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Wir zwei allein

Als Buch hier erhältlich:

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Seit dem Abbruch seines Studiums jobbt der Außenseiter Benz als Gemüsefahrer und ist damit zufrieden. Bis ihm Theres begegnet. Da schmiedet Benz plötzlich ausgefallene Pläne und unternimmt in Gedanken waghalsige Expeditionen, um ihre Liebe zu gewinnen. Schließlich gewährt sie ihm eine gemeinsame Nacht, aber danach ist sie plötzlich verschwunden. Nawrats Roman ist ein außergewöhnliches und starkes Debüt über eine Generation von Unentschlossenen, über die große Liebe und ihr manchmal atemberaubend hohes Risiko - eine vermeintlich alte Liebesgeschichte mit großer literarischer Finesse neu erzählt.
  • Erscheinungstag: 26.02.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312005291
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

© 2012 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

ISBN 978-3-312-00529-1

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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«Ich weiß nicht, ob jemals festgestellt wurde,

dass ein Hauptmerkmal des Lebens die Separatheit ist.»

 

Vladimir Nabokov, Pnin

1   Am Abend versuche ich, zu Hause zu bleiben. Doch dann schalte ich den Fernseher ein. In einer Wüstenlandschaft spricht ein General, ein Kind watet mit einer Tasche auf dem Kopf durch Wasser, eine Frau in rotem Jackett steht vor einer Börsentafel.

Ich trete unten vors Haus, es ist noch hell. Ich biege in die Guntramstraße ein, eine Ecke weiter in die Egonstraße. Durchs Fenster von Rudis Kneipe sehe ich Niko, der schon an unserem Tisch sitzt.

Meine Oma hat immer eine geladene Flinte im Haus, erzählt er kurz darauf. Wenn Hühnerdiebe auftauchen, dann rennt sie im Schlafrock über den Hof und kreischt: Ihr beschissenen Dekabristen. Niko lacht, und sein Hoho-Lachen, groß wie ganz Russland, schwappt bis zu den Schachspielern in der hintersten Ecke. Ich linse am Aquarium vorbei, aber das Tischchen an der Tellerablage ist leer. Rudi kommt und stellt zu den Riegeler Landbieren einen Teller mit Pommes. Das Einzige von seiner Speisekarte, das er manchmal springen lässt.

Hast du endlich deine Tochter angerufen?, frage ich.

Morgen, sagt er.

Als es draußen schon dunkel ist, taucht Uli auf. Er arbeitet in der Energiebranche und sitzt weit nach vorn gebeugt. Das Öl geht allmählich zur Neige, sagt er. Unsere Windräder sind die Zukunft.

Das wissen wir schon, sagt Niko.

Lass ihn doch ausreden, sage ich.

Und dann kommt endlich Theres. Sie kommt ganz leise, als ob sie nur ein Luftzug von draußen wäre. Theres erscheint, anders kann man es nicht sagen. Wie oft beobachte ich die Tür, die jetzt, im Herbst, mit Decken zugehängt ist. Ich spähe hinüber, nichts passiert. Und dann steht sie da, ich spüre es eher als es zu sehen. Theres mit ihren schmalen Schultern, mit ihrem gesenkten Blick, in ihrem zu großen Mantel steht zwischen den Kartenspielern und den Fußballzuschauern, zwischen den Studenten und den Theaterleuten, und niemand blickt auf oder hält in seinem Gespräch oder Gelächter inne. Theres mit dem grünen Schal, den sie gestrickt hat für ihre Oma, die kurz vor der Fertigstellung gestorben ist. Theres, die wie ich nächstes Jahr dreißig wird und deren Haar schon graue Strähnen hat. Theres mit ihren Ideen über eine Stadt ganz aus buntem Papier, über Gemälde, die Ängste einfangen und nie mehr entlassen und ihre Besitzer ein Leben lang beschützen vor den Stimmen in ihren Köpfen. Theres mit ihrem Lachen, das hüpft wie eine Bachstelze über Steine.

