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Alles in Ordnung? – Warum wir vor lauter Aufräumen unser Leben verpassen

Als Buch hier erhältlich:

Does it really spark joy?
Was wirklich hinter unserem Aufräumwahn steckt

Ordnung ist das halbe Leben. Wir sortieren, falten, verstauen, und am liebsten misten wir aus und schaffen Platz für neue Dinge. Dabei haben diese Wegwerfexzesse – befeuert durch Ratgeberliteratur und Tauschbörsen im Netz – längst einen gigantischen Warenkreislauf erschaffen, der uns selbst in unbezahlte Verkaufskräfte der Online-Riesen verwandelt.

Was hat der Trend der Nachhaltigkeit in der Modebranche bewirkt? Lösen wir unseren Konsumwahn, wenn wir ihn auf den Flohmarkt verlagern? Ist es in Ordnung, mit dem Verzicht zu prahlen, während in Deutschland noch 20 Prozent der Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind? Und können wir die politische Unordnung außerhalb der eigenen vier Wände überhaupt noch sehen?

Maria Wiesner nimmt einen Hype unter die Lupe: eine unterhaltsame Analyse unseres Aufräumverhaltens und ein Plädoyer für eine wertschätzende, aber nicht überschätzende Beziehung zu den Dingen.



  • Erscheinungstag: 26.01.2021
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749900176

Leseprobe

A LITTLE DISORGANIZATION CAN BE ENCOURAGING TO THE IMAGINATION.

Captain Janeway, Voyager
– The Raven

LAURA: WAR IHRE VERFLOSSENE EINE KONSUMFRAU?

BENNO: SAUBER. KAUFEN MACHTE SIE HIGH. SPAREN UND KAUFEN, O ELEND, DIESES STREBERTUM IST EINE SEUCHE. MICH BRINGT’S GLATT UM.

Irmtraud Morgner
– Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura

TEIL 1

WARUM MARIE KONDO SO ERFOLGREICH IST

Quarantäne, die beste Zeit für Selbstoptimierung?

Eine große Unordnung bahnte sich an. Mitte März 2020 veränderte sich das Leben in Deutschland schlagartig. Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt eine außergewöhnliche Fernsehansprache zur Corona-Pandemie. Sie warb um Verständnis für die drastischen Maßnahmen, die die Bundesregierung in den folgenden Tagen anordnen würde. Manche hatten Angst, andere nahmen das Ganze noch nicht sonderlich ernst. Alle sprachen plötzlich von Homeoffice, systemrelevanten Berufen, Rettungspaketen, Abstandsregeln, Herdenimmunität oder Klopapier.

Eine Sache aber blieb unverändert bestehen – ja, verschärfte sich sogar: die allgegenwärtige Aufforderung zur Selbstoptimierung. Kümmere dich um dich und dein engstes Umfeld, denn jetzt geht es nicht mehr nur um die Karriere oder das Wohlbefinden, sondern ums Überleben. Wer jetzt nicht zum Wesentlichen findet, zum eigenen Mittelpunkt, zur tieferen Ordnung, ist verloren.

Schneller als Politik und Gesellschaft Lösungen für die neuen Probleme parat hatten, schallten bereits die Tipps und Weisheiten zum richtigen Umgang durch die Sphären der sozialen Medien.

Eine der Ersten, die auch in der Krise ihre Lebensphilosophie unter die Leute bringen wollte, war die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, die mit »Goop« eine eigene Marke mit Selbstoptimierungsprodukten vertreibt. Sie postete am 23. März 2020 ein Foto auf Instagram, das sie mit schwarzer Mundschutzmaske, Sonnenbrille und blauen Handschuhen gegen das Virus gewappnet zeigt, wie sie prall gefüllte Plastiktüten vom Bauernmarkt nach Hause schleppt. Neben dem Foto ermunterte sie ihre knapp sieben Millionen Follower, die Zeit zu Hause optimal zu nutzen: »Das ist eine Zeit, um es sich gemütlich zu machen, zu lesen, die Schränke aufzuräumen und etwas in Angriff zu nehmen, das man schon lange vorhatte (ein Buch schreiben, ein Instrument spielen lernen oder eine neue Sprache üben oder online Programmieren lernen, zeichnen oder ein Bild malen), alte Fotos durchgehen, kochen und auf einer tieferen Ebene mit den Menschen in Verbindung treten, die man liebt.« Mehr als 280.000 Menschen gefällt der Post.

