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Böse

Das beschauliche Dorf Hussfeld gilt als eines der sichersten in ganz Deutschland. Hier gibt es niemanden, der sich nicht an die Regeln hält. Als Katharina mit ihrer Teenagertochter Fenja nach Hussfeld zieht, ist sie davon überzeugt, für sich und ihr Kind die beste Entscheidung getroffen zu haben. Doch dann verschwindet Fenja spurlos, und ein unvorstellbarer Alptraum beginnt. Ein Alptraum, der in die tiefsten Abgründe menschlichen Wahns führt. Denn nichts ist so unberechenbar wie der Mensch. Und nichts ist so böse.

»Er [Jonas Wagner] versteht es, Spannung aufzubauen. Und noch zu steigern.« Alexander Kluy, Buchkultur, 14.10.2021

»Jonas Wagner [legt] mit "Böse" einen Thriller mit einem exzellenten Spannungsbogen aufs Papier.« Björn Schubeús, Lebensart, 12.2021


  • Erscheinungstag: 01.09.2021
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951031
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Die 101 verschwamm beinahe mit der Umgebung, so trüb war es an diesem Tag. Regen und Dämmerung tauchten die Landschaft in ein undurchdringliches Grau, sodass man nur ein paar Meter der Straße erkennen konnte. Landschaft! Fenja schnaubte. Ja, Landschaft hatten sie hier viel. Aber sonst war die Gegend so tot, dass einem schlecht werden konnte. Was hätte sie darum gegeben, wieder in Coburg zu leben. Vor ein paar Monaten noch hatte sie Coburg für den Arsch der Welt gehalten. Aber gegen das hier war Coburg so was wie Manhattan. Selbst Chemnitz wäre besser gewesen. Fenja rutschte im nassen Gras am Straßenrand aus und wäre beinahe hingefallen. Fluchend stolperte sie ein paar Schritte in die Mitte der Fahrbahn. Würde eh kein Auto kommen. Um die Uhrzeit schliefen die Einwohner alle. Einwohner! Klang fast ein bisschen wie Eingeborene. Wilde. Fenja lachte bitter. Wo war sie hier nur gelandet? Warum hatte sich ihre Mutter ausgerechnet hier Arbeit gesucht? Schon klar, Mama war davongelaufen. Wollte »neu anfangen«. Aber wieso, zur Hölle, sollte irgendjemand ausgerechnet hier neu anfangen? Hier, wo man wirklich am Arsch der Welt war!

Der Regen fühlte sich an, als würden ihr die Tränen herunterlaufen. Aber Fenja war einigermaßen sicher, dass sie nicht heulte. Nicht mehr. Hatte sie am Anfang ein paarmal. Aber seit sie John hatte, ging es besser. Irgendwie war das erste Treffen mit ihm wie … wie ein Sonnenaufgang gewesen. Ja, wie ein Sonnenaufgang.

Lichter. Hastig verzog sie sich wieder an den Straßenrand. Irgendwer war tatsächlich um diese Zeit auf dieser bescheuerten Landstraße unterwegs. Konnte sich nur um einen Fremden handeln. Die Eingeborenen lagen schließlich brav in ihren Betten. Außerdem fuhren die nicht so schnell. Dazu waren die alle zu ordentlich. Eben doch keine Wilden. Aber der hier, der war wirklich erstaunlich schnell unterwegs! Und das bei den Sichtverhältnissen! Das Scheinwerferlicht machte den Regen noch undurchdringlicher. Fenja hielt sich die Hand vors Gesicht, geblendet von dem rasch näher kommenden Strahl. Hoffentlich sah er sie! Zur Sicherheit ging sie noch ein Stück näher an den Rand. Der Wagen war fast da, als sie ausrutschte und rückwärts die Böschung runterfiel. Es war kein schwerer Sturz, und es tat nicht wirklich weh. Aber dennoch fluchte Fenja und hielt sich den Kopf. Einen Moment brauchte sie, um wieder zur Besinnung zu kommen. Dann versuchte sie, sich aufzurappeln. War der Wagen weg? Oder hatte er angehalten? Noch etwas schwindlig auf den Beinen drehte sie sich um – dann wurde es schwarz um sie.

I.

So still, so friedlich lag Hussfeld vor ihnen, dass Katharina Bosch seufzte. »Sieh dir nur dieses zauberhafte Örtchen an!«, rief sie und deutete auf eine Wiese neben der Straße. »Sogar Schafe haben sie hier.«

Fenja verdrehte die Augen. »Ja. Klar. Das wollte ich immer. An einem Ort leben, wo die Schafe grasen.«

»Wir werden es uns schön machen, glaub mir«, erklärte Katharina. »Ich hab eine hübsche Wohnung gefunden, zwei Zimmer, eins für dich, eins für mich. Eine kleine Küche haben wir, Badezimmer …«

»Sag bloß.«

»Jetzt sei doch nicht so!« Katharina seufzte. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie mit siebzehn genauso gewesen war, aber es gelang ihr nicht. Vermutlich ja. Doch seit ihre Mutter vor zwei Jahren gestorben war, gab es niemanden, den sie hätte fragen können. Nun, sie hätte es auch nicht gewollt. »Wart’s ab«, sagte sie. »Du wirst es noch lieben.«

»Ganz bestimmt«, erwiderte Fenja und versuchte vergeblich, so was wie ein Handynetz zu finden.