Sie setzt sich an ihren Tisch hinter dem Aquarium, und ich springe auf, umschiffe die Theaterleute, greife im Vorbeigehen nach einem Korb mit Weißbrot und stelle ihn vor Theres. Ich setze mich ihr gegenüber, und wir lächeln uns an.

Hast du schon einmal versucht, Wolle zu essen, sagt sie, und das letzte Stück in der Hand zu behalten, so dass du nach dem Klo wie eine Perle aufgefädelt bist, bereit, jemandem um den Hals gehängt zu werden?

Nein, sage ich.

Ich auch nicht, sagt sie. Sie tröpfelt einen Schluck von ihrem selbstgemachten Rhabarbersirup ins Mineralwasser. Sie reißt ein Stück Weißbrot ab und steckt es sich in den Mund. Ich auch nicht.

Theres, sage ich. Warum fahren wir nicht nach Südamerika?

Sie lächelt.

Wir könnten in den bolivianischen Anden wandern. Die ersten Tage würden wir keine Luft kriegen, wir würden Kopfschmerzen haben, wir müssten ständig aufs Klo. Wir könnten keine hundert Meter gehen, ohne eine Pause einzulegen. Aber dann würde es besser werden. Der Mate-Tee würde uns gesund machen. Wir würden Coca-Blätter kauen. Wir würden über den Titicacasee blicken, statt über den Titisee. Wir würden zuschauen, wie sich sein Blau im Lauf des Tages verändert. Wie er mittags glitzert und abends brennt. Warum kommst du nicht mit mir mit, Theres?, frage ich und will ihre Hand nehmen. Ich erzähle vom Dschungel im Amazonasbecken. Niemand wird uns dort finden. Es ist dort noch besser als hier bei Rudi, man verschwindet einfach. Wir könnten morgens rote Bananen und Mangos essen. Wir könnten uns in einem Fluss waschen. Wir könnten uns Pfeil und Bogen schnitzen und Tapire jagen. Wir könnten uns mit Schlamm einreiben gegen die Moskitos und die Sandfliegen. Wir könnten uns unter riesige Tellerblätter kauern, wenn es regnet. Was meinst du, Theres? Was sagst du dazu?

Sie lächelt. Im glänzenden Schwarz ihrer Augen sind auf einmal Geheimnisse. Ach ja, sagt sie.

Ich will ihre Hand nehmen. Ich will ihr Gesicht berühren. Theres, sage ich.

Sie senkt den Blick. Spielt mit einem Stück Weißbrot. Ich atme aus. Und lasse mich zurückfallen in den Stuhl, dessen Holzlehne hart ist.

2   Es schläft ein Tod in allen Dingen. Ich müsste ein geheimes Glücksgefühl entdecken, ich müsste einen Winkel in mir finden, in dem es so etwas gibt wie Glück. Als ich erwache, ist es noch dunkel. Ich verkrampfe unter der kalten Dusche. In den Etagen über und unter mir klopft es in den Rohren. Die Kopfschmerzen sind unerträglich. Ich verfluche Rudi, der uns nach Feierabend die Flaschen hinstellt, in denen angeblich nur noch ein Fingerbreit Zuckersatz schwimmt.

Kurz darauf sitze ich am Küchentisch, es ist zu spät, um nochmals schlafen zu gehen, zu früh, um in die Mechanik des Tages schon einzutreten. Ich bin früher wach als die Zeit selbst. Ich rauche eine Zigarette. Ich reiße Papier aus einem alten Schreibblock. Theres. Ich muss dir etwas sagen. Ich zerknülle das Blatt. Hätte ich doch ein Telefon, sage ich laut. Ich gehe ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer, zurück ins Wohnzimmer, die Dielen knarzen. Im Regal neben der Yucca-Palme die schlafenden Bücher, in denen ich früher gelesen habe. Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Krisis der europäischen Wissenschaften. Der Einzige und sein Eigentum. Unter dem Fenster zieht ein orangefarbenes Männchen eine Tonne ans Ende der Straße, wo ein Müllwagen steht und blinkt.

