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Das Haus zwischen den Welten

Als Buch hier erhältlich:

Ein magisches Haus auf Reisen

Taschendiebin Neun und ihre Freunde haben den Fluch gebrochen und können wieder mit ihrem magischen Haus reisen. Es gibt nur ein Problem: Das Haus wird nervös und kriegt Schluckauf! Mit jedem „Hicks" hopsen sie von einer Welt in die nächste. Nur der magische Turm am Ende der Zeit kann ihnen helfen – jedenfalls wenn sie eine Reihe von Rätseln lösen und beweisen, dass sie einer Antwort würdig sind. Und vielleicht findet Neun ja auch endlich heraus, wer sie wirklich ist ...

Für Fans von verspieltem Humor und Magie, die sich selbstständig macht


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Aus der Serie: Das Haus Am Rande Der Magie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 192
  • Altersempfehlung: 9
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748801924

Leseprobe

Für Tabitha

Liebe Freunde,

ich muss euch etwas Wichtiges sagen.

Die Tage im Haus am Rande der Magie waren die besten meines Lebens. Doch jede Reise muss irgendwann zu Ende gehen. Selbst die außergewöhnlichste.

Ich weiß, dass ihr euch gut kümmern werdet um das Wertvollste, das ich in allen Welten habe.

Und gebt auch auf meine Spieldose acht. Sie bedeutet mir so viel.

Bitte versucht nicht, mich zu finden. Ihr kennt mich, ich sage nicht gern Lebewohl.

Deshalb nur: Danke. Für alles.

KAPITEL 1

Hätte irgendjemand Neun vor einer Woche gesagt, dass sie sich einmal in einem magischen Haus wiederfinden würde, zusammen mit einem hüpfkästchenspringenden Zauberer, einem staubwedelverrückten Troll und einem Holzlöffel, der erst zustach und dann Fragen stellte, hätte sie diesen Jemand laut ausgelacht. Und dann beklaut.

Doch hier war sie.

Sie stand mit Erik dem Troll – groß wie eineinhalb Menschen und eine Mischung aus Baumstamm und Walross – auf dem pflaumenfarbenen Teppich in der Diele des Hauses am Rande der Magie. Neben ihr war ein blau-weißes Wappen zur einen Seite der Eingangstür angebracht. Darauf waren zwei Stöcke über einer dicken Kröte zu sehen, aus deren Mund eine kettenartige rosa Zunge hing. Und daran hatte Neun soeben gezogen, sie wieder losgelassen, und …

ZACK-BUMM! Eine Schockwelle durchlief ihren Körper. Doch selbst die konnte ihr Lächeln nicht erschüttern.

Das gelang erst dem Übelkeit erregenden Ruck danach.

Neun lehnte sich an die Eingangstür. Es fühlte sich an, als würde ihr Gehirn aus ihrem Schädel herausgesaugt. Alles raste in eine Richtung, die sie nicht verstand – möglicherweise »nach oben«?

»Fräulein gut?«, fragte Erik mit zittriger Stimme, während er sich an das Treppengeländer klammerte.

Einen Moment lang sah Neun Sterne, dann verblassten sie. Eine merkwürdige, aber erleichternde Schwerelosigkeit folgte, und Neun konnte wieder atmen.

»Fräulein bestens«, antwortete sie bestimmt. Denn zum ersten Mal, solange sie zurückdenken konnte, sollte es ihr absolut bestens gehen.

Vorbei war ihr altes Leben als diebische Elster für Zocks, den herzlosen, wieselgesichtigen Bandenboss. Vorbei die Zeit im schmutzigen, rattenbefallenen Keller des Lagerhauses, in dem sie mit den anderen Waisenkindern geschlafen hatte. Und ihr neues Leben in diesem eigentümlichen, magischen Haus hatte begonnen.

Bloß flog das Haus jetzt … und Häuser sollten wirklich nicht fliegen. Je mehr Neun darüber nachdachte, desto lächerlicher wurde es. Sie ignorierte die zunehmende Enge in ihrer Brust und schlang den Arm um die wertvolle Umhängetasche, die quer über ihrem Oberkörper hing. Das hier war es doch, was sie gewollt hatte, oder? Das war Freiheit. Das war Flucht. Das war ein fliegendes Haus. Das war – bitte, bitte, bitte – kein Fehler.

