×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Wo du mich findest«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Wo du mich findest« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Wo du mich findest

Als Buch hier erhältlich:

Es ist nur eine flüchtige Begegnung am Meer. Ein Kaffeefleck auf dem Hemd des Mannes, der über Sophies Hundeleine stolpert. Sie wechseln unverbindliche Worte und gehen getrennter Wege. Dennoch schleicht er sich Wochen später in ihre Träume. Nacht für Nacht. Alles an ihm erscheint ihr vertraut. Tagsüber fühlt Sophie sich verloren. Erst musste sie sich von ihrem Vater verabschieden, dann hat ihre beste Freundin sie für immer verlassen. Auch in ihrer Ehe kriselt es. Nur nachts fühlt sie sich lebendig. Der Fremde gibt ihr Halt. Sophie wünscht sich, die Frau aus ihren Träumen zu sein. Sie kehrt zurück an die Ostsee, um ihn zu suchen. Traum und Realität scheinen miteinander zu verschwimmen und die Grenzen verwischen.


  • Erscheinungstag: 23.05.2023
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002667

Leseprobe

Das Buch ist für dich

1.

Das erste Mal traf ich dich in Dahlmanns Bazar, dem Büchercafé, das immer sehr gut besucht ist. Ich hatte mir einen Kaffee zum Mitnehmen geholt, wollte gerade gehen. Plötzlich warst du da, bist über die Hundeleine gestolpert, die ich fest in der einen Hand hielt, in der anderen den Becher. Ich sehe den großen braunen Fleck auf deinem hellblauen Hemd noch vor mir und dein zaghaftes Lächeln.

»Verzeihung«, sagtest du.

Nur das eine Wort.

Dabei war ich diejenige gewesen, die nicht aufgepasst hatte.

»Es tut mir leid. Das war meine Schuld.« Ich hatte dir die heiße Flüssigkeit auf die Brust geschüttet. »Wie kann ich das wiedergutmachen?«

»Es ist nur ein Fleck, nur ein Hemd.« Du hast mir flüchtig in die Augen gesehen, eine leichte Verbeugung angedeutet und bist zur Tür hinausgegangen.

Ich schaute dir nach, den warmen Klang deiner Stimme im Ohr, untermalt mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte.

»Passen Sie gefälligst auf Ihren Hund auf!«, schimpfte eine ältere Dame und lenkte mich von dir ab.

Die Leine hielt ich nun zu lose. Lotte hatte ein paar größere Kuchenkrümel auf dem Boden entdeckt und war quer durch den Raum marschiert.

Zum zweiten Mal entschuldigte ich mich und verließ das Café mit einem halb gefüllten Becher.

Am nächsten Morgen kam ich wieder, setzte mich an einen Tisch am Fenster. In den letzten Tagen war das Wetter grau gewesen, und der Regen hatte das Kopfsteinpflaster der Straßen in eine endlose Seenlandschaft verwandelt. Heute wärmte strahlender Sonnenschein die Gemüter, auch meins. Eine Woche Rügen, lange Spaziergänge am Meer, durchatmen. Ich beobachtete die Menschen, die draußen am Laden vorbeischlenderten. Gut gelaunt, mit entspannten Gesichtern, bummelten sie durch die Sassnitzer Altstadt.

Ich folgte ihnen in Gedanken, ließ mich treiben im Strom der Besucher zwischen leuchtend weißen Bädervillen.

An diesem Tag ging es mir gut. Die Schwere der letzten Wochen hatte sich gelichtet. Ich konnte mich über die kleinen Dinge im Leben freuen. Den perfekten Milchschaum auf dem Kaffee. Den zarten Schmelz der herbsüßen Trüffelpraline, die die Bedienung an den Tisch brachte. Das Buch, das ich gerade gekauft hatte. Und der erste besondere Satz, der sofort Bilder in mir entstehen ließ, Gerüche.

Ich konnte den Wald riechen, las ich, trank Cappuccino und vergaß alles um mich herum. Auch dich.

Bis zu der Nacht, in der du mich zum ersten Mal besuchen kamst.

Wochen später

Die Sonne war bereits untergegangen, der Himmel blau, wolkenlos. Die besondere Stunde zwischen Abend und Tag, nicht mehr hell und doch noch nicht dunkel. Über dem Fluss lag ein sanfter Schimmer. Ein Frachter schob sich behäbig durch das Wasser. Auf der Wiese saßen junge Leute beisammen, tranken Wein aus Plastikbechern, lachten. Ein Liebespaar auf der Parkbank am Wegesrand, Hand in Hand.