Ich stelle mir vor, wie Theres aufwacht. Theres braucht keinen Wecker, weil ihr Schlaf auf natürliche Weise ausklingt. Mag sein, sie träumt von einer Stille. Oder von einem Konzert, das nach dem letzten Akkord aus dem Schlaf in ihr Schlafzimmer hineinklingt und sie hinausgeleitet in den neuen Tag. Theres hört zunächst hinein in ihre Wohnung, dann auf die Straße hinaus, über die Dächer unserer Stadt hinweg, über den Marktplatz mit dem roten Münster, zum Schwarzwald hin. Oder über die Hochhaussiedlungen in die Ebene hinüber, zum Kaiserstuhl, über den Rhein, in die Vogesen. Die Töne verklingen in dem Labyrinth aus Tälern, die uns hier eingrenzen. Und dann erkennt sie die Gerüche: das Bett, das ihre Bewegungen während des Schlafs aufgestaut hat, den Rosmarin aus der Küche, den Zitronenstein aus dem Bad, den Rauch aus den Kaminen in ihrer Straße, den Geruch nach der Möglichkeit von Schnee, mit dem der Schwarzwald schon im Herbst kokettiert. All das ist für Theres sicher zuerst da. Dann erst schlägt sie die Augen auf.

3   Eigentlich könntest du in Zukunft die Bestellungen machen, sagt Ecki. Du hast doch studiert.

Lieber nicht, Ecki, sage ich.

Die Blumenkohlgehirne stapeln sich in den Kisten, der Geruch von Erbrochenem füllt die Halle aus. Zwei Kilo Kürbis für den Wächtle in Gottenheim, eine Salatkiste für den Bären in Kirchzarten. Ich lasse den Sprinter auf die Straße rollen, verlasse das Industriegebiet Haid. Das Ruckeln unter mir. Die Stadt schläft noch, die letzten Hochhäuser huschen vorbei. Dann Feldgeruch. Reihen von gelben Maissoldaten. Der Schwarzwald im Rückspiegel hüllt sich in Nebel. Ich fahre durch Waltershofen. Durch Merdingen. Hinter mir macht ein BMW Lichthupe, schert aus, schert wieder ein. Ich gehe vom Gas und nähere mich der Mittellinie. Erst hinter Ihringen donnert er hupend vorbei.

Mittags muss ich noch eine Lieferung abholen. Während der alte Holpinger die Kürbisse und den Spinat einlädt, rauche ich eine Zigarette.

Zu zweit würde es schneller gehen, keucht er.

Ich denke, ihr seid hier alle so verbunden mit der Natur und eurem Kaiserstuhl, sage ich. Wofür braucht ihr diese ganzen Glashäuser?

Man muss ja von was leben, sagt der Holpinger. Die Hosenträger seines Blaumanns hängen ihm bis zu den Knien. Auf seinen Unterarmen treten die Adern hervor.

Es kommt darauf an, sage ich.

Er hält inne, wischt sich das graue Haar aus der Stirn. Worauf kommt es an?

Man kann auch von gar nichts leben. Aber dann halt nicht so lange.

Er überlegt, nickt, fängt wieder an, die Kisten in den Sprinter zu stapeln.

Ich seufze, schnippe die Zigarette in eine Pfütze und greife nach einer der Kisten neben dem Scheunentor. Es tut mir leid, sage ich, als ich sie neben ihm auf die Ladefläche wuchte.

Was tut dir leid?

Alles eben.

Er lacht. Es gibt so Tage, sagt er.

So Tage?

Ja. Da tut einem alles leid.