»Haus frei«, rief Erik.

»Hurra!«, juchzte Eiderdaus der Zauberer und rieb sich die Hände, während er durch den Flur auf Neun zuhopste. Hinter ihm kam ein Holzlöffel mit spindeldürren Armen und Beinen angeflitzt, dessen Gesicht größtenteils aus zwei buschigen roten Augenbrauen und einem riesigen Schnurrbart bestand. »Drei Jahre!«, fuhr der Zauberer fort. »Drei Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Wir haben Ihre Welt schon des Öfteren besucht, bisweilen sogar sterbliche Gäste mit auf Reisen genommen, aber wir haben noch nie jahrelang hier festgesessen. Frei vom Fluch! Frei von Ihrer Welt! Frei von Ihren dreckstarrenden Straßen!«

»Hey!« Neun runzelte die Stirn.

Eiderdaus hakte sich bei Erik unter, und seine rotbraunen Locken wippten, als die beiden im Kreis herumtanzten. Dr. Löffel verdrehte die Augen. Neun musterte den strahlenden Zauberer in seinem dunkelblauen Pyjama und den flauschigen lila Pantoffeln und sagte: »Bitte, gern geschehen.«

»Selbstredend bin ich überaus dankbar für Ihre Hilfe beim Brechen des Fluchs, Madame …«

»Was ohne mich kein bisschen funktioniert hätte.«

»… aber ach! Die Welten der Magie wieder zu bereisen! Frei zu sein!« Eiderdaus seufzte selig, und seine seltsam alterslosen Augen funkelten. Da musste auch Neun lächeln.

»Nun denn, Madame, die Hüpfkästchenmeisterschaft steht kurz bevor. Das wird unser erster Halt. Drei Jahre habe ich schon versäumt! Wir sollten uns sputen, sonst finden wir nie einen Parkplatz für das Haus.« Der Zauberer wackelte aufgeregt mit den Fingern. »Wie wäre es mit Tee zur Feier des Tages?« Er klatschte in die Hände und grinste Neun an.

Erik zuckelte zufrieden durch den langen Flur in Richtung Küche. Eiderdaus folgte ihm, hielt jedoch kurz an, um das Bild von Sir Ignatius dem Ständig Späten (15891641), eins der zahlreichen Gemälde seiner Vorfahren, leicht zu neigen. Es blieb eine Sekunde lang schief, ehe es sich wie von Zauberhand wieder gerade rückte. Kichernd setzte Eiderdaus seinen Weg fort.

»Trottel«, brummte der Löffel und schüttelte den Kopf. »Jetzt, wo das Haus wieder unterwegs ist, können wir endlich Professor Schüssel suchen. Vielleicht nimmt sie sogar Kontakt zu mir auf, nachdem der Fluch nun gebrochen ist.« Sein roter Schnurrbart zuckte, ehe er die mit pflaumenfarbenem Teppich ausgelegte Treppe hinaufjagte.

Neun hatte schon einiges über Dr. Löffels verschollene Alchemie-Kollegin gehört – zum Beispiel, dass sie eine Hälfte der Antwort hatte, wie man Dinge in Gold verwandelte, und er die andere. Ob die beiden wohl jemals wieder vereint sein würden? Und für wen wollten sie das Gold überhaupt herstellen? Wenn sie richtig viel davon machten, würden sie doch bestimmt nicht alles selbst brauchen …

Nein! Ich bin keine Diebin mehr.

»Ihr Zimmer wird all Ihre Erwartungen perfekt erfüllen.« Eiderdaus’ Stimme riss Neun aus ihren Gedanken. »Das Zimmer wählt den Bewohner, nicht umgekehrt – und zwar sehr sorgfältig. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«

»Zu Hause«, murmelte Neun. Die Worte waren ihrer Zunge fremd. Das hier fühlte sich nicht wie zu Hause an …

Sie erklomm die Stufen bis in den ersten Stock. Dort gab es Dutzende Türen in allen erdenklichen Farben und Größen – manche so klein wie ein Mauseloch, andere gewaltiger als ein Torbogen. Die lächerlich hohen Wände waren mit Hunderten weiteren Türen gespickt, bis hinauf zur fernen, kunstvoll bemalten Decke.

