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Abenteuerland – Von der Zugspitze nach Sylt

Als Buch hier erhältlich:

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»Ich habe so viel entdeckt da draußen, aber auch in mir selbst, dass ich diese Wochen zwischen Zugspitze und Sylt für immer in meinem Herzen tragen werde.«


Was passiert, wenn wir unsere Heimat zu einem echten Abenteuer herausfordern? Christo Foerster nimmt uns mit auf eine außergewöhnliche Expedition von den Alpen bis an die Nordsee. Acht Wochen lang war er unterwegs, um sich auf dem Wasser und an Land einmal längs durch die Republik zu schlagen. Er erzählt von Draußennächten in der Hängematte, von wilden Flüssen, skurrilen Begegnungen und den atemberaubenden Landschaften vor unserer Haustür. Eindrücklich schildert er, was passiert, wenn wir dem Wahnsinn des Alltags den Rücken kehren und uns aus unserer Komfortzone wagen. Ein bewegender Erfahrungsbericht, der Mut macht, selbst loszuziehen und Deutschland mit neuen Augen zu sehen.

»Mit hoher Wahrscheinlichkeit bin ich der Erste, der mit einem Stand-up-Paddleboard auf dem Gipfel der Zugspitze steht. Das ist einerseits völlig belanglos, weil sicher kaum jemand das für erstrebenswert oder sinnstiftend hält, andererseits verstärkt es mein Gefühl, einen völlig neuen Weg zu gehen. Hätte ich die Alpen überqueren oder auf dem Jakobsweg pilgern wollen – es hätte immer Routen gegeben, die sich einfach recherchieren und planen lassen, weil sie schon von vielen gegangen wurden. Für mein Vorhaben gibt es keine Blaupause. Eins ist aber sicher: Von hier an geht es bergab.«


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000304

Leseprobe

»ICH GING DEN BACH HINUNTER,
BIS DARAUS EIN FLUSS ENTSPRANG.«

Niels Frevert

© Map tiles by Stamen Design, under CC BY 3.0. Data by OpenStreetMap, under CC BY SA
Gestaltung: Annalena Weber, Grafik- und Buchdesign, Hamburg

01

CALL IM KABUFF

Festgesetzt und ausgelutscht

Maaama, wie lange schläft Papa noch?« Bis eben bildete das Gemurmel jenseits der angelehnten Zimmertür mit dem Klappern von Geschirr und Buntstiften, dem Knarzen der Treppe und dem Surren der Elektrozahnbürsten einen Geräuschteppich, der sich unauffällig unter meine Halbschlafträume legte. Nun hat meine Familie aber offenbar die Entscheidung getroffen, dass es reicht. Mit Inbrunst schreit meine Frau Anja von unten: »Lass ihn mal noch ein bisschen! Ich glaube, der ist gestern wieder spät ins Bett gegangen.« Ja, das ist er. Aber vielleicht will er deshalb auch WIRKLICH noch weiterschlafen! Warum kommt ihr nicht gleich mit dem Megafon rein und brüllt mir ein »Lass dich nicht stören!« ins Ohr? Ich habe noch nicht einmal das Bett verlassen und bin schon so genervt wie nach vier Stunden Videocall mit meiner Steuerberaterin.

Das Fenster in der Dachschräge ist nur einen Spaltbreit geöffnet, aber ich spüre, dass es draußen eiskalt geworden ist. Schon seit Tagen liegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, heute Nacht sind sie wohl noch weiter gefallen. Ich rappele mich auf und muss über mich selbst schmunzeln. Wo ist sie hin, meine Gelassenheit?

Beide Kinder sitzen schon an ihren Schreibtischen und haben mit dem Homeschooling begonnen. Dritte und fünfte Klasse, erstaunlich selbstständig, aber doch mit tausend Fragen. Bis mittags bin ich es, der versucht, Antworten darauf zu finden, so haben Anja und ich es vereinbart, um halbwegs organisiert durch den Lockdown zu kommen. Vormittags macht sie das Wohn- und Esszimmer zum Konferenzraum (was zu skurrilen Szenen führt, wenn wir anderen hinter ihr gebückt oder auf allen vieren zum Kühlschrank schleichen), nachmittags und abends arbeite ich an meinem Kram, wie gestern, meist bis spät in die Nacht hinein.

Ich weiß, dass es mir guttun würde, mehr draußen zu sein, gerade jetzt, aber es ist momentan nicht so einfach. Um dem ganzen Pandemiewahnsinn wenigstens etwas die Stirn zu bieten, habe ich eine alte Badewanne in unseren kleinen Garten gestellt und lege mich jeden Tag drei Minuten ins kalte Wasser. Heute klappt selbst das nicht. Nachdem ich mit den Kindern die anstehenden Aufgaben durchgegangen bin und mir den Bademantel übergeworfen habe, stehe ich vor der Draußenwanne und prügele wie blöd mit dem Vorschlaghammer auf das Eis ein, das sich darin gebildet hat. Gestern ging das doch noch! Irgendwann habe ich die dicke Schicht in einen riesigen Crushed-Ice-Haufen verwandelt. Aber da ist kein Wasser mehr, zumindest nicht genug, um sich hineinzulegen. Kurz versuche ich es und sitze auf dem Trockenen wie die Arche Noah nach der Sintflut. Also dreimal tief Luft holen, wieder nach drinnen und das Beste machen aus diesem Tag, der kaum holpriger hätte beginnen können.