Ich senkte den Blick. Neben mir trottete Lotte. Wir waren zu einem Spaziergang entlang der Elbe aufgebrochen. Ohne Thomas, wie so oft in den letzten Wochen. Nicht zu reden, mich nicht erklären zu müssen, verschaffte mir die Erleichterung, die ich in seiner Gesellschaft nicht fand. Ich fühlte mich erschöpft. Selbst die Dinge, die ich nicht tat, erschöpften mich.

Ich bückte mich und hob einen Stock auf, der im Gras lag. Sofort erwachte Lotte aus ihrer Lethargie, die Augen auf mein Fundstück geheftet.

Bei der Birke fiel die Böschung flach ab. Ich warf den Stock, beobachtete, wie Lotte sich durch das Wasser kämpfte. Während sie davonpreschte, dachte ich an Rügen. Den einen Tag, an dem ich geglaubt hatte, endlich wieder etwas zu fühlen. Den Rest der Welt vergessen zu können, der mich hier bei jedem Schritt verfolgte.

Die blaue Stunde war vorbei, als wir wieder zu Hause ankamen.

»Hast du sie noch mal ins Wasser gelassen?« Thomas rümpfte die Nase.

»Er hat recht, du stinkst.« Ich griff zum Handtuch, das ich für Lotte bereitgelegt hatte, rubbelte sie ab, sah ihr nach, wie sie zu ihrer Decke schlich, sich seufzend darauf niederließ.

Eine Viertelstunde später lag ich neben Thomas im Bett. Zu wach, um die Augen zu schließen, zu ermattet, um noch einmal aufzustehen und zu arbeiten. Um halb zwei sah ich das letzte Mal auf die Uhr. Dann schlief ich ein.

Durch den frostigen Apfelbaum vor meinem Fenster hat sich die Wintersonne ihren Weg in mein Arbeitszimmer gebahnt.

Die Ärmel der viel zu großen grauen Strickjacke habe ich hochgeschoben. Ich sitze im Schneidersitz auf dem alten Bürostuhl vor dem Schreibtisch. Meine Hände sind kalt, so wie die Tasse Kaffee neben dem Notebook. Ich habe mich in den Text vertieft, die Wörter tanzen vor meinen Augen.

Bis ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Ich lausche den Schritten auf den knarzenden Dielen, warte. Du kommst zu mir, legst deine Hand auf meine Schulter. Ich lege meine Hand auf deine und wache auf.

Neben mir schlief Thomas, ahnungslos, während ich verwundert der Selbstverständlichkeit und der Vertrautheit nachspürte, die ich für einen Augenblick mit dir erlebt hatte. Noch immer fühlte ich die Wärme deiner Hand auf meiner Schulter.

Mondlicht erhellte das Zimmer. Ich betrachtete meinen Mann. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht von mir abgewandt, ein Bein angewinkelt, den Kopf auf den Ellbogen gebettet, den Arm ausgestreckt. Sein Atem ging tief und gleichmäßig.

In der Ferne das Rauschen der Autobahn. Unablässig, wiederkehrend, wie die Wellen des Meeres, das mir fehlte.

Hier unter dem Dach hatte sich die unerträgliche Wärme der letzten Tage gesammelt. Sicher hatte ich deswegen von der Kühle des Winters geträumt.

Aber warum von dir?

Dein Gesicht erschien in meinen Erinnerungen. Ein Anker im Meer des Vergessens. Eine flüchtige Begegnung an einem Ort, an dem sich täglich viele Menschen trafen. Und doch hattest du dich in mein Unterbewusstsein gestohlen, hattest einen Schlüssel zu der Wohnung, in der ich im Traum lebte. Die mir fremd war im Wachen. War es deine, meine, unsere gemeinsame?

Ich hatte mich zu Hause gefühlt.

Mit klopfendem Herzen versuchte ich, wieder in den Schlaf zu finden. Ein paar Minuten wälzte ich mich hin und her, bevor ich leise aufstand und ins Arbeitszimmer ging.

Im Mondlicht betrachtete ich den alten Bürostuhl. Das einzig Vertraute, das mir in dem Traum begegnet war. Ich strich über das zerschlissene Leder. Er hatte meinem Vater gehört, der letztes Jahr im März von uns gegangen war. Elf Monate später, im Februar, hatte meine beste Freundin mich für immer verlassen.