Zu einigen Türen gelangte man über ein wackliges Wirrwarr aus hölzernen Treppen und Absätzen. Andere erreichte man über lange Leitern oder die ausladende Hauptwendeltreppe, die sich bis ins Unendliche zu winden schien. Wieder andere wirkten völlig unzugänglich.

Ein enger Aufgang zu Neuns Rechten endete vor einer einzelnen, winzigen Tür: Dr. Löffels Zimmer. Darauf prangte ein gelber Kreis mit einem kleineren Kreis in der Mitte. Durch den Türspalt drangen ein schwacher Geruch nach Verbranntem und der ein oder andere orangefarbene Rauchkringel, der kurz durch die Luft tanzte, bevor er sich auflöste. Neun zögerte einen Moment, dann zuckte sie die Achseln. Wenn ein Holzlöffel versuchte, Gold herzustellen, sollte einen so etwas auch nicht mehr wundern.

Ein Quietschen ertönte. Ruckartig hob Neun den Kopf, als eine dunkelviolette Tür am Ende einer hohen Leiter sich einen Spaltbreit öffnete. Das Zimmer wählt den Bewohner, nicht umgekehrt.

Während sie die Sprossen emporstieg, zwickten und zwackten sie Zweifel. Was, wenn das Zimmer doch nicht perfekt für sie war? Was, wenn sie nicht perfekt für das Haus war? Was, wenn sie gar nicht hier sein sollte? Was, wenn das alles ein Riesenfehler …

»Teeschrank!«, rief warnend eine weit entfernte Zaubererstimme. Mitten auf der Leiter hielt Neun inne.

Teeschrank? Dann begriff sie: Der Teeschrank war immer noch verflucht, und sobald jemand den Griff berührte …

ZIPP! Neun verwandelte sich in einen Frosch mit zwei buschigen Schwänzen und überlangen Beinen, die sich an die Leiter klammerten. Sie hatte acht Augen, von denen nur zwei offen waren – die restlichen ploppten eins nach dem anderen auf, bis sie acht Leitern vor sich sah. Als die Magie abklang, machte auch der Frosch die Fliege, und die acht froschigen Glupschaugen wurden wieder zu Neuns eigenen, eindeutig nur zwei Augen.

»An diese Magie werde ich mich wohl nie gewöhnen«, brummte sie und kletterte weiter bis zur violetten Tür. Sie streckte den Arm, doch ehe ihre Finger das Holz überhaupt berührten, schwang die Tür knarzend und langsam, ganz langsam auf. Bebend vor Nervosität und freudiger Erwartung trat Neun ein.

KAPITEL 2

Der Raum war eigentümlich geformt, ein Sechseck, aber leicht windschief, als wollte es auf gar keinen Fall aussehen wie all die regelmäßigen Sechsecke. Die beiden Wände gegenüber der Tür hatten jeweils ein hohes Fenster, verdeckt von langen türkisen Vorhängen. Die lavendelfarbene Tapete war mit goldenen Sternen gesprenkelt. Auf den Bodendielen waren dicke Wollteppiche verteilt, und der am weichsten wirkende lag vor einem Ziegelkamin. Zögernd ging Neun darauf zu und strich über den flauschigen Flor. Sie dachte zurück an die zerschlissenen Säcke, auf denen sie früher geschlafen hatte, und die Kälte, die vom klammen Steinboden bis in ihre Knochen gekrochen war.

Es gab auch einen Stuhl und einen Schreibtisch aus Holz in einer der Zimmerecken, außerdem einen Kleiderschrank, eine große Truhe mit einem stoffbezogenen Deckel und ein deckenhohes Regal voll prächtiger Bücher. Lächelnd ließ Neun die Finger über die goldenen Buchstaben auf den Rücken wandern. Die Bücher trugen merkwürdige Titel, die sie noch nie gehört hatte.

