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Wo mein Herz wohnt

"Zwei Flüge nach Stockholm, bitte." In aller Eile müssen Finja und Sander New York verlassen und sich in Schweden um ihren elternlosen kleinen Neffen kümmern. Eine schwere Aufgabe unter der Mittsommersonne! Wo doch ihre Liebe gerade vor dem Aus steht …


  • Erscheinungstag: 01.02.2013
  • Seitenanzahl: 160
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862789689
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Pia Engström

Mittsommergeheimnis – Wo mein Herz wohnt

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH

Originalausgabe

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-86278-968-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

Damals.

Tief stand die Mittsommersonne am Horizont. Ihr glutrotes Licht fiel beinahe waagerecht durch das dichte Blattwerk der Bäume. Düstere Schatten erfüllten den Wald. Irgendwo im dichten Unterholz schienen namenlose Kreaturen umherzuhuschen.

Ob gut oder böse, vermochten die drei Mädchen nicht zu sagen.

Um sie herum knackte und knisterte es. Geräusche, die von überall und nirgends zu kommen schienen. Die drückende Schwüle machte das Atmen schwer und kündigte ein Gewitter an, das sich über dem Tal zusammenbraute.

Hanna, Finja und Linnea hielten sich an den Händen. Die drei Freundinnen fühlten sich unbehaglich. Am liebsten wären sie sofort zum Festplatz zurückgekehrt, wo die anderen Bewohner von Dvägersdal im Schein der Fackeln um die Majstången tanzten. Doch keine von ihnen wollte die Erste sein, die ihre Furcht eingestand.

Also gingen sie weiter. Immer tiefer und tiefer in den Wald hinein.

Hanna zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich in der Ferne Donner grollen hörte. Es war ihre Idee gewesen, heute Nacht in den Wald zu gehen. Sie hatte in der Schulbibliothek ein vergilbtes, muffig riechendes Buch mit alten Sagen gefunden. Darin stand, dass die mystischen Kräfte der Natur in der Nacht der Sommersonnenwende besonders stark waren.

Wenn es einen Zeitpunkt gab, an dem man Geister, Kobolde, Elfen und Feen entdecken konnte, dann am Midsommarafton. Hanna hatte sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen wollen und Finja und Linnea überredet, sie zu begleiten. Eine Entscheidung, die sie alle drei inzwischen bereuten.

Vor allem angesichts des Trollfjällens, der jetzt vor ihnen zwischen den Wipfeln der Bäume auftauchte.

Der Himmel über dem Tal hatte eine düstere, schwarzgraue Färbung angenommen, und die Wolken hingen so tief, dass der riesige nachtschwarze Felsen sie beinahe zu berühren schien.

Hanna schauderte.

Der Trollfjällen war definitiv unheimlich. Selbst an sonnigen Tagen wirkte er finster und bedrohlich. Sein tiefschwarzes Gestein schien das Licht in der unmittelbaren Umgebung einfach aufzusaugen.

“Vielleicht sollten wir doch langsam umkehren”, krächzte Linnea heiser, als erneut Donner grollte – dieses Mal sehr viel näher als zuvor. Normalerweise war sie die vernünftigste und bodenständigste der drei Freundinnen. Sie glaubte nicht an Geister- und Spukgestalten und fürchtete sich auch nicht vor Gewittern.

Heute Nacht jedoch …

“Linnea hat recht”, sagte nun auch Finja. “Lasst uns zurückgehen, ehe der Sturm losbricht. Wir …” Sie schrie erschrocken auf, als plötzlich eine Gestalt vor ihr aus dem Unterholz auftauchte. “Förbannat!”, fluchte sie, als sie erkannte, um wen es sich handelte. “Was willst du hier, Audrey? Bist du uns etwa gefolgt?”

Audrey, das siebzehnjährige englische Au-pair-Mädchen ihrer Familie, lächelte boshaft. “Und wenn? Was willst du dagegen tun? Ich wette, deine Eltern wissen nichts von eurem kleinen Ausflug, stimmt’s? Was meinst du, wie werden sie wohl reagieren, wenn ich ihnen davon erzähle?”

