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Bevelstoke – Das geheime Tagebuch der Miss Miranda

Als Buch hier erhältlich:

Der Zauber einer Ballnacht

2. März 1810: Heute habe ich mich verliebt! Dreizehn Tagebücher und neun Jahre später sind Miss Mirandas Gefühle für Viscount Turner noch genauso unsterblich – und ebenso aussichtslos. Eine kurze, verhängnisvolle Ehe hat ihn verbittert. Dennoch hegt Miranda Hoffnung. In ihrer ersten Saison will sie sich ihren Mädchentraum erfüllen und endlich mit dem Viscount tanzen. Dabei will sie ihm ihre Gefühle gestehen ...

Witzig und unwiderstehlich romantisch: Der erste Roman der Bevelstoke-Trilogie


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Aus der Serie: Bevelstoke
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005927

Leseprobe

Für all die Leute,
die mir bei »Friendly’s«
ein ordentliches Trinkgeld gegeben haben,
sodass ich mir davon
meinen ersten Computer zusammensparen konnte,
einen Mac
SE. (Ohne Festplatte – danke, Dad!)

Und für Paul,
auch wenn er sein Versprechen nicht gehalten hat,
besagten Computer in ein Aquarium umzubauen.

AUSZUG aus
Miss Miranda Cheevers Tagebuch

8. Juni 1819

Man hat mich in Kenntnis gesetzt, dass gewisse vornehme Matronen der Ansicht seien, Turner betrachte mich in einem romantischen Licht. Das wäre wahrhaftig ein Grund zum Feiern, wenn …

1. … es wahr wäre.

2. … er nicht gelacht hätte, als er dies Gerücht hörte.

3. … seine Mutter nicht den Kopf geschüttelt und gesagt hätte: »Ich habe mich wirklich bemüht, ihnen klarzumachen, dass das völlig unmöglich ist.«

4. … er darauf nicht erwidert hätte: »Miranda ist jedenfalls das am wenigsten unausstehliche Mädchen in London.«

5. … er mir dann nicht zugegrinst hätte, als erwartete er von mir, diese Bemerkung als Kompliment zu nehmen.

Natürlich habe ich gelacht, offensichtlich hatte er es ja scherzhaft gemeint. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass er mich als Freundin betrachtet, die man aufziehen kann.

Aber ich will nicht nur seine Freundin sein.

Ich wünsche mir so viel mehr.

PROLOG

Im Alter von zehn Jahren zeigte Miss Miranda Cheever keinerlei Anzeichen, je zur Schönheit heranzureifen. Ihr Haar war – leider – braun, ebenso ihre Augen, und ihre ungewöhnlich langen Beine weigerten sich schlichtweg, auch nur eine Spur von Anmut zu zeigen. Ihre Mutter sagte oft, dass sie ja förmlich durchs Haus springe.

Leider legte die Gesellschaft, in die Miranda hineingeboren war, bei Frauen großen Wert auf das äußere Erscheinungsbild. Und obwohl sie erst zehn war, wusste sie, dass sie den meisten anderen Mädchen in der Nachbarschaft in dieser Hinsicht als unterlegen galt. Kinder finden so etwas schnell heraus, meist von anderen Kindern.

Ebensolch ein unangenehmer Zwischenfall ereignete sich anlässlich der Feier des elften Geburtstags von Lady Olivia und dem Ehrenwerten Winston Bevelstoke, den Zwillingen des Earl und der Countess of Rudland. Miranda lebte ganz in der Nähe von Haverbreaks, dem Familiensitz der Rudlands, der bei Ambleside im Lake District von Cumberland lag, und wenn Olivia und Winston zu Hause waren, nahm sie an deren Unterricht teil. Über die Zeit waren die drei vollkommen unzertrennlich geworden und gaben sich kaum mit anderen Kindern ab, von denen die meisten ohnehin eine Reitstunde entfernt lebten.

Aber einige Male im Jahr, vor allem an Geburtstagen, kamen die Kinder des hiesigen Dorf- und Landadels zusammen. Aus diesem Grund stieß Lady Rudland auch ein höchst undamenhaftes Stöhnen aus: Achtzehn unartige Kinder trugen fröhlich trampelnd Schlamm in ihren Salon, nachdem die Gartenparty durch einen Regenguss beendet worden war.

»Du hast Dreck an der Wange, Livvy«, meinte Miranda und streckte die Hand aus, um ihn wegzuwischen.

Olivia seufzte theatralisch auf. »Dann gehe ich wohl am besten nach oben, um ihn abzuwaschen. Ich möchte nicht, dass Mama mich so sieht. Sie kann Dreck nicht leiden, und ich kann es nicht leiden, wenn sie mir erzählt, wie sehr sie Dreck nicht leiden kann.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, was sie gegen ein bisschen Dreck in deinem Gesicht einzuwenden haben sollte, wenn ihr ganzer Teppich voll davon ist.« Miranda blickte zu William Evans hinüber, der sich eben unter Kriegsgeheul aufs Sofa warf. Sie spitzte die Lippen, sonst hätte sie lächeln müssen. »Und ihre Möbel.«

»Trotzdem sollte ich lieber gehen und mich waschen.«

Sie schlüpfte aus dem Raum, und Miranda blieb allein an der Tür zurück. Eine Weile sah sie dem Chaos zu, vollauf zufrieden mit ihrem üblichen Beobachterposten, bis sie aus den Augenwinkeln jemanden auf sich zukommen sah.

»Was schenkst du Olivia denn zum Geburtstag, Miranda?«

Miranda wandte sich um und sah Fiona Bennet vor sich stehen, hübsch angetan mit einem weißen Kleidchen und einer rosa Schärpe. »Ein Buch«, erwiderte sie. »Olivia liest gern. Und du?«

Fiona hielt eine bunt bemalte Schachtel empor, die von einer silbernen Kordel zusammengehalten wurde. »Ein paar Bänder. Aus Seide und Satin und sogar aus Samt. Möchtest du sie mal sehen?«

»Aber ich will nicht, dass die Verpackung kaputtgeht.«

Fiona zuckte mit den Schultern. »Man braucht doch nur vorsichtig die Kordel zu lösen. Das mache ich Weihnachten auch immer.« Sie schob die Kordel herunter und hob den Deckel der Schachtel hoch.

Miranda hielt den Atem an. Mindestens zwei Dutzend Bänder lagen auf dem schwarzen Samtfutter, jedes zart zur Schleife gebunden. »Die sind ja wunderschön, Fiona. Darf ich eines rausnehmen?«

Fiona kniff die Augen zusammen.

»Meine Hände sind auch ganz sauber. Schau!« Miranda streckte ihr die Hände zur Inspektion hin.

»Ach, na schön.«

Miranda suchte sich ein veilchenblaues Band aus. Weich und glatt, fast verboten sinnlich schmiegte sich der Satin in ihre Hand. Kokett hielt sie sich die Schleife ans Haar. »Was meinst du?«

Fiona rollte mit den Augen. »Doch nicht veilchenblau, Miranda. Veilchenblau passt nur zu blondem Haar, das weiß doch jeder. Neben Braun sieht man die Farbe kaum. Du kannst das auf keinen Fall tragen.«

Miranda gab das Band zurück. »Welche Farbe passt dann zu braunem Haar? Grün? Meine Mama hat auch braunes Haar, und sie trägt manchmal grüne Bänder.«

»Grün ginge wohl, nehme ich an. Aber in blondem Haar sieht es auch schöner aus. Alles sieht schöner aus mit blondem Haar.«

Miranda verspürte einen Funken Entrüstung. »Na, Fiona, dann weiß ich aber nicht, was du machen willst, denn dein Haar ist genauso braun wie meines.«

Empört fuhr Fiona zurück. »Ist es nicht!«

»Ist es wohl!«

»Ist es nicht!«

Miranda beugte sich vor und kniff drohend die Augen zusammen. »Schau lieber mal in den Spiegel, Fiona, denn deine Haare sind nicht blond.«

Fiona legte das veilchenblaue Band in die Schachtel zurück und knallte den Deckel zu. »Nun, jedenfalls war es früher mal blond und deines nicht. Außerdem ist mein Haar jetzt hellbraun, und das ist viel besser als dunkelbraun, so wie deines, das weiß ja wohl jeder.«

»Gegen dunkelbraunes Haar gibt es überhaupt nichts einzuwenden!«, fuhr Miranda auf. Aber sie wusste bereits, dass beinahe ganz England in diesem Punkt anderer Meinung war.