Bis auf …

Bei einem braunen Leineneinband hielt sie inne, und ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie die goldene Aufschrift sah. Das Geheimnis im Wolfenmoor von Horatio Piddlewick.

Ihr Lieblingsbuch. Und das letzte, das sie in ihrem alten Leben außerhalb des Hauses gelesen hatte – stibitzt aus der baufälligen Bücherei, die von Mr. Downes geführt wurde. Der rothaarige Bibliothekar mit der Hornbrille würde ihr weit mehr fehlen, als sie zugeben wollte. Sie sehnte sich danach, das Buch aufzuschlagen und kurz darin zu schmökern, um zumindest ein wenig Normalität, ein wenig Vertrautheit zu spüren. Ihre Finger schwebten vor dem Rücken, aber am Ende brachte sie es doch nicht über sich, das Buch herauszuziehen. Daran zurückzudenken, wie sie bei der letzten Lektüre noch auf ihrem Sacklager gesessen hatte …

Sie drehte sich zu ihrem jetzigen Bett um. Schwarzer Eisenrahmen, kuschelige Kissen und türkise Seidenbezüge.

Ein Bett. Ein echtes, richtiges Bett!

Vermutlich hatte Eiderdaus recht: Das Zimmer eignete sich perfekt für sie.

Sie verscheuchte die dunklen Gedanken. Mit einem echten, richtigen Bett gab es nur eins zu tun …

Neun nahm Anlauf und sprang. Sie warf sich hinein, wälzte sich herum und knuddelte die fluffigen Kissen, ehe sie sich, Arme und Beine von sich gestreckt, auf den Rücken fallen ließ. Die Zimmerdecke war in einem wunderschönen Dunkelblau gestrichen und übersät mit silbernen Glitzerwirbeln, die aussahen wie alte Runen.

Ein Haus … Ein Heim … Sie hatte alles, was sie brauchte. Doch wenn das Zimmer so perfekt für sie war, warum fragte sie sich dann immer noch, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte?

KLOPF-KLOPF.

Neun runzelte die Stirn.

Denn das Klopfen kam merkwürdigerweise nicht von der Zimmertür, sondern vom Kleiderschrank.

KLOPF-KLOPF.

Sie kletterte vom Bett und marschierte hinüber. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, fiel ihr wieder ein, wo genau sie den Schrank schon einmal gesehen hatte. Und was genau sich darin befand. Sie hob eine Augenbraue, stemmte eine Hand in die Hüfte und riss mit der anderen die Tür auf.

Ein Schädel rollte heraus und blieb vor ihren Füßen liegen.

»Du!« Neun starrte hinunter auf den Schädel, dann in den Schrank.

Dort lehnte, mehr schlecht als recht aufgerichtet, ein schädelloses Skelett. Ein Skelett im Schrank war ja schon verrückt, aber ein schädelloses war einfach die Krönung.

Neun hatte Dietrich bereits bei ihrem letzten Besuch im Haus entdeckt. Und drei Dinge über ihn erfahren, die sie alle nicht sonderlich erfreut über dieses Wiedersehen stimmten. Erstens: Er war trübselig wie sieben Tage Regenwetter. (Gut, er war auch tot und saß in einem Schrank fest.) Zweitens: Sein Finger eignete sich hervorragend zum Schlösserknacken. Drittens: Eiderdaus wurde seltsam nervös, wenn man ihn erwähnte …

»Ich klopfe schon seit einer Ewigkeit, aber du willst mir meinen Kopf wohl nicht wieder aufsetzen«, schimpfte das Skelett, ohne den Kiefer zu bewegen. »Kaum tot, bist du für alle gestorben! Ich werde hier durchgerüttelt und – geschüttelt, dass mir die Knochen klappern.«

»Das Haus ist losgeflogen.« Neun studierte den Schädel und stupste ihn an. »Sag mal, Dietrich, wie kannst du eigentlich sprechen, ohne den Mund zu bewegen?«