Finja war wütend und beunruhigt zugleich. Sie wusste, ihr Vater würde furchtbar böse werden, wenn er erfuhr, dass sie sich mit Hanna und Linnea heimlich im Wald herumtrieb. Und ihr war ebenfalls klar, dass Audrey keine Sekunde zögern würde, ihr kleines Geheimnis zu verraten. Es wäre nicht das erste Mal …

“Aber keine Sorge, ich werde niemandem etwas sagen”, sprach Audrey weiter. “Trotzdem solltet ihr euch hier draußen besser nicht allein aufhalten. Habt ihr denn noch nie vom Felsentroll gehört?”

Hanna starrte sie aus großen Augen an. “Dem Felsentroll? Was ist das?”

Kurz darauf saßen Hanna, Finja und Linnea auf einem kleinen Felsvorsprung und lauschten den Worten des sechs Jahre älteren Mädchens, das geheimnisvoll die Stimme senkte: “Der Felsentroll ist ein grausames und schreckliches Wesen, zerfressen von Neid, Habgier und Hass. Einst war er ein Mensch wie wir, doch dann traf ihn zur Strafe für schlimme Taten ein Fluch, der ihn dazu verdammte, auf ewig im kalten Stein des Trollfjällen zu leben. Mit den Jahren wurde die Boshaftigkeit des Felsentrolls immer größer und größer. Er hasst alle Menschen, weil sie in Freiheit leben und nicht in Kälte und Dunkelheit gefangen sind, so wie er.”

Ein erneuter Donnerschlag erklang, nun fast direkt über ihnen, und heftiger Sturmwind kam auf. Er zerrte an den Ästen der Bäume und ließ die Haare der Mädchen wild wehen.

“Und dieser Troll lebt wirklich hier im Trollfjällen?”, fragte Hanna ängstlich, die Arme um den Körper geschlungen.

Audrey nickte. “Aber natürlich. Und deshalb sollte man lieber vorsichtig sein und dem schwarzen Felsen nicht zu nahe kommen. Denn wenn er kann, dann zieht der Felsentroll unachtsame Wanderer zu sich in den Fels. Und ganz besonders gern holt er sich kleine Mädchen wie … EUCH!”

Erschrocken schrie Hanna auf, und auch Linnea zuckte zusammen. Nur Finja, die mit etwas Derartigem bereits gerechnet hatte, blieb ruhig. “Du erwartest doch nicht, dass wir dir dieses alberne Ammenmärchen wirklich abkaufen, oder?”

“Glaub doch, was du willst”, entgegnete Audrey geheimnisvoll. “Aber wenn der Felsentroll dich erst einmal in seinen Fängen hat, dann wirst du dir noch wünschen, auf mich gehört zu haben!”

Die ersten dicken Regentropfen fielen durch das dichte Blätterdach, dann öffneten sich plötzlich die Schleusen des Himmels, und eine wahre Sturzflut ging auf die Mädchen nieder.

“Kommt!”, rief Hanna, die sich in der Umgebung am besten auskannte, da sie mit ihrem Vater ganz in der Nähe wohnte. “Dort hinten können wir uns unterstellen!”

Sie flüchteten sich in den ausgehöhlten Stamm einer einst gewaltigen Eiche, die vor vielen Jahren vom Blitz getroffen worden war, und schüttelten sich das Wasser aus dem Haar. Es war Finja, die als Erste bemerkte, dass jemand fehlte.

“Wo ist Audrey?”, fragte sie.

Linnea spähte angestrengt in die brodelnde Dunkelheit hinaus, die außerhalb ihres Unterstands herrschte.

Doch nichts.

“Aber sie war doch direkt hinter mir, als wir losgelaufen sind!”, sagte Hanna. “Ihr wird doch wohl nichts passiert sein?”

“Ach, Unsinn!”, gab Linnea energisch zurück – doch in Wahrheit war sie sich ihrer Sache längst nicht so sicher. Diese drückende Finsternis, die knisternde Spannung in der Luft …

“Und wenn der … Felsentroll sie erwischt hat?” Hannas Augen waren vor Furcht weit aufgerissen. “Wenn er sie zu sich in den Trollfjällen gezogen hat?”