»Und außerdem«, fügte Fiona boshaft hinzu, »hast du dicke Lippen!«

Rasch schlug Miranda die Hand vor den Mund. Dass sie nicht schön war, wusste sie, sie wusste auch, dass sie nicht einmal als hübsch galt. Aber bisher war ihr nicht bewusst gewesen, dass mit ihren Lippen etwas nicht in Ordnung war. Sie sah zu dem hämisch grinsenden Mädchen auf. »Du hast Sommersprossen!«, platzte sie heraus.

Fiona zuckte zurück, als wäre sie geschlagen worden. »Sommersprossen verblassen. Bis ich achtzehn bin, sind sie verschwunden. Meine Mutter reibt sie jeden Abend mit Zitronensaft ein.« Sie schniefte verächtlich. »Aber für dich gibt es kein Heilmittel, Miranda. Du bist einfach hässlich.«

»Ist sie nicht!«

Beide Mädchen drehten sich zu Olivia um, die soeben vom Waschen zurückgekehrt war.

»Ach, Olivia«, wandte Fiona sich an sie, »ich weiß, dass du mit Miranda befreundet bist, weil sie so nah bei dir wohnt und den Unterricht mit dir teilt, aber du musst zugeben, dass sie nicht hübsch ist. Meine Mama sagt, dass sie nie einen Ehemann abkriegt.«

Olivias blaue Augen blitzten gefährlich auf. Die einzige Tochter des Earl of Rudland war schon immer entschieden loyal gewesen, und Miranda war ihre beste Freundin. »Miranda bekommt bestimmt einen besseren Ehemann als du, Fiona Bennet! Ihr Vater ist ein Baronet, während deiner nur ein einfacher Mister ist.«

»Tochter eines Baronets zu sein bringt einem gar nichts, es sei denn, man sieht gut aus oder hat Geld«, posaunte Fiona hinaus, was sie offensichtlich zu Hause gehört hatte. »Und Miranda hat weder noch.«

»Sei still, du blöde alte Kuh!«, rief Olivia aus und stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist meine Geburtstagsfeier, und wenn du nicht nett sein kannst, dann kannst du gehen!«

Fiona schluckte. Sie wusste, dass sie Olivia nicht gegen sich aufbringen durfte, da deren Eltern gesellschaftlich den höchsten Rang in der Gegend einnahmen. »Tut mir leid, Olivia«, murmelte sie.

»Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Entschuldige dich bei Miranda.«

»Tut mir leid, Miranda.«

Miranda schwieg so lange, bis Olivia ihr einen Stoß versetzte. »Ich nehme deine Entschuldigung an«, sagte sie widerstrebend.

Fiona nickte und lief davon.

»Ich kann nicht fassen, dass du sie eine blöde alte Kuh genannt hast«, meinte Miranda.

»Du musst lernen, für dich einzustehen, Miranda.«

»Bis du gekommen bist, konnte ich prima für mich einstehen, Livvy. Ich bin dabei nur nicht so laut geworden.«

Olivia seufzte. »Mama sagt, ich hätte keinerlei Spur Zurückhaltung oder Vernunft.«

»Stimmt.«

»Miranda!«

»Ist doch wahr! Ich hab dich aber trotzdem lieb.«

»Ich dich auch, Miranda. Mach dir wegen der dummen Fiona keine Gedanken. Du kannst ja Winston heiraten, wenn du erwachsen bist, dann sind wir echte Schwestern.«

Miranda sah quer durch den Raum und betrachtete Winston zweifelnd. Er zog gerade ein kleines Mädchen an den Haaren. »Ich weiß nicht«, meinte sie zögernd, »ich bin mir nicht sicher, ob ich Winston heiraten will.«

»Unsinn. Er wäre genau der Richtige. Außerdem, schau nur, er hat Fiona gerade Punsch über das Kleid geschüttet.«

Miranda grinste.

»Komm mit!«, forderte Olivia sie auf und ergriff ihre Hand. »Ich will meine Geschenke aufmachen. Ich verspreche dir auch, dass ich bei deinem am lautesten jubele.«

Die beiden Mädchen gesellten sich wieder zu den anderen, und dann packten Olivia und Winston ihre Geschenke aus. Zum Glück (fand zumindest Lady Rudland) war um Punkt vier Uhr Schluss; um diese Zeit sollten die Kinder nach Hause gehen. Kein einziges Kind wurde von Dienstboten abgeholt; eine Einladung nach Haverbreaks galt als große Ehre, und die Eltern wollten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit dem Earl und der Countess zu plaudern. Mit Ausnahme von Mirandas Eltern. Um fünf Uhr saß sie immer noch im Salon und begutachtete mit Olivia die Geburtstagsausbeute.

»Ich frage mich, was mit deinen Eltern ist, Miranda«, bemerkte Lady Rudland.

»Ach, ich weiß schon«, erwiderte Miranda munter. »Mama ist nach Schottland zu ihrer Mama gefahren, und Papa hat mich bestimmt vergessen. Das tut er nämlich oft, wenn er an einem Manuskript arbeitet. Er übersetzt aus dem Griechischen.«

»Ich weiß.« Lady Rudland lächelte.

»Aus dem Altgriechischen.«

»Ich weiß«, wiederholte Lady Rudland seufzend. Dies war nicht das erste Mal, dass Sir Rupert Cheever seine Tochter vergaß. »Nun, irgendwie musst du nach Hause kommen.«

»Ich könnte sie begleiten«, schlug Olivia vor.

»Du und Winston müsst eure neuen Sachen wegräumen und Dankesbriefe schreiben. Wenn ihr das nicht gleich heute macht, wisst ihr nicht mehr, wer euch was geschenkt hat.«

»Aber du kannst Miranda doch nicht mit einem Dienstboten nach Hause schicken. Dann hat sie ja niemanden, mit dem sie plaudern kann!«

»Ich kann mit dem Dienstboten plaudern«, meinte Miranda. »Mit denen zu Hause rede ich auch immer.«

»Mit unseren geht das nicht«, flüsterte Olivia. »Die sind so steif und stumm und schauen mich immer missbilligend an.«

»Meist hast du das auch verdient«, warf Lady Rudland ein und tätschelte ihrer Tochter liebevoll den Kopf. »Aber ich habe etwas Besonderes für dich, Miranda: Nigel kann dich heimbringen.«

»Nigel!«, kreischte Olivia. »Miranda, du Glückspilz!«

Miranda hob die Brauen. Sie kannte Olivias großen Bruder noch nicht. »Also gut«, sagte sie langsam. »Ich würde mich freuen, ihn endlich mal kennenzulernen. Du sprichst so oft von ihm, Olivia.«

Lady Rudland klingelte nach einer Zofe, damit sie Nigel hole. »Du kennst ihn nicht, Miranda? Wie seltsam. Nun ja, er ist für gewöhnlich nur an Weihnachten zu Hause, und da bist du ja immer in Schottland. Ich musste drohen, ihn zu enterben, wenn er nicht zum Geburtstag der Zwillinge kommt. Trotzdem, an der Feier wollte er nicht teilnehmen, vor lauter Angst, eine der Mütter würde versuchen, ihn mit einer Zehnjährigen zu verheiraten.«

»Nigel ist neunzehn und eine sehr gute Partie«, erklärte Olivia ernsthaft. »Er ist ein Viscount. Und er ist sehr attraktiv. Er sieht genauso wie ich aus.«

»Olivia!«, tadelte Lady Rudland.

»Nun, stimmt doch, Mama. Wenn ich ein Junge wäre, wäre ich auch sehr attraktiv.«

»Du bist auch als Mädchen sehr hübsch, Livvy«, erklärte Miranda loyal und streifte die blonden Locken ihrer Freundin mit einem Blick, der nur ganz wenig Neid verriet.

