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Arrowood - In den Gassen von London

Die High Society hat Holmes - alle anderen gehen zu Arrowood

Privatdetektiv William Arrowood ist ein Mann vieler Talente – und einiger Laster. Die Tagelöhner und Straßenmädchen im armen South London können sich keinen besseren Detektiv leisten und kommen daher mit allen Anliegen zu ihm. Voller Verachtung und Neid blickt er über die Themse auf seinen bekannten Kollegen Sherlock Holmes und dessen betuchte Klientel.
Auch Arrowoods neuester Fall scheint nicht geeignet zu sein, ihn berühmt zu machen: Eine junge Französin bittet darum, ihren verschwundenen Bruder aufzuspüren. Doch hinter dem simplen Auftrag verbergen sich weit mehr Geheimnisse und Leichen, als Arrowood für möglich hielt. Und so führen ihn seine Ermittlungen von den Tiefen der Londoner Unterwelt bis in höchste Regierungskreise …

  • »William Arrowood ist keinesfalls perfekt, aber sympathisch, und die Geschichte bewegt sich rasant von Gefahr zu Gefahr und Twist zu Twist.« The Times
  • »Mick Finlay gelingt mit dem Start seiner “Arrowood“-Serie eine Mischung aus Spannung, Komik und historischen Hintergründen.« WDR 4

  • Erscheinungstag: 01.08.2018
  • Aus der Serie: Arrowood
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677479
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Anita, John und Maya

1

Süd-London, 1895

Schon als ich an jenem Morgen hereinkam, konnte ich erkennen, dass Mr. Arrowood wieder einen seiner Anfälle hatte. Sein Gesicht war fahl, seine Augen sahen verquollen aus, sein Haar, jedenfalls das, was auf seinem vernarbten unförmigen Schädel noch übrig war, stand an einem Ohr ab, während es am anderen mit Pomade angeklebt worden war. Er gab wahrlich einen grässlichen Anblick ab. Ich blieb in der Tür stehen, nicht dass er erneut den Wasserkessel nach mir warf. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich den Geruch des Gins von letzter Nacht an ihm riechen.

»Der vermaledeite Sherlock Holmes!«, brüllte er und schlug mit einer Faust auf den Beistelltisch. »Wo ich auch hinsehe, überall spricht man über diesen Scharlatan!«

»Verstehe, Sir«, erwiderte ich so demütig wie möglich. Mein Blick folgte seinen Händen, die er mal hierhin, mal dorthin bewegte, da ich wusste, dass sie jederzeit nach einer Tasse, einem Stift oder einem Stück Kohle greifen und mir an den Kopf werfen konnten.

»Würde man uns diese Fälle übertragen, dann lebten wir in Belgravia, Barnett«, erklärte er mit derart rotem Gesicht, dass ich schon befürchtete, er würde gleich platzen. »Dann wären wir Dauergast in einer Suite im Savoy!«

Er ließ sich in seinen Stuhl fallen, als wäre er auf einmal völlig ausgelaugt. Ich hatte auf dem Tisch neben seinem Arm längst den Grund für seinen Wutausbruch erspäht: Dort lag das The Strand-Magazin, in dem Dr. Watson seine neuesten Abenteuer schilderte. Aus Furcht davor, er könnte meinen Blick bemerkt haben, wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Feuer zu.

»Ich setze den Teekessel auf«, sagte ich. »Haben wir heute Termine?«

Er nickte und schwenkte resigniert einen Arm durch die Luft, während er die Augen schloss.

»Gegen Mittag kommt eine Dame vorbei.«

»In Ordnung, Sir.«

Er rieb sich die Schläfen.

»Bringen Sie mir das Laudanum, Barnett. Und beeilen Sie sich.«

Ich nahm einen bereitstehenden Krug aus dem Regal und spritzte ihm etwas auf den Schädel. Er stöhnte auf und scheuchte mich weg, als hätte ich ein Furunkel aufgestochen.

»Ich bin unpässlich«, jammerte er. »Richten Sie ihr aus, dass ich sie nicht empfangen kann. Sie soll morgen wiederkommen.«

»William«, erwiderte ich und räumte die Teller und Zeitungen vom Tisch. »Wir hatten seit fünf Wochen keinen Fall mehr. Ich muss meine Miete bezahlen. Wenn ich nicht bald Geld nach Hause bringe, bleibt mir nichts anderes übrig, als für Sidney Droschke zu fahren, und Sie wissen ganz genau, dass ich Pferde nicht leiden kann.«

»Sie sind ein Schwächling, Barnett«, stieß er stöhnend aus und sackte auf seinem Stuhl noch weiter in sich zusammen.

»Ich werde hier aufräumen, Sir. Und dann empfangen wir sie heute Mittag.«

Er sagte nichts mehr dazu.

Um Punkt zwölf klopfte Albert an die Tür.

»Hier ist eine Dame für Sie«, meldete er in seiner wie immer sorgenvollen Art.

Ich folgte ihm durch den dunklen Korridor in das Puddinggeschäft vor unseren Räumen. Am Tresen stand eine junge Frau mit einer Haube und weitem Rock. Sie hatte den Teint einer reichen Frau, doch ihre Bündchen waren zerfranst und braun, und die Schönheit ihres Gesichts wurde von einem abgebrochenen Schneidezahn gemindert. Sie schenkte mir ein kurzes, gequältes Lächeln und ließ sich von mir nach hinten geleiten.

Er wurde sofort schwach, als sie durch die Tür kam, blinzelte mehrmals schnell, sprang auf und verbeugte sich, während er ihre kraftlos dargebotene Hand nahm.

»Madam.«

Dann bat er sie, auf dem besten Stuhl Platz zu nehmen, der sauber war und neben dem Fenster stand, sodass man ihre ansehnliche Gestalt bewundern konnte. Sie schien die an den Wänden gestapelten alten Zeitungen, die sich stellenweise mannshoch auftürmten, alsbald zu bemerken.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Es geht um meinen Bruder, Mr. Arrowood«, sagte sie. Ihr Akzent ließ erkennen, dass sie vom Kontinent stammte. »Er ist verschwunden, und man hat mir gesagt, Sie könnten ihn finden.«

»Sind Sie Französin, Mademoiselle?«, erkundigte er sich und stellte sich mit dem Rücken zum Kohlefeuer.

»Das bin ich.«

Als er mir einen Blick zuwarf, bemerkte ich, dass es an seinen fleischigen, geröteten Schläfen pulsierte. Das war kein guter Anfang. Man hatte uns vor zwei Jahren in Dieppe eingekerkert, als der dortige Magistrat der Ansicht gewesen war, wir würden zu viele Fragen über seinen Schwager stellen. Nach sieben Tagen bei Wasser und kalter Brühe war von seiner Bewunderung für dieses Land nichts mehr übrig geblieben, und die ganze Sache war dadurch noch schlimmer geworden, dass uns der Klient die Bezahlung verweigert hatte. Seitdem hegte Mr. Arrowood einen Argwohn gegen alle Franzosen.

»Mr. Arrowood und ich sind beide große Bewunderer Ihrer Landsleute«, warf ich ein, bevor er die Gelegenheit bekommen konnte, sie vor den Kopf zu stoßen.

Er warf mir einen finsteren Blick zu. »Wo haben Sie von mir gehört?«

»Ein Freund hat Ihren Namen fallen gelassen. Sie sind Privatdetektiv, richtig?«

»Der beste in London«, bestätigte ich und hoffte, ihn mit dem Lob ein wenig besänftigen zu können.

»Oh«, erwiderte sie. »Ich dachte, Sherlock Holmes …«

Mir entging nicht, wie Mr. Arrowood sich verkrampfte.

»Es heißt, er wäre ein Genie«, fuhr sie fort. »Der beste Detektiv der Welt.«

»Dann sollten Sie vielleicht besser ihn aufsuchen, Mademoiselle«, fauchte Mr. Arrowood.

»Das kann ich mir nicht leisten.«

»Dann bin ich also der zweitbeste?«

»Ich wollte Sie nicht beleidigen, Sir«, murmelte sie, da sie die Entrüstung in seiner Stimme sehr wohl bemerkte.

»Verraten Sie mir eins, Miss …«

»Cousture. Miss Caroline Cousture.«

»Das Äußere kann trügen, Miss Cousture. Holmes ist berühmt, weil sein Assistent Geschichten schreibt und verkauft. Er ist ein Detektiv mit einem eigenen Chronisten. Aber was ist mit den Fällen, von denen wir nie erfahren? Jenen, die nicht für die Öffentlichkeit aufbereitet werden? Was ist mit den Fällen, bei denen Menschen aufgrund seiner tölpelhaften Fehler getötet werden?«

»Getötet?«, wiederholte sie fassungslos.

»Ist Ihnen der Openshaw-Fall bekannt, Miss Cousture?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Der Fall der fünf Kerne?«

Erneutes Kopfschütteln.

»Ein junger Mann wurde von dem großen Detektiv in den Tod geschickt. Auf der Waterloo Bridge. Und das war nicht sein einziges Opfer. Sie haben doch gewiss vom Fall der tanzenden Männer gehört? Darüber haben sogar die Zeitungen berichtet.«

»Nein, Sir.«

»Mr. Hilton Cubitt?«

»Ich lese keine Zeitungen.«

»Erschossen. Er wurde erschossen, und seine Frau kam auch beinahe ums Leben. Nein, nein, Holmes ist alles andere als perfekt. Wussten Sie, dass er über private Mittel verfügt, Miss? Tja, ich habe gehört, er lehnt ebenso viele Fälle ab, wie er annimmt. Wie kommt es, dass ein Detektiv so viele Fälle ablehnt, frage ich mich? Und bitte glauben Sie jetzt nicht, ich wäre eifersüchtig auf ihn, denn das bin ich nicht. Ich bemitleide ihn. Warum? Weil er mit deduktiven Methoden arbeitet. Er nimmt kleine Hinweise und plustert sie auf. Oftmals irrt er sich dabei, wenn Sie mich fragen. So.« Er warf die Hände in die Luft. »Ich habe es gesagt. Natürlich ist er berühmt, aber ich muss leider hinzufügen, dass er die Menschen nicht versteht. Bei Holmes geht es immer nur um Hinweise: Markierungen am Boden, ein zufälliger Ascherest auf dem Tisch, eine bestimmte Lehmart am Boot. Aber was ist mit den Fällen, bei denen es keine Hinweise gibt? So etwas kommt häufiger vor, als Sie denken, Miss Cousture. Dann geht es nämlich um die Menschen. Es geht um Menschenkenntnis.« Bei diesen Worten deutete er auf das Regal, in dem sich seine kleine Büchersammlung über die Psychologie und den Geist befand. »Ich arbeite mit Emotionen, nicht mit Deduktionen. Und warum? Weil ich die Menschen wahrnehme. Ich blicke ihnen in die Seele. Ich kann die Wahrheit mit der Nase erschnüffeln.«

Er starrte sie die ganze Zeit über an, und mir fiel auf, dass sie errötete und zu Boden blickte.