Kürzer fasste die Botschaft ein Meme, das während der Pandemie so oft in den sozialen Netzwerken geteilt wurde, dass Zeitungen von Europa1 bis nach Amerika2 darüber berichteten: »Als Shakespeare sich wegen der Pest in Quarantäne begeben musste, schrieb er King Lear.« Das Stück kann, wenig überraschend, als eine der deprimierenden unter Shakespeares Tragödien bezeichnet werden. König Lear verliert den Verstand und stirbt am Ende an gebrochenem Herzen, seine drei Töchter sind tot, ebenso die meisten seiner Widersacher. Der einzige sympathische Überlebende spricht zum Schluss die nicht sehr hoffnungsfrohen Worte: »Den Druck der trüben Zeit muss man nun tragen; was man fühlt, sprechen, nicht, was man sollte, sagen. Der Älteste trug am schwersten: jung daneben werden wir nie so viel seh’n noch so lange leben.«3 Was keiner der Artikel über das Shakespeare-Meme feststellte: Wenn man während einer Pandemie ein Theaterstück schreibt, dann kommt dabei nicht unbedingt eine Komödie oder etwas Erbauliches heraus, sondern wahrscheinlich ein Text, der tiefen Zweifel an der Kooperationsfähigkeit der Menschheit ausdrückt. Man muss uns Menschen nur eine Weile beobachten, wenn es ernst wird, auf der Straße, im Supermarkt, in Angst, in großer Unordnung: Diese Leute stiften kein Vertrauen.

Und wer bitte sollte überhaupt Zeit haben, während der allgemeinen Pandemie-Panik seinen Bestseller zu schreiben? Wer im Homeoffice saß, verfügte nicht plötzlich über mehr Freizeit. Im Gegenteil, wie etwa der Moderator John Oliver während eines Interviews mit Late-Show-Host Steven Colbert klarstellte: »Ich habe zwei Kinder, ein und vier Jahre alt, und ich habe eine wöchentliche Sendung, die ich nun allein in meinem Haus produziere. Ich habe keine zusätzliche Zeit, um Spanisch zu lernen oder herauszufinden, wie man Profiterole macht. Das ist einfach nicht drin, mir steht das Wasser bis zum Hals.«

Ein Satz, den wohl viele während der Pandemie unterschrieben hätten. Wer Kinder hatte, musste diese nun noch über eine zusätzliche Zeit betreuen, denn Schulen und Kindergärten waren ja geschlossen. Wer sich um ältere Verwandte oder Menschen mit Immunschwäche kümmerte, war nun noch mehr eingespannt, denn besonders sie galten als Hochrisikogruppe, waren also auf jemanden angewiesen, der für sie Einkäufe und Erledigungen übernahm. Und selbst wer nicht all diese zusätzlichen Aufgaben übernehmen musste, stellte irgendwann fest, dass die Küche, das Bad und das zum Arbeitsplatz umfunktionierte Wohnzimmer durch die eigene permanente Anwesenheit weitaus schneller in Unordnung gerieten. Damit die Wohnung nicht völlig im Chaos versank, musste die Freizeit dem zusätzlichen Putzen zum Opfer fallen.

Hatte man nun aber doch mal ein paar Momente zum Innehalten, fielen all die unfertigen Projekte ins Auge, die man normalerweise gut ausblenden konnte: Den Balkon wollte man schon lange mal bepflanzen, auf der Terrasse müssten die Möbel gestrichen werden, und die Stapel für die Steuererklärung hatte man auch nur zur Seite gelegt, um ein Fleckchen für den Laptop freizubekommen, an dem man nun seine Bürotätigkeit ausführen musste. Das Papier türmte sich in den Ecken, Klamotten machten es sich auf Stühlen bequem, der Besitz, den man in Nicht-Krisenzeiten so mühsam angehäuft hatte, quoll aus allen Ecken.