»Du aber auch. Da, nimm ein Band von Blödkuh Fiona. Alle brauche ich ja nicht.«

Miranda lächelte über diese Schwindelei. Olivia war eine wunderbare Freundin. Sie sah auf die Bänder und wählte aus reinem Trotz das veilchenblaue. »Danke, Livvy. Ich werde es am Montag zum Unterricht tragen.«

»Du hast mich gerufen, Mutter?«

Beim Klang der tiefen Stimme wandte Miranda den Kopf und schnappte nach Luft. In der Tür stand das herrlichste Wesen, das sie je gesehen hatte. Olivia hatte gesagt, dass Nigel neunzehn sei, aber Miranda erkannte sofort den Mann in ihm. Seine Schultern waren wunderbar breit, außerdem war er auch noch groß und schlank. Sein Haar war dunkler als das von Olivia, aber immer noch golden getönt. Aber das Schönste an ihm waren seine Augen: Sie waren strahlend blau, genau wie Olivias. Und sie zwinkerten auch genauso verschmitzt.

Miranda lächelte. Ihre Mutter sagte immer, dass man einen Menschen nach seinen Augen beurteilen könne, und Olivias Bruder hatte gute Augen.

»Nigel, wärst du so nett, Miranda nach Hause zu bringen?«, bat Lady Rudland. »Ihr Vater hat sich anscheinend verspätet.«

Miranda fragte sich, warum er zusammenzuckte, als seine Mutter ihn mit diesem Namen ansprach.

»Gewiss, Mutter. Na, Olivia, hattest du ein schönes Fest?«

»Wunderbar.«

»Wo ist Winston?«

Olivia zuckte mit den Schultern. »Er spielt irgendwo mit dem Säbel, den Billy Evans ihm geschenkt hat.«

»Hoffentlich kein echter.«

»Himmel hilf«, meinte Lady Rudland. »Also schön, Miranda, dann sehen wir mal zu, dass du nach Hause kommst. Ich glaube, dein Mantel ist im Nebenraum.« Sie verschwand durch die Tür und kam kurz darauf mit Mirandas braunem, praktischem Mantel zurück.

»Wollen wir aufbrechen, Miranda?« Die gottgleiche Gestalt streckte ihr die Hand hin.

Miranda schlüpfte in den Mantel und legte ihre Hand in die seine. Himmlisch!

»Ich sehe dich dann am Montag«, rief Olivia. »Und bekümmer dich nicht mehr deswegen, was Fiona zu dir gesagt hat. Die ist doch bloß eine blöde alte Kuh.«

»Olivia!«

»Na, stimmt doch, Mama. Ich will nicht, dass sie noch mal herkommt.«

Miranda lächelte, während sie sich von Olivias Bruder durch die Halle führen ließ. »Danke, dass Sie mich nach Hause bringen, Nigel«, meinte sie leise.

Wieder zuckte er zusammen.

»Tut … tut mir leid«, meinte sie rasch. »Ich sollte Sie wohl ›Mylord‹ nennen, nicht? Aber Olivia und Winston reden von Ihnen immer als Nigel, und ich …« Verlegen senkte sie den Blick. Zwei Minuten in Gesellschaft dieses herrlichen Geschöpfs, und schon hatte sie alles verdorben.

Er blieb stehen und ging vor ihr in die Hocke, sodass sie ihm ins Gesicht blicken konnte. »Wegen des ›Mylord‹ mach dir mal keine Gedanken, Miranda. Ich verrate dir ein Geheimnis.«

Miranda riss die Augen auf und vergaß zu atmen.

»Ich kann meinen Vornamen nicht ausstehen.«

»Das ist aber kein großes Geheimnis, Nig… ich meine, Mylord, ich meine, wie immer Sie genannt werden wollen. Sie sind vorhin zusammengezuckt, als Ihre Mutter Sie so ansprach.«

Er lächelte sie an. Etwas hatte ihn tief im Herzen berührt, als er dieses kleine Mädchen mit der viel zu ernsten Miene neben seiner unbezähmbaren Schwester gesehen hatte. Sie war ein merkwürdig aussehendes kleines Ding, aber ihre großen, seelenvollen braunen Augen hatten etwas sehr Liebenswertes an sich.

»Wie wollen Sie denn genannt werden?«, fragte Miranda.

Er lächelte angesichts dieser direkten Frage. »Turner.«

Einen Augenblick dachte er schon, sie würde nicht antworten. Sie stand einfach da, stocksteif, und blinzelte ein wenig. Dann, als wäre sie zu einem Schluss gekommen, sagte sie: »Das ist ein schöner Name. Ein bisschen seltsam, aber er gefällt mir.«

»Viel besser als Nigel, meinst du nicht?«

Miranda nickte. »Haben Sie sich den selbst ausgesucht? Ich habe mir schon öfter gedacht, dass man sich seinen Namen selbst aussuchen dürfen sollte. Die meisten Leute würden vermutlich etwas ganz anderes wählen.«

»Und was würdest du nehmen?«

»Ich weiß nicht, aber nicht Miranda. Irgendetwas Einfacheres, glaube ich. Von einer Miranda erwartet man einfach etwas anderes, und wenn die Leute mich dann sehen, sind sie enttäuscht.«

»Unsinn«, widersprach Turner. »Du bist eine wunderbare Miranda.«

Sie strahlte ihn an. »Danke, Turner. Darf ich Sie so nennen?«

»Natürlich. Allerdings habe ich mir diesen Namen nicht selbst ausgesucht. Es ist nur mein Titel. Viscount Turner. Den verwende ich schon seit Eton anstelle von Nigel.«

»Oh. Er passt zu Ihnen, finde ich.«

»Danke«, erwiderte er feierlich, vollkommen bezaubert von diesem ernsthaften Kind. »Und jetzt gib mir deine Hand, wir wollen weiter.«

Er erhob sich und reichte ihr die linke Hand. Rasch gab Miranda das Haarband von der rechten in die linke.

»Was ist das?«

»Das? Ach, ein Band. Fiona Bennet hat Olivia zwei Dutzend geschenkt, und Olivia hat gesagt, ich darf mir eines nehmen.«

Turner machte schmale Augen, als ihm wieder einfiel, was Olivia als Letztes gesagt hatte. Und bekümmer dich nicht mehr um das, was Fiona zu dir gesagt hat. Er nahm ihr das Band aus der Hand. »Bänder gehören wohl ins Haar, glaube ich.«

»Oh, aber das passt doch gar nicht zu meinem Kleid«, protestierte Miranda schwach. Aber er hatte das Band schon an ihrem Kopf befestigt. »Wie sieht es aus?«, flüsterte sie.

»Umwerfend.«

»Wirklich?« Zweifelnd riss sie die Augen auf.

»Wirklich. Ich finde immer, veilchenblaue Bänder sehen in dunkelbraunem Haar ganz besonders hübsch aus.«

In diesem Augenblick verliebte Miranda sich in ihn. So heftig war das Gefühl, dass sie vollkommen vergaß, ihm für das Kompliment zu danken.

»Wollen wir los?«, fragte er.

Sie nickte nur, weil sie ihrer Stimme nicht traute.

Zusammen gingen sie aus dem Haus und zu den Ställen. »Ich dachte, wir könnten reiten«, meinte Turner. »Es ist viel zu schön draußen, um in der Kutsche zu sitzen.«

Miranda nickte noch einmal. Für März war es ungewöhnlich warm.

»Du kannst Olivias Pony nehmen, sie hat bestimmt nichts dagegen.«

»Livvy hat gar kein Pony«, meinte Miranda, die endlich ihre Stimme wiederfand. »Sie hat jetzt eine Stute. Ich hab zu Hause auch eine. Wir sind keine Babys mehr, wissen Sie.«

Turner unterdrückte ein Lächeln. »Nein, das sehe ich selbst. Wie dumm von mir, ich habe einfach nicht nachgedacht.«

Ein paar Minuten später waren die Pferde gesattelt, und dann brachen sie zu dem viertelstündigen Ritt zum Anwesen der Cheevers auf. Miranda war anfangs ziemlich schweigsam, weil sie so glücklich war, dass sie den Augenblick nicht durch Reden zerstören wollte.

»Hast du dich auf der Feier gut amüsiert?«, erkundigte sich Turner schließlich.

»Oh ja, größtenteils war es wunderschön.«

»Größtenteils?«

Er sah, wie sie zusammenzuckte. Offensichtlich hatte sie nicht so viel sagen wollen. »Nun …«, erklärte sie langsam, nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und ließ sie langsam wieder los, »… ein Mädchen war recht unfreundlich zu mir.«

»Ach?« Er wusste, wann er sich mit Fragen zurückhalten musste.

