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Wer nicht liebt, der nicht gewinnt

Seit ihre beste Freundin Jen ein Baby bekommen hat, ist sie für Zoe kaum noch zu erreichen. Zunächst arrangiert Zoe sich. Aber als sie jemanden zum Reden braucht, wird Jens Mutter Pam zu ihrer Vertrauten. Dann verliebt sie sich auch noch in Jens Bruder. Als Pam dann mit Zoes Vater zusammenkommt, ist die ungewöhnliche Patchwork-Familie komplett – und stellt nicht nur Zoe vor ungeahnte Herausforderungen …

»Ein Gute-Laune-Buch und ein Lob auf Freundinnen.«
Für Sie über »Wer flüstert, der liebt«

»Mallery ist die Meisterin darin, glaubhafte lebensnahe Figuren in realistischen Situationen darzustellen. Ihre bezaubernde, witzige und berührende Mischief-Bay-Serie lässt Leserherzen höher schlagen.«
Library Journal

»Schwer, aus der Hand zu legen … ein köstliches Vergnügen. Sehr zu empfehlen.«
Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag: 28.07.2020
  • Aus der Serie: Mischief Bay Serie
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674560
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

»Ich heiße Zoe Saldivar, und ich hatte idiotischen Sex mit meinem Ex.«

Während Zoe das sagte, zog sie vorsichtig an dem Seil, das im oberen Stockwerk von der Klappe zum Dachboden baumelte. Der Mechanismus war etwas eingerostet, und wenn die Klappe zu hart zufiel, würde sie für immer festklemmen. Das hatte ihr zumindest der Bauprüfer gesagt, als sie mit ihm zusammen das Haus inspiziert hatte.

»Nicht dass der Sex idiotisch war«, fuhr sie fort. »Der war ganz in Ordnung. Ich würde gerne behaupten, dass ich betrunken gewesen wäre, war ich aber nicht. Und ich wusste sogar, dass es eine schlechte Idee ist. Aber ich war schwach. So, jetzt habe ich es gesagt. Ich hatte in einem schwachen Moment Sex mit dem Ex.«

Die Leiter senkte sich in den schmalen Flur ihres Hauses herab. Zoe stellte einen Fuß auf die erste Stufe und schaute dann Mason an, ihre übergroße, orangefarbene Katze.

»Und von dir kommt nichts?«, fragte sie. »Du willst mir keinen Rat geben?«

Mason blinzelte.

»Ist das Desinteresse oder Vergebung?«

Mason gähnte.

»Ich weiß nicht, was schlimmer ist«, gab Zoe zu. »Der Ex-Sex oder die Tatsache, dass du der Einzige bist, mit dem ich darüber reden kann.«

Sie kletterte die schmalen, wackligen Stufen hinauf in den überraschend geräumigen Dachboden. Bisher hatte sie nicht viel hier hochgebracht – was hauptsächlich daran lag, dass es beinahe unmöglich war, etwas Großes oder Schweres diese Stufen hinaufzuschleppen. Aber sie hatte einen Lagerort für ihre Koffer und die neue Fahnensammlung gefunden, die sie vor Kurzem auf einem Trödelmarkt am Strand erstanden hatte. Ihre Mom hatte es immer geliebt, das Haus passend zur Jahreszeit oder auch für einen bestimmten Feiertag zu schmücken. Und jetzt, da Zoe ein eigenes Haus hatte, wollte sie es ihr gleichtun.

Sie schaltete das Licht an und ignorierte das gruselige Gefühl, auf einem Dachboden zu sein. Dieser hier war hell und roch nicht allzu muffig. Aber trotzdem war es ein Dachboden.

Seufzend trug sie den eins fünfzig hohen Fahnenmast zur Dachluke und kehrte dann zurück, um die Frühlingsflagge herauszusuchen, die sie hissen wollte. Einen Moment bewunderte sie lächelnd das wunderschöne, gewebte Bild aus bunten Blüten.

»Perfekt.«

Irgendwo knarrte es.

Zoe drehte sich um und sah Mason die Treppe hinaufkommen.

»Nein!«

Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass ihr Kater für mehrere Stunden in irgendeiner staubigen Ecke verschwand und sie versuchen musste, ihn da wieder herauszulocken.

Mason warf ihr einen Blick aus seinen grünen Augen zu und sprang dann auf den Dachboden.

Er war ein großer Kerl. Achtzehn Pfund Muskeln und, okay, vielleicht ein paar zu viele Katzenleckerchen. Sein Sprung bewirkte prompt, dass die Leiter hochglitt und sich dann mit erstaunlicher Geschwindigkeit zusammenfaltete, bevor die Tür zuschnappte. Das finale Plopp hallte durch das gesamte Haus. Dann folgte Stille.

Zoe und Mason schauten einander an, bevor der Kater mit erhobenem Schwanz losschlenderte, um den Raum zu erkunden. Als wäre alles gut. Doch das war es nicht.

Sie sollten die Dachbodenluke niemals fest zuschlagen. Sie ist aufgrund von Alter und Feuchtigkeit verzogen und muss ersetzt werden. Wenn Sie sie zufallen lassen, wird sie sich vermutlich nicht mehr öffnen lassen.

Die Worte des Bauprüfers hallten durch ihren Kopf. Worte, die sie registriert hatte. Nur unternommen hatte sie leider noch nichts. Ich habe nun einmal andere Dinge im Kopf, dachte Zoe. Wie zum Beispiel Wände streichen und neue Vorhänge aussuchen. Mal ehrlich, es war eine Dachbodenluke. Wie wichtig konnte die schon sein?

Offensichtlich sehr wichtig, wie sie jetzt bemerkte.

Die Frühlingsfahne glitt Zoe aus den Fingern. Sie ging zur Klappe und drückte dagegen. Nichts. Sie drückte fester. Immer noch nichts.

Handwerklich war sie leider nicht begabt. Ja, sie konnte Glühbirnen auswechseln und ihren Computer updaten, aber alles, was komplizierter war, stellte für sie eine Herausforderung dar. Sie verstand das Konzept einer Dachbodenleiter. Man musste an einem Seil ziehen und die Falltür öffnete sich. Dabei entfalteten sich die Stufen. Wenn man fertig war, drückte man gegen die Stufen, bis sie sich wieder zusammenfalteten und die Luke sich schloss.

Eines allerdings wusste sie nicht: Was zum Teufel man tun sollte, wenn man sich im Inneren des Dachbodens befand. Falls sie sich auf die Leiter stellte und diese dann ausfuhr, würde sie in den Flur darunter stürzen. Unwahrscheinlich, dass das gut ausging.

Zoe kniete sich vor die Öffnung und legte ihre Hände an beide Seiten der Treppe. Dann drückte sie, so fest sie konnte. Aber nein, nichts. Nicht mal der Hauch einer Bewegung war zu spüren. Sie saß hier oben tatsächlich fest.

Mit einem Seufzer setzte sie sich auf den Boden und überlegte, was sie tun konnte. Nach Hilfe zu rufen war ziemlich sinnlos. Im Haus war niemand – was daran lag, dass sie allein wohnte. Klar, sie hatte Freunde, aber denen würde ihr Fehlen erst nach Tagen auffallen. Genau wie ihrem Vater. Ihr Handy lag unten, und einen Nachbarn auf sich aufmerksam zu machen, wäre eine Herausforderung, weil der Dachboden keine Fenster hatte.

Sie schluckte und sagte sich, dass es hier oben nicht wirklich wärmer wurde. Dass es ihr gut ging und sie atmen konnte. Alles war in Ordnung. In einer Ecke bewegte sich was. Sie zuckte zusammen und presste eine Hand auf ihr hämmerndes Herz. Es war Mason. Bildete sie sich das ein, oder musterte er sie irgendwie auf raubtierhafte Weise?

»Du wirst meine Leber auf keinen Fall fressen«, erklärte sie ihm.

Er lächelte.

Zoe zwang sich aufzustehen. Wenn es ein Problem gab, gab es auch eine Lösung. Und die würde sie finden. Falls es hart auf hart kam, würde sie sich einfach gegen die Klappe werfen und sich für den Sturz wappnen. Das wäre besser als ein langsamer, schmerzvoller Tod hier oben allein.

Während sie in dem großen Raum auf und ab lief, versuchte sie, positiv zu denken. Alles würde gut werden. Das hier war eine tolle Anekdote für später. Falls es ein Später gab. Denn gerade versorgte ihr Gehirn sie mit allerhand grauenhaften Geschichten über Leute, die gestorben und erst im mumifizierten Zustand gefunden worden waren. Weil niemand ihr Fehlen bemerkt hatte.

Was mir auch passieren kann, dachte sie entsetzt. Sie lebte allein. Sie arbeitete von zu Hause aus. Ihre beste Freundin war vollauf mit ihrem achtzehn Monate alten Sohn beschäftigt und rief nur selten an. Ja, dachte Zoe. Es war gut möglich, dass sie ohne Leber und mumifiziert enden würde. Sie hatte entsprechende Bilder im Biologieunterricht gesehen. Mumifiziert war ein Look, der niemandem wirklich gut stand.

Zwanzig Minuten später hatte sie ihre Koffer, den Fahnenmast, zwei staubige alte Decken und – warum auch immer – eine metallene Harke zusammengesammelt. Letztere Gegenstände waren vom Vorbesitzer des Hauses zurückgelassen worden. Wenn James Bond jemanden mit einem Füller töten konnte, würde sie es ja wohl schaffen, in MacGyver-Manier einen Weg aus dem Dachboden zu finden.

Sie legte den Fahnenmast neben die Öffnung und ihren kleinsten Koffer direkt daneben. Die Decken waren die Reserve für den Fall, dass sie sich wirklich auf die Treppe werfen und hoffen musste, sich bei der Landung nicht den Hals zu brechen. Sie würde sich in sie einwickeln, um den Sturz abzufedern. Aber als Erstes würde sie einen praktischeren Versuch starten.