»Ich muss doch sehr bitten! Nur weil ich tot bin, denken alle, sie könnten mich herumschubsen, mir meine Knochen stehlen …«

»Das war nur ein einziges Mal. Und nur ein einziger Finger«, entgegnete Neun unwirsch. »Außerdem habe ich ihn zurückgebracht. Was machst du überhaupt in meinem Zimmer?«

»Dieser grässliche Zauberer hat mich herbugsiert. Weil er mich nicht länger auf dem Treppenabsatz haben wollte. Ich würde zu viele schmerzvolle Erinnerungen in ihm wachrufen. In ihm! Und was ist mit mir? Niemand interessiert sich für mich. Aber wo du jetzt da bist: Vielleicht könntest du mich hin und wieder mal herausholen, für einen kleinen Tapetenwechsel. Mir eine schöne Tasse Tee kredenzen. Meine Rippen abstauben …«

Stöhnend pflanzte Neun den Schädel zurück auf den Hals des Skeletts. Sofort rastete er mit einem fiesen Klicken ein.

»Klar«, meinte sie dann, immer noch unschlüssig, wie sie es fand, dass ein Skelett in ihrem Zimmer hauste, vor allem eins, das man putzen musste. »Ich, äh … staube dich ganz bestimmt später ab.«

Damit warf sie die Schranktür zu.

»Von wegen«, erscholl es dumpf aus dem Schrank. »Niemand staubt mich je später ab. Oder erzählt mir, was draußen vor sich geht.«

Draußen … Was genau ging draußen eigentlich vor sich?

Neun lief zum linken Fenster und legte die Hände an den weichen Stoff der Vorhänge. Das Haus reiste durch magische Welten. Sollte sie einen Blick wagen? Natürlich! Sie riss die Vorhänge auf.

Schwärze. Endlose, wunderschöne Schwärze. Neun schnappte nach Luft, als plötzlich aus dem Nichts silberne Wirbel erschienen, sich tanzend verflochten, ehe sie mit einem gleißenden Blitz zerbarsten und nur einen Schweif verblassender Sterne in der Dunkelheit hinterließen. Doch schon erhoben und verwoben sich zwei neue schimmernde Wirbel.

»Herrlich, nicht wahr, Madame?«, ertönte Eiderdaus’ Stimme hinter ihr. Ruckartig drehte Neun sich um. Der Zauberer lehnte zufrieden lächelnd im Türrahmen. In der einen Hand hielt er eine Untertasse, in der anderen eine geblümte Porzellantasse, an der er nippte. Hoffentlich bekam Dietrich nicht mit, dass der Zauberer den erlesensten Tee aller Welten trank. Sonst würde er nur gleich wieder anfangen zu meckern.

»Wir befinden uns in der Welt zwischen den Welten. Im Nichts, und doch am Rande von allem. Es ist einer der gefährlichsten Orte schlechthin. Aber auch einer der schönsten.«

Neun hob die Hand zum Fenstergriff. Ihre Neugier wuchs. Wie es da draußen wohl war?

»Ich rate Ihnen dringend, das Fenster geschlossen zu halten. Es hat schon einmal jemand ein Fenster geöffnet, und das haben wir seither nie wieder zubekommen.« Eiderdaus wirkte einen Moment lang gedankenversunken. »Zudem gebietet es die Sicherheit. Wir reisen mit enormer Geschwindigkeit, Madame.«

»So fühlt es sich aber gar nicht an.« Wieder blickte Neun hinaus zu den silbernen Wirbeln. »Und sieht auch nicht so aus.«

»Natürlich nicht.« Eiderdaus reckte die Nase noch weiter in die Luft. »Wir sprechen hier von Magie allerhöchsten Grades, Madame. Überdies ist das Haus außerordentlich gut erzogen.«

WUMP! Eine gewaltige Schockwelle rollte durch das Haus. Neun verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Von den Bodendielen aus sah sie zum Zauberer auf, der mit der einen Hand den Türrahmen umklammerte und mit der anderen die Untertasse mit der klappernden Tasse. Tee tropfte von seiner Nase auf den Pyjama. Seine Augen waren erschrocken aufgerissen.