Die drei Freundinnen schauten sich angstvoll an, keine von ihnen sprach ein Wort. Und dann hallte ein Schrei durch das Tal, so gequält und verzweifelt, dass er ihnen einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.

Keine von ihnen zweifelte auch nur eine Sekunde daran, dass Audrey diesen Schrei ausgestoßen hatte – und dass es sich keinesfalls um einen dummen Scherz der Siebzehnjährigen handelte.

Etwas Schreckliches musste geschehen sein – und die drei Mädchen ahnten, dass nach dieser Mittsommernacht nichts mehr so sein würde wie zuvor.

1. KAPITEL

“Sie und Ihre Freundinnen waren also allein im Wald, als das Au-pair-Mädchen … Wie war noch ihr Name?”

“Audrey”, antwortete Finja mit heiserer Stimme. “Ihr Name war Audrey.”

“Sie waren also allein im Wald, als Audrey spurlos verschwand. Aber das ist nicht der Grund für Ihre Schuldgefühle, nicht wahr? Erzählen Sie mir, was geschehen ist.”

Die Praxis von Dr. Paul Bjorkman befand sich im Stockholmer Stadtteil Norrmalm in einem ultramodernen Bürokomplex, der nur aus Glas und Stahl zu bestehen schien. Umso überraschender war der Kontrast, wenn man die Räume zum ersten Mal betrat. Alles – von den Wänden über die weichen Teppiche, die jedes Geräusch schluckten, war in gedämpften Braun- und Cremetönen gehalten. Kaum etwas deutete darauf hin, dass man sich in den Praxisräumen eines Psychologen aufhielt. Es herrschte eine ungemein beruhigende und gelöste Atmosphäre.

So empfanden es zumindest die meisten Patienten von Dr. Bjorkman – bei Finja wollte sich diese Wirkung jedoch nicht einstellen. Mit geschlossenen Lidern lag sie auf einer bequemen Couch und versuchte sich zu entspannen, doch es ging einfach nicht. Wie jedes Mal, wenn sie den Gedanken an Audrey zuließ, verkrampfte sich ihr ganzer Körper, und in ihrem Inneren schien sich ein schmerzhafter Knoten zu bilden.

Trotzdem zwang sie sich, weiterzusprechen. Sie wollte diese Last, die ihr nun schon so lange auf der Seele lag, endlich abschütteln. Und bei Dr. Bjorkman hatte sie das Gefühl, ihm vertrauen zu können.

Finja atmete tief durch, dann begann sie zu sprechen – zuerst langsam und stockend, bis die Worte schließlich einfach aus ihr hervorbrachen. “Audrey und ich, wir hatten einen schlimmen Streit an jenem Morgen, an dem es geschah. Wir kamen generell nicht besonders gut miteinander aus. Ich glaube, ich gab ihr die Schuld daran, dass meine Eltern so wenig Zeit für meine Schwester und mich hatten. Außerdem fühlte ich mich von ihr eingeengt und kontrolliert. Und an diesem Morgen ertappte ich Audrey dabei, wie sie in meiner Schreibtischschublade herumschnüffelte. Ich …” Finja spürte, wie die Tränen sich hinter ihren geschlossenen Augenlidern sammelten, und sie schluckte. “Ich war …”

“Sie waren wütend”, half Paul Bjorkman ihr auf die Sprünge.

“Ja, ich war sogar schrecklich wütend. So sehr, dass ich etwas Unverzeihliches zu Audrey sagte. Ich …” Sie schüttelte den Kopf. “Es tut mir leid, aber ich kann das nicht!”

“Was haben Sie zu ihr gesagt?”, drängte Bjorkman sanft. “Sie werden sehen, dass Sie sich besser fühlen, wenn Sie mit jemandem darüber gesprochen haben.”

Zitternd rang Finja nach Luft. “Ich sagte …”

“Du sagtest: Verschwinde! Geh zum Teufel und komm nie mehr zurück!”, erklang da plötzlich eine Mädchenstimme direkt an ihrem Ohr. “Und dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen.”