Zoe schob die Zähne der Harke in den schmalen Spalt der Dachluke und drückte mit aller Macht auf den Stiel. Die Luke bewegte sich ein klein wenig und fiel dann wieder zu. Nachdem sie eine Sekunde verschnauft hatte, versuchte Zoe es noch einmal, wobei sie ihr gesamtes Körpergewicht zum Einsatz brachte. Sie spürte, wie die Luke ein Stückchen nachgab, dann einen Zentimeter, dann noch ein wenig mehr. Sie schaffte es, den Fahnenmast mit dem Fuß in die Öffnung zu schieben.

Heftig atmend richtete sie sich auf und schüttelte ihre Arme aus. Wenn sie es hier rausschaffte, würde sie ein ernstes Gespräch mit Mason führen. Und vielleicht anfangen, Sport zu treiben. Und mehr Freunde finden. Und sich einen dieser Alarmknöpfe für alte Leute zulegen.

Als ihre Arme nicht mehr so arg zitterten, machte sie sich erneut an die Arbeit. Dieses Mal bekam sie die Klappe so weit auf, dass sie den kleinen Koffer darunterschieben konnte. Unter dem Druck dellte sich die Kunststoffhülle ein, aber wenigstens war die Klappe nun weiter geöffnet.

Zwei weitere Koffer und jede Menge Flüche später sprang die Luke auf und die Treppe entfaltete sich elegant. Mason trottete an Zoe vorbei nach unten, dann schaute er zu ihr auf, als wolle er fragen, warum sie so lange brauchte.

»Wir müssen so was von über deine Einstellung reden«, murmelte Zoe, als sie ihm nach unten folgte. »Und heute Abend gibt es ein Glas Wein.«

Vier Tage nach dem Dachbodenvorfall, wie Zoe ihn nannte, hielt sie auf dem Weg zu ihrer Freundin Jen bei Let’s Do Tea an, um ein paar Scones zu kaufen. Einer der Vorteil des Von-zu-Hause-Arbeitens war, dass sie ihre Zeiten selbst bestimmen konnte. Es interessierte niemanden, wenn sie ihre Arbeit nachts um zwei erledigte. Der Nachteil war natürlich, dass niemand bemerken würde, wenn sie mumifiziert auf dem Dachboden läge.

Egal wie oft sie sich sagte, dass sie einen Weg hinaus gefunden hatte und alles gut war, sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, ihrer eigenen Sterblichkeit ins Auge gesehen und … geblinzelt zu haben. Vielleicht hatte ihr generelles Unwohlsein auch gar nichts mit dem Beinahe-Tod auf dem Dachboden zu tun. Vielleicht war es nur das Gefühl, so unendlich isoliert zu sein.

All ihre alten Arbeitskollegen waren entweder mit der Firma nach San José umgezogen oder hatten eine andere Stelle gefunden. Ihr Dad war ein toller Kerl und wohnte im Ort, aber er war trotzdem ihr Vater und damit niemand, mit dem sie mal shoppen gehen konnte oder so. Sie arbeitete zu Hause und hatte nur selten einen Grund, ihr Haus zu verlassen. Irgendwie war ihr in den letzten Monaten das Konzept ihres Lebens abhandengekommen.

Mit Chad Schluss zu machen hat natürlich viel verändert, sagte sie sich, als sie an den Tresen trat, um ihre Scones auszusuchen. Sicher, der Schritt war richtig gewesen. Aber jetzt fühlte sie sich ein wenig verloren.

Sie wählte ein Dutzend Scones – Buttermilch, Blaubeere und weiße Schoko-Chips –, bevor sie zu ihrem Auto zurückkehrte und zu dem Haus fuhr, in dem Jen lebte.

Es war Mitte März, die Luft kühl und der Himmel klar. Der Pazifische Ozean, der keine halbe Meile entfernt war, sorgte in Mischief Bay für ein gemäßigtes Klima. Selbst im Winter fielen die Temperaturen selten unter fünfzehn Grad, allerdings konnte es dann ein wenig feucht sein.

Sie bog in Jens Straße ein und fuhr auf die kreisrunde Auffahrt. Das große eingeschossige Haus im Ranch-Stil erstreckte sich auf einem riesigen Grundstück. Der Garten war gepflegt, das Dach relativ neu. Im Land der explodierenden Immobilienpreise – vor allem in diesem Viertel – hatten Jen und ihr Mann Kirk in Bezug auf das Haus den Jackpot geknackt.

Zoe rümpfte die Nase, als sie sich erinnerte, welchen schrecklichen Preis dieses Glück gefordert hatte. Vor beinahe zwei Jahren war Jens Vater unerwartet verstorben. Pam, Jens Mutter, hatte das Haus ihrer Tochter überschrieben und war in eine Wohnung gezogen. Zoe schätzte, dass Jen lieber wieder in ihrem kleinen Apartment wohnen würde, wenn sie dafür ihren Dad noch hätte. Ein Gedanke, der vermutlich mit Zoes eigenen Gefühlen zusammenhing: Sie hätte nämlich alles dafür gegeben, ihre Mom noch bei sich zu haben.

»Dieser Vorfall auf dem Dachboden hat wirklich morbide Gedanken in mir ausgelöst«, murmelte sie, als sie aus dem Wagen ausstieg. »Es ist an der Zeit für einen Stimmungswechsel.«

Sie ging zur Haustür und klopfte sanft. Ein hellgelbes, handgemaltes Schild über der Klingel warnte: »Mein Baby schläft.«

Ein paar Sekunden später öffnete Jen Beldon die Tür. »Zoe«, sagte sie überrascht. »Habe ich dich erwartet?« Jen, eine hübsche Brünette mit braunen Augen, stöhnte. »Habe ich. Tut mir leid. Ich bin eine schreckliche Freundin. Komm rein.«

Zoe umarmte sie und hielt ihr dann den Karton mit den Scones hin. »Ich bringe Köstlichkeiten, die keine von uns essen sollte, was mich auch zu einer schrecklichen Freundin macht.«

»Gott sei Dank. In letzter Zeit will ich nur noch Kohlenhydrate. Je mehr, desto besser.«

Jen ging voran in die große, offen gestaltete Küche. Dort setzte sie einen Kessel mit Wasser auf und stellte ihn auf den Herd. Nachdem sie eine Teekanne aus dem Schrank genommen hatte, gab sie Teeblätter in ein Sieb.

»Die Tage vergehen so schnell«, sagte sie. »Manchmal vergesse ich völlig, wo in Zeit und Raum ich mich befinde. Es gibt ständig tausend Dinge zu erledigen.«

Jen trug ein weites T-Shirt über einer schwarzen Yogahose. Dazu hatte sie weiße Socken, aber keine Schuhe an. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, als hätte sie nicht gut geschlafen, und die Kilos, die sie während der Schwangerschaft zugenommen hatte, hielten auch nach achtzehn Monaten noch an ihr fest.

»Kirk hat auf der Arbeit so viel zu tun. Ich weiß, er ist glücklich, aber seine Arbeitszeiten sind vollkommen verrückt. Und lass mich gar nicht erst von seinem Partner anfangen.«

»Macht er dich immer noch nervös?«, fragte Zoe mitfühlend.

»Jeden einzelnen Tag. Der Mann ist ein echter Cowboy. Er hat keinen Sinn für Regeln. Ich weiß wirklich nicht, warum er nicht schon längst mit einer Disziplinarstrafe belegt oder gefeuert worden ist.«

Vor sechs Monaten hatte Kirk seine relativ sichere Position bei der Polizei von Mischief Bay für die Stelle als Detective beim LAPD verlassen. Sein Partner war ein draufgängerischer alter Hase namens Lucas. Jen lebte in der ständigen Angst, dass Lucas ihren Mann in eine gefährliche Situation bringen würde.

Zoe legte die Scones auf einen Teller und stellte diesen auf den Tisch. Dann holte sie Butter sowie Milch für den Tee aus dem Kühlschrank.

Sie warf ihrer Freundin einen Blick zu. »Sollte ich nach Jack fragen?«

Sofort stiegen Jen die Tränen in die Augen. Sie schaute kurz weg, dann wieder zu ihrer Freundin. »Er ist immer noch der Gleiche. Fröhlich, glücklich, liebevoll. Ich wünschte nur …«

Der Kessel fing an zu pfeifen. Jen drehte sich um, schaltete den Herd aus und goss das kochende Wasser in die Teekanne.

Inzwischen nahm Zoe ihren Platz am Tisch ein und unterdrückte ein Seufzen. Jack war ein süßes Baby, das jeden Meilenstein genau zum perfekten Zeitpunkt erreicht hatte. Sich auf den Bauch drehen, sitzen, krabbeln, nach Gegenständen greifen. Das Einzige, was er noch nicht tat, war sprechen. Er benutzte nur sehr selten seine Stimme und brachte seine Wünsche auf andere Weise zum Ausdruck.

In den letzten Monaten hatte Jen sich immer größere Sorgen gemacht. Sie war überzeugt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Zoe verfügte nicht über genügend Erfahrungen mit Babys, um sich eine Meinung zu bilden. Aber bislang hatte jeder der Spezialisten, die Jen aufgesucht hatte, gesagt, dass Jack reden würde, sobald er dazu bereit war. Daher war Zoe der Ansicht, dass ihre Freundin sich wegen etwas verrückt machte, das womöglich gar kein Problem war.