Ist das alles eine biblische Prüfung? Die letzten Wochen haben schon schwer an unseren Kräften gezehrt. Erst wurde Anja positiv auf das Coronavirus getestet, dann ihre Eltern, die seit zwei Jahren schräg gegenüber wohnen. Zack, alle in Quarantäne, keinen Schritt mehr vom eigenen Grundstück runter. Klare, nachvollziehbare Vorgaben, die das Korsett, in dem sich unser selbstbestimmtes Leben – und natürlich nicht nur unseres – durch die Pandemielage ohnehin längst befand, noch weiter einschnürten. Nur für den Weg rüber zu Anjas Eltern setzten wir uns über diese Vorgaben hinweg, denn irgendjemand musste sich ja kümmern. Anjas Vater konnten aber weder wir noch die Ärzte retten. Er starb vor zwei Wochen auf der Intensivstation. Nur weil der behandelnde Arzt beide Augen zudrückte, durfte Anja ihn dort noch einmal kurz sehen. Die Kinder und ich waren aus unerfindlichen Gründen gesund geblieben, aber natürlich angeknockt vom Drama um uns herum. Mittlerweile ist die Quarantäne zwar aufgehoben, dafür wurde der Lockdown um eine Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr ergänzt. Wie gesagt, es ist nicht so einfach momentan.

Während ich stoisch zwischen den Schreibtischen der Kinder hin- und herrenne, Matheergebnisse durchsehe und Word-Funktionen erkläre, verliert sich mein Blick immer wieder in den kahlen Ästen der Bäume jenseits der Fensterscheiben. Ich weiß genau um die positive Wirkung der Natur für das Seelenheil, aber jetzt, wo ich schlichtweg nicht so raus kann oder darf, wie ich möchte, erscheint sie auf einmal als echter Sehnsuchtsort. Erst neulich habe ich im Podcast wieder über die kleinen Möglichkeiten gesprochen, die auch jetzt noch bleiben, darüber, dass JEDE Minute vor der Tür eine gute Minute ist. Nur: Auf Dauer lässt sich so eingeschränkt auch kein erfülltes Leben leben.

»Guck mal, ein Bild für Mama, damit sie nicht zu traurig ist wegen Opa.«

»Da wird sie sich sehr freuen«, sage ich lächelnd. Unser Sohn hat – wahrscheinlich irgendwann zwischendurch, so richtig habe ich das nicht mitbekommen – einen Fluss gemalt, der sich durch eine Hügellandschaft schlängelt und an dessen Ufer dichte Laubbäume stehen. Wir knarzen zu dritt die Treppe runter, um Anja das Bild zu zeigen und sie mit Mittagessen abzulenken. So mühsam diese Zeit auch ist – wir machen sie immerhin gemeinsam durch.

Später sitze ich im Keller vor einem Mikrofon, das von einem Schwenkarm aus schwarzem Metall in Position gehalten wird. Um mich herum stehen Schaumstoffplatten und eine dicke Isomatte, über mir hängt ein Daunenschlafsack, so aufgespannt, dass er möglichst viele Töne schluckt. Ich habe mir dieses Kabuff eingerichtet, um Aufnahmen für meinen Podcast zu machen. Tageslicht und Telefonempfang gibt es zwar nicht, aber seit ich ein langes Kabel über die Kellertreppe bis hier runter gelegt habe, komme ich zumindest ins Internet und kann auch Interviews aufzeichnen, ohne Menschen »in echt« zu treffen.

In den Muscheln meines großen Studiokopfhörers klingelt es kurz, dann erscheint ein Gesicht auf dem Computerbildschirm, auf das ich mich schon seit Tagen freue: Es gehört Holger Heiten, Psychotherapeut, Mitbegründer und Leiter des Eschwege Instituts, einer der erfahrensten Experten für Visionssuchen. Eine neue Vision wäre genau das, was ich jetzt ganz gut gebrauchen könnte. Wahrscheinlich brauchen wir sogar alle eine, eine neue Idee von Leben, gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch. »Krisen erfordern immer neue Visionen« – vielleicht habe ich das mal irgendwo als Zitat gelesen, vielleicht ist es aber auch einfach nur offensichtlich.