4   Am Nachmittag habe ich alles in der Halle ausgeladen und die Listen für morgen fertiggemacht. Eine Kiste mit Blumenkohl und Kürbis ist übrig. Eine halbe Stunde später biege ich in Theres’ Straße ein, parke. Von meiner Wohnung aus muss man nur an Rudis Kneipe vorbei und durch den Eschholzpark, und schon ist man bei Theres. In dem Holzschuppen im Hinterhof, den Theres als Werkstatt nutzt, brennt Licht. Ich stelle die Kiste auf die Treppe und trete in den Hof, spähe durch die Scheibe. Theres sitzt auf dem Boden, sie hat eine Decke um die Schultern gelegt und hält die Augen geschlossen. Und ich kann mich plötzlich nicht rühren. Ihr Gesicht ist auf eine ganz andere Art schön, wenn sie sich von seiner Oberfläche zurückgezogen hat. Dass sie dort in der Tiefe noch irgendwo ist und schöne Dinge erlebt, davon zeugt nur eine sanfte Spannung um Stirn und Mundwinkel. Das Brummen der Stadt, ein Nieselregen setzt ein, aber ich traue mich nicht, an die Scheibe zu klopfen. Ich will schon gehen, da öffnet sie die Augen und sieht mich an. Der Atem bleibt mir weg. In diesem Moment sehe ich ein Leben mit Theres, im Elztal oder im Glottertal, auf einem Bauernhof, ein ganzes Leben. Sie lächelt, drückt sich hoch.

Ich habe versucht, mich an eine Geschichte zu erinnern, sagt sie in der Tür.

Ich trete ein. Der Geruch von Herbstwiese, um mich herum die vielen Leinwände, kaum größer als Postkarten. Es sind Miniaturen, die Theres malt. Jedes Bild ist voll von winzigen Figuren, sie leben in einer Welt aus knallgelben Dreiecken, roten Quadraten, blauen Trapezen. Auf einem Tisch stehen plastische Stücke. Ein Maschinenpark, kein Exemplar größer als ein Daumen. Eine Schaufel mit einem Giraffenkopf aus Zinn. Nach Betätigung einer Drahtkurbel schöpft sie Wasser aus einem Schälchen. Das Wasser läuft über einen Schlauch in die Mundöffnung eines Insektenkopfes aus gelbem Kunststoff, der auf eine Waage montiert ist. Der gelbe Kopf sinkt, löst eine Halterung, die eine umgebaute Star-Wars-Figur arretiert. Diese rollt gegen einen Schalter, der die Waage zurück in die Schräge schiebt. Warum ist das alles so klein?, habe ich Theres bei meinem ersten Besuch gefragt. Ich weiß nicht, sagte sie. Früher war alles groß wie eine Zimmerwand, aber es wurde immer kleiner mit der Zeit. Bald brauche ich ein Mikroskop. Und irgendwann wird es dann ganz verschwunden sein. Sie lachte.

Ich habe Blumenkohl und Kürbis dabei, sage ich jetzt.

Danke, sagt Theres. Das ist so nett von dir.

Aber Theres. Das ist doch selbstverständlich.

Danke trotzdem.

Ich blicke mich um. Theres, sage ich. Du musst das alles mal jemandem zeigen.

Ich weiß nicht, sagt sie.

Aber die Leute würden es bestimmt gerne kaufen.

Theres blickt zu Boden, sie fährt mit der Hand an der Kante ihrer Arbeitsplatte entlang. Ich will lieber nicht, sagt sie.

Wir stehen ein bisschen herum, sie lacht, dann schweigen wir. Der Geruch von Lackfarbe. Der Geruch von Herbarium. Der Geruch von Kamillentee.

Ich muss dann mal weiter, sage ich und bleibe noch ein bisschen stehen.

Theres lächelt. Okay, sagt sie.

Ich trete in den Nieselregen hinaus.