Jen schenkte Tee ein, dann stellte sie das Babyphone vom Tresen auf den Tisch und setzte sich. »Ich mache zu Hause immer noch viele Tests mit Jack«, erzählte sie. »Er ist in fast allem so gut. Ich glaube, er ist klug – jedenfalls entwickelt er sich nicht zurück, soweit ich das beurteilen kann. Nächste Woche werde ich mit ihm noch einmal einen Spezialisten aufsuchen.« Seufzend griff sie nach einem Scone. »Vielleicht liegt es an der Ernährung.« Sie wedelte mit dem Scone durch die Luft. »So etwas würde ich ihm niemals geben. Ich achte so genau darauf, was er zu essen bekommt.« Diesmal klang ihr Seufzen noch schwerer. »Ich wünschte nur, ich könnte schlafen. Aber das ist schwer. Ich mache mir solche Sorgen.«

»Natürlich tust du das. Du hast ja auch viel um die Ohren.«

»Wem sagst du das. Ich musste das Putzteam entlassen. Sie haben Sprühreiniger benutzt. Kannst du das glauben? Ich habe ihnen gesagt, dass sie nur mit Dampf und diesen Speziallappen putzen dürfen, die ich gekauft habe. Was ist, wenn die Dämpfe der chemischen Reiniger Jacks Entwicklung schaden? Was, wenn die Farbe an den Wänden oder die Politur des Fußbodens zu Problemen bei ihm führt?«

»Und was ist, wenn mit ihm alles in Ordnung ist?«

Zoe hatte die Worte ohne nachzudenken ausgesprochen und wünschte sofort, sie könnte sie zurücknehmen. Jen warf ihr einen anklagenden Blick zu und presste die Lippen aufeinander.

»Jetzt klingst du wie meine Mutter«, sagte sie angespannt. »Hör mal, ich weiß, für dich ist es keine große Sache, aber Jack ist mein Kind, und ich bin für ihn verantwortlich, okay? Ich weiß, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich weiß es einfach. Wenn du Kinder hättest, würdest du das verstehen.«

Zoe hatte sich auf ihren Schoko-Chip-Scone gefreut, doch jetzt konnte sie nicht einmal hineinbeißen.

»Es tut mir leid«, erwiderte sie. »Ich wollte dir nur helfen.«

»Das hast du aber nicht.«

Sie wartete ab und fragte sich, ob Jen sich für ihre schnippische Bemerkung entschuldigen würde, doch ihre Freundin funkelte sie einfach weiter an.

»Dann sollte ich besser gehen«, sagte Zoe schließlich leise und erhob sich.

Jen folgte ihr zur Tür. Bevor Zoe das Haus verließ, berührte Jen sie am Arm.

»Hör mal, es tut mir leid. Ich will einfach nur nicht von noch jemandem hören, dass mit Jack alles in Ordnung ist. Das ist es nicht, und ich scheine die Einzige zu sein, die das sieht. Ich habe das Gefühl, zu ertrinken, und das bemerkt auch niemand. Bitte, versteh mich doch.«

»Ich versuche es«, versprach Zoe. »Soll ich nächste Woche wieder vorbeikommen?«

»Was?« Wieder stiegen Jen Tränen in die Augen. »Nein, sag das nicht. Du bist meine beste Freundin. Ich brauche dich. Bitte, komm wieder. Nächstes Mal geht es mir besser. Super sogar. Versprochen.«

Zoe nickte langsam, auch wenn sie alles andere als überzeugt war. Sie waren keine besten Freundinnen mehr. Und das schon seit einer ganzen Weile.

»Wir sehen uns dann«, sagte sie und ging zu ihrem Wagen. Als sie davonfuhr, fiel ihr auf, dass sie gar nicht die Gelegenheit gehabt hatte, Jen von der Sache mit dem Dachboden zu erzählen. Oder von sonst irgendetwas, das in ihrem Leben vor sich ging.

Alles ist jetzt anders, dachte sie. Es gab keinen Chad mehr. Jen entglitt ihr allmählich. Zoe kam sich vor, als würde sie in totaler Isolation leben. Wenn sie nicht allein sterben wollte, würde sie etwas in ihrem Leben ändern müssen. Der erste Schritt war, einen Handwerker zu finden, der die Dachbodenluke reparierte. Jawohl, genau das würde sie tun. Und dann würde der zweite Schritt folgen: Nämlich ihren Hintern aus dem Haus zu kriegen und neue Freundschaften zu schließen.

Jennifer Beldon wusste, dass jede Mutter glaubte, ihr Kind wäre etwas Besonderes, aber in ihrem Fall stimmte es wirklich. John Beldon, der nach seinem verstorbenen Großvater benannt worden war, aber von allen nur Jack genannt wurde, war ein hübsches, glückliches und unglaublich kluges Kind. Mit seinen achtzehn Monaten konnte er laufen und rennen, wenn auch noch etwas unsicher. Er konnte große Holzklötze aufeinanderstapeln und verstand Wörter wie hoch, runter und heiß. Er konnte lachen und auf Objekte zeigen, die sie nannte. Er erkannte das Geräusch, wenn sein Vater mit dem Wagen in die Auffahrt einbog, und er konnte einen Ball mit unglaublichem Geschick kicken. Mit dem sehr seltsamen und empfindlichen Hund seiner Großmutter ging er ganz vorsichtig um, und er wusch sich sogar mehr oder weniger allein vor dem Essen die Hände.

Was er jedoch nicht konnte oder wollte, war: sprechen.

Jen saß ihm auf dem Fußboden im Wohnzimmer gegenüber. Im Hintergrund spielte klassische Musik. Der Teppich war aus biologisch angebauter Baumwolle und weich genug, um ein wenig Schutz zu bieten, wenn Jack hinfiel. Sonnenlicht strömte durch die mit Dampf gereinigten Fenster. So weit das Auge sehen, die Nase riechen und die Lungen atmen konnten, gab es im Haus keinerlei Chemikalien.

Sie hielt die Zeichnung einer Spinne hoch. Jack klatschte in die Hände und zeigte darauf. Die zweite Zeichnung enthielt alle Einzelteile der Spinne, die jedoch nicht in korrekter Form angeordnet waren, sodass sie mehr ein willkürliches Muster als ein Insekt darstellten. Jack runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als wüsste er, dass irgendetwas nicht richtig war. Sie zeigte ihm ein zweites Mal die Spinne und erntete dafür ein glückliches Grinsen.

»Du bist ein kluger Junge«, sagte sie fröhlich. »Ja, das ist eine Spinne. Gut gemacht.«

Jack nickte, dann berührte er seinen Mund mit der flachen Hand. Sofort erkannte Jen das Signal. Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es war halb zwölf.

»Hast du Hunger?« Während sie die Frage stellte, knurrte ihr Magen vernehmlich. »Ich auch. Ich mache uns was zu essen. Willst du zugucken?«

Jack lachte und überwand krabbelnd die kurze Distanz zwischen ihnen. Sobald er sie erreicht hatte, richtete er sich auf und streckte die Arme aus.

Sie zog ihren Sohn an sich und ließ sich von der Wärme seines kleinen Körpers trösten. Er ist so ein toller kleiner Kerl, dachte sie und ihr Herz floss vor Dankbarkeit über. Klug, liebevoll, süß. Wenn er nur …

Sie schob den Gedanken beiseite. Der heutige Tag würde gut werden. Darauf würde sie sich konzentrieren und sich später um den Rest kümmern.

Sie stand auf, und gemeinsam gingen sie in die Küche. Jack lief schnurstracks auf den kleinen Spieltisch zu, der in der Ecke neben der Speisekammer stand. Dort gab es allerlei Sachen, um ihn zu beschäftigen, während sie kochte: einen Stapel Papier und dicke, nicht-giftige Wachsmalstifte, ein blaugrünes Kästchen in Form einer Lunchbox, das Musik spielte und die verschiedenen Dinge, die man hineintat, benannte. Sie hatte eine kleine Spielküche installieren wollen, aber dagegen hatte Kirk Einspruch erhoben. Als sie gesagt hatte, dass es vollkommen in Ordnung wäre, wenn Jungs kochten, hatte er im Gegenzug auf einem Ausgleich in Form einer Werkbank bestanden. Doch obwohl die Küche groß war, war sie nicht groß genug für beides.

Sorgfältig schloss sie das Gitter hinter sich, damit Jack nicht allein losziehen konnte, stellte ihr Handy in die Dockingstation auf der Arbeitsplatte und suchte ihren Lieblingssender.

»Bist du in der Stimmung für Disco?«, fragte sie lächelnd.

Jack sah sie an und grinste.

You Should Be Dancing von den Bee Gees ertönte. Jen bewegte ihre Hüften und Jack tat es ihr nach – oder er bemühte sich zumindest. Er war noch ein wenig ungelenk, aber für sein Alter trotzdem nicht schlecht. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und bewegte sich dabei rückwärts in Richtung Spüle. Jack lachte und klatschte in die Hände. Sie drehte sich zweimal im Kreis, er machte es ihr nach.

Eine Viertelstunde später setzten sie sich zum Essen hin. Jen zog Jacks Hochstuhl zu sich heran. Aus den Lautsprechern an der Decke erklang immer noch Discomusik.

Sein Lunch bestand aus einer kleinen Portion Hühnchenfleisch und Blumenkohlrösti, deren Rezept sie im Internet gefunden und etwas abgewandelt hatte. Um sie zu frittieren, benutzte Jen eine Fritteuse, die mit heißer Luft arbeitete, damit das Essen nicht zu fettig wurde. Eier und ein wenig Bio-Cheddar dienten als Klebemasse. Sie hatte die Rösti kleiner gemacht als im Rezept vorgegeben, sodass er sie in die Hand nehmen konnte. Mit dem Löffel konnte Jack zwar schon gut umgehen, aber sie hatte festgestellt, dass die Mahlzeiten einfacher verliefen, wenn er die Sachen auf seinem Teller einfach mit den Fingern greifen konnte.

Ihr Essen bestand aus etwas Lachs vom Vorabend und ein paar Crackern. Vermutlich hätte sie sich einen Salat machen sollen, aber das war ihr zu viel Arbeit. Kirk würde ihr raten, einen Beutel mit fertig geschnittenem Salat zu kaufen, was vermutlich klug wäre, ihr aber unwirtschaftlich vorkam.