Und offensichtlich hatte er recht, denn als sie schließlich fortfuhr, fühlte er sich an seine Schwester erinnert, wie sie mit offenem Blick zu ihm aufsah, während die Worte aus ihrem Mund sprudelten. »Es war Fiona Bennet«, erklärte sie naserümpfend, »und dann hat Olivia sie eine blöde alte Kuh genannt, und ich muss sagen, es tut mir gar nicht leid.«

Turner bemühte sich um einen angemessen ernsten Blick. »Mir tut es auch nicht leid, wenn Fiona unfreundlich zu dir war.«

»Ich weiß, dass ich nicht hübsch bin«, platzte Miranda heraus, »aber es ist furchtbar unhöflich, das auszusprechen, um nicht zu sagen, direkt gemein.«

Turner sah sie einen langen Moment an. Er war sich nicht ganz sicher, wie er das kleine Mädchen trösten sollte. Sie war wirklich nicht schön, und wenn er ihr nun sagte, sie sei es, würde sie ihm nicht glauben. Aber hässlich war sie auch nicht. Sie war einfach nur … ziemlich ungelenk.

Mirandas nächste Bemerkung rettete ihn aus diesem Dilemma.

»Es liegt an meinem braunen Haar, glaube ich.«

Er hob fragend die Augenbrauen.

»Es ist überhaupt nicht in Mode«, erklärte Miranda. »Und braune Augen auch nicht. Und außerdem bin ich viel zu dünn, und mein Gesicht ist zu lang, und ich bin zu blass.«

»Nun, das alles stimmt«, meinte Turner.

Mit weit aufgerissenen, traurigen Augen sah sie ihn an.

»Du hast braune Haare und braune Augen. Da gibt es gar nichts zu deuteln.« Er legte den Kopf schief und tat so, als nähme er sie genau in Augenschein. »Du bist auch ziemlich dünn, und dein Gesicht ist in der Tat ein wenig lang. Und blass bist du auch.«

Ihre Lippen zitterten. Turner konnte sie nicht länger aufziehen. »Aber zufällig«, fuhr er lächelnd fort, »sind mir persönlich Frauen mit braunen Haaren und Augen lieber.«

»Das glaube ich nicht!«

»Doch. Schon immer. Und es gefällt mir auch, wenn sie dünn und blass sind.«

Misstrauisch sah Miranda ihn an. »Und was ist mit dem langen Gesicht?«

»Also, ich muss zugeben, dass ich darüber noch nie nachgedacht habe. Es stört mich jedenfalls nicht weiter.«

»Fiona Bennet hat gesagt, ich hätte dicke Lippen«, erklärte sie beinahe trotzig.

Turner verbiss sich das Lächeln.

Sie seufzte tief. »Dabei ist mir noch nicht mal aufgefallen, dass ich dicke Lippen habe.«

»So dick sind sie ja gar nicht.«

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Das sagen Sie nur, damit es mir besser geht.«

»Ich möchte tatsächlich, dass es dir besser geht, aber deswegen habe ich es nicht gesagt. Und wenn Fiona das nächste Mal behauptet, du habest dicke Lippen, sag ihr, dass sie sich täuscht. Du hast volle Lippen.«

»Wo liegt da der Unterschied?« Gespannt sah sie ihn an.

Turner schöpfte tief Atem. »Nun«, erklärte er zögernd, »dicke Lippen sind hässlich. Volle Lippen nicht.«

»Oh.« Das schien sie zufriedenzustellen. »Fiona hat dünne Lippen.«

»Volle Lippen sind viel, viel besser als dünne«, sagte Turner nachdrücklich. Er hatte Gefallen an diesem komischen kleinen Mädchen gefunden und wollte es aufheitern.

»Warum?«

Während er insgeheim die Götter des Anstands und der Sitte um Verzeihung bat, erwiderte er: »Volle Lippen eignen sich besser zum Küssen.«

»Oh.« Miranda errötete, und dann lächelte sie. »Gut.«

Ohne genau zu wissen, warum, war Turner sehr zufrieden mit der Wirkung seiner Antwort. »Weißt du, was ich glaube, Miss Miranda Cheever?«

»Was denn?«

»Ich glaube, du musst einfach noch in dich hineinwachsen.« Kaum hatte er dies gesagt, bereute er es. Sicher würde sie ihn fragen, was er damit meinte, und er hatte keine Ahnung, was er ihr darauf antworten sollte.

Doch das frühreife kleine Mädchen legte nur den Kopf schief, während es über seine Bemerkung nachdachte. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, erklärte es schließlich. »Schauen Sie sich nur meine Beine an.«

Ein diskretes Hüsteln überdeckte das Lachen, das in Turners Kehle aufstieg. »Wie meinst du das?«

»Nun, sie sind viel zu lang. Mama sagt immer, dass sie schon an den Schultern anfangen.«

»Mir scheint, dass sie ganz normal an der Taille wachsen.«

Miranda kicherte. »Das war bildlich gesprochen.«

Turner blinzelte. Diese Zehnjährige verfügte über einen erstaunlichen Wortschatz.

»Ich will damit nur sagen«, fuhr sie fort, »dass meine Beine die falsche Größe haben, verglichen mit dem Rest von mir. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich einfach nicht tanzen kann. Ich steige Olivia dauernd auf die Füße.«

»Olivia?«

»Wir üben zusammen«, erklärte Miranda energisch. »Ich glaube, wenn der Rest von mir meine Beine eingeholt hat, bin ich nicht mehr so ungeschickt. Ich glaube also, dass Sie recht haben. Ich muss einfach noch in mich hineinwachsen.«

»Wunderbar«, entgegnete Turner, froh, dass es ihm anscheinend irgendwie gelungen war, genau das Richtige zu sagen. »Ach, hier sind wir ja schon.«

Miranda sah an dem grauen Steinhaus empor, in dem sie wohnte. Es stand an einem der vielen Flüsse, welche die Seen in der Gegend miteinander verbanden, und um zur Haustür zu gelangen, musste man eine kleine gepflasterte Brücke überqueren. »Danke, dass Sie mich heimgebracht haben, Turner. Ich verspreche Ihnen, dass ich nie Nigel zu Ihnen sage.«

»Versprichst du mir auch, Olivia zu kneifen, wenn sie mich Nigel nennt?«

Miranda kicherte und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie nickte.

Turner stieg ab und half dann der Kleinen vom Pferd. »Weißt du, was ich glaube, das du tun solltest?«, fragte er plötzlich.

»Was denn?«

»Du solltest Tagebuch führen.«

Überrascht blinzelte sie ihn an. »Warum? Wer würde das wohl je lesen wollen?«

»Niemand, du Gänschen. Das schreibt man für sich selbst. Und vielleicht werden es eines Tages nach deinem Tod deine Enkel lesen, um zu erfahren, was für ein Mensch du in deiner Jugend warst.«

Sie legte den Kopf schief. »Und wenn ich keine Enkel habe?«

Impulsiv streckte Turner die Hand aus und zauste ihr die Haare. »Du stellst ja eine Menge Fragen, Kätzchen.«

»Aber was ist, wenn ich keine Enkel habe?«

Himmel, das Kind war ganz schön hartnäckig. »Vielleicht wirst du ja berühmt.« Er seufzte. »Und die Kinder, die dich in der Schule durchnehmen, wollen dann alles über dich erfahren.«

Miranda betrachtete ihn zweifelnd.

»Ach, na schön, willst du wissen, warum ich wirklich glaube, dass du ein Tagebuch führen solltest?«

Sie nickte.

»Weil du eines Tages in dich hineinwachsen wirst, und dann wirst du ebenso schön sein, wie du jetzt schon klug bist. Und dann kannst du in deinem Tagebuch nachlesen und sehen, wie albern kleine Mädchen wie Fiona Bennet sind. Und du wirst lachen, wenn du dich daran erinnerst, wie deine Mutter gesagt hat, dass deine Beine schon an den Schultern anfangen. Und vielleicht hast du auch für mich ein kleines Lächeln übrig, wenn du an unser nettes Gespräch heute zurückdenkst.«

Miranda sah zu ihm auf und dachte bei sich, dass er wohl einer jener griechischen Götter sein musste, über die ihr Vater dauernd las. »Wissen Sie, was ich glaube?«, flüsterte sie. »Olivia hat großes Glück, Sie zum Bruder zu haben.«

»Und ich glaube, sie hat großes Glück, dich zur Freundin zu haben.«

Mirandas Lippen zitterten. »Für Sie reserviere ich ein ganz großes Lächeln, Turner«, wisperte sie.