»Ist auch gar nicht mehr weit.«

»Wie auch?«

Katharina seufzte. Sie konnte ihre Tochter ja verstehen. Aufs Land zu ziehen war in dem Alter natürlich nicht das, was man sich wünschte. Schon gar nicht in der Gegend. Chemnitz war zwar nicht weit, aber es war eben Chemnitz. Und sonst gab es nicht viel. Aber Katharina hatte einen Job gebraucht, mit dem sie endlich aus den Schulden kommen konnte. Und ja, eine Luftveränderung hatte sie sich auch gewünscht. Sie war entschlossen, es gut zu machen, auch für Fenja. »Ich möchte gerne noch rasch in die Kirche gehen, bevor wir uns die Wohnung ansehen, ja?«

»Echt jetzt? Bist du auf einmal religiös geworden?« Fenja sah ihre Mutter an, als wäre sie von einem anderen Planeten.

»Quatsch. Aber ich finde, das ist eine … eine … Es ist einfach gut.«

»Entschuldige bitte: Was ist gut?«

»Damit zu beginnen. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen.«

»Mhm.« Fenja tippte irgendetwas in ihr Handy und achtete gar nicht darauf, dass ihre Mutter auf einen Parkplatz fuhr, wo der Wagen unter einem riesigen alten Baum auf knirschendem Kies zum Stehen kam.

»Komm! Steig aus!«

Ohne den Blick von ihrem Smartphone zu nehmen, öffnete Fenja die Tür und setzte ein Bein nach draußen, nur um es im nächsten Moment kreischend zurückzuziehen. »Was war das?« Sie starrte auf den Boden und sah gerade noch, wie etwas Schlangenartiges zwischen ein paar Gräsern beim Baum verschwand. »Das war eine Schlange, Mama!«, keuchte sie.

»Ach komm, hier gibt’s doch keine Schlangen.«

»Ich schwöre, das war ’ne Schlange!«

»Und wenn schon«, sagte Katharina, und es klang gelassener, als sie sich in dem Moment fühlte. »Die hat sich bestimmt mehr erschreckt als du.«

»Hm. Dürfte nicht gut möglich sein.« Fenja beugte sich aus dem Auto und untersuchte den Boden, als könnten Kriechtiere hier in ganzen Horden unterwegs sein. Erst dann stieg sie mit einem unguten Gefühl aus. Wenn der Zweck des Abstechers gewesen war, so was wie ein gutes Omen für die Zeit in Hussfeld zu bewirken, dann war das jedenfalls schon mal verdammt schiefgegangen. Fenja wusste jetzt schon, dass sie das Kaff hasste. »Hassfeld« taufte sie es heimlich für sich. Ihre neue Heimat: das Dorf am Ende der Welt.

*

Die Kirche lag idyllisch auf einem kleinen Hügel, umgeben von einem Friedhof, der aussah, als wäre er schon jahrhundertealt. Vermutlich war er es. Hohe Bäume ragten über dem schmalen Weg empor, der zum Portal führte. Alles erschien klein und aufgeräumt und verwunschen. Es war ein sonniger Sommernachmittag. Drinnen strahlten die Fenster in tausend Farben. Doch im Übrigen schien die Kirche von trostlosem Grau. Und kalt war es hier. Eisig geradezu, vor allem wenn man von draußen kam, wo es bestimmt an die dreißig Grad waren. Fenja fröstelte. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Mach schnell, ja?«, sagte sie.

Katharina, die etwas ratlos vor dem hölzernen Kreuz stand, das über dem Altar hing, nackt und schmucklos, nickte. »Klar. Du kannst auch draußen auf mich warten, wenn du möchtest. Ich komme gleich.«

Fenja nickte und lief rasch wieder hinaus auf den Kirchhof, der auch ein Friedhof war, suchte sich ein Plätzchen außerhalb des Schattens der Baumriesen und fand ihn an einer weiß gestrichenen Mauer, die zu einem Bogengang gehörte. Er war ein Teil der Mauer, die die Kirche umgab, und endete hier in einem kleinen Gebäude mit vergitterten Fenstern. Es sah aus, als hätte sich das alles seit dem Mittelalter nicht verändert. Fenja machte ein Selfie und löschte es gleich wieder. Nein, von hier würde sie keine Bilder hochladen.

»Wollen wir?«, rief Katharina, als sie wieder nach draußen trat.

»Wenn’s sein muss«, erwiderte Fenja und warf ihr ein schräges Grinsen zu.