Mein Blick fiel auf die schwindenden Buchstaben der Tastatur. Sacht fuhr ich darüber, spürte der Wölbung der Tasten nach, die sich an meine Finger schmiegten. Tag für Tag stürzte ich mich in Übersetzungen, ließ keinen Platz für Gefühle und Gedanken. Manchmal bis in die Morgenstunden. Es war also nicht ungewöhnlich, dass ich mitten in der Nacht hier gestrandet war. Nur der Anlass war in dieser ein anderer.

Ich drehte mich um und ging zu der kleinen Kaffeeküche in der Zimmerecke hinüber. Wie automatisch befüllte ich den Porzellanfilter, schaltete den Wasserkocher ein, wartete. Es dauerte nicht lang, da hörte ich tapsende Schritte. Lotte begrüßte mich mit einem müden Blick, ließ sich schwer auf die Decke neben dem Stuhl fallen.

»Es ist früh, ich weiß«, sagte ich leise, gab etwas Wasser auf das Pulver, beobachtete, wie es aufquoll, kleine Bläschen warf. Der Duft belebte meine Geister.

Kurz darauf saß ich vor dem Notebook und verlor mich in Balzac. In seinen Zeilen über den untrüglichen Instinkt der Liebe, der unaufhaltbar das Herz fand, keine Angst kannte. Ich versank darin und spürte selbst kaum mehr als das beständige Pochen meines Herzschlags, lebendig wie lange nicht mehr.

Drei Stunden später holten mich Schritte aus meiner Trance. Déjà-vu. Die Tasse neben mir, deren Inhalt kalt und abgestanden war.

Doch in der Tür erschienst nicht du, es war Thomas. Er fuhr sich durch das dichte blonde Haar. »Ich hab gar nicht mitbekommen, dass du aufgestanden bist. Seit wann bist du wach?«

»Halb vier.«

»Bei der Hitze kann man kaum schlafen. Lass uns doch noch mal über eine Klimaanlage nachdenken.«

Das taten wir schon, seitdem er vor fünf Jahren bei mir eingezogen war. »In der nächsten Woche soll es etwas abkühlen.«

»Hoffentlich.« Er schnippte mit den Fingern. Lotte sprang auf und rannte hinter ihm her in die Küche. Ich hörte das Klimpern des Trockenfutters, das in den Napf fiel, den Spüldurchlauf des Vollautomaten, das Mahlen und Brühen des Kaffees. Kurz darauf ging das Radio an. Wie jeden Morgen.

Spätestens um Viertel nach sieben machte Thomas sich auf den Weg in die Schule. Eine halbe Stunde noch.

Für einen Moment schloss ich die Augen, spürte die Müdigkeit, die ich in der Nacht nicht hatte finden können. Ein letztes Mal sah ich auf Balzac, dann schaltete ich das Notebook aus und stand auf. Ich holte ein Glas mit kaltem Wasser aus der Küche, betrat den Balkon, drehte einen der Korbsessel in Richtung der Morgensonne, ließ mich auf das Polsterkissen sinken, legte die Beine auf den Hocker und sah gen Osten. In der Nacht hatte mich das Rauschen der Autobahn an den Klang des Meeres erinnert. Am Tag war es schlicht das, was es war – der Lärm der Fahrzeuge.

2.

In der folgenden Nacht trafen wir uns wieder.

Ich wachte auf, dich vor Augen.

Alles an dir erschien mir vertraut, auf eigene Weise vollkommen. Deine große, schlanke Statur, dein kurzes dunkles Haar, die Schläfen ergraut, fast weiß. Mit deinen braunen Augen blicktest du mir sanft entgegen. Du warst älter als ich, nur wenige Jahre, doch ich sah es. In den kleinen Falten deiner Lider, in deinem tiefgründigen Blick.

Was wäre passiert, wenn ich nicht aufgewacht wäre? Ein wohliges Ziehen in meinem Unterleib, ein verheißungsvoller Sog. Meine Haut war erhitzt. Eine Schweißperle rann meinen Rücken hinab, folgte der Spur, die deine Hände dort vor wenigen Sekunden gezogen hatten.

Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere.

»Was ist los?«, fragte Thomas schlaftrunken.

»Die Wärme.« Hatte es da begonnen? Die kleinen Lügen, das Verbergen?

Er schlief wieder ein.

Und ich blieb allein zurück. Mit der Verwirrung, der Sehnsucht, den Gedanken an dich.