In den permanenten Mahnungen, die »geschenkte« Zeit zu Hause optimal zu nutzen, schwang nicht nur die Aufforderung mit, gefälligst als bessere, also produktivere Person aus der Krise herauszugehen. Während die »systemrelevanten Berufsgruppen«, also Ärztinnen, Krankenschwestern, Kassierer im Supermarkt, Busfahrerinnen und Bauarbeiter weiter jeden Tag für ihren Job das Haus verlassen mussten, konnten sich andere, die in ihrer Wohnung (am besten mit Balkon oder Garten) bleiben durften, in aller Ruhe darin versuchen, das apokalyptische Chaos der Welt mit Verschönerungsmaßnahmen in den eigenen vier Wänden in Ordnung zu bringen – oder wenigstens die eigenen Nerven zu beruhigen, indem sie immerhin etwas anpackten.

Schon bald bildeten sich die Schlangen der Privilegierten vor den Baumärkten. Stromkabel, Gasflaschen und Brennholz sowie Farben und Lacke wurden gehamstert wie zuvor Klopapier4. Zwischen manchen Bundesländern entstand sogar für kurze Zeit ein Baumarkt-Tourismus, denn nicht überall war es Läden wie Obi oder Hornbach erlaubt, weiter ihre Waren zu verkaufen. Der Gang in den Baumarkt ersetzte manchen den Bummel in der Innenstadt, stellte sie die häusliche Quarantäne doch vor das Problem, sich nach einem harten Arbeitstag nicht mehr mit Konsumartikeln belohnen zu können. Sibylle Berg griff das Problem in ihrer Spiegel-Kolumne mit dem Titel »Dauernder Sonntag« auf: »Es ist einfach ungewohnt, wenn das Belohnungssystem, ohne das der Kapitalismus nicht funktioniert, pausiert. Das heißt, wir arbeiten weiter – aber ohne im Anschluss konsumieren zu können. Und das bedeutet ein wenig: Wir Privilegierten, die jetzt gerade nicht für das Allgemeinwohl tätig sind, bekommen keine Bestätigung unseres Seins. Zurückgeworfen auf uns tun sich erstaunliche Lücken in unserem Selbstwertgefühl auf.«5

Wer nun permanent inmitten seiner angehäuften Eigentümer saß und sie rund um die Uhr betrachten musste, gelangte irgendwann unweigerlich zu der Frage: Brauche ich das alles überhaupt, was ich hier angehäuft habe? Macht mich das glücklich? Warum habe ich es überhaupt angeschafft? Und: Was mache ich nun damit? Lebens- und Ordnungsberater boten ganz im Sinne des Social Distancing umgehend ihre Dienste via Telefon- oder Videokonferenz an. Im Tagesspiegel erzählt Gunda Borgeest (deren Beruf dort als Aufräum-Coach bezeichnet wird): »Meine Kunden halten sich ja jetzt nicht mehr nur abends oder am Wochenende daheim auf, sondern die ganze Zeit. Plötzlich erfahren sie ihre eigene Unordnung – als wäre die jetzt erst da. Die Riesenschlangen vor den Baumärkten sprechen auch Bände. Da werden die Verschönerungs-Projekte der letzten Jahre angegangen. Und viele Leute schicken mir jetzt Fotos von ihren überforderten Vorratskammern.«6 Wie allen Aufräum-Gurus ist es auch für Borgeest nicht einfach mit einer ordentlichen Wohnung getan. Aufräumen ist längst kein Selbstzweck mehr, sondern Lebensstil. Obendrein wird ihm gern eine pseudo-psychologische Note beigemischt: »Ich versuche mit meinen Kunden herauszufinden, welche tieferen Blockaden sie daran hindern, Ordnung zu machen«, sagt Borgeest.

Die Frau, die all das ins Rollen brachte, ist Marie Kondo. Und auch sie war von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen. Im März und April wäre Kondo eigentlich damit beschäftigt gewesen, ihr neues Buch über die Optimierung des Arbeitsplatzes zu bewerben. Doch aufgrund der Corona-Reisebeschränkungen musste sie ihre Interviews und Auftritte absagen. Für die New York Times protokollierte sie eine Woche lang ihren Tagesablauf in der Pandemie: Sie kochte viel, verschwendete dabei so wenig Lebensmittel wie möglich, goss heißes Wasser mit Zitronen aus dem hauseigenen Garten auf und schredderte fleißig alle Dokumente, die sie nicht mehr brauchte7. Die Krise zeigte deutlich: Auch das Leben der Ordnungspriesterin ist wenig glamourös. Warum also waren alle nur so davon besessen, selbst während dieser Pandemie, die alles auf den Kopf stellte, ihrem Beispiel zu folgen? Um das zu ergründen, müssen wir etwas weiter zurückgehen.