»Und das ist noch mehr Magie allerhöchsten Grades?«, fragte Neun scharf und rieb sich die Knie, nachdem sie sich aufgerappelt hatte.

WUMP! Das Haus ruckte. Die Teetasse klapperte. Neun stolperte rückwärts gegen das Fenster. Es knackte besorgniserregend, zerbrach aber nicht. Eiderdaus kippte nach vorn ins Zimmer.

Es war eine Sache, in einem unberechenbaren magischen Haus sonst wohin zu fliegen, aber eine ganz andere, in einem unberechenbaren magischen Haus sonst wohin zu fliegen, wenn irgendetwas ziemlich … schieflief.

»Ach du meine Güte!« Eiderdaus stellte Tasse und Untertasse auf der Truhe ab. »Das ist ausgesprochen ungünstig.«

»Was?«, fragte Neun, deren Geduld rapide schwand. »Was ist hier los?«

»Madame, ich schätze, das Haus hat Schluckauf.«

KAPITEL 3

»Schluckauf?«, wiederholte Neun. »Warum hat es Schluckauf

»Woher soll ich das wissen, Madame?«, fragte Eiderdaus. »Vielleicht ist es nervös.«

»Nervös?! Wie kann denn ein Haus nervös sein?«

»Madame, wenn Sie in der Welt zwischen den Welten wären, im Nichts, am Rande von allem, und mit enormer Geschwindigkeit fliegen würden, nachdem Sie drei Jahre lang gar nicht geflogen sind, weil eine kaltherzige Hexe Sie mit einem schrecklichen Fluch belegt hat, wären Sie sicher auch nervös.«

Neun hätte ihn am liebsten daran erinnert, wessen Schuld es gewesen war, dass die kaltherzige Hexe – seine eigene Schwester – das Haus überhaupt erst verflucht hatte.

»Die Welt zwischen den Welten ist nicht der beste Ort für einen Schluckauf«, fuhr Eiderdaus fort. »Doch ich bin zuversichtlich, dass er sich bald wieder legt. Bis dahin müssen wir schlicht …«

WUMP! Neun plumpste wieder zu Boden. Als sie sich aufsetzte, war sie allein im Zimmer. Wo steckte …?

Die Schranktür flog auf, und Eiderdaus kam herausgestakst.

»… vorsichtig sein.«

»Nein, nein, lass dich von mir nicht stören«, motzte das Skelett.

»Verflixter Schluckauf«, brummelte Eiderdaus, während er schnell die Schranktür hinter sich zuwarf und sich dagegenlehnte. Seine Wangen färbten sich scharlachrot.

»Noch mehr Schaden kannst du ja nicht anrichten«, dröhnte Dietrichs Stimme durch das Holz. »Wobei ich nicht darauf wetten würde.«

»Schaden?« Neun musterte Eiderdaus misstrauisch. »Was für einen Schaden?«

»Nichts, nichts«, stammelte der Zauberer. »Hier hat niemand einen Schaden. Sie wissen doch, wie Skelette sind.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Die schimpfen über alles und jeden. Wahre Trauerknochen!«

»Das habe ich gehört«, schimpfte das Skelett. »Apropos: ein Wort im Vertrauen über diesen Schrank.«

BONG! Ein seltsamer Gong ertönte von überall und nirgendwo zugleich.

»Was denn nun schon wieder?«, fragte Neun.

»Ah, der Urne sei Dank«, murmelte Eiderdaus und stürzte zur Tür. »Kommen Sie.«

»Welche Urne?« Neun ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, auf der Suche nach dem vorlauten Gefäß.

»Die Funkurne«, antwortete Eiderdaus.

»Vielen Dank, jetzt ist alles gleich viel klarer«, brummte Neun, während sie die Leiter hinunterstiegen.

Am Ende des engen Treppenaufgangs flog Dr. Löffels Tür auf. Mit wehendem, schleifchenbesetztem Schottenrock stürmte er heraus und schwang sein winziges Schwert.