Finja riss die Augen auf und …

… erwachte mit einem erstickten Keuchen. Vor Erleichterung darüber, dass es nur ein böser Traum gewesen war, kamen ihr fast die Tränen. Langsam wich das Gefühl, innerlich zu Eis erstarrt zu sein, und auch ihr Puls beruhigte sich wieder. Sander merkte nicht einmal, wie aufgewühlt sie war. Er saß hinter dem Steuer des Mietwagens, den sie nach ihrer Landung in Stockholm vor knapp vier Stunden abgeholt hatten, und telefonierte über die Freisprecheinrichtung.

Windböen trieben Nebelschleier vor die Windschutzscheibe, doch Sander sah nicht so aus, als hätte er irgendwelche Probleme mit der Sicht. Er war ein geübter Fahrer. Eines der wenigen Dinge, die Finja über ihren Mann wusste. Seltsam eigentlich, wo sie ihn doch einmal von ganzem Herzen geliebt hatte.

Aber irgendwo zwischen Schweden und Amerika hatte sich vor fünf Jahren die Liebe aus ihrer Ehe geschlichen.

Finja wusste nicht einmal, warum es so gekommen war – fest stand nur, dass sie und Sander in Schweden glücklich gewesen waren. Und dass sich in New York alles geändert hatte. Dabei hatte sie doch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten endlich die Schatten ihrer Vergangenheit hinter sich lassen wollen.

Und jetzt kehrten sie gemeinsam dorthin zurück, wo alles begonnen hatte. Nach Dvägersdal – Finjas Geburtsort. Jedoch war der Anlass alles andere als erfreulich.

Schmerzerfüllt schloss sie die Augen, als sie an die Katastrophe dachte, die vor wenigen Wochen ihre komplette Familie mit einem Schlag ausgelöscht hatte. Jetzt würde Finja nie mehr die Chance haben, sich mit ihren Eltern und ihrer Schwester auszusprechen. Und mit Paul Bjorkman – dem Mann, dem sie einmal ihre Seele anvertraut hatte. Ihrem Schwager …

Ein, zwei Mal atmete Finja tief durch, dann öffnete sie die Augen wieder und blickte nachdenklich durchs Beifahrerfenster. Der Regen wurde stärker und ließ nicht einmal erahnen, dass es inzwischen Frühling war in Schweden.

Nun, zumindest passt das Wetter zu meiner momentanen Gemütslage, dachte Finja bitter, als ihr auffiel, dass ihr Mann und sie während der gesamten Fahrt kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten. Kurz drehte sie den Kopf ein Stück nach links und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sander telefonierte gerade mit einem wichtigen Kunden von SanderSom Sports, seiner Firma für Sportartikel, die er sich in den USA aufgebaut hatte. Wieder einmal. Eigentlich ging das schon die ganze Fahrt so. Anfangs hatte Finja aus Zeitvertreib noch zugehört, was gesprochen wurde. Doch inzwischen drangen nur noch Wortfetzen wie contracts, meetings und conditions an ihr Ohr.

“Woran denkst du?”, hörte sie Sander nach einer Weile fragen.

Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass er sein Telefonat beendet hatte. Jetzt dauerte es einen Moment, ehe sie registrierte, dass er tatsächlich mit ihr sprach.

Finja zuckte mit den Achseln. “Seit wann interessiert dich, woran ich denke?”, erwiderte sie, bereute ihre schroffen Worte aber sofort wieder. Sie sollte dankbar sein, dass er sich überhaupt mal bemühte, ein Gespräch in Gang zu bringen. Gleichzeitig wusste sie, dass kein Gespräch der Welt mehr ihre Beziehung retten konnte.

“Hör mal, das waren gerade wirklich wichtige Anrufe, und …”

Sie winkte ab. “Schon gut. Ich bin ja froh, dass du überhaupt die Zeit gefunden hast, mitzukommen.”

“Es ging ja nicht anders”, entgegnete er kühl. “Der Notar hat schließlich darauf bestanden, dass wir beide zur Testamentseröffnung kommen.”