»Heute ist Mittwoch«, sagte sie zwischen zwei Bissen. »Es ist schön, dass es draußen so sonnig ist. Da können wir nachher spazieren gehen und das Meer angucken.«

In allen Büchern und Artikeln, die sie gelesen hatte, stand, dass sie zu Jack sprechen sollte, als wäre er in der Lage, sie zu verstehen. Dass er nicht sprach, bedeutete keineswegs, dass er nicht mitbekam, was sie sagte. Deshalb achtete sie darauf, immer in ganzen Sätzen zu sprechen und die Dinge spezifisch zu benennen. Lulu, der Hund ihrer Mutter, war nicht einfach nur ein Hund, sondern ein Chinesischer Schopfhund. Auch beim Essen benannte sie alles immer korrekt: Brot, Apfel, Reis, Müsli. Das Gleiche galt für seine Spielzeuge.

Sie wusste immer ganz genau, wo Jack gerade war und was er machte. Dabei suchte sie stets nach Gelegenheiten, sein Gehirn zu stimulieren und ihm beim Wachsen zu helfen. Sie kannte die Warnsignale für Autismus, und abgesehen von seiner Unfähigkeit zu sprechen, zeigte Jack keines von ihnen. Aber es gab einen Grund, warum er nicht sprach, und tausend Dinge, die immer noch schiefgehen konnten. Diese Gedanken hielten sie nachts wach.

Nach dem Mittagessen trug Jack seinen Teller vorsichtig in die Küche. Sie nahm ihm den Teller ab und stellte ihn auf die Arbeitsplatte neben ihren. Dann zog sie das Gitter wieder zu und schaltete die Musik aus. Denn ein Kind musste sich auch an Stille gewöhnen.

Wie jeden Tag nach dem Mittagessen stöpselte sie ihre Kopfhörer ein und wählte sich in den Polizei-Scanner ein, den Kirk ihr eingerichtet hatte. Dort herrschte das übliche Geplapper: Zwei Polizisten wurden losgeschickt, um einen möglichen Vorfall von häuslicher Gewalt zu untersuchen. Jemand meldete sich bei der Zentrale, um zu fragen, ob sie zu ihren Spaghetti Marinara auch Brot haben wollten. Jen warf einen Blick zur Arbeitsplatte, um sicherzugehen, dass sie alle Essensreste weggeräumt hatte. Sekunden später wurde ihr eiskalt.

Die Worte kamen zu schnell, als dass sie dem hätte folgen können, was passierte, aber es drang dennoch genug zu ihr durch: zwei Detectives. Schüsse. Officer am Boden.

Kirk! Panik durchflutete sie und ließ ihr Herz rasen. Ihr Atem stockte. Obwohl sie wusste, dass es kein Herzinfarkt war, konnte sie das aufsteigende Grauen nicht unterdrücken. Ihre Brust war wie zugeschnürt, und auch wenn sie einatmete, schien keine Luft in ihre Lungen zu gelangen.

Cracker sind ein sehr leckerer Snack.

Der Singsang aus Jacks Spielzeug durchbrach den Nebel in ihrem Gehirn. Sie schaute zu ihrem Sohn, der die eckigen Plastik-Cracker in die Lunchbox schob und dann lachte.

Sie klammerte sich an der Arbeitsplatte fest und sagte sich, dass sie ruhig bleiben solle. Wenn Kirk der verletzte Officer war, würde sie einen Anruf erhalten. Ein Streifenwagen würde vorfahren und sie dorthin bringen, wohin Familienmitglieder in solchen Fällen gebracht wurden. Schnell wählte sie Kirks Nummer, wurde jedoch gleich zur Mailbox durchgestellt – wie immer, wenn er arbeitete.

Sie wollte so gerne den Fernseher anmachen, doch das konnte sie nicht. Jack durfte den Nachrichten noch nicht ausgesetzt werden. Die waren zu gewalttätig. Und Jen hatte keine Ahnung, welche Erinnerungen er dann mit sich herumtragen würde. Außerdem stand überall, dass Kinder seines Alters nur sehr begrenzt fernsehen sollten.

Sorgsam kratzte sie die Essensreste in den Mülleimer und stellte die Teller dann in die Geschirrspülmaschine. Sie wischte alle Arbeitsflächen ab, während sie weiter dem Polizeifunk lauschte. Es wurden keine Namen genannt, sondern nur wiederholt, was sie schon gehört hatte.

Als die Küche sauber war, nahm Jen zögernd den Kopfhörer ab. Sie wollte ihn nicht vor Jack tragen. Er musste wissen, dass sie auf ihn achtgab. Das Atmen bereitete ihr immer noch Probleme, und ab und zu durchlief sie ein Zittern. An den Strand zu gehen, kam jetzt nicht mehr infrage. Sie musste zu Hause bleiben, für den Fall, dass das Schlimmste passiert war.

Also ging Jen mit Jack in den Garten. Sie ließ die Schiebetür offen, um zu hören, falls jemand an die Haustür kam. Ihr Handy hatte sie in der Hosentasche. Eine endlos erscheinende Stunde spielte sie mit ihrem Sohn, während sie angespannt auf Nachrichten von Kirk wartete. Ungefähr um Viertel vor zwei gingen sie hinein, wo sie Jack einen kleinen Snack zubereitete – Kürbisdip mit einem Stück Apfel. Als er aufgegessen hatte, gingen sie in sein Zimmer, um mit dem Ritual für seinen Mittagsschlaf zu beginnen.

Jen zog die Vorhänge zu, während er sich das Stofftier aussuchte, mit dem er schlafen wollte. Normalerweise gewann Winnie Puuh, und der heutige Tag bildete da keine Ausnahme. Sie half Jack, die Schuhe auszuziehen, und legte ihn ins Bett. Dann setzte sie sich neben ihn und schaltete das Nachtlicht mit eingebauter Spieluhr ein, wie sie es jeden Nachmittag tat. Die vertraute Musik ließ ihn gähnen. Eine Geschichte später schlief Jack tief und fest. Jen schaltete das Babyphone ein und zog sich leise aus dem Zimmer zurück. Sobald die Tür geschlossen war, rannte sie ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.

Alle Regionalsender waren schon wieder bei ihrem normalen Programm. Sie wechselte zu CNN, aber da sprach Wolf Blitzer gerade über einen Aufschwung an der Börse. Jen lief zu ihrem Schreibtisch und wartete ungeduldig, während ihr Laptop hochfuhr, dann ging sie auf die Homepages der Regionalzeitungen und überflog sie hastig.

Sie fand einen Artikel über die Schießerei, aber der war seit einer halben Stunde nicht aktualisiert worden. Mehr als dass auf zwei Polizisten geschossen worden war, stand dort nicht. Der Verdächtige war verhaftet worden. Es gab keine Informationen über einen getroffenen Polizisten – was bedeutete das? Dass niemand getroffen worden war? Dass sie nichts sagen wollten, bis die Familie informiert worden war?

Sie versuchte erneut, Kirk zu erreichen, und landete wieder auf der Mailbox. Es geht ihm gut, redete sie sich ein. Er kam bestimmt bald nach Hause. Sie musste sich ranhalten, um all die Dinge zu erledigen, die erledigt werden mussten. Jacks Mittagsschlaf dauerte immer nur eine knappe Stunde. Diese Zeit war kostbar.

Nur konnte sie sich nicht bewegen – was vor allem daran lag, dass ihre Brust schmerzte und sie immer noch nicht richtig atmen konnte. Panik drohte, sie in den Abgrund zu ziehen. Sie brauchte ihren Mann. Sie brauchte es, dass ihr Sohn anfing zu sprechen. Sie brauchte jemanden, der die Wände um sie herum davon abhielt, sich auf sie zuzubewegen.

Ihre Augen brannten, aber sie wagte es nicht zu weinen. Wenn sie einmal anfing, könnte sie vielleicht nicht mehr aufhören, und das würde Jack Angst machen. Sie wollte nicht, dass ihr Wahnsinn auf ihn abfärbte. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie die Sorgen ihrer Mutter sie als Kind immer verstört hatten.

Sie zwang sich aufzustehen. Die Mahlzeiten für die nächsten Tage mussten geplant, der Einkaufszettel geschrieben werden. Dann wartete noch die Wäsche, und sie musste die Betten neu beziehen. Sie würde einfach einen Fuß vor den anderen setzen. Kirk ging es gut. Es musste ihm einfach gut gehen. Denn wenn nicht …

Sie ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und schlang die Arme um ihre Mitte. Gleich würde sie sich übergeben. Oder ohnmächtig werden. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht …

Ihr Handy piepte und verkündete eine eingehende Nachricht von Kirk.

Jen richtete sich auf und nahm das Handy in die Hand. Erleichterung durchströmte sie, als sie die Nachricht las und dann tief einatmete.

Hey Baby, soll ich was vom Supermarkt mitbringen? Sorry, aber ich kann mich nicht erinnern, was du heute Morgen gesagt hast. Ich liebe dich.

Jen entwich ein Geräusch, das halb Lachen, halb Schluchzen war. Sie tippte eine Antwort ein. Kirk ging es gut. Die Ordnung in ihrem Leben war wiederhergestellt.

Schnell stand sie auf und ging im Kopf ihre To-do-Liste durch. Betten beziehen, Mahlzeiten planen, Einkaufsliste schreiben. Und wenn dann noch Zeit blieb, fünf Minuten lang im Internet recherchieren, warum ihr kleiner Junge sich weigerte, zu sprechen.

2. Kapitel

»Auf keinen Fall.«

Pam Eiland gestattete sich ein etwas selbstgefälliges Lächeln und straffte die Schultern, um entschlossener zu wirken. Denn sie wusste, dass sie recht hatte. »Ach bitte, Ron. Du zweifelst an mir? Du müsstest es eigentlich besser wissen.«

Ron, der blonde Gärtner Mitte dreißig, der auch der Trainer des Volleyballteams der University of California in Los Angeles war, schüttelte den Kopf. »Die Orangenbusch-Affenblume wächst nicht in einem Topf. Diese Jungs brauchen steinige Erde, viel Sonne und ein hervorragendes Entwässerungssystem.«

»Und das alles kann es auch in einem Topf geben. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich das mache.«

»Aber nicht mit einer Orangenbusch-Affenblume.«

Was war das nur mit den Männern? Sie glaubten immer, es besser zu wissen. Seit zwei Jahren kaufte sie Pflanzen hier, und seit zwei Jahren behauptete er, diese Pflanzen würden in Töpfen auf ihrem Balkon nicht gedeihen. Nur dass sie das dann eben doch taten. Man würde doch meinen, inzwischen wäre er langsam von ihrem Können überzeugt. Aber nein …

»Das hast du über den Kolibri-Salbei und die Agave von Shaw auch gesagt«, merkte sie an.