Die Visionssuchen, wie er sie durchführt und lehrt, erklärt mir Holger, haben ihren Ursprung in den rituellen Prüfungen indigener Völker. Oft ging es dabei um den Übergang zum Erwachsensein. Die jungen Männer (es waren meist Männer, denn nur in wenigen Kulturen gab es solche Rituale für Frauen) begaben sich über mehrere Tage an einen entlegenen Ort in der Natur, um durch Fasten, Schlafentzug und andere Formen der Selbstmarter Visionen zu erlangen, die sie im kommenden Lebensabschnitt leiten würden. Die extremen körperlichen Erfahrungen führten oft zu Halluzinationen, die als Kontaktaufnahme zu einem persönlichen Schutzgeist wahrgenommen wurden. Dieser sollte fortan an der Seite derer stehen, die ihm begegnet waren. Wer die Prüfung erfolgreich meisterte, wurde bei seiner Rückkehr gefeiert und war gerüstet für das, was vor ihm lag. »Initiationsriten gab es in fast allen Kulturen«, erläutert Holger, »natürlich nicht zwingend in solchen Ausprägungen, aber außergewöhnliche Herausforderungen waren sie immer und sind es heute noch.«

Seine eigenen prägenden Erfahrungen machte er in Kalifornien, wo die Psychologen Meredith Little und Steven Foster eine adaptierte, mit heutigen ethisch-moralischen Werten vereinbare Form der Visionssuche entwickelten. Der Ablauf ist folgender: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen (endlich sind auch Frauen dabei!) werden erst einige Tage in intensiven Gesprächen auf die große Prüfung vorbereitet, dann geht es – ebenfalls für einige Tage – alleine in die Natur, ohne feste Nahrung und Kontakt zur Außenwelt. Anschließend werden die dort gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse in größerer Runde und in Einzelgesprächen sortiert.

Ich möchte von ihm wissen, zu welchem Zeitpunkt es sinnvoll ist, diesen Schritt zu gehen. »Immer dann, wenn du das Gefühl hast, vor einem neuen Lebensabschnitt zu stehen«, antwortet Holger. »Deine Rolle in deinem Umfeld und das, was dir wichtig ist, wird einfach klarer, wenn du dich wirklich ganz fokussiert mit dir beschäftigst, in der Natur, ohne Ablenkung von außen. Die Natur ist ein wunderbarer Spiegel. Wir können uns selbst in ihr erkennen.« »Uns selbst erkennen«: Normalerweise begegnen mir Worte wie diese entweder als Floskel oder wichtigtuerische Überhöhung. Aus Holgers Mund sind sie aber weder das eine noch das andere. Der Mann hat genau das, was mir gerade am meisten fehlt: eine tiefe innere Ruhe, in der Zufriedenheit, Demut und Hoffnung schwingen.

Als wir unser Gespräch beenden, starre ich lange an die schlafsackverhängte Kellerdecke. Neuer Lebensabschnitt, Prüfung, die Natur als Spiegel, raus, Klarheit gewinnen – all das tanzt durch meinen Kopf, vermischt sich erst mit den Eindrücken der letzten Tage und Wochen, dann mit heimlichen Abenteuerträumen und zuletzt mit dem Bild, das unser Sohn heute gemalt hat. Dieser Fluss, die Hügel und Bäume. Was, wenn ich die Idee der Visionssuche für mich anders interpretiere und mich länger rausziehe, mich einer großen Herausforderung stelle? Ich spüre, wie sich etwas hochschaukelt in mir. Mein Gewissen versucht krampfhaft, dem Bauchgefühl Argumente entgegenzusetzen (zu egoistisch, die Familie!), aber ich ahne, dass es am Ende machtlos sein wird und es schon jetzt kein Zurück mehr gibt. Wie soll das Leben denn weitergehen ohne Vision von dem, was nach solch einer Krise kommt? Ich bin nicht bereit, mich einlullen zu lassen von dem, was passiert. Ich will meinen, unseren Kurs selbst bestimmen.

Als ich die Kellertreppe wieder hinaufgehe, fühle ich mich wie Phönix, der aus der Asche emporsteigt – auch wenn mein Antlitz alles andere als prachtvoll glänzt und sich de facto nicht wirklich etwas geändert hat an meiner Situation. Allerdings ist da jetzt dieses anhaltende, leicht euphorische Kribbeln. Ich weiß nicht, ob Anja und die Kinder ahnen, dass heute Nachmittag etwas passiert ist in meinem Kabuff, erzählen tue ich jedenfalls nichts davon.