Er beugte sich herunter und küsste ihr anmutig die Hand, als wäre sie die schönste Dame Londons. »Vergiss es nicht, Kätzchen.« Er lächelte und nickte ihr zu, bevor er aufstieg, Olivias Stute im Schlepptau.

Miranda starrte ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war, und dann starrte sie noch einmal zehn Minuten in diese Richtung.

An diesem Abend schlenderte Miranda in die Studierstube ihres Vaters. Er saß über einen Text gebeugt und merkte gar nicht, wie seine Kerze Wachs auf den Schreibtisch tropfte.

»Papa, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du auf die Kerzen achten musst?« Sie seufzte und stellte die Kerze in einen passenden Ständer.

»Was? Ach je.«

»Und du brauchst auch mehr als eine. Hier drin ist es doch viel zu dunkel zum Lesen.«

»Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen.« Er blinzelte und sah seine Tochter dann scharf an. »Müsstest du nicht längst im Bett liegen?«

»Nanny hat gesagt, ich darf heute Abend eine halbe Stunde länger aufbleiben.«

»Ja? Na dann.« Er beugte sich wieder über sein Manuskript. Sie war entlassen.

»Papa?«

Er seufzte. »Was ist denn, Miranda?«

»Hast du ein Notizbuch für mich übrig? So eines, in das du deine Übersetzungen schreibst, ehe du sie zum letzten Mal überarbeitest.«

»Ich glaube schon.« Er zog die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und räumte darin herum. »Hier. Aber was willst du damit anfangen? Das ist ein gutes Notizbuch und war nicht billig, weißt du.«

»Ich will ein Tagebuch führen.«

»Ach ja? Nun, das ist wohl ein würdiges Vorhaben.« Er reichte ihr das Notizbuch.

Miranda strahlte über das Lob. »Danke. Ich lass dich wissen, wenn ich es vollgeschrieben habe und ein neues brauche.«

»In Ordnung. Gute Nacht, mein Liebes.« Er wandte sich wieder seinen Papieren zu.

Miranda drückte das Notizbuch an die Brust und lief hinauf in ihr Schlafzimmer. Sie holte Tintenfass und Feder und öffnete das Buch auf der ersten Seite. Zunächst schrieb sie das Datum nieder, und nach einiger Überlegung fügte sie einen einzigen Satz hinzu. Das schien genug.

2. März 1810

Heute habe ich mich verliebt.

1. KAPITEL

Nigel Bevelstoke – Turner für all jene, denen an seiner Gunst gelegen war – wusste eine Menge Dinge.

Er konnte Lateinisch und Griechisch lesen, und er wusste, wie man eine Frau auf Französisch und Italienisch verführte.

Er konnte ein bewegliches Ziel treffen, während er auf einem Pferd ritt, und er wusste genau, wie viel er trinken konnte, ehe er seine Würde einbüßte.

Er konnte boxen und mit einem Meister fechten, und dabei konnte er auch noch gleichzeitig Shakespeare oder John Donne zitieren.

Kurzum, er wusste alles, was ein Gentleman wissen sollte, und hatte sich auf jedem Gebiet ausgezeichnet.

Die Leute nahmen ihn wahr.

Die Leute sahen zu ihm auf.

Aber nichts – keine Sekunde seines prominenten, privilegierten Lebens – hatte ihn auf dies hier vorbereitet. Und nie zuvor hatte er die Blicke der anderen schwerer auf sich lasten gefühlt als in diesem Augenblick, da er vortrat und eine Schaufel Erde auf den Sarg seiner Ehefrau warf.

Es tut mir so leid, sagten die Leute. Es tut mir so leid. Es tut uns so leid.

Und die ganze Zeit fragte Turner sich, ob Gott ihn wohl mit einem Blitz niederstrecken würde, weil er nichts anderes denken konnte als …

Mir tut es nicht leid.

Ah, Leticia. Er verdankte ihr eine ganze Menge.

Mal sehen, wo sollte er anfangen? Erst einmal war da natürlich der Verlust seines Rufs. Weiß der Teufel, wie vielen Leuten bewusst war, dass sie ihm Hörner aufgesetzt hatte.

Immer wieder.

Dann der Verlust seiner Unschuld. Jetzt konnte er sich daran kaum noch erinnern, aber es hatte Zeiten gegeben, da er gewillt war, der Menschheit eine Chance einzuräumen. Früher einmal hatte er in seinen Mitmenschen meist nur das Beste gesehen, hatte geglaubt, wenn er sie ehrenhaft und mit Respekt behandelte, würden sie mit ihm dasselbe tun.

Und dann der Verlust seiner Seele.

Denn als er zurücktrat, die Hände steif im Rücken verschränkt, und zuhörte, wie der Pfarrer Leticias Leichnam bestattete, konnte er vor sich selbst die Tatsache nicht leugnen, dass er sich dies gewünscht hatte. Er hatte sie loswerden wollen.

Und er würde nicht um sie trauern. Er trauerte nicht um sie.

»Wie traurig«, hörte er es hinter sich flüstern.

Turners Kinn zuckte. Traurig war es nicht, es war lächerlich. Und nun durfte er das nächste Jahr Trauer um eine Frau tragen, die mit dem Kind eines anderen zu ihm gekommen war. Sie hatte ihn bezaubert, ihm den Kopf verdreht, bis er alles darangesetzt hatte, sie zu gewinnen. Sie hatte behauptet, ihn zu lieben, und sie hatte voll süßer Unschuld und Glückseligkeit gelächelt, als er ihr sein ganzes Herz und seine ewige Liebe versprochen hatte.

Sie war sein Traum gewesen.

Und dann sein Albtraum.

Sie verlor das Baby, jenes Baby, das ihre Heirat herbeigeführt hatte. Der Vater war irgendein italienischer Graf gewesen, zumindest hatte sie das behauptet. Er war bereits verheiratet oder nicht geeignet oder beides. Turner war bereit gewesen, ihr zu vergeben; jeder machte einmal einen Fehler, und außerdem, hatte er nicht auch versucht, sie vor der Hochzeitsnacht zu verführen?

Doch Leticia hatte seine Liebe nicht gewollt. Er wusste nicht, was zum Teufel sie eigentlich gewollt hatte – Macht vielleicht, das berauschende Gefühl der Befriedigung, einen weiteren Mann in den Bann gezogen zu haben.

Turner fragte sich, ob es das war, was sie empfunden hatte, als er ihren Reizen erlegen war. Vielleicht war es auch einfach Erleichterung gewesen. Bei ihrer Hochzeit war sie bereits im dritten Monat. Viel Zeit wäre ihr nicht mehr geblieben.

Und hier lag sie nun. Oder eher dort. Turner war sich nicht sicher, welche Ortsangabe passender war, wenn man sich auf einen Leichnam in der Erde bezog.

Wie auch immer. Er bedauerte nur, dass sie die Ewigkeit auf seinem Grund und Boden verbringen würde, unter lauter verblichenen Bevelstokes. Ihr Grabstein würde seinen Namen tragen, und wenn jemand in hundert Jahren die gemeißelte Inschrift betrachtete, würde er wohl denken, dass in dem Grab eine feine Dame lag und was für eine Tragödie es gewesen sei, dass sie so jung sterben musste.

Turner sah zu dem Pfarrer auf. Er war noch ziemlich jung, neu in der Gemeinde und wahrscheinlich noch überzeugt davon, dass er die Welt verbessern könnte.

»Asche zu Asche«, sagte der Pfarrer gerade und blickte den Mann an, den er für den trauernden Witwer hielt.

Ah ja, dachte Turner bitter, das wäre dann ja wohl ich.

»Staub zu Staub.«

Hinter ihm schniefte doch tatsächlich jemand.

Und der Pfarrer, in dessen Augen ein fürchterlich unangebrachtes Mitgefühl schimmerte, redete immer weiter …

»… schauen wir im Glauben der Auferstehung …«

O Gott.

»… und dem Leben der zukünftigen Welt entgegen.«

Der Pfarrer sah Turner an und zuckte tatsächlich zurück. Turner fragte sich, was genau er in seiner Miene entdeckt hatte. Nichts Gutes, das stand fest.