Finja nickte, und ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen, als sie an das Gespräch mit Lennart Bolander dachte, das sie vor zwei Wochen geführt hatte. Damals war sie allein nach Dvägersdal gekommen, zur Beerdigung. An jenem Tag, an dem die Särge ihrer Eltern, ihrer Schwester Greta und ihres Schwagers Paul zu Grabe getragen worden waren, hatte die Sonne hell am strahlend blauen Himmel gestanden. Die Luft war lau und vom Duft wilder Frühlingsblumen erfüllt gewesen, und über allem hing ein seltsamer Schleier. Nicht nur der Trauer, nein – es gab da noch etwas anderes, das Finja belastete und sie auch heute wieder angstvoll auf ihre Ankunft blicken ließ. Und dieses Etwas hatte einen Namen.

Audrey.

Unwillkürlich schauderte Finja. Da war sie wieder, die Gänsehaut, die ihr jedes Mal über den Rücken kroch, wenn sie an das ehemalige Au-pair-Mädchen ihrer Familie dachte. Doch wie schon vor drei Wochen bemühte sie sich auch jetzt, die Gedanken daran gar nicht erst richtig aufkommen zu lassen. Sie durfte einfach nicht zu sehr an die Vergangenheit denken – alles, was im Augenblick zählte, war das Hier und Jetzt.

Wieder meldete sich Sanders Mobiltelefon – und dieses Mal war Finja beinahe froh über die Unterbrechung. Es war der Signalton für eine eingehende E-Mail.

“Ich muss kurz anhalten”, sagte Sander erwartungsgemäß und lenkte den Wagen an den Straßenrand, wo er den Motor abstellte. “Tut mir leid, aber …”

“Es ist wichtig”, führte Finja den Satz für ihn zu Ende. Sie merkte selbst, wie bitter ihre Stimme klang. “Natürlich.”

Sander ging gar nicht darauf ein. Er nahm sein Smartphone aus der Freisprecheinrichtung und klappte die kleine Tastatur auf. Finja konnte sich nicht erinnern, ihn in den letzten Jahren jemals ohne dem Teil gesehen zu haben. Manchmal hatte sie fast den Eindruck, dass er ohne dieses Gerät, mit dem er seine E-Mails und Termine verwaltete, gar nicht mehr leben konnte.

Und sie zweifelte daran, dass dasselbe auf sie, seine Ehefrau, ebenfalls zutraf.

Ein paar Minuten beobachtete sie ihn dabei, wie er mit zusammengekniffenen Augenbrauen auf das Display des Telefons starrte, doch das wurde ihr rasch langweilig. Mit dem Ärmel ihres warmen Strickpullovers befreite Finja das inzwischen beschlagene Beifahrerfenster von der Feuchtigkeit. Sie atmete scharf ein, als sie den fast vollständig schwarzen Felsen erblickte, der wie ein mahnend erhobener Finger in den bleigrauen Himmel hinaufragte. Plötzlich wurde ihr bewusst, wo Sander angehalten hatte.

Ausgerechnet!

Finja hatte das Gefühl, innerlich zu Eis zu erstarren. Sie konnte sich nicht bewegen, kaum atmen und erst recht nicht mehr klar denken.

Trollfjällen – der Trollfelsen.

Dieser Ort verfolgte sie noch heute bis in ihre Träume, und schlagartig wurde ihr klar, dass es ihr nicht länger gelingen würde, die Vergangenheit aus ihren Gedanken zu verbannen.

Es war, als würde plötzlich ein alter Film vor ihren Augen ablaufen. Finja sah sich selbst als elfjähriges Mädchen, zusammen mit ihren Freundinnen Linnea und Hanna. Sie lachten und alberten herum – vor allem, um die unheimliche Atmosphäre, die an jenem Mittsommertag vor fünfzehn Jahren im Wald von Dvägersdal herrschte, zu überspielen. Dabei waren sie doch hier, um echte Magie zu erleben. In einem alten Buch, das Hanna in der Bibliothek entdeckt hatte, stand nämlich, dass die mystischen Kräfte in der Mittsommernacht am stärksten waren. Deshalb wollten die drei Freundinnen jetzt im Wald nach Spuren von Elfen und Kobolden suchen.