In den nächsten Tagen wird mir klar, dass das Gespräch mit Holger ein Ruf war, dem ich folgen muss. Ich bin jetzt dreiundvierzig Jahre alt, eigentlich genau in dem richtigen Alter für eine ausgewachsene Midlife-Crisis. Aber ich will mir kein Motorrad kaufen, auf Studentenpartys gehen oder mich in eine Affäre stürzen. Ich will eine neue Vision. Nach und nach formt sich aus den Fragmenten meiner Sehnsüchte und Spinnereien eine konkrete Idee: einmal komplett durch Deutschland, alleine und aus eigener Kraft, auf dem Wasser. Ich würde mein Stand-up-Paddleboard schultern und mich damit von Fluss zu Fluss durchschlagen – von Süden nach Norden, andersherum müsste ich zu oft gegen die Strömung paddeln. Welche Route könnte ich nehmen? Vom Bodensee aus einfach den Rhein hinunter? Von München bis nach Hause, in meinen Wohnort Hamburg? Vom höchsten Punkt Deutschlands bis zum niedrigsten, also von der Zugspitze bis nach Neuendorf-Sachsenbande unweit der Elbmündung? Oder von der Zugspitze bis zum nördlichsten Punkt der Republik auf Sylt? Von der Zugspitze bis nach Sylt! Diese Variante gefällt mir zu gut, als dass ich sie noch mal auf Umsetzbarkeit überprüfe, bevor sie sich in meinem Großhirn einloggt.

Immer noch behalte ich meine Gedanken für mich. Es vergehen Tage und Wochen, die ständig gleich ablaufen. Wie eine schwere Glocke legen sich pandemiebedingte Beschränkungen und das Hamburger Winterwetter über unsere Gemüter. Wir halten uns gut, vor allem Anja und die Kinder bewundere ich für ihr Durchhaltevermögen, aber es wird Zeit, dass der Frühling kommt und wieder Leben ins Leben bringt. In meinen Recherchen, die ich nebenher heimlich betreibe, stelle ich fest, dass es gar nicht so einfach ist, über das Wasser von der Zugspitze nach Sylt zu kommen. Das geht schon ganz am Anfang los. Wie soll ich mit dem Board runterkommen von Deutschlands höchstem Berg? Ich rede mir ein, dass das schon irgendwie funktionieren wird, und vermeide, mir zu viele Gedanken darum zu machen – aus Angst, auf gute Gründe dagegen zu stoßen. Gleichzeitig wird mir klar, dass ich diese Idee als Expedition verstehen muss, wenn ich sie wirklich durchziehen will. Sprich: Ich brauche Ausrüstung, auf die ich mich wirklich verlassen kann, die aber so leicht wie möglich ist, weil ich sie auch über Land transportieren muss, und das nicht nur die Zugspitze runter. Eins steht für mich fest: Ich will alles, was ich für den Weg brauchen werde, eigenhändig schleppen, ohne irgendwo etwas zu hinterlegen oder mir unterwegs anreichen zu lassen. Wenn, dann soll das ein ehrliches Ding werden, von vorne bis hinten.

Ich definiere eine grobe Route über die Loisach, Isar und Donau, dann über die Naab bis nach Thüringen an die Saale. Über die Saale würde ich zur Elbe gelangen, kurz vor Hamburg in den Elbe-Lübeck-Kanal abbiegen, die Ostseeküste hoch, rüber an die Nordsee laufen und von dort die letzten Kilometer nach Sylt paddeln. Ich überschlage die Strecke, die ich pro Tag schaffen könnte, wenn alles gut läuft, und komme auf acht Wochen Reisezeit. Acht Wochen!? Wie, bitte schön, soll das funktionieren? Ich traue mich ja im Moment kaum, eine Stunde Fahrrad zu fahren, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

An einem sonnigen Februartag fahren wir an den Elbstrand. Anja und ich, die Kinder, Anjas Mutter. Ihr Vater war in den Monaten vor seinem Tod nicht mehr viel draußen, aber hier haben wir den letzten gemeinsamen Spaziergang gemacht. Es ist Zeit, noch einmal gebührend Abschied von ihm zu nehmen. Seine Asche liegt zwar schon auf dem Grund der Ostsee, aber wir brauchen noch ein Ritual, für uns und für ihn. Ich habe aus alten Brettern eine kleine, floßartige Holzkiste zusammengenagelt. Darin liegen ein Foto von Anjas Vater, das ihn am Tag unserer Hochzeit zeigt (die wir auch hier am Elbstrand gefeiert haben), Briefe (jeder von uns hat einen geschrieben), Blumen und selbst gemalte Bilder. Wir stellen noch Kerzen hinein und suchen uns eine ruhige Ecke im tiefen Sand. Der Wind weht schneidend kalt von Westen, aber die Sonne hat schon Kraft genug, um in unsere Herzen zu kriechen und Dankbarkeit in die Trauer zu mischen. Wir halten inne, ich lese eine Geschichte vor und spreche ein paar Worte. Dann lassen wir die Holzkiste am Ende einer Buhne ins Wasser. Ganz langsam nimmt die Strömung sie mit in Richtung Meer. Ankommen wird sie dort vermutlich nie, ich habe sie extra so konstruiert, dass sie vorher untergeht. Ja, das Leben ist ein Fluss, es fließt unaufhörlich und mündet irgendwann im Meer. Schöner Vergleich, hinkt mit Blick auf die Holzkiste in diesem Fall aber gehörig.