»Stimmt nicht. Ich habe dir gesagt, dass die Agave sehr gut in einem Topf wachsen kann.«

Dieser Mann war unglaublich emotional, was seine Pflanzen anging. Emotional und verbohrt. »Ich werde die Orangenbusch-Affenblumen kaufen, und du kannst mich nicht davon abhalten.«

»Du hast doch nicht mal einen Plan für deinen Balkon«, beschwerte er sich. »Du wählst die Pflanzen allein nach ihrem Namen aus.«

Das stimmte. »Wenn mein Enkel mich nach den Pflanzen fragt, möchte ich sagen können, dass sie alle lustige Namen haben.«

»Das ist ein lächerlicher Grund für einen Pflanzenkauf.«

»Sagt der Mann, der keine Kinder hat. Eines Tages wirst du mich verstehen.«

Ron wirkte nicht überzeugt. Kopfschüttelnd sammelte er die drei Pflanzen ein. »Du bist eine sehr sture Frau.«

»Du bist nicht der Erste, der das sagt.« Sie reichte ihm ihre Kreditkarte. »Bringst du die Pflanzen später vorbei?«

»Mach ich.«

Das war mehr ein Knurren als eine Zustimmung. Der arme Kerl, dachte sie. Mit Niederlagen konnte er nicht gut umgehen. Und er wäre noch niedergeschlagener, wenn sie ihm Fotos von ihren blühenden Pflanzen zeigen würde.

Nachdem er ihr die Kreditkarte zurückgegeben hatte, riss er den Beleg zum Unterschreiben ab, dann streckte er die Hände mit den Handflächen nach oben aus. Natürlich – denn Pam und ihre regelmäßigen Einkäufe waren für Ron nicht das eigentliche Highlight.

Pam öffnete ihre große Einkaufstasche. »Komm mal her, mein kleines Mädchen.«

Ein Kopf tauchte auf. Lulu, die Chinesische Schopfhündin, schaute sich um, erblickte Ron und japste vor Aufregung, bevor sie versuchte, aus der Tasche und zu ihm zu krabbeln. Ron hob sie hoch und drückte sie an seine breite Brust, wo der winzige Hund unglaublich fehl am Platz aussah. Lulu war schmal und nackt – bis auf die weißen Haarbüschel auf ihrem Kopf, an ihren Unterschenkeln und am Schwanz. Heute trug sie ein pinkfarbenes Sommerkleid, das sowohl ihre empfindliche Haut schützte als auch ein Modestatement war.

Ron hielt sie mit sanftem Griff und flüsterte ihr etwas ins Ohr, wofür Lulu ihm mit kleinen Hundeküssen dankte. Es erstaunte Pam immer wieder, was für ein Männermagnet Lulu war. Ernsthaft – je machohafter der Kerl, desto mehr fühlte er sich von der kleinen Hündin angezogen. Pams Freundinnen zogen sie immer damit auf, dass sie diese Macht nutzen sollte. Aber das würde nicht passieren. Sie war alt genug, um Rons …

Sie schaute den Gärtner genauer an. Okay, vielleicht nicht alt genug, um seine Mutter zu sein, aber ganz sicher seine Babysitterin. Nicht, dass Alter wichtig wäre. Sie hatte einfach kein Interesse an einem Mann. Vor zwei Jahren erst hatte sie die Liebe ihres Lebens verloren. Obwohl sie John nie vergessen würde, war der schärfste Schmerz inzwischen verblasst, und zurückgeblieben waren wundervolle Erinnerungen. Die reichten ihr.

Widerstrebend gab Ron ihr Lulu zurück. »Sie ist ein echt nettes Mädchen.«

»Das ist sie.«

»Und was die Orangenbusch-Affenblume angeht, irrst du dich.«

»Ich werde dir beweisen, dass ich recht habe, und dich dann für den Rest deines Lebens mit deinem mangelnden Vertrauen aufziehen.«

Ron ließ ein Grinsen aufblitzen, von dem Pam glaubte, dass es Hunderte von Studentinnen ins Schwärmen brachte. »Wir werden sehen.«

Pam setzte Lulu zurück in die Tasche, schlang sich selbige über die Schulter und trat auf den Bürgersteig hinaus. Es war Mitte März. Sicher tobte irgendwo im Land gerade ein heftiger Schneesturm, aber hier, in Mischief Bay, war es sonnig bei angenehmen zweiundzwanzig Grad. Im Park übten einige Skateboarder ihre Tricks, Leute fuhren Fahrrad, und Mütter gingen mit ihren kleinen Kindern spazieren.

Kurz überlegte Pam, ihre Tochter anzurufen und ihr vorzuschlagen, dass sie sich mit Jack und Lulu zu einem gemeinsamen Mittagessen trafen. Theoretisch war das eine wunderbare Idee, praktisch aber leider nicht. Denn Jen würde sich verrückt machen vor lauter Angst, dass Jack zu viel Sonne oder nicht das richtige Essen bekam. Außerdem wäre der Tisch bestimmt wieder nicht sauber genug, und sie würde Pam darauf hinweisen, dass es falsch war, einen Hund mit in ein Restaurant zu bringen. Auch wenn Lulu technisch gesehen der Zutritt verboten war, blieb sie doch immer in ihrer Tasche und gab keinen Laut von sich, was mehr war, als man von vielen menschlichen Restaurantgästen behaupten konnte.

Die Sache war die … Pam seufzte. So gerne sie einen Nachmittag mit ihrem Enkel verbracht hätte, über ihre Tochter konnte sie nicht das Gleiche sagen. Oh, sie liebte Jen. Sie würde für sie sterben oder ihr ein Organ spenden. Sie wünschte ihr nur das Beste. Doch – und das war etwas, das Pam bisher nur Lulu gegenüber zugegeben hatte – seit Jacks Geburt machte es keinen großen Spaß mehr, mit Jen zusammen zu sein.

Sie war besessen von ihrem Kind. Wuchs er? Konnte er im richtigen Alter sitzen? Konnte er Blickkontakt aufrechterhalten? Es war so anstrengend und erschöpfend, mit ihr zusammen zu sein. Pam wusste, dass sie vermutlich ein schlechter Mensch war, weil sie so dachte. Sie kannte die Sorgen, die man sich um seine Kinder machte. Sie war selbst eine leicht besessene Mutter gewesen. Aber nicht so.

Sie steckte eine Hand in die große Tasche und tätschelte Lulu. »Was meinst du?«, fragte sie die Hündin. »Sollen wir mit unseren Schwächen leben und uns ein Eis holen?«

Lulu bellte kurz auf. Pam deutete das als Ja. Morgen früh, versprach sie sich, werde ich mich zusammenreißen und meine Tochter besuchen. Aber an diesem Nachmittag würde sie einfach nur den Strand genießen und dann ihre Orangenbusch-Affenblumen eintopfen. Danach würde sie sich ein Eis gönnen.

Aus zu später schalten.

Zoe zog die Nase kraus. Sie war nicht sicher, wem sie hier die Schuld geben sollte. Einem schlechten Übersetzungsprogramm oder einem menschlichen Fehler. Egal wie, die Botschaft war unklar. Sie warf einen Blick auf das zweite offene Dokument auf ihrem großen Computerbildschirm und fing an zu tippen.

Um das Gerät auszuschalten, drücken Sie auf den Ein-/Aus-Schalter. Alternativ schaltet es sich nach dreißig Minuten im Standby-Modus automatisch ab. Denn für den Fall, dass Sie so dumm sind, wegzugehen, ohne ein unglaublich heißes Bügeleisen auszuschalten, haben wir vorgesorgt, damit Ihr Haus nicht in Flammen aufgeht. Ich persönlich bin nicht überzeugt, dass Sie so viel Besonnenheit verdient haben, aber mich hat niemand gefragt.

Kurz gab Zoe sich der Fantasie hin, einfach auf »Absenden« zu drücken. Wie schön das wäre … Dann löschte sie die beiden letzten Sätze und wandte sich dem nächsten Teil der Bedienungsanleitung zu.

Sie übersetzte weiteres Kauderwelsch in verständliche Sprache. Diese Woche ging es um kleine Haushaltsgeräte. Letzte Woche hatte sie es mit medizinischen Hightech-Geräten zu tun gehabt. Das war wesentlich herausfordernder gewesen. Was nicht so sehr daran lag, dass die Original-Bedienungsanleitungen nicht in Englisch geschrieben waren, sondern dass sie von Leuten verfasst wurden, die in Codes und Abkürzungen sprachen. Techniker in Krankenhäusern hatten es mit dringenden Problemen zu tun. Sie hatten keine Zeit, mühsam herauszufinden, was die Anleitungen wohl bedeuten konnten. Sie mussten ihren Job erledigen und sich dem nächsten Patienten widmen.

Und genau das ermöglichte Zoe ihnen. Sie übersetzte den ursprünglichen Wortsalat der Bedienungsanleitungen in etwas, das leicht verständlich war. Der durchschnittliche Konsument machte sich gar nicht erst die Mühe, das Handbuch aufzuschlagen, das wusste sie. Doch sollte er es doch tun und eines von ihren erwischen, würde er leicht verständliche Anweisungen finden, die Sinn ergaben.

Sie hatte das Ende des Abschnitts erreicht und stand auf, um sich zu strecken. Wenn sie zu lange vor dem Computer saß, verspannte sich ihre Rückenmuskulatur und ihre Beine schmerzten.