»Und manchmal ist der Geruch derart intensiv, dass er sich wie ein Wurm in mich hineinbohrt«, fuhr er fort. »Ich durchschaue die Menschen. Ich kenne sie so gut, dass es mich quält. So löse ich meine Fälle. Mein Abbild findet sich zwar nicht in der Daily News, und ich habe auch keine Haushälterin, keine Zimmer in der Baker Street und keinen Bruder, der für die Regierung arbeitet, aber sollte ich mich entscheiden, Ihren Fall zu übernehmen – und das kann ich Ihnen erst garantieren, wenn ich Sie angehört habe –, sollte ich ihn also übernehmen, dann werden Sie weder an mir noch an meinem Assistenten etwas auszusetzen haben.«

Ich betrachtete ihn voller Bewunderung; wenn Mr. Arrowood erst einmal in Fahrt war, konnte er wahrlich beeindrucken. Und seine Worte entsprachen der Wahrheit: Seine Gefühle waren sowohl seine Stärke als auch seine Schwäche. Aus diesem Grund brauchte er mich dringender, als ihm selbst manchmal bewusst war.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Miss Cousture. »Ich wollte Sie nicht beleidigen. Mit der Arbeit von Detektiven kenne ich mich nicht aus. Ich weiß nur, dass Mr. Holmes in aller Munde ist. Bitte vergeben Sie mir, Sir.«

Er nickte und ließ sich dann schnaufend wieder in seinem Sessel am Feuer nieder.

»Erzählen Sie uns alles. Lassen Sie nichts aus. Wer ist Ihr Bruder, und warum müssen Sie ihn finden?«

Sie verschränkte die Hände im Schoß und sammelte sich kurz.

»Wir stammen aus Rouen, Sir. Ich bin erst vor zwei Jahren aufgrund meiner Arbeit hierhergezogen. Ich bin Photographin. In Frankreich dürfen Frauen diesen Beruf nicht ausüben, daher hat mir mein Onkel geholfen, hier in der Great Dover Street eine Anstellung zu bekommen. Er ist Kunsthändler. Mein Bruder Thierry arbeitete zu Hause für eine Patisserie, hat jedoch Probleme bekommen.«

»Probleme?«, hakte Mr. Arrowood nach. »Was für Probleme?«

Sie zögerte.

»Wenn Sie mir nicht alles erzählen, dann kann ich Ihnen nicht helfen.«

»Sie haben ihn beschuldigt, etwas aus dem Laden gestohlen zu haben«, gab sie zu.

»Und, hat er das getan?«

»Ich glaube schon.«

Sie sah ihn schüchtern an, bevor sie mir einen Blick zuwarf. Obwohl ich seit über fünfzehn Jahren mit der vernünftigsten Frau in ganz Walworth verheiratet war, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass dieser Blick etwas in mir hervorrief, was ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gespürt hatte. Diese junge Frau mit ihrem mandelförmigen Gesicht und dem abgesplitterten Schneidezahn war eine natürliche Schönheit.

»Fahren Sie fort«, bat er sie.

»Er musste Rouen sehr schnell verlassen, daher ist er mir nach London gefolgt. Hier fand er eine Stelle in einem Speisehaus. Vor vier Nächten kam er plötzlich völlig verängstigt von der Arbeit. Er hat mich um Geld gebeten, damit er nach Frankreich zurückkehren könne. Warum er von hier fortwollte, hat er mir nicht verraten, aber ich habe ihn nie zuvor derart verstört gesehen.« Sie hielt kurz inne, um Atem zu holen, und tupfte sich die Augen mit der Ecke eines vergilbten Taschentuchs ab. »Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht zulassen kann. Er darf nicht nach Rouen zurückkehren. Wenn er das tut, bekommt er große Schwierigkeiten, und das möchte ich nicht.«

Sie zögerte erneut, und eine Träne funkelte in ihrem rechten Auge.

»Möglicherweise wollte ich aber auch nur, dass er hier bei mir in London bleibt. Für eine Fremde ist dies eine einsame Stadt, Sir, und für eine Frau noch dazu eine gefährliche.«

»Bitte beruhigen Sie sich, Mademoiselle«, sagte mein Arbeitgeber freundlich. Er beugte sich auf seinem Sessel vor, sodass ihm sein Bauch auf den Knien hing.

»Er ist hinausgestürzt, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Bei der Arbeit ist er auch nicht gesehen worden.« Nun kamen ihr wirklich die Tränen. »Wo schläft er nur?«

»Aber, aber, meine Liebe«, versuchte Mr. Arrowood sie zu beruhigen. »Sie brauchen uns doch gar nicht. Zweifellos versteckt sich Ihr Bruder nur. Er wird Sie schon wieder aufsuchen, wenn er es für sicher hält.«

Sie hielt sich das Taschentuch vor die Augen, bis sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, und putzte sich dann die Nase.

»Ich kann Sie bezahlen, falls Sie deswegen besorgt sein sollten«, sagte sie schließlich, zog einen kleinen Geldbeutel aus der Manteltasche und holte eine Handvoll Guineen heraus. »Sehen Sie.«

»Stecken Sie das Geld bitte weg, Miss. Wenn er solche Angst hatte, ist er vermutlich nach Frankreich zurückgekehrt.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Sir, er ist nicht in Frankreich. Am Tag, nachdem ich ihm seine Bitte abgeschlagen hatte, kam ich von der Arbeit nach Hause und musste feststellen, dass meine Uhr verschwunden ist, ebenso wie meine Zweitschuhe und ein Kleid, das ich erst letzten Winter gekauft hatte. Meine Vermieterin erzählte mir, dass er nachmittags in meinem Zimmer gewesen sei.«

»Da haben wir es doch! Er hat all das verkauft, um die Überfahrt bezahlen zu können.«

»Nein, Sir. Seine Papiere und seine Kleidung sind noch da. Wie will er denn ohne Papiere in Frankreich einreisen? Ihm muss etwas zugestoßen sein.« Während sie sprach, ließ sie die Münzen wieder in den Geldbeutel fallen und holte einige Scheine heraus. »Bitte, Mr. Arrowood. Er ist alles, was mir noch geblieben ist. Es gibt niemanden, an den ich mich sonst wenden könnte.«

Mr. Arrowood sah zu, wie sie zwei Fünf-Pfund-Scheine auseinanderfaltete. Es war einige Zeit her, dass wir hier Banknoten gesehen hatten.

»Warum gehen Sie nicht zur Polizei?«, wollte er wissen.

»Dort wird man mir genau dasselbe sagen. Ich flehe Sie an, Mr. Arrowood.«

»Miss Cousture, ich könnte Ihr Geld nehmen, wie es vermutlich viele Privatdetektive hier in London ohne zu zögern tun würden. Aber es gehört zu meinen Prinzipien, dass ich kein Geld annehme, wenn ich nicht glaube, dass es einen Fall gibt, und erst recht nicht von einer Person mit begrenzten Mitteln. Ich möchte Sie nicht beleidigen, aber ich gehe davon aus, dass Sie sich dieses Geld entweder mühsam zusammengespart oder von jemandem geborgt haben. Ihr Bruder hält sich bestimmt nur irgendwo bei einer Frau auf. Warten Sie noch ein paar Tage. Wenn er dann noch immer nicht zurückgekehrt ist, suchen Sie uns noch einmal auf, einverstanden?«

Ihre blassen Wangen wurden rot. Sie stand auf, trat vor das Kamingitter und hielt die Banknoten über die glühenden Kohlen. »Wenn Sie meinen Fall nicht übernehmen, werfe ich das Geld ins Feuer«, drohte sie entschlossen.

»Seien Sie doch vernünftig, Miss«, beschwichtigte Mr. Arrowood sie.

»Das Geld bedeutet mir nichts. Und ich vermute, dass es Ihnen in Ihren Taschen lieber wäre als im Feuer, oder irre ich mich?«

Mr. Arrowood stöhnte und wandte den Blick nicht von den Geldscheinen ab. Er rutschte in seinem Sessel weiter nach vorn.

»Ich werde es tun!«, drohte sie verzweifelt und ließ die Hand ein Stück sinken.

»Halt!«, rief er, als er es nicht mehr länger ertragen konnte.

»Übernehmen Sie meinen Fall?«

Er seufzte. »Ja, ja. Ich schätze schon.«

»Und Sie werden meinen Namen geheim halten?«

»Wenn Sie das wünschen.«

»Wir verlangen zwanzig Schillinge pro Tag, Miss Cousture«, schaltete ich mich ein. »Bei Fällen mit vermissten Personen bekommen wir das Geld für fünf Tage im Voraus.«

Mr. Arrowood wandte sich ab und stopfte seine Pfeife. Obwohl er im Allgemeinen unter Geldmangel litt, war es ihm doch stets unangenehm, welches anzunehmen; jemand von seinem Stand gab eben ungern zu, darauf angewiesen zu sein.

Sobald das Geschäftliche erledigt war, drehte er sich wieder zu uns um.

»Nun brauchen wir noch die Details«, teilte er ihr schmauchend mit. »Sein Alter, sein Aussehen. Haben Sie eine Photographie?«

»Er ist dreiundzwanzig. Nicht so groß gewachsen wie Sie, Sir.« Sie sah mich an. »Eher irgendwo in der Mitte zwischen Ihnen und Mr. Arrowood. Sein Haar ist weizenblond, und er hat ein längliches Brandmal seitlich am Ohr. Ich habe leider keine Photographie, aber Sie werden in London nicht viele Personen mit unserem Akzent finden.«

»Wo hat er gearbeitet?«

»Im Barrel of Beef, Sir.«

Mir wurde mit einem Mal ganz anders, und die warme Fünf-Pfund-Note in meiner Hand fühlte sich jetzt eiskalt an. Mr. Arrowood hatte die Hand mit der rauchenden Pfeife sinken lassen. Er starrte ins Feuer, schüttelte den Kopf und sagte nichts mehr.

Miss Cousture runzelte die Stirn.

»Habe ich etwas Falsches gesagt, Sir?«

Ich reichte ihr den Geldschein.

»Nehmen Sie ihn zurück, Miss«, verlangte ich. »Wir können den Fall nicht übernehmen.«

»Aber warum nicht? Wir hatten uns doch geeinigt.«

Ich warf Mr. Arrowood einen Blick zu und wartete darauf, dass er antwortete. Stattdessen drang nur ein tiefes Knurren über seine Lippen. Er nahm den Schürhaken und stocherte damit in den glühenden Kohlen herum. Während ich Miss Cousture das Geld reichte, blickte sie zwischen ihm und mir hin und her.