Am Tag darauf wage ich es, Anja von meiner Idee mit der Reise zu erzählen. »Natürlich will ich das für mich machen. Aber ich glaube wirklich, dass es ohne aufgeräumtes Ich kein glückliches Wir geben kann. Das hört sich vielleicht komisch an, aber ich muss da raus, um eine Vorstellung von unserer Zukunft zu gewinnen.« Mein Gott, was für ein schwurbeliges Plädoyer für einen Sinn in etwas, das für sie völlig hanebüchen klingen muss. Aber ich bin nicht bescheuert, ich habe eine konkrete Offerte im Ärmel: »Ich ziehe erst dann los, wenn die Beschränkungen auf allen Ebenen aufgehoben sind und die Kinder wieder zur Schule gehen können. Ich teile meine Zeit da draußen auf in zweimal drei Wochen und komme zwischendurch für eine Woche nach Hause. Und ich breche nur auf, wenn du voll und ganz einverstanden bist.« Zweimal drei Wochen? Das ist verdammt optimistisch. Nicht auf Anjas Okay bezogen (wobei, das auch!), nein, für diesen Zeitrahmen ist die Strecke eigentlich zu weit. Aber wenn es per Salamitaktik am Ende zweimal dreieinhalb Wochen werden und ich unterwegs jeden Tag richtig ackere, dann könnte es klappen. Ich erwarte keine direkte Antwort, im Gegenteil: Ich habe Schiss davor. »Denk doch mal darüber nach und lass uns in den nächsten Tagen in Ruhe reden«, sage ich im Versuch, die Brisanz des Themas zumindest für diesen Moment herunterzuspielen.

Ich weiß, wie dünn das Eis ist, auf dem ich mich mit der Idee meiner Reise bewege, aber ich weiß auch, wie viel Verständnis Anja für meinen Drang nach dem Entdecken neuer Wege hat. Ihr eigener ist deutlich weniger ausgeprägt als meiner – und gerade deshalb bin ich verdammt dankbar für den Raum, den sie mir immer wieder gibt. Tatsächlich ist es auch diesmal so: »Wenn die Schule dann wieder normal läuft, kriegen wir das hin«, versichert sie mir schon am Abend. Und schiebt hinterher: »Ich bin gespannt, was du findest.«

Fünf Monate später hocke ich immer noch zu Hause. Der Mai und der Juni, die ich mir als Zeitfenster ausgeguckt hatte, sind vorüber. Der Winter hat sich dieses Jahr extrem lange gehalten, vor allem in den Bergen. Selbst in der ersten Maiwoche lagen die Temperaturen auf der Zugspitze nie im Plus, Tiefstwert minus 14 Grad, dazu ordentlich Schnee. Die Schulen sind erst im Juni zum Präsenzunterricht übergegangen. Ich habe mein Abenteuer also auf August/September schieben müssen, doch auch dahinter stehen wieder eine Menge Fragezeichen. In zwei Wochen will ich aufbrechen, allerdings reißen Fluten katastrophalen Ausmaßes gerade ganze Ortschaften weg, vor allem in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Die Flüsse im Süden Deutschlands führen alle so viel Wasser, dass an entspanntes Paddeln nicht zu denken ist. Anjas Mutter liegt nach einer OP im Krankenhaus und erholt sich mit ihren vierundachtzig Jahren nur mühsam. Wenn ich später starte, komme ich genau dann ins ungemütliche Herbstwetter, wenn ich auf der Ostsee und der Nordsee unterwegs bin. Das wäre mit der richtigen Kleidung nicht so dramatisch, aber ich kann ja nicht unendlich viel Zeug mitschleppen. Außerdem sind im Oktober Herbstferien, da muss ich wieder zu Hause sein. Vielleicht soll es einfach nicht sein in diesem Jahr.

Auf der anderen Seite: wenn nicht jetzt, wann dann? Ich habe mir die Wochen freigeschaufelt, Anja ist mit allem einverstanden (auch jetzt noch, wo sie sich zusätzlich um ihre Mutter kümmern muss!), die Kinder sind darauf vorbereitet, mir tut nichts weh, ich habe die Ausrüstung beisammen, die ich brauche. Kommt so ein Moment überhaupt noch mal?

Die Tage ziehen dahin und sind endlich wieder mit mehr Leben gefüllt. Selbst wenn es regnet – und das tut es ungewöhnlich oft für diese Jahreszeit –, bleibt es warm. Das bedeutet: mehr Draußenzeit. Wir machen noch ein paar Tage gemeinsam Urlaub. Es gelingt uns, ein bisschen durchzuatmen.