»Sollte ich nicht mehr Sport treiben?«, fragte sie laut und drehte sich zu Mason um, der in dem alten Clubsessel schlief, der in der sonnigsten Ecke ihres kleinen Heimbüros stand. »Willst du darüber jetzt nicht reden? Sollte ich dich darauf hinweisen, dass ich die Einzige bin, die dich füttert, und die Einzige, die dich liebt? Wenn mir mal was passiert, wirst du im Bedauern ertrinken.«

Sie wartete, aber Mason zuckte nicht mal mit dem Ohr. Doch kurz bevor sie die Hand ausstreckte, um ihn unter dem Kinn zu kraulen, maunzte er zur Begrüßung und fing dann an zu schnurren.

»Ha! Ich wusste doch, dass du zuhörst. Und ja, ich weiß, wie jämmerlich es ist, dass wir diese Unterhaltung führen.«

Ihr Telefon klingelte. Rettung in letzter Sekunde, dachte sie mit einem Blick auf das Display. Lächelnd nahm sie den Anruf an.

»Hey, Dad.«

»Warum bekomme ich dich gar nicht mehr zu Gesicht? Was verbirgst du vor mir? Hast du dich tätowieren lassen? Die Haare abrasiert?«

Sie lachte. »Wieso muss es denn was mit meinem Aussehen zu tun haben? Ist das nicht eine Diskriminierung meines Geschlechts, wenn es nur ums Aussehen geht? Frauen haben auch ein Gehirn, Dad.«

»Zoe, ich bitte dich. Keine Vorträge über Gleichberechtigung. Es ist noch nicht mal zehn Uhr morgens.« Ihr Vater lachte leise. »Was dein Gehirn angeht, da schätze ich, dass du zu viel davon hast. Ich frage nach, weil ich dein Vater bin. Läuft alles gut bei dir?«

Zoe dachte an den Dachbodenvorfall, beschloss aber, ihrem Dad nichts davon zu erzählen. Er würde sich nur Sorgen machen, und das konnte sie im Moment wirklich nicht gebrauchen.

»Mir geht es gut.«

»Was machst du so?«

»Arbeiten.«

»Und wenn du nicht arbeitest?« Ihr Vater seufzte. »Bitte sag nicht, dass du dann mit Mason abhängst. Er ist ein Kater. Er schläft und frisst, mehr nicht.«

»Manchmal macht er auch sein Geschäft.«

»Ja, und das ist ein Moment, den wir alle sehr zu schätzen wissen.« Es entstand eine kurze Pause. »Zoe, gehst du überhaupt mal vor die Tür? Du musst nicht mehr ins Büro, und jetzt ist Chad auch noch weg. Ich bin froh, dass du ihn endlich rausgeworfen hast, aber du bist noch jung. Du solltest Spaß haben.«

Oh, oh. Sie hörte, wie die Sorge in seiner Stimme immer mehr an Fahrt aufnahm. »Dad, mir geht es super«, sagte sie mit Betonung auf dem letzten Wort. »Und ich habe viel um die Ohren.« Verzweifelt versuchte sie, sich etwas einfallen zu lassen, was diese Aussage untermauerte. »Oh, und weißt du was? Nächsten Sonntag gebe ich ein kleines Grillfest. Du solltest auch kommen. Das wird bestimmt lustig.«

»Ein Grillfest?«

»Jupp. Um, äh, vier. Du kannst eine Begleitung mitbringen, vorausgesetzt, sie ist vom Alter her passend.«

Ihr Vater lachte. »Was das angeht, haben wir unterschiedliche Definitionen, was passend ist.«

»Stimmt. Und deine ist eklig.«

»Ich bin nie mit einer Frau ausgegangen, die jünger ist als du.«

»Dafür bekommst du von mir keine Punkte. Die meisten Leute würden sagen, dass Frauen, die jünger sind als ich, für dich gar nicht erst in Betracht kommen sollten.«

»Du weißt doch, dass ich die jungen Frauen schon vor Jahren aufgegeben habe. Im Moment gehe ich mit niemandem aus, aber sollte ich es tun, verspreche ich dir, dass sie vom Alter her angemessen sein wird.«

Zoe ließ sich neben Masons Sessel auf den Boden sinken. »Dad, es gibt schon eine ganze Weile niemanden mehr in deinem Leben. Woran liegt das?«

»Weil ich mehr will als nur eine Affäre. Ich werde die richtige Frau erkennen, wenn ich sie sehe. Bis dahin bin ich glücklicher Single.«

Zoe fragte sich, wann es zu diesem Bewusstseinswandel gekommen war. Vermutlich als ihre Mutter gestorben war. Trotz der Scheidung waren ihre Eltern immer Freunde geblieben. Der Verlust hatte ihren Vater beinahe genauso schwer getroffen wie sie.

»Du musst dich wieder an die Arbeit machen, Fräulein«, sagte er. »Wir sehen uns Sonntag. Kann ich etwas mitbringen?«

Sie lächelte. »Das Übliche.«

»Dann also Tequila.«

Jen hörte das Garagentor aufgehen und sprang auf die Füße. »Daddy ist zu Hause!«

Jack riss die Augen auf und klatschte in die Hände. Für einen kurzen, herzstoppenden Moment glaubte sie, er würde etwas sagen. Egal was, alles wäre super. Es würde ihr auch nichts ausmachen, wenn sein erstes Wort Da-da wäre. Aber er lachte nur und kam umständlich auf die Füße, bevor er quer durchs Wohnzimmer lief.

Jen war selbst ein wenig aufgeregt, doch das kam daher, dass ihr Mann einen weiteren Tag heil und sicher überstanden hatte. Seine Arbeit für das Mischief Bay Police Department hatte sie nicht sonderlich gestört. Hier, in dieser kleinen, familienorientierten Strandgemeinde, passierte nie etwas Schlimmes. Aber das LAPD war etwas ganz anderes. Im Großraum Los Angeles lebten über acht Millionen Menschen, und an manchen Tagen quälte Jen der Gedanke, dass zu viele davon es womöglich auf ihren Mann abgesehen hatten.

Kirk kam herein, und er und Jack liefen aufeinander zu. Jen beobachtete, wie Kirk seinen Sohn hochhob und durch die Luft schwang. Jack quietschte vor Vergnügen, streckte die Arme aus und wedelte mit den Händen durch die Luft. Als sein Vater ihn an sich drückte, schlang Jack seine kleinen Arme um Kirks Hals.

Sohn und Vater so zusammen zu sehen, erfüllte Jen immer mit Liebe und Dankbarkeit. Mit seinen roten Haaren und den blauen Augen kam Jack ganz nach seinem Dad. Meine beiden Männer, dachte sie glücklich. Solange Kirk nur immer nach Hause kam.

Er gab Jack einen Kuss auf die Stirn und kam dann auf sie zu. »Wie geht es meiner tollsten Frau?«, fragte er, bevor er ihr einen Kuss auf die Lippen gab.

»Gut.«

Sie breitete die Arme für die rituelle Familienumarmung aus. Jack packte ihre Haare und zog ihren Kopf näher zu sich heran. Ein paar Herzschläge lang erlaubte sie sich, nur die Perfektion dieses Augenblicks zu empfinden. Das hier ist alles, was ich will, sagte sie sich. Alles wird gut.

Dann begann Jack sich zu winden, weil er heruntergelassen werden wollte. Kirk trat zurück und der Bann war gebrochen. Er stellte seinen Sohn auf dem Boden ab.

»Wie war dein Tag?«

Auch wenn es seit einigen Tagen keine beängstigenden Meldungen mehr gegeben hatte, hatte Jen mit den Sorgen um Jack immer noch genug zu tun. Ihre Panikattacken kamen immer regelmäßiger, mindestens ein- oder zweimal am Tag. Aber davon wollte sie Kirk nichts erzählen. Er sollte sich keine Sorgen machen. Nicht, wenn er doch jede Sekunde erschossen werden konnte. Sich zu sagen, dass er ein Detective war und kein Streifenbeamter, half da leider auch nicht.

»Gut. Jack und ich sind im Park gewesen und haben dort einen kleinen Jungen kennengelernt. Die beiden haben schön zusammen gespielt.« So etwas machte sie immer glücklich. Sie wollte Jack nicht in die Tagesbetreuung geben, aber sie hatte keine Freundinnen mit Kindern. Doch sie wusste, wie wichtig es war, dass Kinder in Jacks Alter lernten, sich in eine Gruppe zu integrieren. Also würde sie entweder über ihren Schatten springen und ihn doch zu einer Tagesmutter geben müssen oder sich eine Spielgruppe suchen. Doch darüber würde sie sich heute nicht den Kopf zerbrechen.

Kirk ging in sein Büro, wo er, wie Jen wusste, seine Waffe und seine Polizeimarke in dem kleinen Wandsafe einschloss, den er nach Jacks Geburt hatte installieren lassen.

»Ich habe Lucas zum Abendessen eingeladen«, rief er ihr zu.

Jen warf einen bösen Blick in seine Richtung. Ohne Zweifel hatte ihr Mann extra gewartet, bis er außer Sichtweite war, um ihr diese Neuigkeit mitzuteilen.

»Heute Abend?«

Mit einem gewinnenden Lächeln kehrte er zurück. »Ja, für heute Abend. Ist das in Ordnung?«

In Ordnung? Nein, es war nicht in Ordnung. Es war nie in Ordnung, wenn Lucas vorbeikam, aber es war noch viel schlimmer, wenn Kirk ihr das so kurzfristig mitteilte. Sie war ein Wrack – weder geschminkt noch ordentlich angezogen. Ehrlich gesagt konnte sie sich nicht mal erinnern, ob sie morgens geduscht hatte. Außerdem hatte sie ein schlichtes, gesundes Abendessen geplant, was der Partner ihres Mannes sicher auch nicht zu schätzen wüsste.

Aber Lucas war Kirks beste Versicherung dafür, abends lebend nach Hause zu kommen. Also atmete Jen tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich ist das in Ordnung. Ich bezweifle nur, dass mein geplantes Abendessen seinen Geschmack trifft.«

»Er meinte, er würde Steaks mitbringen.«

»Von wo?«

Kirk sah sie ausdruckslos an. »Aus dem Laden?«

Also ganz normales Fleisch aus unbekannter Quelle. Kein ökologisch aufgezogenes Weiderind, wie sie es in dem fünfzehn Meilen entfernten Spezialitätenladen einkaufte.