»DAS AUFRÄUMBUCH DIESER JAPANERIN«

Vor ein paar Jahren zog eine Freundin mit ihrem Partner zusammen. Als Studentin hatte sie ein Zimmer in einer WG bewohnt, darin hatte sich über die Jahre so einiges angesammelt: Bücher, die sie nie gelesen hatte, Souvenirs von Reisen nach Australien und Südostasien, Kleidung, die nun nicht mehr ihrem Stil entsprach, denn sie hatte nach dem Studium eine Stelle in einer psychologischen Praxis angetreten. Sie suchte nach einem guten System, das ihr bei der Entscheidung helfen würde, welche Sachen sie in die neue Wohnung mitnehmen würde und was sie entsorgen könnte. Begeistert erzählte sie eines Tages beim Kaffee vom »Aufräumbuch dieser Japanerin«, das ihr Leben verändert habe. Eine Woche lang hatte sie all ihre Sachen aussortiert, Bücher, Kleider, Krimskrams weggeworfen und nur »was wirklich Freude macht« mit in die neue gemeinsame Wohnung genommen. Sie habe nun mehr Zeit, müsse nicht mehr ständig nach Dingen suchen; kurzum, sie habe endlich ihr Leben im Griff. »Diese Japanerin« war Marie Kondo – es war das erste Mal, dass ich ihren Namen hörte, es sollte jedoch nicht das letzte Mal gewesen sein.

Kondo war seit ihrer Kindheit davon fasziniert, Ordnung zu schaffen. Fünf Jahre hatte sie als Miko, eine Art Priesterhelferin, in einem Shinto-Schrein gearbeitet. Mit 19 Jahren gründete sie ihre Aufräumberatung, und 2011 veröffentlichte sie in Japan ihr Buch »Magic Cleaning – wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert«8. Drei Jahre später erschien eine englische Ausgabe in den Vereinigten Staaten. Die westliche Welt, die sich wieder vermehrt in Konsumkritik übte, war fasziniert von Kondo und ihren Aufräumtipps. 2015 zählte das Time Magazine sie zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt.

Nicht nur meine Freundin war begeistert, auch Ariana Huffington ist ein bekennender Fan von Marie Kondo. Huffington, Gründerin der Online-Zeitschrift Huffington Post, die auch als »Königin der Blogger« bezeichnet wird, twitterte über ihre Fortschritte beim Aufräumen und Ausmisten nach der KonMari-Methode. Kondo, die zierliche Frau mit dem akkuraten Haarschnitt und der Vorliebe für mädchenhafte Pastell-Outfits, hat ein ganzes Imperium rund um ihre Philosophie des Wegwerfens aufgebaut. Mittlerweile hat sie sechs Bücher veröffentlicht (darunter auch jenes, das mit ihrer Methode sogar mehr Freude beim Arbeiten verspricht), die allesamt zu Bestsellern auf mehreren Kontinenten avancierten und sogar in katalanischer Sprache und auf Indonesisch erhältlich sind. Für ihre Netflix-Serie hat sie 2019 über acht Folgen Wohnungen und Häuser in den USA ausgeräumt, deren Einrichtung und das Leben der Bewohner neu geordnet – und damit ganz nebenbei einen monatelang anhaltenden Aufräumhype in Europas Metropolen entfacht.

Und gerade als man nach ein paar Monaten dachte, den Hype überstanden zu haben, schaltete Marie Kondo noch einen Gang höher. Im Winter 2019 brachte sie das Kinderbuch »Kiki & Jax räumen auf« heraus. Im Vorwort des quadratischen Büchleins schreibt Kondo: »Ich hoffe, dass diese zeitlose kleine Geschichte über Freundschaft nicht nur zum Aufräumen ermuntert, sondern dass Sie entdecken, welche magischen Veränderungen es für die ganze Familie bereithält.«9 In dem Büchlein zeigen putzige Illustrationen ein Eichhörnchen, das viele Dinge hortet, wie Eichhörnchen das nun mal so tun. Das Eichhörnchen hat einen Eulen-Freund, der mit dem Chaos nicht klarkommt. Die Eule nötigt das Eichhorn, sich von diesen Dingen zu trennen, damit die beiden weiter befreundet sein können. Das Ganze endet nach 32 Seiten mit einer gezeichneten Anleitung, in der die kleinen Leserinnen und Leser lernen, wie sie ihre T-Shirts richtig falten und aufrecht in Schubladen verstauen können.