Ich stand auf, ging in mein Arbeitszimmer, stellte den Wasserkocher an und wartete auf Lotte. Balzacs Zeilen verschwammen vor meinen Augen. Sosehr ich versuchte, dich zu vergessen, es gelang mir nicht. Die goldenen Pünktchen in deinen Pupillen, das Stirnrunzeln, als du bemerkt hattest, dass ich wieder zu wenig getrunken hatte, der warme Klang deiner Stimme, der seit unserer ersten Begegnung in mir nachhallte. Du warst lebendig in mir.

»Wer bist du?«

Spontan griff ich zu Stift und Papier, im Versuch, dich festzuhalten. Und doch loszulassen, damit ich mich auf meine Übersetzung konzentrieren konnte.

Wieder sitze ich am Schreibtisch, lausche deinem Kommen, warte, bis du bei mir bist. Dein Gang ist leicht, leise. Wie du.

Du beugst dich zu mir herunter. Dein warmer Atem streift mein Ohr, löst einen sachten Schauer in mir aus. »Wie kommst du voran?« Du richtest dich auf, streichst über mein Kinn, die Wange, das Haar.

Ich drehe meinen Kopf, schaue zu dir hoch. »Gut.«

»Dann störe ich dich nicht weiter. Hast du genug getrunken?« Du greifst nach der halb vollen Wasserflasche und füllst mein Glas.

Über deinem Hemd trägst du einen dunkelblauen Wollpullover. Du reibst dir die Arme, während du gehst. »Die Arktis ist nichts gegen dein Arbeitszimmer.« Im Türrahmen bleibst du stehen, drehst dich noch einmal um. »Denkst du daran, dass wir heute Abend eingeladen sind?«

Kurz darauf beginnt es zu schneien, und bald sind Bäume und Dächer weiß bezuckert.

Als wir am Abend losgehen, liegt der Schnee schon zentimeterhoch. Die Flocken landen im Sekundentakt auf meiner Mütze, auf deinem Haar. Die Flasche Shiraz unter deinem Arm. »Intensiv. Fruchtig. Wärmend. Wie du«, hast du mir ins Ohr gehaucht. Und ich habe überlegt, was ich für dich wählen würde. Einen Sassicaia oder einen Amarone vielleicht. Tiefgründig. Bittersüß. Ein verlockender Widerspruch.

Eine Böe bläst mir die Kälte ins Gesicht, und ich presse die selbst gebackenen Grissini fest an die Brust. Der schwache Duft nach Olivenöl und Meersalz steigt mir in die Nase.

Auf den vom Schnee bedeckten Gehwegen kommen wir nur langsam voran. Ich rutsche weg, du versuchst mich festzuhalten, aber ich ziehe dich mit. Der Wein segelt durch die Luft, und wir landen unsanft auf dem harten Boden. Die Grissini zerbrechen. Aber uns ist nichts passiert. Und auch der Shiraz hat unseren Sturz überstanden, wie wir erleichtert feststellen. Der aufgetürmte Schnee am Wegesrand hat die Flasche gerettet. Gut gelaunt gehen wir weiter. Vor dem Haus schütteln wir den Schnee von der Kleidung, klopfen die Schuhe ab.

Die Tür wird geöffnet. »Da seid ihr ja endlich.« Deine Bekannte mag ich sofort, ihre herzliche Ausstrahlung und ihren fürsorglichen Blick.

Wir gehen hinter ihr her. Die anderen warten schon auf uns. Sie sitzen zu viert beisammen, lachen.

Und du lachst auch, als du mein entsetztes Gesicht bemerkst. Ich habe den Stapel Gesellschaftsspiele auf dem Tisch entdeckt. Du weißt, dass ich nicht gern spiele.

»Das zahl ich dir heim«, flüstere ich. Und wieder lachst du.

Meine Revanche lässt nicht lange auf sich warten. Du sollst eine Seekuh pantomimisch darstellen. Deine Handbewegungen beim Melken sind urkomisch, herzerweichend dein verzweifelter Blick dabei. Du bist ein schlechter Schauspieler, stehst nicht gern im Mittelpunkt.

Später wagen wir uns zu einem Spaziergang hinaus. Der Park sieht wie verzaubert aus. Schneeflocken funkeln im Lichterschein der Laternen, das unberührte Weiß, in dem wir unsere Spuren hinterlassen, knirscht unter unseren Füßen. Der erste Schneeball fliegt, und innerhalb von wenigen Sekunden ist eine fröhliche Schlacht im Gange. Wie Kinder wälzen wir uns im Schnee.