»Gibt es ein Problem?«

»Wir hatten schon einmal mit dem Barrel of Beef zu tun«, gab ich schließlich zu. »Genauer gesagt mit dem Besitzer Stanley Cream. Sie haben gewiss schon von ihm gehört?«

Sie nickte.

»Vor einigen Jahren hatten wir einige Schwierigkeiten mit ihm«, fuhr ich fort. »Der Fall ging unschön zu Ende. Es gab da einen Mann, der uns geholfen hat, John Spindle. Ein guter Mann. Creams Bande hat ihn totgeschlagen, und wir konnten nichts dagegen tun. Cream schwor, dass er uns ebenfalls töten würde, sollten wir ihm jemals wieder unter die Augen treten.«

Sie schwieg.

»Er ist der gefährlichste Mann in Süd-London, Miss.«

»Dann haben Sie also Angst«, stellte sie verbittert fest.

Auf einmal drehte sich Mr. Arrowood um. Sein Gesicht leuchtete regelrecht, weil er so lange ins Feuer gestarrt hatte.

»Wir übernehmen den Fall, Miss«, erklärte er. »Ich nehme mein Wort nicht wieder zurück.«

Ich musste sehr an mich halten. Wenn Miss Coustures Bruder etwas mit dem Beef zu tun hatte, dann standen die Chancen gut, dass er wirklich in Schwierigkeiten steckte. Möglicherweise war er bereits tot. In diesem Augenblick erschien mir die Stelle als Droschkenkutscher als eine der begehrenswertesten in ganz London.

Nachdem Caroline Cousture gegangen war, ließ sich Mr. Arrowood schwer in seinen Sessel fallen. Er zündete seine Pfeife wieder an und blickte nachdenklich ins Feuer. Schließlich machte er wieder den Mund auf. »Diese Frau ist eine Lügnerin.«

2

Wir hatten gerade die Pastete mit Kartoffeln aufgegessen, die ich zum Mittagessen besorgt hatte, als die Verbindungstür zum Laden aufgerissen wurde. Am Herd stand eine Frau mittleren Alters, in der einen Hand eine Segelstofftasche und in der anderen einen Tubakoffer. Sie war ganz in Grau und Schwarz gekleidet, und ihr Benehmen ließ auf einen vielgereisten Menschen schließen. Mr. Arrowood war augenblicklich wie erstarrt. Ich sprang auf und verbeugte mich, wobei ich mir rasch die fettigen Finger an der Rückseite meiner Hosenbeine abwischte.

Sie nickte mir nur kurz zu und wandte sich dann ihm zu. Sehr lange Zeit sahen sie einander einfach nur an, er überrascht und leicht beschämt, wohingegen sie eher rechtschaffen und überlegen wirkte. Schließlich gelang es ihm, das Kartoffelstück, das er noch im Mund hatte, hinunterzuschlucken.

»Ettie«, sagte er. »Was …? Du bist …«

»Wie ich sehe, komme ich genau zur rechten Zeit«, erwiderte sie und ließ ihren erhabenen Blick langsam über die Tablettendöschen und Bierflaschen, die Asche vor dem Kamin und die Zeitungen und Bücher, die sich überall stapelten, entlangwandern. »Dann ist Isabel noch nicht zurück?«

Er schürzte die dicken Lippen und schüttelte den Kopf.

Sie drehte sich zu mir um.

»Und Sie sind?«

»Barnett, Madam. Mr. Arrowoods Angestellter.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Barnett.«

Sie erwiderte mein Lächeln nicht.

Mr. Arrowood erhob sich aus seinem Sessel und strich sich die Krümel von der Wollweste.

»Ich dachte, du wärst in Afghanistan, Ettie.«

»Anscheinend gibt es bei den Armen dieser Stadt mehr als genug zu tun. Ich habe mich einer Mission in Bermondsey angeschlossen.«

»Was, hier?«, stieß er hervor.

»Ich werde bei dir wohnen. Und nun sag mir bitte, wo ich schlafen soll.«

»Schlafen?« Mr. Arrowood starrte mich mit ängstlicher Miene an. »Schlafen? Du hast doch gewiss ein Zimmer zugewiesen bekommen, oder nicht?«

»Von jetzt an stehe ich im Dienste des Herrn, Bruder. Das ist keine schlechte Sache, wenn ich mich hier so umsehe. Diese Papierberge sehen ja gefährlich aus.« Sie erspähte die kleine Treppe im hinteren Teil des Raumes. »Ah, jetzt weiß ich, wo ich hinmuss. Ich finde den Weg schon allein.«

Sie stellte ihre Tuba auf den Boden und marschierte die Stufen hinauf.

Ich kochte Mr. Arrowood Tee, während er aus dem schmutzigen Fenster starrte und ein Gesicht machte, als hätte er soeben sein Todesurteil vernommen. Als ich ein Stück Toffee aus der Tasche nahm und ihm anbot, stopfte er es sich gierig in den Mund.

»Warum haben Sie Miss Cousture vorhin als Lügnerin bezeichnet?«, wollte ich wissen.

»Sie müssen wirklich genauer hinsehen, Barnett«, erwiderte er und kaute auf dem Toffee herum. »Es gab einen Augenblick während meiner Rede, bei dem sie errötete und mir nicht in die Augen sehen konnte. Nur einen einzigen. Es war der Moment, als ich sagte, ich könnte einem Menschen in die Seele blicken und die Wahrheit riechen. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«

»Haben Sie das mit Absicht getan?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber es ist ein guter Trick, finde ich«, erklärte er. »Vielleicht mache ich das demnächst öfter.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Da, wo ich herkomme, lügt eigentlich jeder.«

»Das ist doch überall so, Barnett.«

»Ich meinte damit, dass die Leute nicht erröten, wenn man sie des Lügens bezichtigt.«

»Aber ich habe sie doch gar nicht beschuldigt. Das ist ja der Trick. Ich habe über mich selbst gesprochen.«

Er bearbeitete das Toffee so emsig, dass ihm etwas Speichel aus dem Mundwinkel rann, den er wegwischte.

»Inwiefern hat sie denn gelogen?«

Er hob einen Finger und schnitt eine Grimasse, als er anscheinend versuchte, ein Stück Toffee vom Backenzahn abzubekommen.

»Das weiß ich nicht«, gab er zu, nachdem ihm das gelungen war. »Und nun muss ich heute Nachmittag hierbleiben und herausfinden, was zum Teufel meine Schwester hier zu suchen hat. Es tut mir leid, Barnett. Sie werden das Barrel of Beef allein aufsuchen müssen.«

Diese Aussicht erfreute mich nicht im Geringsten.

»Vielleicht sollten wir warten, bis Sie mich begleiten können«, schlug ich vor.

»Sie müssen ja nicht hineingehen. Warten Sie auf der anderen Straßenseite, bis ein Arbeiter herauskommt. Ein Tellerwäscher oder eine Kellnerin. Jemand, der nichts gegen einen zusätzlichen Penny einzuwenden hat. Versuchen Sie möglichst viel herauszufinden, aber bringen Sie sich nicht in Gefahr. Und verhindern Sie um jeden Preis, dass Creams Männer Sie entdecken.«

Ich nickte.

»Das ist mein Ernst, Barnett. Ich bezweifle, dass Sie dieses Mal eine zweite Chance bekommen werden.«

»Ich habe nicht vor, auch nur in die Nähe seiner Männer zu kommen«, erwiderte ich bedrückt. »Es wäre mir noch viel lieber, wenn ich überhaupt nicht dorthin müsste.«

»Seien Sie einfach vorsichtig«, ermahnte er mich. »Und kommen Sie wieder her, wenn Sie etwas herausgefunden haben.«

Während ich mich ausgehfertig machte, starrte er zur Decke hinauf, da im Stockwerk über uns Möbel gerückt wurden.

Das Barrel of Beef war ein vierstöckiges Gebäude an der Ecke der Waterloo Road. Abends wurde es größtenteils von jungen Männern besucht, die sich in den zweisitzigen Hansom-Kutschen von der anderen Flussseite herfahren ließen und nach Abwechslung suchten, wenn die Theater und politischen Zusammenkünfte beendet waren. Vorn im Erdgeschoss befand sich ein Pub, einer der größten in Southwark, und darüber auf zwei Etagen Speiseräume. Diese wurden häufig von Tischgesellschaften gemietet, und in Sommernächten, wenn die Fenster offen standen und die Musik spielte, kam es einem häufig so vor, als würde man an einem rauschenden Meer vorbeigehen. Im dritten Stock standen die Spieltische, die sehr exklusiv waren. Das war die angesehene Fassade des Barrel of Beef. Auf der Rückseite befand sich an einer stinkenden Gasse voller Bettler und Prostituierter das Skirt of Beef, ein derart dunkler und verräucherter Schankraum, dass einem direkt nach dem Betreten die Augen tränten.

Bisher war der Juli sehr kalt gewesen, eher wie zu Frühlingsanfang, und ich verfluchte den schneidenden Wind, als ich mir auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Aussichtsposten suchte, an dem ich mich neben dem warmen Wagen eines Kartoffelverkäufers wie ein Landstreicher in einen Hauseingang verkroch, mir die Kappe tief ins Gesicht zog und meinen Körper in einem alten Sack verbarg. Ich wusste nur zu gut, was Creams Leute mit mir anstellen würden, wenn sie herausfanden, dass ich sie erneut überwachte. Dort wartete ich, bis die jungen Männer wieder in ihre Kutschen gestiegen waren und es ruhig auf der Straße wurde. Kurz darauf kam eine Gruppe von mehreren Dienstmädchen aus dem Haus und marschierte in Richtung Osten nach Marshalsea davon. Vier Kellner traten danach auf die Straße, dicht gefolgt von zwei Köchen. Und dann, endlich, der einsame alte Geselle, auf den ich gewartet hatte. Er trug einen langen, zerschlissenen Mantel und Stiefel, die ihm zu groß waren, und hastete und stolperte die Straße entlang, als müsste er dringend einen Abort aufsuchen. Ich folgte ihm durch die dunklen Straßen und gab mir dabei keine große Mühe, unauffällig zu bleiben, da es keinen Grund zu der Annahme gab, dass sich irgendjemand für diesen Mann interessierte. Leichter Regen setzte ein. Schon bald erreichte er das White Eagle, eine Ginstube an der Friar Street, die einzige Wirtschaft, in der man um diese Uhrzeit noch etwas zu trinken bekam.