Und dann tauchte, wie aus dem Nichts, Audrey auf. Das siebzehnjährige englische Au-pair-Mädchen musste sie vom Haus aus beobachtet und dann verfolgt haben. Finja war darüber so wütend, dass sie kaum etwas von der Geschichte mitbekam, die Audrey ihnen erzählte. Es war irgendeine gruselige Sage über den Trollfelsen. Angeblich lebte ein Wesen darin, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, kleine Mädchen zu sich in den Berg zu holen und sie nie wieder freizulassen.

Alberne Ammenmärchen! Warum konnte Audrey sie nicht einfach in Ruhe lassen? Ständig mischte sie sich in alles ein, musste überall dabei sein! Manchmal wünschte Finja sich wirklich, sie würde sich einfach in Luft auflösen und nie wieder auftauchen.

Und dann war Audrey plötzlich verschwunden. Linnea, Hanna und sie suchten alles ab, doch sie fanden keine Spur von der Siebzehnjährigen. Und dann hallte plötzlich ein schriller Schrei durch den Wald, und die Mädchen liefen so schnell sie konnten zurück zum Haus.

Trotz einer groß angelegten Suchaktion wurde Audrey niemals wieder gesehen – stattdessen fand man die leicht zurückgebliebene dreizehnjährigen Malin, die behauptete, mit angesehen zu haben, wie Audrey von einem geheimnisvollen Wesen in den Berg gezogen wurde. Seit jenem Tag quälte sich Finja immer wieder mit der Frage, ob es ihre Schuld gewesen war. Ob die Magie jenes Mittsommerabends ihren geheimsten Wunsch erfüllt hatte und …

Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, schrie Finja heiser auf. Für einen kurzen Moment war sie ganz sicher, dass sie es sein musste.

Audrey …

Doch als sie nach links blickte, erkannte sie Sanders leicht besorgtes Gesicht, und die Realität hatte sie wieder.

“Alles in Ordnung?”, fragte er stirnrunzelnd. “Du hast plötzlich einen richtig weggetretenen Eindruck gemacht.”

“Es geht mir gut”, entgegnete sie hastig, um weiteren Nachfragen aus dem Weg zu gehen. Sie wollte nicht mit Sander über Audrey sprechen. Paul war der einzige Mensch gewesen, dem sie je ihr Herz ausgeschüttet hatte, und durch seinen Verrat war alles nur noch schlimmer geworden. Warum also sollte sie nun ausgerechnet Sander ins Vertrauen ziehen? Im Grunde genommen waren sie nicht viel mehr als Fremde, und ihre Ehe bestand eigentlich nur noch auf dem Papier. Das mochte bitter sein, aber Finja gehörte nicht zu den Menschen, die sich irgendwelchen Illusionen hingaben. Dennoch hatte sie bisher nicht den Mut aufgebracht, sich den Konsequenzen zu stellen. Sie fürchtete sich viel zu sehr davor, nach einer Trennung ganz allein dazustehen. Inzwischen fragte sie sich allerdings immer häufiger, ob das in ihrer derzeitigen Situation überhaupt noch einen Unterschied machte. Allzu häufig bekam sie ihren Ehemann ohnehin nicht zu Gesicht.

“Können wir jetzt weiterfahren?” Sie hoffte, dass Sander das leichte Beben in ihrer Stimme nicht bemerkte. “Ich möchte gern noch vor Einbruch der Dunkelheit in Dvägersdal ankommen.”

In Wahrheit wollte sie nur eines: der bedrückenden Nähe dieses teuflischen schwarzen Felsens entkommen. Und zwar je schneller, desto besser.

Ohne ein weiteres Wort ließ Sander den Motor an und fuhr los. Kurz bevor sie um die nächste Kurve bogen, warf Finja noch einen Blick zurück über die Schulter und atmete scharf ein.

Dieser Schatten, zwischen den umhertreibenden Nebelfetzen … Er sah aus wie ein blondes Mädchen in einem langen weißen Kleid.

Finja spürte, wie ihr ein eisiger Schauer über den Rücken kroch. Audrey! schoss es ihr durch den Kopf. Aber das … konnte doch nicht sein – oder?