Nach und nach machen sich alle wieder auf den Weg. Nur wir beide bleiben zurück, in einem Meer voller Schneeengel im nächtlich glitzernden Weiß. Meine Hände sind steif gefroren. Zu Hause angekommen, sind auch meine Füße fast taub, meine Haut prickelt vor Kälte. Kurzerhand stelle ich mich unter die heiße Dusche. Aufgewärmt, und nur in ein Handtuch gewickelt, komme ich zu dir ins Zimmer. Du hast bereits das Feuer im Kamin angezündet, hast es dir auf der Couch bequem gemacht und siehst in die Flammen. Ich setze mich auf deine Beine, umarme dich und bette meinen Kopf an deine Schulter. Mit beiden Händen streichst du über meinen Rücken, hältst erst inne, als du die Wölbung meiner Hüften unter deinen Fingern spürst. So sitzen wir still da, es ist nichts zu hören, nur das Knistern des Holzes.

Die Schreibutensilien hatte mein Vater mir zum Geburtstag geschenkt, dem letzten, den wir gemeinsam gefeiert hatten. Seitdem lagen Füllfederhalter und Papier unberührt in dem schlichten beigefarbenen Geschenkkarton. Ich hatte mir nicht nur einmal vorgenommen, die erste Seite zu beschreiben, mit einem Brief, einem Gedicht, Gedanken. Nun hatte ich darauf den ersten Traum von dir festgehalten. Und auch den der vergangenen Nacht. Ich legte die Blätter samt Füllfederhalter zurück in den Karton. Meine eigenen Worte, die ihren Weg auf das Papier gefunden hatten. Doch Balzac wartete auf mich.

»Jetzt kümmern wir uns erst einmal um die Übersetzung. Bist du bereit?«

Lotte hob den Kopf und sah mich mit ihren treuen Hundeaugen an. Sie war eine gute Zuhörerin. Wenn ich mit dem Text nicht weiterkam, half es mir, die Worte, die ich übersetzt hatte, laut zu lesen, den Klang, ihren Rhythmus zu hören.

Fünf Minuten später tauschte ich zwei Wörter aus, kürzte einen Satz und versank wieder in meiner Arbeit.

Hatte es geholfen, die Träume aufzuschreiben? Oder zu wissen, dass es dich gab?

Ich fühlte mich befreit, beschwingt, verlor mich in den Zeilen, war in die Gestalt der Hauptfigur geschlüpft, empfand, lebte, litt mit ihr. Bis Lotte mich um halb sieben auf Thomas aufmerksam machte.

»Schon wieder so früh wach geworden?«

»Ja.« Ich streckte mich.

»Dass du um die Uhrzeit überhaupt arbeiten kannst.« Er gähnte und schnippte mit den Fingern. Lotte sprang auf, ich folgte ihnen.

Unsere Küche war nicht sehr groß, aber für uns reichte sie. Die Ausstattung war in die Jahre gekommen, die Elektrogeräte mussten ausgewechselt werden, der zu laut laufende Kühlschrank, der ungleichmäßig backende Ofen. Sie standen auf derselben Liste wie die Klimaanlage.

»Heute wird ein langer Tag.« Thomas widmete sich dem Kaffeeautomaten. »Wir haben noch eine Konferenz, danach geh ich mit den Kollegen weg.«

Er verschwand ins Badezimmer.

Während ich die Milch aufschäumte, schlich sich die Seekuh, die du nachzuahmen versucht hattest, in meine Gedanken.

Ich dachte an dich, während ich das Frühstück für meinen Mann zubereitete.

Bis er zurück in die Küche kam. »Was ist los?«

»Warum?«

»Du lächelst so.«

Im Traum lebte ich ein Leben mit dir. Thomas spielte darin keine Rolle, er existierte nicht. Ich entschied, dass die Nächte mir gehörten. Die Lüge kam mir wie selbstverständlich über die Lippen. »Ich musste an eine Szene aus Balzacs La Femme de Trente Ans denken, die ich gerade für die Sonderedition übersetze.«

»Um was geht es?«

»Um eine Frau, die im frühen neunzehnten Jahrhundert gegen die Warnung ihres Vaters einen Marquis heiratet.«

Die Selbstüberwindung, mit der sie die trostlose Ehe erträgt, verschwieg ich, trank etwas Milchschaum von meiner Tasse ab, verdrängte das schlechte Gewissen.

Es fiel mir erschreckend leicht.