Mehrere Amen ertönten, und dann war die Beerdigungszeremonie vorüber. Alle sahen erst zum Pfarrer, dann zu Turner, und dann sahen alle zu, wie der Pfarrer Turners Hände umfasste und sagte: »Wir werden sie vermissen.«

»Ich nicht«, fuhr Turner ihn an.

Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hat.

Miranda blickte auf die Worte, die sie soeben notiert hatte. Im Moment war sie auf Seite zweiundvierzig ihres dreizehnten Tagebuchs angelangt, und zum ersten Mal – zum ersten Mal seit jenem schicksalhaften Tag vor neun Jahren – wusste sie nicht, was sie schreiben sollte. Selbst wenn ihre Tage nichts als Langeweile enthielten (was oft der Fall war), gelang ihr doch immer ein Eintrag.

Im Mai ihres vierzehnten Lebensjahres:

Aufgewacht.

Angezogen.

Zum Frühstück: Toast, Eier, Schinkenspeck.

Verstand und Gefühl gelesen, von einer Unbekannten geschrieben.

Verstand und Gefühl vor Vater versteckt.

Zum Lunch: Hühnchen, Brot, Käse.

Französische Verben konjugiert.

Brief an Großmutter aufgesetzt.

Zum Dinner: Beefsteak, Suppe, Nachtisch.

Verstand und Gefühl weitergelesen, Autorin immer noch unbekannt.

Zu Bett gegangen.

Geschlafen.

Von ihm geträumt.

Dies durfte man nicht mit dem Eintrag vom 12. November desselben Jahres verwechseln:

Aufgewacht.

Frühstück: Eier, Toast, Schinken.

Mir größte Mühe gegeben, eine griechische Tragödie zu lesen. Ohne Erfolg.

Die meiste Zeit aus dem Fenster geschaut.

Zum Lunch: Fisch, Brot, Erbsen.

Lateinische Verben konjugiert.

Brief an Großmutter aufgesetzt.

Zum Dinner: Braten, Kartoffeln, Nachtisch.

Tragödie am Abendbrottisch (d. h., hab mein Buch mitgenommen, keine echte).

Vater hat es nicht bemerkt.

Ins Bett gegangen.

Geschlafen.

Von ihm geträumt.

Aber jetzt, wo wirklich etwas Wichtiges und Großes passiert war, was sonst nie der Fall war, fiel ihr nichts ein, außer:

Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hat.

»Nun, Miranda«, murmelte sie und sah zu, wie die Tinte an ihrem Federkiel trocknete, »als Tagebuchschreiberin wirst du jedenfalls nicht berühmt.«

»Was hast du gesagt?«

Hastig schlug Miranda das Tagebuch zu. Sie hatte nicht bemerkt, dass Olivia den Raum betreten hatte.

»Nichts«, meinte sie rasch.

Olivia schritt über den Teppich und ließ sich aufs Bett fallen. »Was für ein schrecklicher Tag.«

Miranda nickte und wandte sich zu ihrer Freundin um.

»Ich bin froh, dass du dabei warst«, seufzte Olivia. »Danke, dass du über Nacht bleibst.«

»Natürlich«, erwiderte Miranda. Das war gar keine Frage, schließlich hatte Olivia gesagt, dass sie sie brauche.

»Was schreibst du denn da?«

Miranda blickte auf das Tagebuch und merkte erst in diesem Moment, dass sie die Hände beschützend über den Einband gelegt hatte. »Nichts.«

Olivia hatte an die Decke gestarrt, doch nun blickte sie in Mirandas Richtung. »Das kann nicht sein.«

»Leider doch.«

»Warum leider?«

Miranda blinzelte. Typisch Olivia, die offenkundigsten Fragen zu stellen – und solche, auf die man keine Antwort wusste.

»Na ja«, meinte Miranda, die nicht direkt auf Zeit spielte, aber doch Zeit brauchte, um sich eine plausible Antwort zurechtzulegen. Sie nahm die Hände weg und blickte auf das Tagebuch, als wäre die Antwort wie von Zauberhand auf dem Einband erschienen. »Das ist alles, was ich habe. Das ist, was ich bin.«

Zweifelnd sah Olivia sie an. »Das ist ein Buch.«

»Das ist mein Leben.«

»Und da sagen die Leute immer über mich«, meinte Olivia, »ich sei theatralisch!«

»Ich sage ja nicht, dass dies mein Leben ist«, erklärte Miranda mit einer Spur Ungeduld. »Mein Leben ist darin enthalten. Alles. Ich schreibe alles auf. Seit meinem zehnten Lebensjahr.«

»Alles?«

Miranda dachte an die vielen Tage, an denen sie pflichtbewusst aufgezeichnet hatte, was sie gegessen hatte, wenn auch sonst nichts. »Alles.«

»Ich könnte nie Tagebuch führen.«

»Nein.«

Olivia rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. »So schnell hättest du jetzt auch nicht zuzustimmen brauchen.«

Miranda lächelte nur.

Olivia ließ sich wieder auf die Matratze fallen. »Wahrscheinlich schreibst du jetzt, dass ich eine kurze Aufmerksamkeitsspanne habe.«

»Hab ich schon.«

Schweigen, dann: »Wirklich?«

»Ich glaube, ich habe geschrieben, dass du dich schnell langweilst.«

»Nun ja«, erwiderte ihre Freundin in einem seltenen Moment der Nachdenklichkeit, »das stimmt wohl auch.«

Miranda sah auf den Schreibtisch. Ihre Kerze warf flackernde Schatten auf das Tagebuch, und plötzlich fühlte sie sich müde. Müde, aber leider nicht schläfrig.

Eher erschöpft. Unruhig.

»Ich kann kaum noch die Augen offen halten«, erklärte Olivia und glitt vom Bett. Ihre Zofe hatte ihr Nachtgewand auf der Tagesdecke ausgebreitet, und Miranda wandte diskret den Blick ab, während Olivia sich umzog.

»Was meinst du, wie lange bleibt Turner hier auf dem Land?«, fragte Miranda, obwohl sie es sich lieber verkniffen hätte. Sie hasste es, dass sie immer noch so verzweifelt darauf erpicht war, ihn zu sehen, aber das war nun schon seit Jahren ihr Los. Selbst als er geheiratet und sie bei seiner Hochzeit in der Kirchbank gesessen und zugesehen hatte, wie er seine Braut mit derselben Liebe und Hingabe musterte, die auch in ihrem Herzen brannte …

Dennoch hatte sie zugesehen. Sie liebte ihn immer noch. Würde ihn immer lieben. Er hatte sie dazu gebracht, an sich zu glauben. Sicher hatte er keine Ahnung, was er für sie getan hatte, würde es vermutlich nie erfahren. Aber Miranda sehnte sich immer noch nach ihm. Und würde das vermutlich immer tun.

Olivia kroch ins Bett. »Bleibst du noch lange auf?«, fragte sie schlaftrunken.

»Nein, nicht mehr lange«, beruhigte Miranda sie. Olivia konnte nicht schlafen, wenn in ihrer Nähe eine Kerze brannte. Zwar konnte Miranda das nicht ganz nachvollziehen, schließlich störte sich die Freundin auch nicht am Feuer im Kamin, doch sie hatte selbst mit angesehen, wie Olivia sich ruhelos im Bett herumwälzte. Als sie daher merkte, dass sie einfach nicht zur Ruhe kam und »nicht lange« vermutlich gelogen war, beugte sie sich vor und blies die Kerze aus.

»Ich schreibe einfach woanders weiter«, sagte sie und nahm das Tagebuch unter den Arm.

»Dankchrrr«, murmelte Olivia, und als Miranda einen Morgenmantel übergezogen hatte und hinaus auf den Gang getreten war, war sie schon eingeschlafen.

Miranda klemmte das Tagebuch unter dem Kinn fest, um die Hände frei zu haben und den Gürtel des Morgenmantels zu binden. Auch wenn sie oft in Haverbreaks übernachtete, gehörte es sich nicht, dass sie nur im Nachthemd durch ein fremdes Haus wanderte.