5   Ich hatte sie zuvor noch nie gesehen. Da fiel bei Rudi das Licht aus. Wir standen beide am selben Fenster und warteten, ob die Laternen wieder angehen würden. Vielleicht sind die Fernseher ja nicht betroffen, sagte sie. Kommt vermutlich auf den Stadtteil an, sagte ich. Theres, sagte sie und gab mir die Hand. Eine schlanke, warme Hand, die sich sofort wieder aus meiner löste. Eine flüchtige Hand. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, sagte sie. Worüber? Über eine alte Frau. Sie hat bestimmt Angst. Sie sieht fast nichts mehr, aber wenn auch noch der Ton ausfällt… In diesem Moment gingen die Lichter wieder an, die Studenten hinten johlten, die Musik setzte ein. Das war ja nur kurz, sagte ich. Und ich sah zum ersten Mal, wie es ist, wenn sie vor Freude erstrahlt. Wie die tropfenden Bäume, die in der plötzlich durchbrechenden Sonne aufglitzern. Wie der blaue Himmel, der sich auf einmal wieder in den Pfützen spiegelt. Ja, das war nur kurz, sagte sie. Und dann war sie schon in Bewegung. Und ich stand da und sah zu, wie sie sich an das Katzentischchen hinter dem Aquarium setzte und klein und schmal wurde. Eigentlich mit der Einrichtung von Rudis Kneipe verschmolz. Ich hatte das Tischchen nie zuvor bemerkt. Drei Monate ist das jetzt her.

6   Theres. Wir könnten uns als Wissenschaftler ausgeben, die den Mechanismus der Städte erforschen. Wir würden alles umsonst bekommen. In jedem Hotel würden wir das schönste Zimmer haben. Tarifa, Marseille, Târgu Mureş, Odessa. Ein Herzlich Willkommen wäre uns stets sicher. Du würdest dich Dr. Ekatherina Ivanowna nennen, ich wäre Dr. Igor Koljaschov. Nie würden wir am Frühstückstisch die warmen Brötchen oder den guten Kaffee loben. Die Herrschaften sind so objektiv. Ja, das stimmt, wir haben gelernt, einen Abstand einzuhalten zu den verräterischen Wohlbefindlichkeiten. Wir würden tagelang im Zug sitzen, um am Morgen die Sonne in der Donau zu sehen. Um ein weiches Ei zu essen am Schwarzen Meer. Wir würden uns zwingen, einander nicht zu berühren. Du hättest ein rotes Notizbuch. Du würdest mir deine Gedanken unter dem Tisch zuschieben, ich würde lachen. Du würdest mir einen Blick zuwerfen, und ich wüsste, dass wir gleich barfuß in den Park gehen müssen, um uns ins Gras zu legen und die Tabellen und Notizen im See zu versenken.

7   Sie hat mich etwas gefragt! Ich sitze noch eben mit Niko und Uli am Tisch, da zaubert die schwere Decke am Eingang sie endlich hervor, wirbelt sie in den Raum hinein, mit einem Regenschirm in der Hand, mit Wassertröpfchen in der Wolle des Pullovers. Sie tänzelt zwischen den Tischen und Rücken zu ihrem Tisch und sitzt schon, bevor ich die Betrachtung ihrer Bewegung abgeschlossen habe. Niko erzählt, wie er mit einem Kindheitsfreund einen Panzer in einem Waldstück bei Moskau ausgegraben hat. Und ich springe auf und bin schon bei der Tellerablage, greife nach einem Brotkörbchen.

Theres, sage ich und nehme Platz. Wurdest du heute aufgehalten?

In ihrem Gesicht Sorge. Sie streicht sich über die Oberschenkel, richtet sich auf, hebt die Schultern und wird ganz schmal, umschließt die zu langen Wollärmel mit den Fingern. Ich muss dich etwas fragen, sagt sie. Ich will es eigentlich nicht, aber ich muss.

In mir wird plötzlich etwas groß.

Theres!, rufe ich und fege beinahe das Brot vom Tisch.

Nein, sagt sie. Wirklich. Ich würde das sonst niemals fragen, aber weil du eben dieses ganze Obst und Gemüse zu den Leuten bringst oder von den Leuten abholst und ständig in Bötzingen oder Opfingen bist. Und sonst kenne ich niemanden, es gibt nur dich, es tut mir leid, es gibt nur dich.