Den ganzen Tag war ich gut gelaunt. Ich ging mit Lotte an der Elbe spazieren. Freute mich, sie im kühlen Wasser toben zu sehen. Schrieb Seite um Seite der Übersetzung. Ging am Abend wieder eine große Runde mit Lotte. Legte mich vor Thomas’ Heimkehr ins Bett. Und dann wartete ich auf dich.

3.

In der Nähe schippt ein Nachbar den Gehweg. Die Schaufel kratzt auf dem Asphalt, das Geräusch ist unverkennbar. Noch immer ist es Winter. Ich stehe am Fenster, den Blick auf den Apfelbaum gerichtet. Eine Böe lässt die Windlichter in den Ästen hin und her schwingen. Schnee rieselt von den Blättern herab.

Ein Spaziergang erscheint mir plötzlich verlockender als die Arbeit, die auf mich wartet.

Bin am Meer, schreibe ich auf ein Blatt Papier. Sophie, um 15 Uhr 30.

Die Nachricht lege ich auf den Küchentisch.

Kurz darauf gehe ich durch die Hohlwege der Dünenlandschaft. Stellenweise bricht bräunliches Strandgras durch die Schneedecke, die Halme bilden einen morbiden Kontrast zum glitzernden Weiß der Landschaft.

Nachdem ich die Dünen durchquert habe, liegt vor mir der zugeschneite Strand, dahinter die tiefdunkle Ostsee. Das dumpfe Rollen der Wellen hallt laut in meinen Ohren. Die Kämme brechen sich und hinterlassen weiße Schaumflächen auf dem Wasser. Ich atme tief ein, will meine Lungen mit Luft fluten. Doch aufkommender Wind reißt meinen Atem mit, und ich halte schützend den Arm vor das Gesicht. So bleibe ich einfach stehen und höre dem Tosen zu. Das Meer ist aufgewühlt, und ich bin es auch.

Mit hochgezogenen Schultern gehe ich gegen den Wind den Strand entlang, so habe ich es auf dem Rückweg leichter.

Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Nur ein paar Strandläufer mit weißen Bäuchen in grauem Federkleid huschen flink mit ihren langen Beinen über den schneebedeckten Sand. Sie picken mit ihren Schnäbeln in der Brandung.

Ich drehe mich mit dem Rücken zum Wind, lasse mich in ihn hineinfallen und von ihm auffangen, als ich mich mit weit ausgebreiteten Armen zurücklehne. Mein Wollschal wird von der Böe erfasst. Ich nehme ihn ab, halte ihn an einem Ende fest und lasse ihn mit dem Wind flattern. Erst liegt er fast waagerecht in der Luft, dann bäumt er sich auf, peitscht nach oben. Ohne weiter darüber nachzudenken, lasse ich ihn los, beobachte, wie er davongetragen wird. Das tiefe Rot der Wolle, das mich an reife Himbeeren erinnert, habe ich vom ersten Augenblick an geliebt.

Auf die Idee, einen dicken Wollschal bei Temperaturen von annähernd dreißig Grad zu verschenken, konnte nur Tessa kommen. Das freudige Blitzen in ihren Augen, als sie mir das bunte Päckchen überreichte, werde ich nie vergessen.

»Weil du immer so schnell frierst. Und du weißt ja, der nächste Winter kommt bestimmt.«

Kälte erfasst mich. Mir wird bewusst, dass ich mich eben, einfach so, für immer von Tessas Schal verabschiedet habe.

Ich setze die Kapuze meiner Jacke auf. Bis zum Meer sind es nur wenige Meter, noch ein paar Schritte, und ich stehe am Wasser. Die Wellen haben Schneematsch am Spülsaum zusammengeschoben, eisige kleine Wassertropfen klatschen gegen mein Gesicht.

Da ebbt der Wind ab, der Himmel reißt auf, ein paar Sonnenstrahlen finden ihren Weg durch das milchige Weiß der Wolken. Ihr Licht lässt das Wasser der vor mir liegenden See silbern glitzern. Ich verliere mich in ihrem Anblick.

»Sophie.«

Wie aus dem Nichts stehst du plötzlich neben mir, legst den Schal um meine Schultern. »Lass uns ein Stück vom Wasser zurückgehen.« Deine Stimme klingt sanft, behutsam. »Die Gischt schlägt gegen deine Hosenbeine, sie sind schon nass. Und ich denke, in deinen Schuhen sieht es auch nicht besser aus.«

Autor