»Wunderbar«, stieß sie durch zusammengebissene Zähne aus.

Er trat näher an sie heran. »Honey, du musst nicht immer den ganzen Stammbaum des Tieres kennen, wenn du mal einen Hamburger essen willst.«

Auf diese herablassende Aussage gäbe es so viele Antworten. »Ich möchte Jack nur den bestmöglichen Start ins Leben ermöglichen.«

»Ich weiß, und ich bin dir für alles, was du tust, sehr dankbar. Aber vielleicht ist es in Ordnung, ab und zu mal fünfe gerade zu sein lassen.«

Na klar. Weil immer sie sich ändern musste, nie die anderen. Kirk würde Lucas alles tun lassen, was der wollte. Jen wusste, dass sein Arbeitspartner wichtig für Kirk war, aber es gab Zeiten, da hätte sie am liebsten geschrien. Was nicht allein für Lucas-Situationen galt.

»Ich muss mich umziehen«, sagte sie. »Und mir dann ein paar Beilagen für die Steaks überlegen.«

»Du siehst gut aus. Und Lucas ist es sowieso egal.«

Was den zweiten Satz anging, war sie sicher, dass er stimmte. Immerhin war sie viel zu alt, um Lucas’ Interesse zu wecken. Aber darum ging es nicht. »Ich bin gleich wieder da.«

Eine Viertelstunde später hatte sie sich eine Jeans und eine hübsche Bluse angezogen. Nachdem sie sich ein wenig geschminkt hatte, löste sie ihren Pferdeschwanz und kämmte sich die Haare. Sie brauchte dringend wieder mal Strähnen und einen Schnitt, aber beides würde es heute nicht mehr geben.

Auf dem Weg in die Küche ging sie in Gedanken den Inhalt ihres Kühlschranks durch. Das Bio-Hühnchen, das sie schon mariniert hatte, stellte sie wieder zurück, dann prüfte sie ein paar Avocados für einen Salat. Im Gefrierschrank lagen noch ein Beutel Pommes frites sowie Hühnchen-Nuggets, natürlich in Bio-Qualität, denn auch wenn Jack schon Fleisch essen konnte, war er für ein Steak noch nicht bereit.

Kirk hatte bereits den Grill angeworfen und wischte gerade den Tisch auf der Terrasse ab. Als Jen die Teller aus dem Schrank nahm, um sie nach draußen zu bringen, streckte er den Kopf herein. »Lucas ist da.«

Innerlich wappnete Jen sich für das Chaos, das nun unweigerlich folgen würde. Lucas hatte ein enormes Ego und dominierte jeden Raum, den er betrat. Trotz aller Bedenken, die sie gegen ihn hatte, verfügte er bei der Polizei über einen ausgezeichneten Ruf. Er war ein hochdekorierter, erfahrener Officer. Außerdem war er ein totaler Egoist, der sich nur für sich interessierte. Und er war der Partner ihres Mannes, weshalb sie ihm nicht entkommen konnte.

Sie ging hinaus in den Garten. Das Tor stand offen, weil Kirk nach vorne gegangen war, um seinen Kumpel zu begrüßen. Der Kontrast zwischen ihrem attraktiven Mann, der seinen kleinen Sohn auf dem Arm hielt, und dem lächerlich teuren Sportwagen, der gerade auf die Einfahrt bog, war verräterisch. Jen hatte keine Ahnung, wie Lucas sich den Mercedes leisten konnte – der musste so viel kosten, wie er im Jahr verdiente. Vielleicht sogar mehr. Aber sie hatte bisher nicht gefragt, weil sie es eigentlich lieber nicht wissen wollte.

Sie trat an die Pforte. Es nicht zu tun, hätte ihre Gefühle verraten, und sie wollte Kirk nicht in eine unangenehme Situation bringen.

Lucas war um die fünfzig, schlank und gebräunt. Seine Haare waren weiß, seine Augen von einem strahlenden Dunkelgrün, und sein Lächeln lässig. Nie hatte sie ihn in etwas anderem als Jeans, einem langärmligen T-Shirt und Cowboystiefeln gesehen. Wenn er arbeitete, warf er sich noch ein Sportjackett über. Sie schätzte, die meisten Leute würden ihn als gut aussehend bezeichnen. Sie hingegen fand ihn eher liederlich. Er lebte ausschweifend, trank viel und gefiel sich darin, eine Parade junger Frauen durch sein Leben marschieren zu lassen. Jen missbilligte ihn schon aus Prinzip, und ihn näher kennengelernt zu haben, hatte ihre Meinung nicht geändert.

»Hey, Jen!«, rief er ihr zu. Dann nickte er Kirk zu und winkte Jack, der freudestrahlend in die Hände klatschte. Aus Gründen, die Jen nicht ansatzweise begreifen konnte, betete ihr Sohn Lucas förmlich an.

»Ich komme mit Geschenken.« Lucas ging auf die Beifahrerseite seines Wagens und nahm eine Einkaufstüte, einen Amazon-Karton und ein Sixpack Bier heraus. »Es ist für jeden etwas dabei«, witzelte er, als er auf die Pforte zukam und Jen die Sachen reichte.

Sie starrte den Amazon-Karton an und sagte sich, dass es bestimmt nicht so schlimm war, wie sie glaubte. Lucas hatte sich inzwischen wieder zu Kirk umgedreht. Jack warf sich ihm lachend und furchtlos entgegen.

»Wie geht es meinem Kumpel?« Lucas hielt Jack, als hätte er nie etwas anderes getan. »Klatsch ab.«

Er hob eine Hand und Jack ließ seine Hand dagegen klatschen. Dann lachte er noch mehr.

Sie gingen in den Garten. Lucas setzte Jack ab, der freudig kreischend über den Rasen lief. Jen bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. So war es immer. Lucas sorgte dafür, dass ihr Sohn total überdrehte. Weshalb sie dann später Probleme haben würde, Jack zum Einschlafen zu bringen.

Lucas nahm ihr den Amazon-Karton und das Bier ab und zwinkerte ihr zu. War das freundschaftlich gemeint oder eher spöttisch? Bei ihm war sie sich da nie sicher. Mit großen Schritten ging er zu der Außenküche, öffnete eine Schublade und holte einen Flaschenöffner heraus. Nachdem er zwei Biere geöffnet hatte, zögerte er kurz und warf Jen einen Blick zu.

»Wolltest du …?«, fragte er.

»Nein danke.«

Wie die meisten Frauen hatte Jen in der Schwangerschaft komplett auf Alkohol verzichtet. Aber auch nach Jacks Geburt hatte sie damit nicht wieder angefangen. Dazu fürchtete sie zu sehr, dass ihr Sohn sie brauchen könnte. Sie musste ständig aufmerksam und wachsam sein.

Lucas stellte die restlichen Flaschen in den kleinen Kühlschrank, dann holte er ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche. Damit schnitt er das Klebeband des Kartons auf und stellte ihn vor Jack auf den Boden.

Ihr Sohn ging in die Hocke und linste hinein. Ganz langsam weiteten sich seine Augen und sein Mund öffnete sich zu einem breiten Grinsen. Er zog ein blau-weißes … Jen kniff die Augen zusammen. Was um alles in der Welt …?

»Das ist eine echte B. Woofer«, erklärte Lucas ihr. Er packte die Kindergitarre aus und hängte sie Jack um die Schultern. Der Gurt war so lang, dass die Gitarre vor Jacks Oberschenkeln hing.

»So musst du die halten.« Lucas platzierte die Hände des Kleinen an den richtigen Stellen. »Siehst du diese Knöpfe? Wenn du darauf drückst, machen sie Musik. Man nennt es Akkorde. Deine Mom wird dir das sicher noch ganz genau erklären.«

Jen hörte bestürzt, wie ein Akkord erklang. Offensichtlich steckte hinter jedem dieser Knöpfe einer. Sie konnten einzeln oder zusammen gedrückt werden. Auch wenn das eine ausgezeichnete Methode war, um Musik zu lernen, war das Geräuschpotenzial furchteinflößend.

»Und hier?« Lucas zeigte darauf. »Das sind vorprogrammierte Lieder. Ganz verschiedene. Wenn du den Hundeknopf drückst«, er zwinkerte Jen erneut zu, »bekommst du Hundelieder. Cool, oder?«

Jack wirkte unsicher, als er den gelben Knopf mit der Note darauf drückte. Und tatsächlich plärrte sofort ein Lied los. Seine Augen leuchteten auf, und er drehte sich zu Jen, um diesen Moment der Freude mit ihr zu teilen.

Jen lächelte, während sie ihren Mann anschaute und murmelte: »Ich bringe ihn um.«

»Das ist ein tolles Spielzeug.«

»Du bist ja auch nicht den ganzen Tag zu Hause und musst dir das anhören.« Sie schaute wieder die Gitarre an. »Hat er auf die Altersempfehlung geachtet? Mir scheint das Ding für Jack ein wenig zu fortgeschritten.«

Kirk legte einen Arm um sie. »Honey, lass es für den Moment gut sein. Später kannst du die Gitarre auf verschluckbare Kleinteile untersuchen. Lucas ist ein toller Kerl, und er betet Jack an. Das sollte doch reichen, oder?«

Warum? Warum sollte das reichen? Warum musste Kirks Partner sich nicht an die Regeln halten, wenn er bei ihnen zu Hause war? Warum gab Lucas ihr immer das Gefühl, der langweiligste, konventionellste Mensch auf Erden zu sein? Er war der Typ aus der Studentenverbindung, der Partymann, und sie war die Hausfrau. Das war nicht fair.

Am liebsten hätte sie mit dem Fuß aufgestampft, aber das hätte auch nichts gebracht. Also lächelte sie angespannt, murmelte schnell: »Danke, Lucas«, und flüchtete in die Küche.