Die Nacht war dunkel, von draußen fiel nur etwas Mondlicht durch die Fenster, aber den Weg von Olivias Zimmer zur Bibliothek hätte Miranda auch mit verbundenen Augen gefunden. Olivia schlief immer vor ihr ein – ihre Freundin behauptete, ihr brause viel zu viel durch den Kopf –, und so nahm Miranda ihr Tagebuch oft in ein anderes Zimmer mit, um sich dort die Geschehnisse des Tages durch den Kopf gehen zu lassen. Vermutlich hätte sie darum bitten können, ein eigenes Zimmer zu bekommen, aber Olivias Mutter hielt nichts von sinnloser Verschwendung und sah daher keinerlei Veranlassung, zwei Zimmer zu heizen, wenn eines auch ausreichte.

Miranda machte das nichts aus. Eigentlich war sie sogar dankbar für die Gesellschaft. Ihr Zuhause war in letzter Zeit viel zu ruhig geworden; seit ihre geliebte Mutter vor beinahe einem Jahr gestorben war, lebte Miranda allein mit ihrem Vater. Der hatte sich vor Kummer in seinen kostbaren Manuskripten vergraben und seine Tochter sich selbst überlassen. Miranda hatte Liebe und Trost bei den Bevelstokes gesucht und war mit offenen Armen empfangen worden. Olivia trug Lady Cheever zu Ehren sogar drei Wochen lang Trauer.

»Wenn einer meiner Cousins sterben würde, müsste ich das auch tun«, hatte Olivia bei der Beerdigung gesagt. »Und ich habe deine Mutter viel mehr geliebt, als ich meine Cousins liebe.«

»Olivia!« Miranda war gerührt, dachte aber auch, dass sie das eigentlich schockieren müsste.

Olivia rollte mit den Augen. »Kennst du meine Cousins?«

Daraufhin hatte sie gelacht. Auf der Beerdigung ihrer eigenen Mutter hatte Miranda lachen müssen. Später hatte sie erkannt, dass dies das kostbarste Geschenk war, das ihr die Freundin hätte machen können.

»Ich hab dich lieb, Livvy«, sagte sie.

Olivia ergriff ihre Hand. »Ich weiß«, erwiderte sie leise. »Ich dich auch.« Dann straffte sie die Schultern und nahm ihre ursprüngliche Haltung wieder ein. »Ohne dich wäre ich vollkommen unverbesserlich, weißt du. Meine Mutter sagt oft, dass du der einzige Grund bist, warum ich noch kein unverzeihliches Verbrechen begangen habe.«

Wahrscheinlich war dies der Grund, warum Lady Rudland ihr angeboten hatte, sie eine Saison lang in die Londoner Gesellschaft einzuführen. Nachdem die Einladung gekommen war, hatte ihr Vater erleichtert aufgeseufzt und sie rasch mit dem nötigen Geld ausgestattet. Sir Rupert Cheever war kein außergewöhnlich reicher Mann, aber er hatte genug Geld, um seiner einzigen Tochter eine Saison in London zu bezahlen. Woran es ihm mangelte, das war die nötige Geduld – oder, ehrlich gesagt, das Interesse –, sie selbst einzuführen.

Ihr Debüt verzögerte sich um ein Jahr. Miranda konnte nicht gehen, während sie Trauer um ihre Mutter trug, und Lady Rudland hatte sich entschlossen, Olivia auch warten zu lassen. Zwanzig wäre genauso gut wie neunzehn, hatte sie erklärt. Und es stimmte; keiner zweifelte daran, dass Olivia eine großartige Partie machen würde. Bei ihrem atemberaubenden Äußeren, ihrer lebhaften Persönlichkeit und, wie Olivia selbstironisch erklärte, ihrer saftigen Mitgift würde sie sicher ein Erfolg werden.

Doch Leticias Tod war nicht nur tragisch, sondern auch zeitlich ziemlich ungünstig gewesen: Nun mussten sie eine weitere Trauerzeit abwarten. Allerdings konnte Olivia es bei sechs Wochen bewenden lassen, schließlich war Leticia keine Blutsverwandte gewesen.

Sie würden einfach ein wenig zu spät nach London kommen. Da konnte man nichts machen.

Insgeheim war Miranda froh, denn der Gedanke an London machte ihr furchtbar Angst. Es war nicht direkt so, dass sie schüchtern gewesen wäre, aber sie fühlte sich in großen Menschenmengen nicht wohl, und der Gedanke, dass so viele Leute sie prüfend betrachten würden, war einfach schrecklich.

Kann man nicht ändern, dachte sie, als sie die Treppe hinunterging. Jedenfalls wäre es viel schlimmer, ohne Olivia in Ambleside festzusitzen.

Am Treppenabsatz blieb sie stehen und überlegte, wohin sie sich wenden sollte. In der Bibliothek stand der bessere Schreibtisch, doch im Salon war es meist wärmer, und die Nacht war ziemlich frisch. Andererseits …

Nanu … was war das?

Sie beugte sich vor und sah den Gang hinunter. Jemand hatte in Lord Rudlands Arbeitszimmer ein Feuer entzündet. Miranda konnte sich nicht vorstellen, dass noch jemand auf war – die Bevelstokes gingen normalerweise früh zu Bett.

Leise tappte sie über den Läufer, bis sie die offene Tür erreicht hatte.

»Oh!«

Turner sah vom Schreibtisch seines Vaters auf. »Miss Cheever«, sagte er schleppend, ohne sich aus seiner lässigen Haltung aufzurichten. »Quelle surprise!«

Turner war sich nicht sicher, warum er keineswegs überrascht war, Miss Miranda Cheever in der Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters stehen zu sehen. Als er draußen auf dem Gang Schritte gehört hatte, hatte er sich schon gedacht, dass sie es war. Seine Familie schlief wie die Toten, und es war kaum vorstellbar, dass einer von ihnen auf der Suche nach einem Imbiss oder einem Buch nächtens durch die Flure geisterte.

Aber nicht nur aus diesem Grund war er auf Miranda gekommen. Sie tendierte dazu, die Leute zu beobachten, schon immer; stets betrachtete sie alles und jeden mit ihren eulenhaften Augen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum ersten Mal gesehen hatte – vermutlich war das kleine Ding damals noch am Gängelband geführt worden. Sie gehörte quasi zur Familie, war immer da, selbst zu einer Zeit wie dieser, wo die Familie eigentlich unter sich sein sollte.

»Ich gehe schon«, sagte sie.

»Nein, bleiben Sie«, erwiderte er, weil … warum eigentlich?

Weil ihm nach Schabernack zumute war?

Weil er zu viel getrunken hatte?

Weil er nicht allein sein wollte?

»Bleiben Sie«, erklärte er mit weit ausholender Geste. Irgendwo würde sich für sie doch ein Sitzplatz finden lassen. »Trinken Sie ein Gläschen.«

Sie riss die Augen auf.

»Und ich dachte, die könnten nicht größer werden«, murmelte er.

»Ich kann nicht trinken.«

»Sie können nicht?«

»Ich sollte nicht«, korrigierte sie sich, und er glaubte zu sehen, wie sie die Stirn runzelte. Gut, er hatte sie verärgert. Das freute ihn, dass er immer noch in der Lage war, eine Frau zu provozieren, selbst wenn sie nur so wenig von der Welt gesehen hatte wie sie.

»Wenn Sie schon mal hier sind«, meinte er achselzuckend, »können Sie auch einen Brandy trinken.«

Einen Augenblick stand sie ganz still, und er hätte schwören mögen, dass er es in ihrem Gehirn rattern hörte. Schließlich legte sie ihr schmales Buch auf einen Tisch an der Tür und trat vor. »Aber nur einen.«

Er lächelte. »Weil Sie Ihre Grenzen kennen?«

Sie begegnete seinem Blick. »Weil ich meine Grenzen nicht kenne.«

»So jung und schon so weise«, murmelte er.

»Ich bin neunzehn«, erklärte sie, nicht trotzig, nur nüchtern konstatierend.

Er hob eine Augenbraue. »Wie ich schon sagte …«

»Als Sie neunzehn waren …«

Er lächelte spöttisch, weil sie den Satz nicht beendete. »Als ich neunzehn war«, wiederholte er und reichte ihr ein großzügig eingeschenktes Glas Brandy, »war ich ein Dummkopf.« Er schaute das Glas an, das er sich selbst eingeschenkt hatte, eine ebenso große Portion wie für Miranda, und stürzte es in einem langen, befriedigenden Zug hinunter.

Dumpf schlug das Glas auf dem Tisch auf, und Turner lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wie alle Neunzehnjährigen, sollte ich hinzufügen«, schloss er.