Ich wartete vor der Tür, bis er ein Glas in der Hand hatte. Dann trat ich ein und stellte mich neben ihn an den Tresen.

»Was darf’s sein?«, fragte der fette Wirt.

»Ein Porter.«

Ich hatte Durst und stürzte das halbe Bier auf einen Zug herunter. Der alte Knabe nippte an seinem Gin und seufzte. Seine Finger waren geschwollen und gerötet.

»Probleme?«, erkundigte ich mich.

»Ich kann das Zeug nicht mehr trinken«, moserte er und deutete mit dem Kinn auf mein Bier. »Dadurch stinkt meine Pisse faulig. Aber ich wünschte, es wäre anders. Bier habe ich immer gern getrunken, das können Sie mir glauben.«

Auf einem hohen Stuhl hinter einer Glaswand saß ein Mann, den ich bereits auf der Straße vor dem Beef gesehen hatte. Er trug einen schwarzen Anzug, der an den Ellenbogen dünn und an den Beinen fransig wurde, und hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Sein Streichholzverkauf litt darunter, dass er hin und wieder zusammenzuckte oder sich anderweitig ruckartig bewegte, sodass die Passanten vor ihm zurückschreckten. Nun murmelte er etwas vor sich hin, starrte in sein Ginglas und umklammerte mit einer Hand das andere Handgelenk, als müsste er sich festhalten.

»Veitstanz«, flüsterte der alte Mann mir zu. »Ein Geist hat Besitz von seinen Gliedmaßen ergriffen und lässt sie nicht mehr los – jedenfalls sagt man das.«

Ich hatte aufgrund des Biers Mitgefühl mit ihm, und wir plauderten darüber, wie es war, alt zu werden; ein Thema, zu dem er viel zu sagen hatte. Nach einiger Zeit gab ich ihm noch etwas zu trinken aus, was er dankend annahm, und erkundigte mich nach seinem Beruf.

»Ich bin erster Spüler«, antwortete er. »Sie kennen doch bestimmt das Barrel of Beef?«

»Selbstverständlich. Das ist in der Tat ein gutes Etablissement, Sir. Ein sehr gutes.«

Er setzte sich etwas aufrechter hin und sah plötzlich stolz aus. »Da haben Sie allerdings recht. Ich kenne auch den Besitzer, Mr. Cream. Haben Sie schon von ihm gehört? Ich kenne alle, die dort etwas zu sagen haben. Letztes Weihnachten hat er mir eine Flasche Brandy geschenkt. Er kam einfach zu mir und sagte: ›Ernest, das ist für alles, was du dieses Jahr für mich getan hast‹, und gab mir die Flasche. Mir persönlich. Eine Flasche Brandy. So ist Mr. Cream. Kennen Sie ihn?«

»Ich weiß nur, dass er der Besitzer ist.«

»Und es war eine Flasche mit sehr gutem Brandy. Dem besten sogar. Er schmeckte wie Gold oder Seide oder etwas in der Art.« Der Alte nippte an seinem Gin, zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. Seine Augen sahen gelblich und rührselig aus, und die wenigen Zähne, die er noch im Mund hatte, waren schief und braun. »Ich bin jetzt seit etwa zehn Jahren dort. In der ganzen Zeit gab es nie einen Grund, mich über die Arbeit dort zu beschweren. O nein, Mr. Cream behandelt mich gut. Ich kann alles essen, was zu Feierabend übrig ist, solange ich nichts mit nach Hause nehme. Alles, was sie nicht für den nächsten Tag aufbewahren. Steak, Bohnen, Austern, Hammelsuppe. Ich muss fast gar kein Geld mehr für etwas zu essen ausgeben, sondern kann es für die schönen Seiten des Lebens sparen, jawohl.«

Er leerte sein Glas und fing an zu husten. Ich bestellte ihm einen weiteren Gin. Hinter uns stritt sich eine müde aussehende Straßendirne mit zwei Männern in braunen Schürzen. Einer der beiden versuchte, ihren Arm zu nehmen, aber sie schüttelte ihn ab. Ernest warf ihr einen sehnsüchtigen Blick zu, bevor er sich erneut an mich wandte.

»Aber das gilt nicht für die anderen«, fuhr er fort. »Nur für mich, weil ich schon am längsten da bin. Rippchen, Fisch, Gekröse, wenn es sein muss. Ich speise fürstlich, Mister. Das ist eine gute Abmachung. Ich habe gleich auf der anderen Straßenseite ein Zimmer. Kennen Sie die Bäckerei? Penarven? Direkt darüber wohne ich.«

»Zufälligerweise kenne ich jemanden, der ebenfalls dort arbeitet«, warf ich ein. »Ein Franzose namens Thierry. Er ist der Bruder einer Freundin. Sie kennen ihn bestimmt.«

»Meinen Sie Terry? Der die Pasteten gemacht hat? Der arbeitet nicht mehr bei uns. Seit letzter Woche nicht mehr. Er ist gegangen oder wurde rausgeschmissen; ich weiß es nicht genau.«

Er zündete sich eine Pfeife an und hustete wieder.

»Dummerweise muss ich ihn unbedingt sprechen«, sagte ich, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Sie wissen nicht zufällig, wo ich ihn finden kann?«

»Wieso fragen Sie nicht seine Schwester?«

»Sie ist es ja gerade, die nach ihm sucht.« Ich senkte die Stimme. »Ehrlich gesagt könnte ich davon profitieren, dass ich ihr helfe, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Er kicherte. Ich schlug ihm auf den Rücken, was ihm jedoch gar nicht gefiel und mir einen misstrauischen Blick einbrachte.

»Das ist ein ganz schöner Zufall, was? Dass wir uns hier so rein zufällig unterhalten?«

»Ich bin Ihnen gefolgt.«

Es dauerte eine Minute, bis er meine Worte verdaut hatte.

»So sieht die Sache also aus, ja?«, krächzte er.

»Ja, so sieht sie aus. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

Er kratzte sich die Bartstoppeln am Hals und leerte sein Glas.

»Die Austern hier sind wirklich gut«, antwortete er dann.

Ich rief eine Kellnerin heran und bestellte ihm eine Schüssel.

»Alles, was ich weiß, ist, dass er sich mit einer Barfrau namens Martha angefreundet hat, jedenfalls sah es für alle danach aus«, berichtete er. »Sie sind nach Feierabend manchmal zusammen weggegangen. Fragen Sie sie. Lockiges rotes Haar – Sie können sie nicht übersehen. Eine kleine Schönheit, wenn man nichts gegen Katholiken hat.«

»Steckte er in Schwierigkeiten?«

Er leerte sein Glas und schwankte auf einmal so heftig, dass er sich am Tresen festhalten musste.

»Ich halte mich aus allem raus, was dort passiert. Bei den Dingen, die in diesem Gebäude vor sich gehen, kriegt man sonst sehr schnell Probleme.«

Die Austern wurden gebracht, und er starrte sie stirnrunzelnd an.

»Was ist?«, fragte ich.

»Ich dachte nur gerade, dass sie sich mit einem Tropfen viel besser runterspülen lassen würden«, erwiderte er und schniefte.

Ich bestellte ihm noch einen Gin. Als er die Austern fast aufgegessen hatte, fragte ich ihn erneut, ob Thierry in Schwierigkeiten gesteckt hatte.

»Ich weiß nur, dass er am Tag nach dem Besuch des Amerikaners verschwunden ist. Es war ein großer Kerl aus Amerika. Das habe ich bloß mitgekriegt, weil er Mr. Cream angeschrien hat, und das macht sonst keiner. Kein Mensch. Danach ist Terry nicht mehr aufgetaucht.«

»Warum hat der Mann denn geschrien?«

»Das konnte ich nicht verstehen«, erwiderte er und ließ die letzte Austernschale auf den Boden fallen. Er hielt sich am Tresen fest und starrte ihn an, als wüsste er nicht, wie er wieder aufstehen sollte, ohne dabei umzufallen.

»Wissen Sie, wer er war?«

»Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.«

»Sie müssen doch irgendetwas gehört haben«, bohrte ich weiter.

»Ich rede mit niemandem, und keiner redet mit mir. Ich mache einfach meine Arbeit und gehe wieder nach Hause. So ist es am besten. Diesen Rat würde ich auch meinen Kindern geben, wenn ich welche hätte.«

Er lachte auf und rief der Kellnerin zu: »He, Jeannie, hast du das gehört? Ich sagte, dass ich diesen Rat auch meinen Kindern geben würde, wenn ich welche hätte!«

»Ja, sehr witzig, Ernest«, entgegnete sie. »Jammerschade, dass dir der Schniedel abgefallen ist.«

Seine Miene erschlaffte. Der Wirt und ein Droschkenkutscher am anderen Ende des Tresens lachten laut los.

»Ich könnte dir einige Zeuginnen nennen, die dir versichern, dass mein Schniedel noch dran ist und hervorragend funktioniert«, krächzte er.

Aber die Kellnerin hörte ihm schon nicht mehr zu und unterhielt sich mit dem Droschkenkutscher. Der alte Mann starrte sie einige Augenblicke lang verbittert an, leerte dann sein Glas und klopfte auf seine Manteltaschen. Die Haut unter seinem mit Stoppeln bedeckten Kinn sah schlaff aus, und seine Handgelenke, die aus den Ärmeln seines dicken Mantels herausragten, wirkten dürr wie Besenstiele.

»Ich geh dann mal lieber.«

»Könnten Sie für mich herausfinden, wo er ist, Ernest?«, fragte ich, als wir auf die Straße traten. »Ich würde Sie auch gut bezahlen.«

»Suchen Sie sich einen anderen Dummen, Mister«, nuschelte er. »Ich will nicht mit dem Mund voller Schlamm am Flussufer landen. Ich nicht.«

Er warf mit grimmiger Miene einen Blick durch das Fenster zu der Kellnerin hinüber, die sich prächtig mit dem Droschkenkutscher zu unterhalten schien, drehte sich dann um und stampfte die Straße entlang.