»Was zum Teufel ist hier los, Kumpel? Führt das Haus einen verdammten Freudentanz auf?« Seine Stimme war erstaunlich kräftig für ein so kleines Wesen. »Ich muss weiter an meinen Experimenten arbeiten.«

»Das Haus … hat Schluckauf«, erklärte Neun matt. Derart lächerliche Dinge sagte sie wohl leider nicht zum letzten Mal.

»Kein Grund zur Sorge«, versicherte Eiderdaus. »Alles unter …«

WUMP! Die Leitersprossen verschwanden. Neun blieb kaum Zeit zu realisieren, dass ihre Hände und Füße nur noch auf Luft ruhten, bevor sie in die Tiefe stürzte. Ihr Aufprall wurde von einem befriedigend weichen Häufchen Zauberer gedämpft.

»Uff«, machte das Häufchen.

Dr. Löffel sprang auf das Geländer vor seiner Tür, rauschte herunter und landete mit einem Salto vor Neun.

»Das Haus beruhigt sich bald wieder«, meinte Eiderdaus, während er und Neun sich entwirrten. »Viel wichtiger ist doch, dass wir einen Funkruf haben.« Einen Moment lang glitzerten seine Augen silbern.

»Aye, und wehe, der hat irgendwas mit deinen dämlichen Hüpfkästchen zu tun«, knurrte der Löffel. Trotzdem folgte er ihnen die Treppe zur Diele hinunter.

BONG!, gongte die Funkurne von irgendwoher und klang diesmal ein wenig gereizter als zuvor. Neun lief schneller. Aus ihrer wippenden Umhängetasche drang ein leises Klimpern. Ihr wertvollster Besitz – und ihr einziger, abgesehen von der Tasche: die Spieldose, mit der sie als kleines Kind vor einer Tür zurückgelassen worden war. Ehe Zocks sie gefunden und mit sich gezerrt hatte.

Sie griff in die Tasche und schlang die Finger um die silberne Dose. Wenn der Schluckauf hier überall Magie herumschießen ließ, wollte sie sichergehen, dass sie geschützt war. Sie hätte sie schon einmal fast verloren, und das hatte ihr beinahe das Herz gebrochen. Deshalb umklammerte sie sie fest, während sie hinter Eiderdaus die Stufen hinunterrannte. Die Fingerspitzen ihrer anderen Hand strichen über das Geländer. Der Löffel sauste auf dem Holz vor ihnen her.

Als Neun und Eiderdaus sich dem Ende der Treppe näherten, rief er schon aus dem Flur: »Wenn ich du wäre, Mädchen, würde ich da schleunigst runterkommen, bevor der nächste …«

WUMP! Eine Art weißer Blitz zuckte über das Geländer in Neuns Arm, durch ihren Körper und den anderen Arm bis in die Finger, die die Spieldose hielten. Und als hätte ihr jemand einen brutalen Stoß verpasst, wurde sie die Stufen wieder hinaufgeschleudert.

Sie landete als Kuddelmuddel aus Gliedmaßen oben auf dem Absatz. Benommen holte sie ihre Spieldose heraus und untersuchte sie.

Puh! Alles in Ordnung.

Halt. Nein. Nicht alles in Ordnung. Die Dose … flüsterte?

Neun presste sie sich ans Ohr.

Ja, eindeutig. Warum flüsterte die Dose? Neun konnte die Worte nicht verstehen, aber da war zweifellos eine Stimme …

»Kommen Sie, Madame!«, rief Eiderdaus vom Fuß der Treppe.

»Das versuche ich ja«, fauchte Neun, während der Zauberer schon den Flur entlanghastete. »Falls es dir nicht aufgefallen ist, mich hat gerade ein magischer Blitz aus deinem Treppengeländer getroffen. Und jetzt flüstert meine Spieldose!«

»Ach, der fehlt gewiss nichts, Madame. Sputen Sie sich!«, tönte die Stimme des Zauberers zu ihr herauf.

Neun rappelte sich auf, steckte die Spieldose wieder ein und rannte ihm nach.