Die Zeit meint es gut mit mir. Eine Woche vor meiner geplanten Abreise wird Anjas Mutter aus dem Krankenhaus entlassen. Auch die Wasserstände der Flüsse, die ich paddeln möchte, gehen etwas zurück. Das, was bislang nicht mehr als eine ausmodellierte Sehnsucht war, wird greifbar. So greifbar, dass ich mir plötzlich nicht mehr sicher bin, ob es das Richtige ist. Ich checke stündlich Wetterdaten, frage mich, ob ich genauer hätte planen sollen und ob Anja wirklich alleine klarkommt, ohne vor die Hunde zu gehen. Haben all jene, die meine Idee von Anfang an skeptisch beäugt und auf die Gefahren hingewiesen haben, möglicherweise doch nicht ganz so Unrecht? Wie soll ich meinen ganzen Bürokram bis Samstag fertigkriegen: Steuerunterlagen, E-Mails und Rechnungen? Dann ist da noch das Fahrrad unserer Tochter, an dem die Bremsen schleifen, der alte Wohnwagen, dessen Dachluke undicht ist, und das Trampolin, das aufgebaut werden muss. Es gibt eine Menge Gründe, die ich heranziehen könnte, um das Ding abzublasen.

Mitten in diesem Wahnsinn muss ich an Holger denken. Er erzählte mir in unserem Podcastgespräch von einer Frau, die an einer Visionssuche unter seiner Leitung teilgenommen hatte. Ihr Leben war von Ängsten und Sorgen bestimmt gewesen. Schon im Vorfeld hatte sie ständig bei Holger angerufen und tausend Fragen gestellt. Er war nicht sicher gewesen, ob die Visionssuche für sie überhaupt Sinn ergab. Aber er tat ihr nicht den Gefallen, die Tür zu schließen, sondern bestärkte sie darin, teilzunehmen. Die Verwandlung dieser Frau zu erleben, zu sehen, wie sie alleine in der Natur – schutzlos und ausgeliefert – nach all den Jahren endlich in der Lage war, ihre Ängste zuzulassen und Frieden mit ihnen zu schließen, das war eine der intensivsten Erfahrungen, die er je bei einer Visionssuche gemacht hat, sagte Holger. Ich bin nicht sonderlich ängstlich, aber eine gewisse Nervosität kann auch ich nicht verhehlen. Ich höre mir die Passage aus dem Podcast mit Holger noch einmal an und vernehme zwischen all den tatsächlich gesprochenen Worten ein deutliches, direkt an mich gerichtetes »Geh!«.

02

IM ZUG ZUR SPITZE

Von Hamburg auf Neuanfang

Am Sonntag sitze ich frühmorgens alleine an unserem großen Esstisch und schaufele mir Müsli mit Obst rein – wie immer selbst gemacht: in der Pfanne angeröstete Nüsse und Haferflocken, abgeschmeckt mit Honig, Zimt und einer Prise Salz. Draußen ist es noch dunkel. Nur ein paar ganz frühe Vögel zwitschern schon laut genug, dass ich es drinnen hören kann. Zwischen zwei Löffelladungen setze ich Wasser für den frisch geschnittenen Ingwer auf. Handgriffe wie im Schlaf. In einer halben Stunde, wenn die Haustür hinter mir zufällt, wird für eine lange Zeit nichts mehr laufen wie im Schlaf. Keine Selbstverständlichkeiten mehr, kein Küchenkomfort. Aber mein Thema ist jetzt ein anderes: Habe ich alles? Habe ich wirklich an alles gedacht? Die große schwarze Packtasche liegt randvoll mit Ausrüstung auf dem Fußboden. Das Board ist drin, und auch den zusammensteckbaren Bootswagen habe ich noch reinbekommen. Er soll mir helfen, das Board um Wehre und Schleusen herumzutragen, außerdem will ich auf ihm mein Gepäck ziehen, wenn ich zu Fuß unterwegs bin. Neben der Packtasche steht der rote Rucksack, in dem sich all das befindet, was ich am meisten brauche. Dann liegen da zwei Paddel und ein Kletterhelm sowie die Schuhe und meine Jacke. Gestern habe ich erst alles auf der Terrasse ausgebreitet und dann so penibel gepackt wie noch nie. Ich bin mir sicher: Ich habe weder Wichtiges vergessen noch Überflüssiges dabei (Stand Sonntagmorgen, zu Hause). Trotzdem wiegt mein Zeug satte 40 Kilo – ohne Wasser, das ich noch in die Trinkflaschen füllen muss.

Um 5 Uhr bin ich startklar und wecke die anderen. Wir haben uns gestern Abend schon ausführlich verabschiedet, aber ich kann nicht einfach so gehen. Zu viert tapsen wir die Treppe runter, umarmen uns noch einmal innig, und ich verspreche, regelmäßig anzurufen. Als ich die Packtasche schultere, tue ich alles, um mir nicht anmerken zu lassen, was für ein Kraftakt das ist. Den Rucksack, an dem ich außen Kletterhelm und eines der beiden Paddel befestigt habe, schnalle ich mir vor die Brust. Das zweite Paddel nehme ich in die Hand. Es dämmert jetzt, und ich trete hinaus auf die Straße. Ein letztes Mal umdrehen, finale Luftküsse. Bei aller Liebe zum Pathos – Gott sei Dank bin ich spät genug dran, um diesen Moment kurz zu halten. Bis zur Bushaltestelle sind es nur drei Minuten, aber 40 Kilo sind 40 Kilo, das spüre ich sofort. Als der Bus hält, steige ich hinten ein und bleibe direkt mit dem am Rucksack befestigten Paddel in der Tür hängen. Okay, daran werde ich in Zukunft denken müssen. Aber so viele Türen werden da auch nicht sein in den nächsten Wochen.