3

Mr. Arrowoods Zimmer sah völlig verändert aus. Es lagen keine Krümel mehr auf dem Boden, alle Flaschen und Teller waren verschwunden, die Decken und Kissen zurechtgerückt. Nur die aufgetürmten Zeitungen an den Wänden schienen unangetastet zu sein. Mr. Arrowood saß mit gekämmtem Haar und sauberem Hemd in seinem Sessel, in den Händen das Buch, das ihn schon die letzten Monate beschäftigt hatte: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren vom berüchtigten Mr. Darwin. Einige Jahre zuvor hatte sich Mrs. Barnett sehr über diesen Mann aufgeregt, der doch glatt behauptete, jedenfalls hatte sie es mir so erzählt, dass sie und ihre Schwestern die Töchter eines großen Affen und nicht die wundervollen Schöpfungen des Allmächtigen seien. Selbstverständlich hatte sie seine Bücher nie gelesen, aber in ihrer Kirche gab es viele, die strikt gegen die Vorstellung waren, die Frau wäre nicht aus einer Rippe und der Mann nicht aus Staub erschaffen worden. Mr. Arrowood, der meines Wissens in dieser Hinsicht noch zu keiner Entscheidung gekommen war, hatte dieses Buch sehr gründlich und langsam gelesen und jeden darüber in Kenntnis gesetzt, dass er das tat. Er schien zu glauben, es enthielte Geheimnisse, die ihm helfen könnten, die Täuschungen, mit denen wir es tagtäglich zu tun bekamen, zu durchschauen. Mir entging jedoch nicht, dass neben ihm auf dem Beistelltisch auch eine weitere von Watsons Geschichten lag.

»Ich habe den ganzen Morgen auf Nachricht gewartet, Barnett«, erklärte er und schien sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Das Frühstück ist schon seit Stunden vorbei.«

»Ich war erst gegen zwei Uhr früh zu Hause.«

»Sie hat mich schon früh aus den Federn geholt, da sie das Bett reinigen wollte«, fuhr er entrüstet fort. »Sehr früh. Aber was haben Sie herausgefunden?«

Ich berichtete ihm alles, und er wies mich augenblicklich an, den Jungen aus dem Kaffeehaus auf die Suche nach Neddy zu schicken. Neddy war ein Junge, den Mr. Arrowood vor einigen Jahren ins Herz geschlossen hatte, als seine Familie ein Stück die Straße entlang ein Zimmer bezogen hatte. Sein Vater war schon lange tot, seine Mutter ein recht katastrophales Waschweib. Sie verdiente nicht genug für die Familie und konnte nur mit Mühe und Not die Miete bezahlen, daher verkaufte Neddy auf der Straße Hefeteigbrötchen, um sie und seine beiden kleinen Geschwister zu unterstützen. Er war neun oder zehn Jahre alt, vielleicht auch schon elf.

Der Junge traf kurz darauf ein und hatte seinen Brötchenkorb unter dem Arm. Er hatte dringend einen Haarschnitt nötig, und sein weißes Wams war an einer Schulter eingerissen.

»Hast du noch welche übrig, Junge?«, fragte Mr. Arrowood.

»Nur noch zwei, Sir«, antwortete Neddy und schlug das Tuch zurück. »Das sind die letzten beiden.«

Ich bestaunte den schwarzen Dreck unter seinen Fingernägeln und glaubte, unter seiner braunen Kappe etwas krabbeln zu sehen. Oh, dass dieses Kind nicht sorgenfrei leben konnte!

Mr. Arrowood grunzte und nahm die Brötchen.

»Haben Sie schon gegessen, Barnett?«, erkundigte er sich und biss in eines hinein. Dann gab er Neddy mit vollem Mund Anweisungen. Der Junge sollte an diesem Abend vor dem Beef warten, bis die rothaarige Martha herauskam, ihr dann bis nach Hause folgen und uns die Adresse nennen. Mr. Arrowood ließ sich von dem Jungen versprechen, dass er sehr vorsichtig sein und mit niemandem reden würde.

»Wird erledigt, Sir«, versicherte der Junge ernst.

Mr. Arrowood steckte sich lächelnd das letzte Brötchenstück in den Mund.

»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, Junge. Aber was hast du nur für ein schmutziges Gesicht?« Er zwinkerte mir zu. »Ist Ihnen ein Junge mit einem sauberen Gesicht nicht auch lieber, Barnett?«

»Ich hab kein schmutziges Gesicht«, protestierte der Junge.

»Dir klebt der Dreck förmlich im Gesicht. Schau doch mal in den Spiegel.«

Neddy starrte sein Spiegelbild mit finsterer Miene an.

»Stimmt doch gar nicht.«

Mr. Arrowood und ich brachen in schallendes Gelächter aus, und er nahm den Jungen in die Arme.

»Und jetzt lauf, Junge«, sagte er und ließ ihn wieder los.

»Wollen Sie ihm die Brötchen nicht bezahlen?«, ermahnte ich ihn.

»Aber natürlich bezahle ich ihn!«, fauchte er mich an und bekam eine ganz rote Stirn. Er zog eine Münze aus der Westentasche und warf sie in Neddys Korb. »Bezahle ich ihn denn nicht immer?«

Der Junge und ich sahen einander grinsend an.

Nachdem Neddy gegangen war und sich Mr. Arrowood die Krümel von der Weste gewischt hatte, ergriff ich erneut das Wort. »Sie hat hier gute Arbeit geleistet, Sir.«

»Hm«, murmelte er und sah sich mürrisch um. »Ich muss zugeben, dass ich bei diesem Fall nicht auf einen guten Ausgang hoffe. Vielmehr befürchte ich, dass diesem Franzosen etwas Schlimmes zugestoßen ist, wenn er Ärger mit Cream bekommen hat.«

»Ich mache mir viel größere Sorgen um uns, falls herauskommen sollte, dass wir Fragen gestellt haben.«

»Wir müssen uns vorsehen, Barnett. Sie dürfen es auf keinen Fall herausfinden.«

»Können wir ihr nicht das Geld zurückgeben?«, fragte ich.

»Ich habe ihr mein Wort gegeben. Jetzt muss ich ein Nickerchen halten. Kommen Sie morgen ganz früh her. Wir haben viel zu erledigen.«

Als ich am nächsten Morgen eintraf, hatte Neddy die Adresse bereits besorgt. Die Pension, in der Martha lebte, lag in der Nähe der Bermondsey Street, und wir waren innerhalb von zwanzig Minuten dort. Es war kein schöner Anblick: Die weiße Farbe an der Tür blätterte ab und sah schmierig aus, die Fenster waren bis ganz nach oben beschlagen, und grässlicher schwarzer Rauch drang aus dem Schornstein. Als drinnen Schreie zu hören waren, zuckte Mr. Arrowood zusammen. Er war ein Gentleman, der eine Aversion gegen Aggressionen hatte.

Die Frau, die die Tür öffnete, schien sich wegen der Störung sehr zu ärgern.

»Zweiter Stock«, teilte sie uns mit rauer Stimme mit, drehte sich um und marschierte zurück in die Küche. »Hinterstes Zimmer.«

Martha war so wunderschön, wie sie mir von dem alten Mann beschrieben worden war. Sie kam in zwei alte Mäntel gewickelt zur Tür und hatte noch Schlaf in den Augen.

»Kenne ich Sie?«, fragte sie. Mr. Arrowood sog die Luft ein; sie sah Isabel, seiner Frau, sehr ähnlich, war nur jünger und größer. Aber sie hatte dieselben langen bronzefarbenen Locken, die gleichen grünen Augen und eine identische Stupsnase. Nur ihr gedehnter irischer Akzent unterschied sich von Isabels trällernder Sprechweise.

»Madam«, erwiderte Mr. Arrowood mit leicht zitternder Stimme, »bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir würden uns gern kurz mit Ihnen unterhalten.«

Ich blickte über ihre Schulter in ihr Zimmer. In einer Ecke stand ein Bett, daneben ein kleiner Tisch mit einem Spiegel darauf. Zwei Kleider hingen an einem Ständer. Auf einer Kommode waren mehrere Zeitungen ordentlich gestapelt.

»Was wollen Sie?«, fragte sie.

»Wir suchen Thierry, Miss«, antwortete Mr. Arrowood.

»Wen?«

»Ihren Freund aus dem Barrel of Beef.«

»Ich kenne keinen Thierry.«

»Doch, das tun Sie«, widersprach er ihr sehr freundlich. »Wir wissen, dass Sie befreundet sind, Miss.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Was wollen Sie von ihm?«

»Seine Schwester hat uns engagiert, um ihn zu finden«, erläuterte er. »Sie glaubt, er könnte in Schwierigkeiten stecken.«

»Ich glaube Ihnen nicht, Sir«, entgegnete sie und wollte die Tür schließen. Es gelang mir gerade noch, einen Stiefel in den Spalt zu schieben. Sie starrte meinen Fuß an und seufzte, als sie begriff, dass wir nicht so leicht klein beigeben würden.

»Wir wollen nur wissen, wo er sich aufhält«, sagte ich. »Wir möchten ihm helfen, das ist alles.«

»Ich weiß nicht, wo er ist, Sir. Er arbeitet nicht mehr dort.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

Weiter oben fiel eine Tür ins Schloss, und schwere Tritte kamen die staubige Treppe herunter. Martha zog rasch den Kopf ein und schloss die Tür. Es war ein großer Mann mit markantem knochigen Kiefer, und als ich ihn erkannt hatte, war es auch schon zu spät, um sich noch abzuwenden. Ich hatte ihn im Barrel of Beef gesehen, als wir dort vor Jahren im Betsy-Fall ermittelt hatten, auch wenn ich nie herausgefunden hatte, was er dort eigentlich tat. Es hatte immer den Anschein gemacht, als würde er dort nur herumlungern und alles beobachten.

Er starrte uns im Vorbeigehen an und ging dann weiter die Treppe hinunter. Erst als die Haustür geöffnet worden und wieder ins Schloss gefallen war, tauchte Martha erneut auf.

»Ich kann hier nicht reden«, flüsterte sie. »Alle, die hier wohnen, arbeiten im Beef. Wir können uns später unterhalten, wenn ich zur Arbeit gehe.«

Sie richtete den Blick ihrer grünen Augen zur Treppe, hielt inne und lauschte. In einem Zimmer auf diesem Stockwerk fing ein Mann an zu singen.

»Vor der St. George the Martyr«, raunte sie uns zu, »um sechs.«

Nach einem letzten Blick in Richtung Treppe schloss sie die Tür.

Ich hatte bereits den ersten Treppenabsatz erreicht, als mir auffiel, dass mir Mr. Arrowood nicht folgte. Er starrte noch immer nachdenklich die verschlossene Tür an. Erst als ich seinen Namen rief, schrak er zusammen und setzte sich in Bewegung.

Auf der Straße brach ich das Schweigen.

»Sie sieht ein bisschen aus wie …«

»Ja, Barnett«, fiel er mir ins Wort. »Das tut sie.«

Er sagte auf dem ganzen Heimweg keinen Ton mehr.