Für einen Augenblick bin ich sprachlos ob der letzten Worte.

Theres, sage ich und fühle, dass eine Feierlichkeit meine Brust zu einem Schiffsbug macht. Alles, sage ich. Du kannst immer. Was es auch ist. Und überhaupt.

Theres schlägt den Blick nieder. Sie seufzt. Sie nippt an der rosa Schorle. So gern würde ich ihre Hände nehmen. Ihr Haar aus dem Gesicht streichen. Ihre gerötete Wange berühren.

Ach, lieber tue ich es nicht, sagt sie. Man soll zufrieden sein mit dem, was man hat. Ich bin eine dumme Nuss, wirklich. Es tut mir leid.

Theres, sage ich. Auf einmal entweicht die Luft, ich sinke in mich zusammen wie eine angestochene Hüpfburg. Na gut, sage ich. Schön, dass du noch gekommen bist. Ich sollte zurückgehen, Niko und Uli sind sicher schon beleidigt.

Ich stemme mich hoch, da sagt sie: Meine Oma hatte eine Tasse. Darauf waren ein Hase und ein Igel abgebildet. Eine Tasse ohne Henkel, sie sah aus wie eine Vase, mit Jahresringen rundherum, von den Fingern des Töpfers natürlich, aber ich habe mir als Kind eingebildet, dass die Tasse lebt und atmet und mit den Jahren wächst.

Ich sinke zurück auf meinen Stuhl und bin ganz von dem Zauberspiel gefesselt, das jetzt in ihrem Gesicht stattfindet. Wie sie kämpft. Wie ihre ölschwarzen Augen flüssig werden. Wie das liebevollste Lächeln sie mit Leben füllt.

Ich weiß ja nicht einmal, ob dieser Töpfer seinen Laden noch hat, verstehst du, sagt sie. Ob er überhaupt noch lebt. Niemand weiß es, sooft ich samstags über den Markt gehe. Wenn, dann ist er heute sehr alt.

Und du hast jetzt herausgefunden, wo er wohnt, sage ich.

Sie nickt.

Irgendwo auf dem Land.

Sie nickt.

Und ich habe den Sprinter.

Ja, sagt sie.

8   Ich hole sie ab, am Himmel nur ein zartes Licht, der Atem flieht in Wolken hinauf. Wir fahren aus der Stadt, durch Gundelfingen und sind schon in den gelben Weinfeldern. Der Geruch nach Rauch. Eine Hügelkuppe, unter einer braunen Kastanie eine Kapelle, dann sinkt die Straße in eine Mulde, mein Magen ruft: Du fällst. Theres lacht mich von der Seite an. Über uns der Himmel unendlich blau, die Sonne ist weit weg, schon auf ihrer winterlichen Wanderschaft, sie blickt sich heute vielleicht ein letztes Mal um. Die Gemüsekisten schaben in unserem Rücken über den Boden.

Ich zeig dir was, sage ich, als wir kurz vor Waldkirch sind. Ich biege in die Notbucht ein, steige aus und stemme die Schranke hoch, steige wieder ein.

Darf man das überhaupt?, fragt Theres.

Wart’s ab.

Aus dem Radio kommt die Plapperstimme einer französischen Moderatorin. Wir fahren auf den Schotterpfad, es geht steil bergab.

Eine Kuh aus Metall, sagt Theres und deutet auf einen Gülleanhänger, der einsam in der Wiese steht.

Metallkühe sind die Zukunft, sage ich.

Was hast du in deinem Studium eigentlich noch alles gelernt?, fragt Theres. Also, wenn ich studieren müsste, würde ich Archäologie studieren. Hier in der Gegend sind bestimmt eine Menge Pyramiden vergraben. Oder Burgen und mittelalterliche Dörfer. Oder Flugschiffe von Außerirdischen.

Ich hab ja abgebrochen, sage ich.