Ich lege mein Gepäck auf einer Sitzreihe ab und lasse mich auf die gegenüberliegende fallen. Das ist er, der point of no return. Jetzt geht es los, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Der Bus fährt an, und mit ihm startet ein Abenteuer, das mich kräftig durchschütteln wird.

Am Bahnhof Hamburg-Altona steige ich in den Zug nach München, von dort aus geht es mit der Regionalbahn weiter bis ins Zugspitzdorf Grainau. Ich nutze die Fahrt, um ein wenig von dem verpassten Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. War ja klar, dass ich bis auf den allerletzten Drücker irgendwelchen virtuellen Papierkram erledige. Sogar die meisten Reparaturen habe ich noch geschafft. Das Verrückte ist: Die ganze Brisanz dieser To-dos und auch meine Gedanken daran sind völlig verpufft, als ich vorhin in den Bus gestiegen bin. Ob ich nun jedes Detail bedacht, jede Eventualität antizipiert habe oder nicht – damit werde ich mich jetzt nicht mehr beschäftigen. Es fühlt sich an, als würde ich eine neue, reine Bühne betreten.

Vor dem Zugfenster fliegt Deutschland vorüber. Das hat durchaus seinen Charme, aber ich freue mich unglaublich darauf, mir die Landschaften zwischen Küste und Alpen aus eigener Kraft zu erschließen und sie mir genauer anzusehen. Für den Weg runter in den Süden brauche ich heute neun Stunden, retour werden es Wochen sein.

Hinter Murnau am Staffelsee kreuzt die Bahnstrecke die Loisach. Ich drücke mir die Nase an der Fensterscheibe platt, um zu sehen, wie viel Wasser sie führt, ob ich wohl auf ihr paddeln können werde, wenn ich sie in ein paar Tagen zu Fuß erreiche. Beruhigen tut mich das, was ich sehe, nicht. Die Zugbegleiterin schüttelt verständnislos den Kopf, als ich ihr von dem Vorhaben erzähle, hier zu paddeln. Sie ist ausgesprochen freundlich, aber ich lese in ihrem Blick trotzdem ein »Du bist jetzt in den Bergen, Fischkopp, da ist mit den Naturgewalten nicht zu spaßen«.

Grainau empfängt mich mit Regen. Ich ziehe meine wasserfeste Jacke über und gehe die 2 Kilometer bis in meine Unterkunft zu Fuß. Das Dorf kurz hinter Garmisch-Partenkirchen ist die letzte Ortschaft vor der Zugspitze und für mich eine Art Schleuse zwischen Alltag und Abenteuer. Eine Nacht werde ich noch unter einem festen Dach verbringen, bevor es morgen mit der ersten Gondel hoch auf den Gipfel geht. Und dann mal gucken – ich habe mich nicht eine einzige weitere Nacht irgendwo eingebucht und das auch nicht vor. Der Sternenhimmel soll mein Dach sein, die Hängematte mein Bett.

Ich hatte mich tierisch auf ein zünftiges Abendessen gefreut: Fleischpflanzerl mit Knödel, Obazda, Datschi, so was in der Art. Aber offenbar haben die Touristen, die sich im Ort aufhalten, ihr Augenmerk aus Mangel an Sommer aufs Essen verlegt. Außerdem ist die Pandemie noch nicht vorbei, und die Restaurants dürfen die Gäste nicht dicht an dicht setzen. Obwohl ich früh dran bin, bekomme ich schlichtweg keinen Platz in einem der wenigen Gasthäuser mit regionaler Küche. Meine einzige Alternative ist ein Phänomen, auf das in jedem noch so kleinen Ort in jeder noch so vergessenen Ecke Deutschlands Verlass ist: der Italiener. Ich sitze unter einer Markise, auf der dicke Tropfen trommeln, und esse durchschnittliche Pizza mit einem durchschnittlichen Salat. Immerhin ist das alkoholfreie Weißbier echt bayerisch.

Die Seilbahnstation Eibsee, wo am nächsten Morgen um 8 Uhr die erste Gondel hinauf zur Zugspitze startet, liegt nur wenige Kilometer von meiner Unterkunft entfernt. Ich will möglichst früh oben sein, denn mit jeder Gondel, die hochschwebt, wird es voller auf Deutschlands höchstem Gipfel (auf den auch von österreichischer Seite Seilbahnen führen). Gut 600.000 Menschen lassen sich in einem Jahr hoch auf die Zugspitze fahren. Auf einen Gipfel, der möglicherweise zu den hässlichsten der Welt zählt, weil er so zugebaut ist. Vor zweihundert Jahren zum ersten Mal bestiegen und in Rekordzeit vergewaltigt. Ich sollte lieber nicht zu laut denken, schließlich sitze ich ja auch drin in einer dieser Gondeln.