Nun kann man natürlich einwenden: Ist doch toll, dass die Kleinen hier lernen, wie sie mit ihren Besitztümern pfleglich umgehen. Die große Unordnung im Kinderzimmer und das ständige elterliche Mahnen, Spielsachen und Kleidung aufzuräumen, könnten so leichter ein Ende finden. Doch Kondos Philosophie hört an dieser Stelle noch lange nicht auf. Und sie hat, wenn man genauer hinschaut, so ihre Haken, denn hinter der Anleitung zum richtigen Wegwerfen steckt eine ganze Weltanschauung, die sich nicht etwa nur auf die harmlosen und auf das westliche Publikum eher niedlich bis dezent ätherisch wirkenden Shinto-Anleihen im Umgang mit Gegenständen erstreckt. Kondo kniet beispielsweise vor dem großen Hausputz zunächst im Wohnzimmer nieder, schließt die Augen und dankt murmelnd dem Haus, dass es seine Bewohner gut beschützt hat. Sie rät außerdem dazu, Bücher und andere Gegenstände leicht zu berühren und abzuklopfen, so wie man einen Schlafenden wecken würde, um sie »präsent« zu machen, bevor man sie für die endgültige Entscheidung in die Hand nimmt, ob sie »Freude bereiten« [»Does it spark Joy?«] oder nicht, ob sie also weiterhin im Besitz bleiben dürfen oder weggeworfen werden. Manche finden das befremdlich. Der Wirtschaftskolumnist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Rainer Hank, beschrieb seinen Versuch, die Kondo-Methode am eigenen Bücherregal anzuwenden, so: »Die Gretchenfrage lautet: ›Verschafft es mir spürbar Freude, wenn ich dieses Buch in die Hand nehme?‹ Das muss man unbedingt ausprobieren. Hanns-Josef Ortheils ›Liebesnähe‹ zum Beispiel: Wenn das kein Titel mit Glücksversprechen ist! Oder Zoë Jennys ›Blütenstaubzimmer‹! Der poetische Name der Autorin zusammen mit dem geheimnisvollen Titel kann sich tief emotional eingraben. Bei Sachbüchern wird es etwas schwieriger. Paul Samuelsons berühmtes Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre hat schon häufig beste Dienste geleistet, ohne dass wir behaupten würden, dass es spürbar Freude bereitet.«10

Bei all den Betrachtungen darüber, was dieses »Freude bereiten« eigentlich heißen soll, wird gern übersehen, dass auch Kondo nichts weiter ist als eine gute Unternehmerin mit hervorragendem Sales-Pitch. Magazine lobten ihre Aufräumshow als »Das Binge-Watching-Erlebnis, das Sie von der Couch runterholt« (Elle11). Menschen gestanden: »Ich bin ein notorischer Sammler, und ich denke, dass Marie Kondos Show Leuten wirklich helfen kann« (InStyle12). Und die Washington Post13 schrieb: »Warum gestresste Eltern sich die Zeit nehmen sollten, Marie Kondos neue Show zu schauen«. Kondo wurde zur Königin des Minimalismus erklärt und als Retterin vor dem Massenkonsum in den höchsten Tönen gelobt: »Marie Kondo, bitte räum unsere digitalen Leben auf«, forderte auch das Männermagazin Esquire14. »Die KonMari-Methode half mir, meine Trauer anzupacken, nachdem ich meinen Sohn verloren hatte«, schrieb eine Mutter in einem Gastbeitrag für die kanadische Huffington-Post-Seite15, und das amerikanische Businessmagazin Fast Company rief bewundernd: »Danke, Marie Kondo! Der Wiederverkaufsmarkt wird größer als Fast Fashion.«16

Was all diese Artikel und Lobpreisungen übersehen, ist, dass es Kondo nicht im Geringsten darum geht, dass wir weniger konsumieren. Sie schafft es vielmehr, Konsumlücken zu entdecken, an die noch niemand zuvor gedacht hatte. Denn viele Leser und Netflix-Zuschauer führen in ihren Wohnungen und Häusern die große Entrümplungsaktion nach Kondo-Handbuch durch, nur um dabei Konsumbedürfnisse nach Dingen zu entdecken, von denen sie noch nicht einmal gewusst hatten.

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