Ach so, sagt sie.

Über uns türmt sich der Schwarzwald auf. Ich kurble das Fenster herunter, man hört die Kiessteinchen von den Reifen wegspringen, der Wald ist zu riechen, und auch schon der Bach.

Meinst du, dass die Leute vor zehntausend Jahren schon so klug waren wie wir?, fragt Theres, während ich das Auto vor einem Stapel aus Baumstämmen parke.

Hältst du uns denn für klug?, frage ich.

Immerhin haben wir jetzt Internet und Metallkühe. Sie lacht. Ob man die Metallkühe über das Internet steuern kann?

Ich glaube, die haben ihren eigenen Kopf, sage ich.

Die Französin im Radio verstummt, wir steigen aus. Theres haucht Atemwolken zum Himmel hinauf, macht Dehnübungen an der Motorhaube, springt ein paarmal in die Luft.

Der Waldboden ist matschig. An einem kräftigen Baumstamm bleibe ich stehen, unter uns rauscht der Bach. Wir knien uns hin, ich deute ins Tal. Das Tipi schimmert kaum durch die Baumkronen, nur seine Spitze lugt über einem Brombeergebüsch hervor. Eine Ecke des hellen Stoffs ist umgeklappt, die Stangen ragen heraus, durch die Öffnung entweicht ein Rauchfaden.

Sind das Pfadfinder?, fragt Theres. Oder Autonome?

Indianer, sage ich.

Theres lehnt sich gegen mich. Ich spüre, wie meine Knie zu den Knien einer anderen Person werden. Ich greife nach dem Baumstamm, halte mich an den Wülsten der Borke fest.

Und so etwas siehst du ständig auf deinen Touren?, flüstert sie mir ins Ohr.

Der Luftzug an meinem Hals. Sie wankt, hält sich an meinem Arm fest. Sie haucht wieder eine Atemwolke aus. Direkt in mein Gesicht. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie sich die Dampftröpfchen auf meinen Augenlidern und meinen Wangen niederlassen. Und dass sie dort für ein paar Stunden bleiben werden. In mir ist etwas riesengroß.

Schnell, ruft sie.

Ich öffne die Augen, sie ist schon zwischen den Ästen und Baumstämmen auf dem Weg nach oben. Ich ziehe mich hoch. Mein Atem geht schwer, als ich endlich neben ihr auf den Schotterpfad stolpere. Helligkeit überall. Irgendwo über uns gibt eine Kohlmeise helle Laute von sich. Die zwei immer gleichen Töne. Mann und Frau.

9   Ganz sicher nicht, sagt der Mann im Hirschen.

Ich habe am Ortsende von Elzach geparkt, wo der Holzgeruch aus der Sägerei den Wald beherrscht. Wir haben eine alte Frau gefragt, die ihren Hof kehrte. Dann die Kassiererin im Edeka. Auf dem Dorfplatz kein Mensch, nur ein Brunnen und dessen Plätschern. Über uns der Schwarzwald dunkel und hoch. Und jetzt sitzen wir in der Stube, um uns weiße Tischtücher und zu Hütchen aufgefaltete Servietten. Der Raum leer bis auf uns drei. Der Mann hebt ein Gläschen, dreht es gegen das Licht.

Kommt ihr wegen des Rohbaus?, fragt er. Ich habe nicht vor nachzugeben. Ihr hättet den Boden untersuchen lassen sollen.

Theres holt einen Zettel aus der Tasche, auf den ein Igel und ein Hase gekritzelt sind, sie schiebt ihn über den Tisch.

Wir kommen aus der Stadt, sagt sie. Wir suchen den Töpfer.

Den Töpfer? Ihr meint wohl Alois. Das bin ich.

Das sind Sie? Theres blickt kurz zu mir. Sie sind der Töpfer hier?

Ganz sicher nicht, sagt er. Ich bin der Bürgermeister.