Keine zehn Minuten nach dem Start schlüpft der bodentief verglaste Kasten mit einem sanften »Sssssst« in die Bergstation auf knapp 3.000 Metern Höhe. Es ist der 2. August, Hochsommer, aber gestern Abend und in der Nacht muss es geschneit haben. Jedenfalls ist alles weiß. Das Münchner Haus (die Alpenvereinshütte, die hier oben steht) ist aufgrund von Renovierungsarbeiten geschlossen, deshalb muss ich für Kaffee und Saftschorle ins Panoramarestaurant. Ich könnte wieder mit Zahlen anfangen – vierhundertfünfzig Menschen finden drinnen Platz, achthundertfünfzig draußen –, aber hey, ich habe ja selbst gerade bestellt. Ich will die letzte Chance nutzen, um Flüssigkeit aufzunehmen, denn je weniger Wasser ich tragen muss, desto besser.

Das goldene Gipfelkreuz der Zugspitze lässt sich bequem von der Aussichtsplattform betrachten und – offensichtlich einer der wichtigsten Punkte für die Besucher – fotografieren. Um direkt unter dem Kreuz zu stehen, muss man allerdings 50 Meter über einen Grat kraxeln, von dem der Fels beidseitig steil abfällt. Für mich war von Anfang an klar, dass mein Abenteuer genau dort beginnt, am Ende des Grats, und nicht auf der Besucherplattform. Ehrlich gesagt fühle ich mich hier unter den Bucket-List-Bergfans auch zunehmend unwohl.

Ich lege meine Sicherung an und steige die Stahltreppe hinab, die zum Grat führt. Die schwere Tasche auf meinem Rücken verändert meinen Körperschwerpunkt, und ich muss aufpassen, dass sie mich nicht nach hinten zieht. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Am Fels sind Stahlseile und ein paar Tritte befestigt, aber noch fühle ich mich sicher, ohne mich einzuhaken. Das größte Problem ist: Sobald ich mich nicht mehr seitlich eindrehen kann, weil eine Stelle zu steil, zu eng, zu anspruchsvoll ist, sehe ich nicht mehr, wo ich hintrete – mein Rucksack hängt ja vorne, mittlerweile mit zwei senkrecht aufragenden Paddeln.

Die Frage, wie ich das ganze Gepäck die Zugspitze runterschleppen will, stand natürlich schon lange im Raum. Ich habe mich beharrlich geweigert, im Vorfeld eine Antwort darauf zu suchen. »Ich werde schon eine Lösung finden, zur Not muss ich eben zweimal gehen«, redete ich mir ein. Und genau das ist schon notwendig, um überhaupt an meinen Startpunkt zu gelangen. Ich lege den Rucksack auf dem schneebedeckten Fels ab und wuchte erst mal mich und die Packtasche gen Gipfelkreuz, sichere mich an einer Stelle doch noch über Seil und Karabiner. Dann gehe ich zurück und hole den Rucksack nach. An der Stelle, wo das Gipfelkreuz steht, ist nicht viel Platz. Ich hocke mich neben mein Gepäck und wende meinen Blick dem Alpenpanorama zu, das dieser Berg trotz aller touristischer Infrastruktur bietet – wenn man diese im Rücken und nicht vor der Nase hat.

Da unten also liegt das Land, das ich der Länge nach durchqueren möchte, mit nichts weiter als dem, was ich bei mir habe. Was für ein grandioses Gefühl! Ich erhebe mich und lasse die klare Höhenluft durch meine Lungen strömen. Es ist kalt, etwa 0 Grad, aber für ein paar Minuten setzt sich die Sonne gegen die grauen Wolkenformationen durch und lässt die dünne Schneeschicht auf den umliegenden Bergen weiß glänzen. Ich schließe die Augen und spüre, wie sie mein Gesicht wärmt. Die Besucherplattform hinter mir ist mittlerweile gut gefüllt, jedoch komplett aus meiner Wahrnehmung gefallen. Dieser Moment gehört mir.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit bin ich der Erste, der mit einem Stand-up-Paddleboard auf dem Gipfel der Zugspitze steht. Das ist einerseits völlig belanglos, weil sicher kaum jemand das für erstrebenswert oder sinnstiftend hält, andererseits verstärkt es mein Gefühl, einen völlig neuen Weg zu gehen. Hätte ich die Alpen überqueren oder auf dem Jakobsweg pilgern wollen – es hätte immer Routen gegeben, die sich einfach recherchieren und planen lassen, weil sie schon von vielen gegangen wurden. Für mein Vorhaben gibt es keine Blaupause. Eins ist aber sicher: Von hier an geht es bergab.

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