Sie waren noch nicht lange verheiratet gewesen, als ich Mr. Arrowood kennenlernte. Mrs. Barnett hatte sich stets gefragt, wie eine derart aparte Frau einen so unattraktiven Mann wie ihn hatte heiraten können, aber nach allem, was ich so sah, schienen sie sehr gut miteinander auszukommen. Er hatte dank seines Gehalts als Zeitungsjournalist beim Lloyd’s Weekly ein gutes Auskommen, und sie schienen glücklich zu sein. Isabel war freundlich und aufmerksam, und in ihrem Haus gingen interessante Gäste ein und aus. Wir begegneten uns am Gericht, wo ich als Bürogehilfe arbeitete. Zuweilen half ich ihm, an bestimmte Informationen für seine Artikel zu gelangen, und er lud mich häufig auf einen Hammelbraten oder eine Suppe in seine Unterkunft ein. Doch dann wurde die Zeitung verkauft, und der neue Eigentümer setzte seinen Cousin auf Mr. Arrowoods Position und ihn vor die Tür.

Bis dahin hatte sich Mr. Arrowood jedoch schon einen gewissen Ruf als ein Mann erarbeitet, der Wahrheiten ans Licht brachte, die manch anderer lieber im Verborgenen gelassen hätte, sodass ihm schon bald ein Bekannter ein erkleckliches Sümmchen anbot, damit er für ihn ein persönliches Problem löste, in das seine Gattin und ein anderer Mann verwickelt waren. Dieser junge Mann empfahl Mr. Arrowood an einen Freund weiter, der ebenfalls ein kleines persönliches Problem hatte, und so nahmen die Ermittlungen ihren Lauf. Etwa ein Jahr später stand ich selbst ebenfalls ohne Anstellung da, nachdem ich bei einem gewissen Magistrat die Fassung verloren hatte, da dieser dazu neigte, junge Männer, die Hilfe brauchten, lieber zu den Erwachsenen ins Gefängnis zu sperren. So flog ich ohne viel Aufhebens raus, weder mit Handschlag noch mit einer Taschenuhr, und als Mr. Arrowood hörte, was passiert war, suchte er mich auf. Nach einem Gespräch mit Mrs. Barnett bot er mir die Stelle als sein Assistent an, damit ich ihn bei dem Fall, an dem er gerade arbeitete, unterstützen konnte. Das war der Betsy-Bigamie-Fall, meine Feuertaufe, bei dem ein Kind ein Bein und ein unschuldiger Mann sein Leben verloren. Mr. Arrowood gab sich für beides die Schuld – und das zu Recht. Er schloss sich fast zwei Monate lang in seinen Räumen ein, die er erst wieder verließ, als ihm das Geld ausging. Wir übernahmen einen neuen Fall, aber es war für alle offensichtlich, dass er mit dem Trinken angefangen hatte. Seitdem arbeiteten wir nur sehr unregelmäßig, und das Geld war knapp. Der Betsy-Fall belastete uns wie ein Fluch, aber das, was wir gesehen hatten, band mich an diesen Mann, als wären wir Brüder.

Isabel ertrug seine Trinkerei und die sporadischen Fälle drei Jahre lang, aber als er eines Tages nach Hause kam, waren ihre Kleider fort und auf dem Tisch lag eine Nachricht. Seitdem hatte er nichts von ihr gehört. Er hatte ihren Brüdern, ihren Cousins und Cousinen und ihren Tanten geschrieben, aber keiner wollte ihm verraten, wo sie sich aufhielt. Ich hatte einmal vorgeschlagen, er sollte seine Fähigkeiten als Ermittler doch nutzen, um sie aufzuspüren, doch er hatte nur den Kopf geschüttelt. Damals hatte er mir – mit geschlossenen Augen, damit er mich nicht ansehen musste – gestanden, dass der Verlust von Isabel seine Strafe dafür wäre, dass er den Tod des jungen Mannes im Betsy-Fall zugelassen hatte, und dass er diese ertragen müsse, solange Gott oder Teufel es für notwendig erachteten. Mr. Arrowood war eigentlich kein besonders religiöser Mensch, aber ihr Verschwinden hatte ihn tief getroffen, und wer weiß schon, wohin die Gedanken eines Mannes wandern, dem das Herz gebrochen wurde und der sich deswegen Nacht um Nacht das Gehirn zermartert? Seit dem Tag, an dem sie ihn verlassen hatte, wartete er auf ihre Rückkehr.

4

Wir waren spät dran. Es war ein trüber Nachmittag, und die Straßen waren windgepeitscht und schlammig. Am St. George’s Circus herrschte reger Verkehr, und Mr. Arrowood, dessen Schuhe zu eng waren, bewegte sich nur grunzend und schnaufend vorwärts. Er hatte die Schuhe billig und gebraucht von der Waschfrau erstanden und sich schon am nächsten Tag darüber beschwert, dass sie für seine aufgeblähten Füße viel zu klein waren. Da die Frau die Schuhe jedoch nicht zurücknehmen wollte und er ein sparsamer Mensch war, gedachte er, sie zu tragen, bis sie aufplatzten oder bis er einen Absatz verlor. Das dauerte jedoch weitaus länger, als ihm lieb war.

Als wir die Kirche endlich erreichten, konnten wir unsere Martha bereits sehen, die in einem schwarzen Umhang mit Kapuze auf uns wartete. Sie hielt sich am Geländer fest, das den Kirchhof umgab, stand gleich hinter dem Tor und blickte immer wieder nervös die Straße entlang. Es war offensichtlich, dass sie unser Eintreffen kaum erwarten konnte, und so zwickte mich Mr. Arrowood in den Arm und hastete weiter. Vor einem der Kochhäuser hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt, und als wir uns einen Weg hindurchbahnten, drängte sich ein kleiner Mann an uns vorbei und lief so schnell, dass die Zipfel seines alten Wintermantels im Wind flatterten und er beinahe den Hut verlor.

Mr. Arrowood fluchte und grummelte, als einem Kohlenmann direkt vor uns ein Sack vom Wagen auf das Straßenpflaster rutschte.

Plötzlich ertönte vor uns ein Schrei.

Eine Frau mit einem Baby im Arm stand am Kirchentor und sah sich panisch um, während der kurze Mann, der uns zur Seite gedrängelt hatte, in Richtung Fluss rannte.

»Das ist der Ripper!«, schrie sie.

»Holt einen Arzt!«, rief ein anderer.

Wir liefen beide los. Inzwischen eilten auch zahlreiche andere Passanten zum Tor, um herauszufinden, was passiert war. Wir zwängten uns nach vorn und sahen Martha, die zusammengekrümmt auf dem nassen Boden lag, wobei sich ihr Haar auf den Steinen wie geschmolzene Bronze ausbreitete.

Mr. Arrowood stöhnte auf und ging neben ihr auf die Knie.

»Verfolgen Sie ihn, Barnett!«, rief er mir zu und hob Marthas Kopf von den Pflastersteinen.

Ich stürmte los und drängelte mich durch die Umstehenden. Der kleine Mann rannte ein Stück vor mir die Straße entlang. Sein viel zu großer Mantel bauschte sich hinter ihm, und er bewegte die krummen Beine, so schnell er nur konnte. Er hielt auf die nächste Kreuzung zu, und als er in die Union Street abbog, konnte ich sein Gesicht erkennen. Das ölige graue Haar klebte ihm in der Stirn, und er hatte eine auffällige Adlernase. Eine Minute später erreichte ich ebenfalls die Kreuzung, musste jedoch aufgrund des Gewimmels aus Menschen und Pferden erst einmal stehen bleiben. Ich konnte den Mann nirgendwo erblicken, lief aber dennoch weiter und hielt in der Menge panisch nach seinem dunklen Mantel Ausschau, während ich den Kutschen, Bussen und Straßenhändlern auswich.

Ich lief blindlings, rein instinktiv, bis ich das Aufblitzen eines schwarzen Mantels erhaschte, als der Verdächtige in eine Seitenstraße abbog. Schon eilte ich ebenfalls dorthin, aber vor mir stand nur ein Bestatter, der an eine Tür klopfte. Ansonsten hielt sich in der schmalen Seitenstraße niemand auf. Schwer atmend wandte ich mich erneut der geschäftigen Union Street zu und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Im Grunde genommen war es sinnlos. Ich hatte ihn verloren.

Als ich auf den Kirchhof zurückkehrte, hatte sich die Menschenmenge noch nicht aufgelöst. Ein Gentleman ging kopfschüttelnd auf dem Weg auf und ab. Mr. Arrowood kniete weiterhin am Boden und hatte Marthas Kopf auf dem Schoß. Ihr Gesicht war aschfahl, und ihre Zungenspitze ragte aus einem Mundwinkel heraus. Unter ihrem dicken schwarzen Mantel zeichnete sich ein roter Fleck auf ihrer weißen Kellnerinnenbluse ab.

Ich kniete mich neben sie und überprüfte ihren Puls, konnte aber an Mr. Arrowoods Kopfschütteln und seinem trostlosen Blick bereits erkennen, dass sie tot war.

In diesem Augenblick traf ein Constable ein.

»Was ist hier passiert?«, fragte er so laut, dass er das Geplapper der Umstehenden übertönte.

»Diese junge Frau wurde getötet«, antwortete der Gentleman. »Gerade eben. Dieser Mann hier hat den Täter verfolgt.«

»Er ist die Union Street entlanggelaufen«, sagte ich und erhob mich. »Aber ich habe ihn im Gewühl aus den Augen verloren.«

»War sie eine Straßendirne?«, fragte der Polizist.

»Was hat das denn damit zu tun?«, entgegnete der Gentleman. »Sie ist tot, um Himmels willen. Sie wurde ermordet!«

»Ich musste nur gerade an den Ripper denken, Sir. Er hat nur Straßendirnen getötet.«

»Sie war keine Straßendirne!«, bellte Mr. Arrowood aufgebracht. »Sie hat als Kellnerin gearbeitet.«

»Hat irgendjemand gesehen, was passiert ist?«, wollte der Constable wissen.

»Ich habe alles gesehen«, meldete sich die Frau mit dem Baby zu Wort, die sich ganz wichtig vorkam und atemlos klang. »Ich stand genau hier, direkt neben dem Tod, als er ankam und die Dame einfach so durch den Mantel erstochen hat. Einmal, zweimal, dreimal hat er zugestochen. Das arme Ding. Dann ist er weggelaufen. Er war ein Ausländer, würde ich aufgrund seines Aussehens behaupten. Ein Jude. Ich dachte schon, er würde danach auf mich losgehen, aber er ist einfach weggerannt, wie Sie gesagt haben.«

Der Constable nickte und kniete sich endlich neben Martha, um ihren Puls zu fühlen.

»Er hatte keine menschlichen Augen«, fuhr die Frau fort. »Sie schimmerten wie die eines Wolfs, als wollte er mich ebenfalls aufschlitzen. Wären die Leute nicht hergekommen, weil sie so geschrien hat, hätte er das bestimmt auch getan. Aber das hat ihn abgeschreckt. Doch für sie war es bereits zu spät. Die Arme.«

Der Constable stand wieder auf.