Ein kurzes Quietschen der Stuhlbeine, und schon steht er. Er schlurft zur Theke, drückt an einer Anlage herum. Mit einem Mal ist der Raum von Geigenmusik erfüllt, zwei weibliche Stimmen jodeln dazu. Er kommt zum Tisch zurückgeschlurft, setzt sich. Theres rutscht unruhig hin und her.

Ich habe alles verkauft, brüllt er uns zu. Drehscheibe, Ofen, Glasuren, alles.

Die Musik verstummt. Eine Frau steht am Tisch. Hermann, sagt sie. Du hast ja Besuch.

Das ist doch kein Besuch, sagt er.

Hermann. Du musst noch dein Zimmer aufräumen.

Ja, murmelt er mit gesenktem Blick. Ich weiß. Nur noch ein bisschen.

Auf der Rückfahrt schweigen wir. Die Berge um uns ziehen sich zurück, vor uns öffnet sich die Rheinebene, der Kaiserstuhl steht wie ein riesiger Nachttopf in der Landschaft, Kirchtürme tauchen auf, verschwinden wieder. Theres schaut immerzu zum Fenster hinaus. Als die ersten Stadtbebauungen an uns vorbeihuschen, kramt sie den Zettel mit dem Igel und dem Hasen raus. Sie nimmt einen Kugelschreiber von der Ablage und kritzelt Wörter auf die Rückseite.

Geht es dir gut?, frage ich.

Es geht mir gut, sagt sie. Könntest du mich am Markt rauslassen?

Aber…

Bitte, sagt sie. Es geht mir gut. Lass mich am Markt raus.

Ich halte bei der Straßenbahnhaltestelle am Martinstor. Sie steigt aus, winkt kurz, ist hinter einer Ecke verschwunden. Um mich herum hupende Autos, ein Fahrradkurier huscht vorüber, das Radio quietscht und dröhnt. Ich schalte es aus. Über den Häusern jetzt Wolken. Wann montiert Ecki endlich neue Scheibenwischer?

10   Das Leben ist so beschaffen, dass es irgendwann aufhört. Ich werde im nächsten Jahr dreißig, und es gilt, Vorbereitungen zu treffen: Besitz abstoßen, Bekanntschaften einschränken, jede Tätigkeit in Anführungsstriche setzen. Es sind die anderen, die arbeiten, erziehen, sparen. Unsereins sinkt in die Geschichte zurück wie ein Stein. Nur in der Geschichte hat unsereins Platz. Heute gibt es für unsereins nur eins: durchhalten. Sich still verhalten. Bloß nicht recht behalten. Ich bin ein Wasserträger. Einer von denen, die in der Straße wohnen, an der ein anderer mit seiner Familie vorbeifährt. Ich bin der nächtliche Um-die-Ecken-Schleicher. Ich bin der Über-die-Brücke-Geher. Ich bin das Rückgrat der Nation, das im Schrank hängt und verstaubt. Es gilt, die Gedanken an mich in allen Köpfen auszulöschen. Es gilt, in Vergessenheit zu geraten. Es gilt, einen spezifischen Neglekt für die eigene Person zu erzeugen, ein Loch in der Wahrnehmung der anderen. In wenigen Jahren wird es so sein, als hätte ich nie gelebt. Es sind die anderen, die mal gelebt haben werden.

Es ist jetzt ständig dunkel. Blätter segeln durch die Luft, der Wind ist plötzlich bitterkalt geworden. Morgens wate ich durch Träume, die Augen verklebt, im Mund Trockenheit. Der Urin treibt mich ins eiskalte Klo, danach bin ich wach. Ich trage Handschuhe, schabe an der Scheibe, der Motor dampft.

Du erinnerst dich an Ludwig, sagt Mutter. Den Sohn von Beate?

Wir sitzen im Ufercafé an der Dreisam, einer neumodischen Erscheinung der Stadt, ausgedacht von Leuten, die zu Nudeln Pasta sagen. Ich winke der Bedienung zu, bestelle noch einen Espresso.

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