Neugierig betrachtete er sie. Sie hatte ihren Brandy nicht angerührt. Hingesetzt hatte sie sich auch nicht. »Anwesende möglicherweise ausgenommen«, berichtigte er sich.

»Ich dachte, Brandy trinkt man aus einem Cognacschwenker«, meinte sie.

Er beobachtete, wie sie sich vorsichtig hinsetzte. Der Stuhl stand nicht neben ihm, aber auch nicht gegenüber. Ihre Blicke ließen ihn nicht los, und er fragte sich, was sie befürchtete. Dass er sich auf sie stürzte?

»Brandy«, begann er, als redete er vor einem Publikum, das mehr als eine Zuhörerin zählte, »wird am besten in dem Glas serviert, das gerade zur Hand ist. Im vorliegenden Fall …« Er hob das schwere Wasserglas, beobachtete, wie der Feuerschein auf den Facetten tanzte, und machte sich nicht die Mühe, den Satz zu vollenden. Irgendwie schien das nicht nötig, und außerdem war es ihm gerade wichtiger, sich nachzuschenken.

»Prost.« Und runter damit.

Er sah sie an. Sie saß immer noch da und beobachtete ihn. Ob missbilligend, das konnte er nicht beurteilen, dazu war ihre Miene zu undurchdringlich. Aber er wünschte, sie würde etwas sagen. Egal was, selbst wenn es irgendein Unsinn über Stielgläser war, Hauptsache, es lenkte ihn von dem Umstand ab, dass es erst halb zwölf war und er immer noch dreißig Minuten totzuschlagen hatte, ehe dieser schreckliche Tag endgültig vorüber war.

»Sagen Sie, Miss Cheever, wie hat Ihnen der Gottesdienst gefallen?«, fragte er, und sein Blick forderte sie heraus, etwas jenseits der üblichen Plattitüden zu äußern.

In ihrem Gesicht zeigte sich Überraschung – die erste Gefühlsregung an diesem Abend, die er eindeutig erkannte. »Sie meinen die Beerdigung?«

»Einen anderen Gottesdienst gab es heute nicht«, erwiderte er erstaunlich munter.

»Ich fand es, nun, interessant.«

»Nun kommen Sie, Miss Cheever, Ihnen fällt doch sicher etwas Besseres ein.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Leticia hatte das auch immer gemacht, erinnerte er sich. Damals, als sie noch vorgab, ein unschuldiges junges Mädchen zu sein. Sobald sie seinen Ring am Finger stecken hatte, hatte sie damit aufgehört.

Er goss sich einen weiteren Drink ein.

»Meinen Sie nicht …«

»Nein«, widersprach er energisch. An einem Abend wie diesem konnte man gar nicht genug Brandy trinken.

Und dann streckte sie die Hand aus, hob ihr Glas und nahm einen Schluck. »Ich fand Sie wunderbar.«

Verdammt. Er hustete und spuckte, als wäre er hier die Unschuld, die ihren ersten Schluck Brandy kostete. »Wie bitte?«

Sie lächelte gelassen. »Vielleicht wäre es eine gute Idee, kleinere Schlucke zu nehmen.«

Gereizt starrte er sie an.

»Es kommt nicht oft vor, dass jemand ehrlich ist, wenn er von einem Verstorbenen redet. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob der Ort wirklich angemessen war, aber … nun ja … sie war wirklich nicht besonders nett, oder?«

Sie wirkte so gelassen, so unschuldig, aber ihr Blick war scharf.

»Aber Miss Cheever«, murmelte er. »Ich glaube fast, Sie sind ein wenig rachsüchtig.«

Sie zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Brandy – einen kleinen, wie er bemerkte. »Keineswegs«, behauptete sie, doch er war sich ziemlich sicher, dass er ihr das nicht glaubte, »aber ich bin eine gute Beobachterin.«

Er lachte leise. »Allerdings.«

Sie versteifte sich. »Wie bitte?«

Offensichtlich hatte er sie aus der Ruhe gebracht. Er wusste nicht, warum er das so befriedigend fand, aber er konnte sich nicht helfen, er genoss es. Und er hatte schon lange nichts mehr genossen. Er beugte sich vor, nur um zu sehen, ob er sie noch weiter verunsichern konnte. »Ich habe Sie beobachtet.«

Sie wurde bleich. Das sah er selbst im schwachen Schein des Feuers.

»Und wissen Sie, was ich entdeckt habe?«, murmelte er.

Sie öffnete den Mund, schüttelte dann aber nur den Kopf.

»Dass Sie mich beobachtet haben.«

Sie sprang auf, so unvermittelt, dass sie beinahe ihren Stuhl umgeworfen hätte. »Ich gehe jetzt besser«, erklärte sie. »Das hier ist höchst ungebührlich, es ist spät, und …«

»Ach, kommen Sie, Miss Cheever«, unterbrach er sie und erhob sich ebenfalls. »Regen Sie sich nicht auf. Sie beobachten doch jeden. Glauben Sie, ich hätte das nicht bemerkt?«

Er streckte die Hand aus und fasste sie am Arm. Sie erstarrte. Doch sie drehte sich nicht um.

Sein Griff verstärkte sich. Nur eine Spur. Nur so viel, um sie am Gehen zu hindern, denn er wollte nicht, dass sie ihn verließ. Er wollte nicht allein sein. Vor ihm lagen noch zwanzig Minuten, und er wollte, dass sie zornig war, genauso zornig wie er. Er war seit Jahren schon zornig.

»Sagen Sie, Miss Cheever«, flüsterte er und legte ihr sanft zwei Finger unters Kinn. »Sind Sie schon einmal geküsst worden?«

2. KAPITEL

Es wäre keine Übertreibung gewesen zu sagen, dass Miranda jahrelang von diesem Augenblick geträumt hatte. In ihren Träumen hatte sie allerdings immer gewusst, was sie sagen sollte. In Wirklichkeit war sie leider weitaus weniger beredt. Sie konnte ihn nur anstarren, atemlos – wortwörtlich, dachte sie, denn sie bekam wirklich keine Luft.

Seltsam, sie hatte es immer für eine Metapher gehalten. Atemlos. Atemlos.

»Dachte ich mir doch, dass nicht«, sagte er gerade, und sie hörte ihn kaum, weil sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Sie sollte weglaufen, doch sie war wie erstarrt, sie sollte es nicht tun, aber sie wollte es, zumindest dachte sie, dass sie es wollte – jedenfalls glaubte sie das, seit sie zehn Jahre alt war, obwohl sie gar nicht genau wusste, was sie da eigentlich wollte, und …

Und seine Lippen berührten die ihren. »Bezaubernd«, murmelte er und hauchte ihr zarte, verführerische Küsse auf die Wange, bis hinab zu ihrem Kinn.

Himmlisch fühlte es sich an. So etwas hatte sie noch nie gefühlt. In ihr herrschte eine merkwürdige Anspannung, etwas reckte und streckte sich. Sie wusste nicht genau, was sie tun sollte, und so blieb sie einfach stehen und empfing seine Küsse, vom Kinn zu den Wangen und zurück zu den Lippen.

»Öffne den Mund«, raunte er, und sie gehorchte, weil es Turner war und weil sie es wollte. Hatte sie sich das nicht immer schon gewünscht?

Sie spürte seine Zunge, und dann zog er sie noch enger an sich. Seine Finger forderten, und dann forderte auch sein Mund, und sie erkannte, dass das alles nicht richtig war. Das war keineswegs der Augenblick, von dem sie seit Jahren träumte. Er wollte sie gar nicht. Auch wenn sie nicht wusste, warum er sie dann küsste, aber er wollte sie nicht. Und Liebe empfand er für sie erst recht keine. In seinem Kuss lag keinerlei Zärtlichkeit.

»Küss mich, verdammt«, knurrte er und presste die Lippen noch nachdrücklicher auf die ihren. Sein Kuss war hart und zornig, und zum ersten Mal keimte in Miranda Angst auf.

»Nein«, versuchte sie zu sagen, konnte sich seiner Lippen aber nicht erwehren. Mit der Hand umfasste er ihr Gesäß und drückte sie auf intimste Weise an sich. Und sie verstand einfach nicht, wie es möglich war, den Kuss zu wollen und dann doch nicht, gleichzeitig Erregung und Furcht zu empfinden, ihn zur selben Zeit und im selben Maß zu lieben und zu hassen.

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