In der Einkaufstüte, die Lucas mitgebracht hatte, befanden sich drei riesige Steaks, eine große Packung Kartoffelsalat mit Blauschimmeldressing und – eine echte Überraschung – zwei Gläschen Bio-Nahrung für Kleinkinder. Wurzelgemüse mit Putenfleisch und Quinoa.

Kirk kam in die Küche und nahm ihr eines der Gläschen aus der Hand. »Siehst du? Er ist nicht wirklich schlecht. Diese Marke magst du auch.«

»Ja, vielleicht.«

Lucas gesellte sich mit Jack auf dem Arm zu ihnen. Jen war dankbar, dass sie die Gitarre draußen gelassen hatten. Sie würde sie später wegpacken und erst wieder herausholen, wenn Jack ausgeschlafen war. Ihm etwas über Musik beizubringen, wäre gut, dachte sie widerstrebend. Sie war sicher, irgendwo gelesen zu haben, dass Musik das Verständnis für Mathematik förderte.

»Jemand hat eine volle Windel«, sagte Lucas und reichte Jack seinem Vater. »Und so weit reicht die Onkelliebe nicht.«

Kirk lachte. »Ich kümmere mich darum.«

Mit Jack auf dem Arm verließ er die Küche und ließ Jen mit Lucas allein zurück. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

»Danke für die Steaks«, fing sie an. »Und den Salat und die Babynahrung.«

»Ich hoffe, es ist die richtige. Ich weiß, du willst, dass er nur gute Sachen isst, also habe ich eine Lady im Supermarkt gefragt.«

»Hast du dir auch ihre Nummer geben lassen?« Die Worte waren raus, bevor Jen sie zurückhalten konnte.

Lucas lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Sie war verheiratet, Jen. Ich gehe nicht mit verheirateten Frauen aus. Außerdem war sie zu alt.« Um seinen Mund zuckte es. »Vermutlich so um die dreißig.«

»Wie deprimierend für dich.« Sie sah ihn an. »Warum müssen deine Frauen immer so jung sein?«

»Dann sind sie unkomplizierter.«

»Worüber redest du mit ihnen?«

»Wer will denn reden?«

Unwillkürlich musste sie lächeln. Nun gut, wenn er sie aufziehen wollte, das konnte sie auch. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Super. Damit wären dann sechs Minuten gefüllt. Aber was macht ihr mit dem Rest der Zeit?«

Er zwinkerte ihr zu. »Ich teile mein gesammeltes Wissen mit ihr.«

»Du bist so ein Spinner.«

»Vielleicht. Aber ich habe dabei viel Spaß.« Er zuckte mit den Schultern. »Irgendwann hören sie immer auf, meine Anrufe entgegenzunehmen, aber bis dahin ist es nett, ich zu sein.«

»Fühlst du dich nie einsam?«

»Nö. Dazu wäre eine emotionale Tiefe notwendig, über die ich nicht verfüge.« Er ließ ein gewinnendes Grinsen aufblitzen. »Versuch nicht, mich zu missionieren. Ich mag mein Leben und sehe keinen Grund, etwas daran zu ändern.«

Was ja gut und schön war, aber ihr gefiel nicht, dass er sich so sehr von ihrem Mann unterschied. Was, wenn er versuchte, Kirk auf Abwege zu führen? Was, wenn Kirk sich von diesen jungen Möglichkeiten faszinieren ließ?

Sie warf einen Blick in den Flur, dann sah sie wieder Lucas an.

»Ich habe zwar keine Ahnung, warum du mit Zwanzigjährigen ausgehen musst, aber das geht mich auch nichts an. Ich muss nur wissen, dass du auf Kirk aufpasst. Dass du dich um ihn kümmerst, wenn etwas Schlimmes passiert.«

Lucas’ Lächeln schwand. »Darauf gebe ich dir mein Wort, Jen.«

Eigentlich hätte sie das beruhigen sollen, nur wusste sie nicht, was sein Wort wert war.

3. Kapitel

Mischief in Motion war ein bekanntes Pilates-Studio im Ort. Es war hell und bunt gestaltet, was vermutlich Leute anzog, die … nun ja, gerne Sport machten. Zoe hatte bisher alles vermieden, was sie zum Schwitzen bringen könnte, also war sie nie hineingegangen. Bis heute.

Sie musste nicht nur dringend Muskelmasse aufbauen, wie der Dachbodenvorfall ihr gezeigt hatte, sondern sie wollte auch sehen, ob Jens Mom immer noch regelmäßig herkam. Sie und Pam hatten sich immer gut verstanden. Irgendwie erinnerte Pam sie an ihre eigene Mutter, und im Moment konnte sie ein wenig mütterliche Zuneigung gut gebrauchen. Wenn dabei ein kleiner Tipp zum Umgang mit Jen herauskäme, umso besser. Um ehrlich zu sein, hatte Zoe keine Ahnung, was sie wegen ihrer Freundin unternehmen sollte. Sie trieben langsam auseinander, und sie wusste nicht, wie sie das aufhalten konnte.

In ihrem neuen, im Discounter gekauften Pilates-Outfit – schwarze Leggins und ein weites T-Shirt – trat sie ein, um sich für den Kurs anzumelden.

Vier Frauen waren schon da, dazu eine fröhliche Rothaarige, die hinter dem Empfangstresen stand. Zoe erhaschte einen kurzen Blick auf Furcht einflößend aussehende Geräte, zu viele Spiegel und sehr fitte Schülerinnen. Sie dachte an ihre eigenen wabbeligen Oberschenkel und redete sich schnell ein, dass sicher alle zu sehr auf sich selbst konzentriert sein würden, um sie zu bemerken. Und falls sie es doch täten, wären sie bestimmt zu höflich, um etwas zu sagen. Außerdem war sie ja hier, um fit zu werden. Jeder musste irgendwo anfangen und …

»Zoe?« Pam hatte sie erblickt und kam auf sie zu. »Was machst du denn hier?«

»Ich, äh, wollte anfangen, ein wenig Sport zu treiben. Und, nun ja, du hast diesen Kurs erwähnt, also dachte ich, ich probiere es mal. Ist das in Ordnung?«

Pam lächelte und umarmte sie dann. »Natürlich. Ich habe dich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?«

»Gut.« Zoe erwiderte die Umarmung und genoss für einen Moment die mütterliche Wärme, die Pam ausstrahlte.

»Komm. Ich mache dich mit allen bekannt.«

Pam führte sie durchs Studio und stellte sie als »Eine Freundin von meiner Tochter und mir« vor, was Zoe ein gutes Gefühl gab. Sie bemühte sich, sich auf die Namen und Gesichter zu konzentrieren und nicht auf die straffen Schenkel und sichtbaren Bauchmuskeln. Da würde sie auch noch hinkommen – irgendwann.

Nicole, die Besitzerin des Studios, war eine attraktive blonde Frau, die noch keine dreißig sein konnte. Pam hatte mal erwähnt, dass Nicole einen Sohn hatte und in zweiter Ehe verheiratet war. Manche haben eben doch alles, dachte Zoe und beschloss, das als Inspiration zu nutzen, statt sich von so viel Erfolg und einem so fitten Körper runterziehen zu lassen.

Der Kurs begann pünktlich. In der dritten Minute wusste Zoe, dass sie sterben würde – gleich hier, auf dem hölzernen Reformer, der sie an eine mittelalterliche Streckbank erinnerte. Sie würde einfach aufhören zu atmen, oder aus Versehen in der Mitte auseinanderreißen.

Nicole schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Es braucht ein wenig Zeit, sich daran zu gewöhnen. Mach einfach so gut mit, wie du kannst.«

Zoe nickte nur, weil sie zu sehr außer Atem war, um zu sprechen.

Dabei waren die Übungen gar nicht sonderlich heftig. Im Gegenteil, es ging um langsame und kontrollierte Bewegungen, die sie jedoch zum Keuchen brachten. Sie sollte die Positionen zehn Sekunden lang halten und dann langsam lösen. Oder auf einer Wackelplatte mit Gurten stehen, deren einziger Zweck zu sein schien, sie zu töten.

Fünfzig Minuten später rollte sie von dem Gerät auf den Boden. Die anderen Schülerinnen standen auf, und vielleicht würde sie das eines Tages auch tun. Aber erst musste sie abwarten, bis ihre Muskeln aufhörten zu zittern.

Pam hockte sich neben sie. »Geht es dir gut?«

»Nein.«

Lachend erwiderte Pam: »Ich weiß, am Anfang ist es hart. Alles ist so verwirrend. Vielleicht solltest du es erst einmal mit ein paar Privatstunden versuchen, um die grundsätzlichen Bewegungen zu üben. Das Tempo in den Kursen ist ziemlich hoch.«

»Aha.« Wow, zwei Silben. Zoe war so stolz auf sich.

Sie setzte sich hin und rappelte sich auf die Füße. Obwohl ihre Beine zitterten, schaffte sie es aufzustehen.

Um Pams Lippen zuckte es.

»Schon gut«, sagte Zoe schwer atmend. »Du kannst gerne über mich lachen. Ich verstehe das.«

»Nächstes Mal wird es schon besser laufen.« Pam legte ihr einen Arm um die Schultern. »Hast du Zeit für ein Mittagessen? Dann können wir mal wieder so richtig ausgiebig quatschen.«

»Klar. Das fände ich super.«

»Wir sind nicht gerade restauranttauglich angezogen«, erklärte Pam und zupfte an ihrem schwarzen, engen Tanktop. »Lass uns doch was holen und bei mir zu Hause essen.«

»Klingt perfekt.«

Als sie ihre Sachen einsammelten, schaute aus Pams großer Tasche ein kleiner Hundekopf heraus.

»Lulu!« Zoe ließ sich auf die Knie sinken und verzog schmerzhaft das Gesicht, als ihre Muskeln protestierten. Sie ignorierte sie und streckte die Hände aus. Sofort sprang der bezaubernde kleine Nackthund in ihre Arme.

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