»Hat noch jemand etwas gesehen?«

»Ich habe mich erst umgedreht, als ich den Schrei gehört habe«, sagte der Gentleman. »Dann sah ich den Kerl davonlaufen. Von meiner Position aus hätte ich ihn als Iren eingeschätzt, aber da bin ich mir natürlich nicht sicher.«

Der Constable blickte auf Mr. Arrowood hinab.

»Waren Sie bei ihr, Sir?«

»Er ist kurz darauf hier gewesen«, warf die Frau ein.

»Ich habe sie aus dem Barrel of Beef wiedererkannt.« Mr. Arrowoods Stimme klang ausdruckslos. »Aber ich kenne sie nicht.«

Der Polizist nahm die Beschreibung des Täters auf, die die Frau und der Gentleman ihm gaben. Beide waren sich darin einig, dass der Mann nicht von hier stammte, waren aber uneins darüber, ob es sich nun um einen Juden oder einen Iren handelte. Anschließend sprach er direkt mit mir. Nachdem er einen Jungen zum Revier geschickt hatte, um den Polizeiarzt zu holen, scheuchte er alle weg.

»Was machen wir jetzt?«, fragte ich, als wir uns auf den Rückweg machten.

Mr. Arrowood fluchte und ignorierte mich.

»Teufel noch eins!«, schimpfte er. »Er tötet, wen immer er will!«

»Wir wissen doch gar nicht, ob er dafür verantwortlich ist.«

Er stieß seinen Gehstock fest auf den Bordstein und sah höchst elendig aus.

»Wir haben das arme Mädchen in den Tod gelockt. Dieser Hund vom Beef hat uns im Haus gesehen. Da hätten wir sie auch gleich mit eigenen Händen ermorden können.«

»Uns war nicht bekannt, dass sie alle im Beef arbeiten.«

»Verdammt noch mal, Barnett. Es fängt schon wieder an. Diese ganze verfluchte Cream-Angelegenheit geht wieder von vorne los.«

»Vielleicht sollten wir den Fall besser der Polizei überlassen«, schlug ich vor.

»Dieser Idiot Petleigh wird den Mörder niemals zu fassen bekommen.«

Mr. Arrowood drehte sich noch einmal zur Kirche um. Sobald wir um die Ecke gebogen waren, hatte er auf einmal ein kleines, zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand.

»Das hielt sie umklammert«, sagte er. »Ich bin davon überzeugt, dass es für uns gedacht war.«

Als er es aufschlug, kam darin eine Patrone aus Messing zum Vorschein.

5

Später an diesem Abend trafen wir in der Great Dover Street ein, wo die Modistinnen, Kleidergeschäfte und Schuhläden für die abendliche Kundschaft bereits die Lampen entzündet hatten. An einem Ende der Straße befand sich eine Kaffeemühle, und der Wind trug den wohlfeilen Duft der gerösteten Bohnen zu uns herüber. Hier gab es nur ein einziges Photographiestudio, das The Fontaine hieß. Ein Mann in grüner Samtjacke, dessen Haar ihm bis auf den Kragen fiel, stand an der Ladentheke und baute soeben einen Bilderrahmen zusammen. Er hielt einen kleinen Hammer in der Hand und einen Nagel zwischen den Lippen.

»Guten Tag, die Herren«, begrüßte er uns mit falschem Lächeln. »Wie kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie ein Porträt anfertigen lassen?«

»Wir sind auf der Suche nach Miss Cousture«, erwiderte Mr. Arrowood, der dabei die photographischen Porträts an den Wänden betrachtete. »Ist sie zugegen?«

»Sie ist bei der Arbeit«, erwiderte der Mann und ließ den Kopf abfällig nach hinten sinken. »Ich bin der Besitzer, Mr. Fontaine. Möchten Sie ein Porträt in Auftrag geben?«

»Haben Sie die gemacht?«, fragte Mr. Arrowood und deutete auf die Photographien an den Wänden. »Sie sind sehr gut.«

»Ja, in der Tat. Das ist alles mein Werk. Ich könnte auch von Ihnen ein schönes Porträt anfertigen, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Sir. Ihr Profil ist wirklich wunderbar.«

»Finden Sie?« Mr. Arrowood warf sich in die Brust und strich sich über die Haare. »Ich überlege schon seit einiger Zeit, ein Bild in Auftrag zu geben. Meine Schwester würde sich gewiss gern ein Porträt von mir über den Kamin hängen.«

Ich warf ihm einen Blick zu und konnte mir bei dem Gedanken an ein solches Geschenk ein Grinsen nicht verkneifen.

»Wir können gleich einen Termin machen, Sir. Sagen wir Montagmorgen? Um elf Uhr?«

»Ja … Ah, warten Sie. Wenn ich es mir recht überlege, würde ich lieber so lange warten, bis sich mein neuer Anzug in meinem Besitz befindet. Aber könnten wir Miss Cousture jetzt vielleicht sprechen? Es geht um eine Privatangelegenheit.«

Der Künstler starrte uns einige Augenblicke lang über seine lange Nase hinweg an.

»Es ist wirklich wichtig, Mr. Fontaine«, fügte ich schließlich hinzu, da mir der Geduldsfaden zu reißen drohte. »Ist sie hier?«

Mit theatralischem Seufzen und einem Kopfschütteln, das sein strähniges schwarzes Haar durcheinanderbrachte, verschwand er durch einen Vorhang im hinteren Teil des Ladens. Einen Moment später tauchte Miss Cousture auf.

»Guten Tag, Mr. Arrowood«, sagte sie leise, nachdem sie durch den Vorhang getreten war. Sie trug einen hochtaillierten schwarzen Rock, eine weiße Bluse, deren Ärmel sie aufgekrempelt hatte, und eine Hochsteckfrisur. Dann nickte sie mir zu. »Mr. Barnett.«

Mr. Fontaine trat hinter ihr durch den Vorhang und blieb mit verschränkten Armen dort stehen.

Sie warf ihrem Arbeitgeber einen kurzen Blick zu, als wollte sie uns warnen, in seiner Gegenwart nichts zu sagen. Es folgte eine betretene Stille. Ihre blassen Wangen wurden immer roter. Sie blickte auf ihre Füße hinab.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir kurz privat mit der Dame sprechen, Sir?«, fragte Mr. Arrowood schließlich. Als ich bemerkte, dass ihm die Krawatte vom Wind über die Schulter geweht worden war, trat ich vor und rückte sie ihm zurecht, was mir einen irritierten Blick einbrachte.

»Das ist mein Studio, Sir«, erklärte der Mann hochmütig und rieb sich die lange Nase. »Über der Tür steht mein Name und nicht der dieser Dame. Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann heraus damit, und zwar schnell.«

»Würden Sie dann bitte kurz mit nach draußen kommen, Madam?«

»Oh, putain, Eric!«, fluchte sie und drehte sich zu ihrem Arbeitgeber um. »Es dauert auch nur einen Moment!«

Der Fluch aus dem Mund dieser feinen Frau ließ die Luft gefrieren. Fontaine warf den Kopf zurück und verschwand wieder hinter dem Vorhang. Wir hörten, wie er wütend einige Schritte ging.

Mr. Arrowood holte einen Stuhl hinter der Ladentheke hervor und ließ sich mit verzerrtem Gesicht darauf nieder. Dann rieb er sich die Füße durch die zu engen Stiefel. Ein paar Augenblicke lang herrschte Schweigen.

»Wir müssen Ihnen noch einige Fragen stellen, Miss«, sagte er endlich.

»Aber natürlich, auch wenn ich Ihnen schon alles gesagt habe, was ich weiß.«

»Wir müssen wissen, in welchen Schwierigkeiten Ihr Bruder steckte«, fuhr er fort und lächelte sie gequält an. »Jede Kleinigkeit, die er gesagt hat, könnte von Bedeutung sein. Bitte seien Sie ganz offen zu uns.«

»Selbstverständlich.«

»Kennen Sie seine Freundin Martha?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Seine Geliebte. Er hat sie Ihnen gegenüber nie erwähnt?«

»Ich habe den Namen noch nie zuvor gehört.«

»Tja, Miss Cousture, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass sie heute Nachmittag ermordet wurde.«

Wir sahen zu, wie sich erst Überraschung und dann Traurigkeit auf ihrem Gesicht abzeichnete. Sie hielt sich an der Ladentheke fest und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

»Wir waren mit ihr verabredet, aber jemand hat sie vorher erwischt«, erklärte Mr. Arrowood.

Sie nickte langsam.

»Wir haben außerdem herausgefunden, dass es kurz vor Thierrys Verschwinden Ärger im Barrel of Beef gegeben hat. Unser bislang einziger Hinweis ist, dass ein Amerikaner darin verwickelt gewesen ist. Hat Thierry Ihnen gegenüber etwas Derartiges erwähnt?«

»Ein Amerikaner?«, wiederholte sie, und in ihrer Stimme schwang Enttäuschung mit. »Nein, davon weiß ich nichts. Wie ist sein Name?«

»Wir haben keinen Namen. Uns ist nur bekannt, dass sich an dem Tag, an dem Ihr Bruder verschwunden ist, jemand mit einem Amerikaner gestritten hat. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob Thierry etwas damit zu tun hatte. Aber überlegen Sie bitte noch einmal genau. Ist vor seinem Verschwinden irgendetwas vorgefallen? Haben Sie eine Veränderung an ihm bemerkt?«

»Erst, als er Geld von mir verlangt hat. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass er verängstigt wirkte, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.« Sie hielt inne und sah rasch zwischen Mr. Arrowood und mir hin und her. »Glauben Sie, dass er tot ist? Meinen Sie das mit ›Schwierigkeiten‹?«

Mr. Arrowood nahm ihre Hand.

»Es ist noch zu früh, um so etwas in Betracht zu ziehen, Miss.«

Sie wollte noch etwas sagen, doch da trat Mr. Fontaine bereits wieder durch den Vorhang. Dieses Mal ließ er nicht mehr mit sich reden; das Gespräch war beendet.

Wir gingen zurück nach Waterloo. Es war windstill, und Nebel zog auf.

»Barnett«, sagte Mr. Arrowood irgendwann. »Kam Ihnen an dem, was wir eben gesehen haben, irgendetwas seltsam vor?«

Ich überlegte kurz und versuchte zu erraten, was ihm wohl aufgefallen sein mochte.

»Ich wüsste nicht, was«, erwiderte ich schließlich.