Die Küche war gemütlich, aber sonderbar. Sie quoll nur so über von Schränken und Regalen aller Art und Größe. Die Hintertür auf der gegenüberliegenden Seite führte zu einem Garten, der auch als Friedhof diente – kein Ort, den Neun so schnell noch einmal besuchen wollte. Links stand eine geschirrgefüllte Anrichte neben einem Ziegelkamin mit einem schwarzen Kessel, den Erik gerade mit seinem Staubwedel bearbeitete. Rechts befanden sich ein großer Kleiderständer und ein Eimer, in den orangefarbener Schleim von der Decke tropfte.

Außerdem gab es unweit des Kleiderständers eine hölzerne Bogentür, hinter der sich – wie Neun leider am eigenen Leib erfahren hatte – die Familiengruft mit den Dann-und-Wann-Toten verbarg. Zum Glück war die Tür fest verschlossen, und die Magieschübe hatten die Dann-und-Wann-Toten nicht in ihre Dann-und-Wann-untot-Laune versetzt. Zur anderen Seite der Bogentür wartete ein geblümter Nachttopf, der dankenswerterweise leer war.

Der Löffel stand auf dem Küchentisch, und Eiderdaus stellte schwungvoll die Funkurne neben ihm ab. Sie war größer und schmaler als eine Teekanne und dunkelblau mit verschlungenen gelben Verzierungen.

»Juhu, Funkzeit!« Erik klemmte seinen Staubwedel unter das Band seiner Schürze und gesellte sich zuckelnd zu den anderen.

»Während des Fluchs war der Urnenfunk unterbrochen«, erklärte Eiderdaus. »Deshalb bin ich schrecklich uninformiert. Noch ein ausgeklügelter Trick meiner Schwester. Nun denn … sehen wir nach, wer uns eine Nachricht geschickt hat.«

Voll Vorfreude wackelte er mit den Fingern und hob feierlich den Deckel der Urne an.

KAPITEL 4

Neun schnappte nach Luft. Als wären sie an der Unterseite des Urnendeckels befestigt, tauchten Kopf, Hals und Oberkörper einer alten, grauhaarigen Hexe auf. Neun starrte sie an. Die Hexe war da … und gleichzeitig auch nicht. Man konnte beinahe durch sie hindurchschauen.

Dr. Löffel ließ enttäuscht die winzigen Schultern hängen und hüpfte vom Tisch. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Die nächste verfluchte Hexe! Warum konnte es keine Nachricht von Professor Schüssel sein?«

Die Hexe beachtete den Löffel gar nicht. »Die Hüpfkästchenmeisterschaft findet in der neunten Stunde des dritten Tages des siebten Monats des zehnten Mondes statt.«

»Dienstag«, raunte Eiderdaus Neun zu.

»Ihre Bewerbung war erfolgreich, und Sie sind herzlich zur Teilnahme eingeladen«, leierte die Hexe herunter und stierte ausdruckslos vor sich hin. »Sie sind herzlich zur Teilnahme eingeladen, da Ihre Bewerbung erfolgreich war.«

»Ich darf mitmachen«, flüsterte Eiderdaus.

»Das habe ich schon verstanden«, erwiderte Neun gereizt. »Wer ist das?«

»Pssst«, zischte Eiderdaus.

»Selber pst!«

»Keine Unterbrechungen«, schalt die Hexe. Ihr Blick huschte kurz zu Neun, ehe sie ihn wieder starr nach vorn richtete. »Herzlichen Glückwunsch, Sie dürfen teilnehmen, herzlichen Glückwunsch.«

»Lebt sie in dieser Urne?«

»Pssst«, zischte Dr. Löffel.

»Alle Teilnehmenden werden daran erinnert, dass es sich um ein ruhmreiches, aber gefährliches Ereignis handelt und sie auf eigene Gefahr an diesem ruhmreichen, aber gefährlichen Ereignis teilnehmen. Und keine Unterbrechungen«, leierte die Hexe weiter.

»Wie kann sie …?«

»PSSST!«, zischten Zauberer und Löffel gleichzeitig, während Erik sich die großen Pranken vor den Mund presste und Neun nervös anschaute.

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