Nein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, das war natürlich reine Einbildung gewesen, nichts weiter!

Und als sie erneut zurückblickte, war der Schatten verschwunden, und nichts deutete darauf hin, dass es ihn je gegeben hatte.

Als sie knapp eine halbe Stunde später die ersten Ausläufer von Dvägersdal erreichten, hatte der Regen ein wenig nachgelassen. Die Wolkendecke riss auf, und dahinter kam ein Stück zartblauer Himmel zum Vorschein. Wie auf einem Gemälde fielen Sonnenstrahlen durch diese Lücken und tauchten die Landschaft in ein fast schon irreal wirkendes gelbgoldenes Licht.

Der Wagen überquerte die alte Steinbrücke über den rasch dahinfließenden Fluss Lillälv, die den östlichen und den westlichen Teil von Dvägersdal miteinander verband. Erneut stellte Finja fest, wie wenig sich seit ihrem Weggang hier verändert hatte: Die farbenfrohen Fassaden der Häuser, die die Hauptstraße säumten, erinnerten sie noch immer an die Auslage eines Bonbonhändlers, und als sie im Vorbeifahren einen Blick durch das große Schaufenster des Bäckerladens warf, stand hinter dem Tresen dieselbe Verkäuferin, die sie schon als junges Mädchens mit Kanelbullar und Drömmar – köstlichen Zimtschnecken und Keksen – versorgt hatte.

Sie durchquerten den halben Ort, bevor Sander in eine kleine Seitenstraße einbog und vor einem hübschen, zartblau getünchten Haus am Ende einer Sackgasse anhielt. “Ich verstehe immer noch nicht, warum wir die eine Nacht bis nach der Testamentseröffnung nicht bei deinen Eltern verbringen können”, sagte er und stellte den Motor ab. “Das wäre doch viel einfacher gewesen.”

“So, findest du?” Finja schüttelte den Kopf. Nicht zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Familie stellte sie fest, wie gefühlskalt Sander geworden war. “Für dich mag es praktisch erscheinen, für mich aber nicht.” Verzweifelt sah sie ihn an. “Kannst du dir gar nicht vorstellen, wie schwer es für mich …” Sie atmete tief durch. “Ach, was frage ich noch? Du warst ja nicht einmal bei der Beerdigung für mich da!”

Einen Augenblick herrschte bedrücktes Schweigen, und Finja schämte sich ein wenig für ihre Worte. Sie wusste, dass Sander sie vor drei Wochen höchstwahrscheinlich begleitet hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Andererseits fragte sie sich, ob er nicht Mittel und Wege gefunden hätte, wenn es ihm wirklich wichtig gewesen wäre.

“Du weißt, dass es nicht ging”, sagte er. “Ich war in Montreal. Und du hast die Nachricht von …” Er stockte kurz. “Du hast schließlich auch erst im letzten Moment davon erfahren.” Er wartete auf eine Erwiderung, doch sie sagte nichts. “Nun, jedenfalls wären wir in einem Hotel sicher besser aufgehoben als in dieser kleinen Pension”, bemerkte er.

Finja verdrehte die Augen. “Du scheinst noch nicht begriffen zu haben, dass wir nicht mehr in den USA sind. In Dvägersdal und Umgebung werden wir kaum ein Hotel finden, das deinen Ansprüchen genügt.” Sie schwieg kurz. “Manchmal frage ich mich, ob du dich überhaupt noch an dein Leben vor New York erinnerst. Und an unser Leben”, fügte sie leise hinzu.

Befremdet schaute Sander sie an. “Natürlich erinnere ich mich daran”, sagte er knapp.

Gleichmütig hob Finja die Schultern, stieg aus dem Wagen und ging vor. Als sie die Unterkunft betrat, rechnete sie nicht damit, auf ein bekanntes Gesicht zu treffen. Zu ihrer Erleichterung hatte sie schon vor drei Wochen festgestellt, dass die Pension inzwischen neue Eigentümer hatte. Das war gut so, denn so würden unbequeme Fragen gar nicht erst aufkommen.

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