll besetzt war. Und das ganz ohne Quiznacht, Bingo oder sonst eine Veranstaltung, die sich vor allem Hanne einfallen ließ, um Besucher in das Lokal zu locken.

Sie schob ihre Finger in den Haarschopf des Fremden und erspürte sofort eine Beule. Mitfühlend schaute sie ihn an. »Ui, das wird ein ganz schönes Ei. Tut das nicht schrecklich weh?«

»Es geht schon.« Er richtete sich auf. Nur ungern zog sie ihre Finger zurück. Seine Haare fühlten sich weich an und verströmten einen herrlichen Duft. Nichts Übertriebenes. Sie rochen nicht nach irgendwelchen Blumen oder irgendwas aufgesetzt Maskulinem wie Moschus oder Sandelholz, sondern verströmten eine natürliche Note nach Seife und Salz.

»Meine Ex würde wahrscheinlich sagen, ich habe es nicht anders verdient.« Er grinste schief, und ein seltsamer Impuls regte sich in Olivia. Er hatte eine Ex. Natürlich hatte er eine Ex. Er war ein Mann in seinen Zwanzigern, schätzte Olivia, sah gut aus, und im Gegensatz zu ihr lebten die meisten Menschen ihres Alters nicht auf einem verlassenen Eiland in der Nordsee. Was hatte sie denn geglaubt? Trotzdem, etwas an dem Gedanken, dass es dort draußen eine Frau gab, die einen Grund hatte, ihm etwas Böses an den Hals zu wünschen, gefiel ihr nicht.

Ehe ihre in Aufruhr geratenen Emotionen sie dazu verleiten konnten, sich total zur Idiotin zu machen, rettete sie ein Ruf von der Theke. »Können wir bitte bestellen?«

Der erste Gast wurde ungeduldig, weil Olivia sich lieber mit ihrem Überraschungsdate beschäftigte, anstatt zu arbeiten.

Kurzentschlossen ergriff sie die Hand des Fremden. Wenn Mads diesen Mann in seinem Wunder-Adressbuch gefunden und ihr geschickt hatte, wollte sie ihn nicht mehr loslassen. Ihr Cousin hatte recht. Sie war nur einmal jung und ihre Zeit auf Erden zu begrenzt, um immer mit angezogener Handbremse zu leben. Gegen einen Flirt war nun wirklich nichts einzuwenden.

»Komm mit«, forderte sie ihn auf. »Ich such dir einen ruhigen Platz und bring dir etwas zum Kühlen für die Beule am Kopf.«

»Das …« Seine Hand zuckte, als wollte er sie zurückziehen, aber dann schlossen sich seine Finger um ihre. In ihrem Bauch flatterte ein Schwarm Schmetterlinge auf, der viel zu lang und tief geschlafen hatte.

»Das ist sehr nett.« Er grinste wieder. Es war das schönste Lächeln, das Olivia seit Langem gesehen hatte.

Sie war … süß. Und hübsch. Unerwartet. An einem Tag, der mit einer schlechten Überraschung nach der anderen aufwartete, war sie der Silberstreifen am Horizont.

Sie trug enge schwarze Jeans und dazu einen weit geschnittenen grauen Pullover, der ihre nackte rechte Schulter enthüllte. Unvermittelt fragte sich Jesper, wie es sich anfühlen würde, wenn er langsam mit dem Finger von dort zu ihrem Hals streichen würde.

»Hier sind wir.« Sie stieß eine Tür auf, die vom Gastraum in die Küche führte.

»Bist du sicher, dass das in Ordnung ist?« Er schaute sich um. Die Küche hatte definitiv schon einmal bessere Zeiten erlebt. Die Arbeitsfläche aus Alu und auch alle anderen Einbauten schienen sauber, allerdings hatte der Linoleumfußboden an mehreren Stellen Löcher, und sämtliche Möbel schienen abgenutzt. Hinter einem Gasherd mit vier Flammen stand ein fassbauchiger Koch.

Mit dem grauen Rauschebart, dem wettergegerbten Gesicht und so, wie der da hantierte, könnte er geradewegs aus einer Schiffskombüse gekommen sein.

»Hey Bent. Das hier ist …« Sie stockte.

Erst da fiel Jesper auf, dass er noch nicht einmal seinen Namen gesagt hatte. Dieser Schlag auf den Kopf musste doch heftiger gewesen sein als zuerst angenommen.

»Jesper«, half er deshalb aus. »Jesper Høgh.«

Olivia lächelte. »Schön, dich kennenzulernen, Jesper Høgh.« Mit sanfter Gewalt drückte sie ihn auf einen wackligen Stuhl, der in einer Nische zwischen der Spüle und einem Regal mit Konservendosen, Gewürzen und Geschirr stand.

»Das hier ist also Jesper«, erklärte sie dann Bent. »Er hat sich am Kopf verletzt. Kannst du ihm ein Kühlpack geben? Ich muss wieder raus. Die Gäste warten.«

»Wird gemacht, Liebes.« Mit dem Zeigefinger tippte sich der Koch an die Stirn.

»Ich bin gleich wieder da.« Diesmal galten Olivias Worte wieder Jesper. »Ich …« Sie verhaspelte sich.

Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er nicht der Einzige war, dem Verlegenheit die Zunge an den Gaumen klebte.

»Ich würde mich wirklich gerne noch länger mit dir unterhalten. Bleibst du ein bisschen?«, fragte sie.

Er hob die Schultern. »Ich habe keinen anderen Ort, an den ich gehen kann.«

Kurz wirkte es, als wollte sie nachfragen, doch dann ertönte ein ungeduldiges Glockenläuten durch die Durchreiche vom Gastraum und sie eilte aus der Küche.

Jasper sah ihr nach, bis ein amüsiertes Räuspern ihn aus seiner Trance riss.

»Sie ist ein ziemlicher Wirbelwind, was?« Bent war wieder neben ihm aufgetaucht und hielt ihm ein mit blauem Gel gefülltes Kühlpack unter die Nase.

»Danke.« Jesper griff nach dem Pack und presste es an die schmerzende Stelle am Kopf. Zunächst fühlte die Kälte sich unangenehm an. Doch schnell nahm das unangenehme Pochen ab. Kurz schloss Jesper die Augen.

»Ist eine ziemliche Schande, dass das Mädchen hier festsitzt.« Offenbar hatte Bent nicht die Absicht, zurück an die Arbeit zu gehen. »Ich meine, versteh mich nicht falsch. Keiner von uns würde unsere Olivia freiwillig hergeben. Aber für sie …« Er zuckte die Achseln, plötzlich scheinbar unsicher, ob er weitersprechen sollte. Mehr zu sich selbst als zu Jesper, fuhr er schließlich fort. »Küken müssen flügge werden, das ist die Natur. Sie können nicht ewig unter dem Flügel der Glucke bleiben. Und wer nicht von selbst das Nest verlässt, der braucht vielleicht mal einen kleinen Schubs.« Er schüttelte den Kopf. »Na, mich geht das nichts an. Außerdem habe ich zu tun. Wenn du etwas brauchst, sag einfach Bescheid.«

Jesper nickte. Aber ehe er überhaupt die Chance hatte, irgendetwas zu vermissen, kam Olivia zurück. Sie brachte ihm ein Glas mit einer kühlen rötlichen Flüssigkeit.

»Ich wusste nicht, was du trinken willst, also habe ich dir unseren Blaubeer-Cider gebracht.« Sie zwinkerte ihm zu. »Der ist unsere Spezialität. Wir mosten den selber.«

Das wusste er von den Vorbereitungen auf diesen Businesstrip.

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