»Stellen Sie sich doch einmal vor, Mrs. Barnett wäre verschwunden, ohne ihre Kleidung oder ihre Papiere mitzunehmen, und Sie hätten einen Detektiv engagiert. Stellen Sie sich weiter vor, dieser Detektiv würde Sie zwei Tage später aufsuchen. Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie krank vor Sorge sind.«

»Ja, Sir.«

»Was wäre das Erste, was Sie sagen würden?«

»Ich würde ihn vermutlich als Erstes fragen, ob er sie gefunden hat.«

»Ganz genau, Barnett.« Er runzelte die Stirn. »Ganz genau.«

Mr. Arrowood kehrte nach Hause zurück, um darüber nachzudenken, während ich den White Eagle aufsuchte. Ich bestellte mir eine Schüssel Austern und danach einen Teller Hammelfleisch, während ich wartete, und schließlich erst ein und später noch ein zweites Bier. An diesem Abend war der Pub gut besucht und laut, und ich saß zufrieden in meiner Ecke und sah meinen Mitbürgern dabei zu, wie sie sich ausgelassen unter dem großen Spiegel vergnügten, der die ganze Decke einnahm. Nach einiger Zeit kam der Streichholzverkäufer herein. Er würdigte die anderen Gäste keines Blickes, als er über den klebrigen Boden ging, und hielt seine Miene zu einer steifen Grimasse gefroren, damit sich seine Gesichtszüge nicht wieder wild selbstständig machten. Nachdem er bestellt und bezahlt hatte, trug er sein Glas in seine übliche Ecke und nahm hinter der Glasscheibe Platz.

Es hatte sich schon merklich geleert, als Ernest hereingestolpert kam und an derselben Stelle wie zuvor an der Bar stehen blieb. Er gönnte sich einen Gin, den er rasch hinunterstürzte, wobei er sich über den Tresen beugte. Mir entging nicht, dass er dieselbe Kleidung trug wie bei unserer letzten Begegnung, und er schien niemanden außer der Kellnerin wahrzunehmen, die sein Glas vor ihn auf den Tresen knallte, als hätte er ihre Mutter beleidigt.

»Schön, Sie wiederzusehen, mein Freund«, sagte ich und stellte ein zweites Glas vor ihm ab. »Setzen Sie sich doch zu mir an den Tisch. Ich könnte ein wenig Gesellschaft gebrauchen.«

Er blickte verwirrt zu mir auf, betrachtete den Gin und musterte mich erneut. Ein wenig Blut rann aus seinem Zahnfleisch seinen einzigen verbliebenen Schneidezahn hinunter.

»Hä?«, murmelte er dann.

»Wir haben uns neulich Abend kennengelernt, Ernest. Hier. Vor zwei Nächten, um genau zu sein.«

Ganz langsam klarten seine wässrigen Augen auf, und er schien sich an mich zu erinnern. Endlich stellte er sich aufrecht hin, und Misstrauen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

»Ich hab kein Geld«, erklärte er und stürzte rasch den Gin weg.

»Kommen Sie mit, dann gebe ich Ihnen eine Schüssel Austern aus.«

»Was wollen Sie?«

Ich senkte die Stimme. Der Droschkenkutscher, den ich schon beim letzten Besuch gesehen hatte, lehnte am Tresen und unterhielt sich mit der Kellnerin.

»Ich möchte nur Informationen, mehr nicht.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß überhaupt nichts. Und ich hätte schon letztes Mal nicht mit Ihnen reden sollen.«

Er drehte mir den Rücken zu. Hinter der Glasscheibe wurde ein Arm durch die Luft geschwenkt, gefolgt von einem gereizten Knurren. Eine Gruppe junger Männer mit von Kohlestaub geschwärzten Gesichtern und Händen trat auf ihn zu, und der Anblick des gepeinigten Streichholzverkäufers, der versuchte, seine Manie unter Kontrolle zu bekommen, brachte sie zum Lachen. Auch nachdem sie an ihren Tisch zurückgekehrt waren, legte sich die Unruhe noch eine Weile nicht. Hinter der Scheibe drang ein weiteres gequältes Jaulen hervor, gefolgt von einem üblen Fluch, der den jungen Männern einen weiteren, noch lauteren Lachanfall entlockte.

»Ich bestelle Ihnen noch etwas zu trinken«, sagte ich zu Ernest. Bevor er sich weigern konnte, winkte ich die Kellnerin heran und drückte ihm einen schönen Krug Gin in die Hand.

»Setzen wir uns doch. Sie sehen aus, als könnten Sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Bestimmt haben Sie hart gearbeitet, Ernest.«

Er folgte mir demütig zum Tisch.

»Haben Sie Thierrys Schwester mal im Beef gesehen?«, fragte ich, nachdem wir uns gesetzt hatten. »Gut aussehend, dunkles Haar. Sie ist Französin, wie Sie sich vermutlich denken können.«

Er sog die Luft ein und trank einen Schluck Gin.

»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe ihn nie mit einer anderen Frau als mit Martha gesehen.«

»Was ist mit dem Amerikaner? Was haben Sie über ihn gehört?«

»Sagten Sie nicht was von Austern?« Er verschränkte die Arme vor seiner fleckigen Mantelbrust.

Ich ging zum Tresen und bestellte ihm eine Schüssel Austern sowie einen weiteren Gin. Er hatte die Hälfte gegessen und rülpste gerade zufrieden, als ich meine Frage wiederholte.

»Mr. Cream hat sehr viele Geschäftsfreunde«, erwiderte er. »Sie kommen ständig vorbei. Einige würden Sie bestimmt erkennen, aber den Mann hatte ich noch nie zuvor gesehen. Er hatte einen Glatzkopf, umringt von einigen schwarzen Haaren. Schwarzer Bart. Blaue, durchdringende Augen. Ich habe ihnen Kaffee gebracht, und er hat mich förmlich mit seinem Blick durchbohrt. Da war auch noch ein Ire bei ihm. Den hatte ich vorher schon mehrmals gesehen. Ein kleiner Kerl mit lauter Stimme. Strähniges blondes Haar. Man hat ihm ein Ohr abgeschnitten, was wirklich schaurig aussieht.«

»Und Sie wissen natürlich nichts über seine Geschäfte.«

»Über das Geschäft reden sie im Büro und nicht in der Spülküche.«

»Ich muss wissen, mit wem sich Thierry sonst noch gut verstanden hat, Ernest. Mit wem hat er geredet? Nennen Sie mir ein paar Namen.«

»Ich habe Ihnen beim letzten Mal schon einen Namen genannt. Martha. Fragen Sie sie.«

»Ich brauche noch einen Namen.«

»Ich habe Ihnen einen Namen genannt!«, protestierte er und wurde ob des Gins immer aufsässiger. »Fragen Sie Martha. Wenn jemand etwas weiß, dann sie.«

Ich beugte mich vor und flüsterte: »Sie ist tot, Ern. Sie wurde heute Abend auf dem Weg zur Arbeit ermordet.«

Ihm klappte die Kinnlade herunter, und er starrte mich mit seinen wässrigen Augen an. Es machte fast den Anschein, als könnte sein Spatzenhirn meine Worte nicht verarbeiten.

»Haben Sie mich verstanden? Sie wurde ermordet. Aus diesem Grund muss ich mit jemand anderem reden.«

Nach und nach zeichnete sich Furcht auf seinen Gesichtszügen ab. Sein Arm zitterte, und er blinzelte mehrmals schnell. Er kippte seinen Gin hinunter, und ich bedeutete der Kellnerin, dass sie noch einen bringen sollte. Doch als sie damit ankam, schüttelte er den Kopf.

»Ich muss gehen, Mister«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich weiß überhaupt nichts.«

Er wollte schon aufstehen, aber ich hielt ihn am Arm fest.

»Einen Namen, Ern. Nur einen. Jemand, mit dem er gesprochen hat. Neben wem hat er gearbeitet? Mit wem hat er die meiste Zeit verbracht?«

»Ich schätze, mit Harry.« Er sprach jetzt schnell und sah sich bei jedem Geräusch um. »Bei ihm könnten Sie es versuchen. Er ist einer der Jungköche. Sie haben in derselben Ecke der Küche gearbeitet.«

»Und wie sieht er aus?«

»Er ist sehr dünn. Unnatürlich dünn, würde ich sagen, und seine Augenbrauen sind dunkel, obwohl er helles Haar hat. Sie können ihn gar nicht verfehlen.«

Ich ließ sein Handgelenk los.

»Vielen Dank, Ernest.«

Im nächsten Augenblick war er auch schon aufgesprungen und hastete hinaus. Als ich mich ebenfalls erhob, spürte ich, dass ich beobachtet wurde. Ich drehte mich um. Der Streichholzverkäufer hatte seinen Glatzkopf um die Absperrung gesteckt und musterte mich neugierig. Er schniefte, seine Schultern zuckten, und dann war er wieder verschwunden.

6

Am nächsten Morgen traf ich Mr. Arrowood allein in seinem Salon an. Sein Gesicht war gerötet und glänzte, als wäre es von einem Dienstmädchen poliert worden.

»Sie ist ausgegangen«, erklärte er, kaum dass ich eingetreten war. »Sie ist bei einem Organisationstreffen mit den anderen.«

»Bei einem Organisationstreffen? Was organisiert sie denn?«

»Sie wollen die Armen besuchen. Was haben Sie letzte Nacht herausgefunden?«

Ich berichtete ihm vom Kochlehrling Harry. Da keiner von uns geneigt war, sein Gesicht im Barrel of Beef sehen zu lassen, ließ er Neddy rufen und trug ihm auf, eine Nachricht zu überbringen. Die Botschaft war mit »Mr. Locksher« unterschrieben, einem Decknamen, den Mr. Arrowood häufig benutzte, und darin versprach er eine Belohnung von einem Schilling für »einen sehr schnellen Auftrag«. Harry sollte an diesem Abend nach der Arbeit zu Mrs. Willows’ Kaffeehaus an der Blackfriars Road kommen, das als einziges zu dieser Stunde noch geöffnet hatte. »Ihr Freund von der anderen Seite des Kanals hat Sie uns vorgeschlagen«, stand als einzige Erklärung in der Nachricht. Neddy erhielt die Anweisung, den Brief ausschließlich dem Mann zu überreichen, der Harry genannt wurde. Wir beschrieben ihm den dünnen Mann mit schwarzen Augenbrauen und blondem Haar und erklärten, dass er direkt in die Küche gehen und niemandem sagen sollte, wer ihn schickte.

Der Junge machte sich auf den Weg, und Mr. Arrowood stopfte seine Pfeife. Als er sie angezündet hatte, sah er mich traurig an.

»Was denken Sie über den Tod dieses Mädchens, Barnett? Glauben Sie, Jack hat sich ein weiteres Opfer gesucht?«

»Es sieht nicht danach aus.«

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