Sie waren schon an der kleinen Pforte des Kirchhofs angelangt, da hielt Katharina ihre Tochter am Arm fest. »Schatz?«

»Hm?«

Sie holte tief Luft. »Ich weiß, dass das hier nicht leicht für dich ist. Aber ich verspreche dir, wir machen es uns schön, ehrlich. Weißt du, wir brauchen einfach wieder so was wie eine Zukunft.« Leise fügte sie hinzu: »Ich brauche wieder eine Zukunft. Auch für dich, Fenja.«

Ihre Tochter nickte. »Ich weiß, Mama. Es ist nur …« Was immer sie sagen konnte, würde nur einen Teil dessen ausdrücken, was Fenja umtrieb – den kleinsten Teil. Eigentlich konnte man das alles gar nicht sagen. Schon deshalb, weil sie selbst noch nicht einmal wirklich genau wusste, wo ihr ganzer Frust anfing und wo er aufhörte – falls er überhaupt ein Ende hatte.

Statt etwas zu erwidern, nahm Katharina ihre Tochter in den Arm und drückte sie fest. »Du bist die Beste.«

»Du auch, Mama.« Stimmte ja. Irgendwie. Obwohl die Aktion hier natürlich krass scheiße war. Aber es nützte nichts, ihre Mutter hatte die Chance verdient, so viel war klar. »Lass uns die Traumwohnung anschauen fahren.«

»Guter Plan!«, rief Katharina und hakte sich bei ihrer Tochter unter. Mit schnellen Schritten liefen sie zurück zum Wagen und waren schon wenige Augenblicke später wieder auf der Straße. Die Blicke, die sie aus dem Bogengang der Kirche beobachteten, bemerkte keine von beiden.

*

Die Wohnung war tatsächlich hübscher, als Fenja erwartet hatte. Klein, ja, zwei Zimmer, Küche, Bad. Aber mit einem Balkon, auf den die Sonne schien, Blick Richtung Wald und irgendwie süßen Kacheln über der Spüle, auf denen kleine Blümchensticker klebten. Das war zwar megaspießig, aber auch ein bisschen rührend. Fenja konnte ihre Mutter verstehen, dass sie sich das nett vorstellte hier. Nur wir zwei, du und ich, hatte sie gesagt. Und Fenja hatte gedacht: Klingt gruselig. Aber ihre Mutter war schon in Ordnung, da gab es echt schlimmere. Und vielleicht ging ja hier in der Gegend bei den Jugendlichen auch einiges, und man erkannte es bloß nicht auf Anhieb. So wie sie. »Ist nett«, sagte sie und spürte förmlich, wie ihre Mutter aufatmete.

»Findest du? Das freut mich so!«

»Also, wir haben es hier im Haus gerne ruhig«, erklärte die Vermieterin, die hinter ihnen her durch die Wohnung schlich und so misstrauisch dreinguckte, als wären die beiden Frauen aus Coburg überhaupt nur hier aufgetaucht, um Ärger zu machen. Frau Kleve. Fenja hasste sie jetzt schon.

»Wir auch«, stimmte Katharina ihr zu. »Das ist doch wundervoll, nicht wahr?«

Diesmal sagte Fenja lieber nichts, sondern ging hinüber in das Zimmer, das ihres sein sollte. Zehn Quadratmeter. Vielleicht zwölf? Sicher nicht mehr. Aber wenn erst einmal die Möbel da waren, würde es fast genauso aussehen wie ihr altes. Nur mit der besseren Aussicht.

»Wenn Sie eine Feier planen«, erklärte die Vermieterin und schielte ziemlich eindeutig Richtung Tochter, »dann sind die Mitbewohner im Haus rechtzeitig zu informieren, ich will hier keinen Unfrieden.«

»Wir auch nicht, Frau Kleve«, beeilte sich Katharina zu versichern. »Seien Sie ganz unbesorgt.«

Die Vermieterin nickte. Offenbar war es das, was sie hatte hören wollen. »Hussfeld ist ein guter Ort«, sagte sie. »Ein friedlicher Ort. Hier passiert nie etwas. So soll das auch bleiben.«

»Das ist ganz in unserem Sinn, Frau Kleve. Vielen Dank.«

Die Vermieterin war schon im Begriff zu gehen, da wandte sie sich noch einmal um. »Und weshalb sind Sie noch mal hierhergezogen?«

»Die Arbeit«, erklärte Katharina. »Ich habe eine Stelle bei Krummbach + Krummbach in Ehrweg angenommen.«

»Bei Krummbach, mhm. Gut. Und einen Herrn Bosch gibt es nicht?«

»Nicht mehr. Also: Wir sind geschieden.«

»Mhm. Na, geht mich ja nichts an.«

Für Fenja klang es nicht so, als würde sie das wirklich denken. »Wohnen Sie eigentlich auch hier?«, fragte sie voll banger Vorahnung.

»Im Erdgeschoss«, erwiderte die Vermieterin.

Damit war klar, dass sie jeden im Auge hatte, der ins Haus kam oder von hier wegging. Sie wusste immer, wer von ihren Mietern gerade da war, wer sich nachts herumtrieb, wer jemanden mitbrachte … Schöne Aussichten.

»Also«, sagte Frau Kleve noch einmal. »Dann mal willkommen in Hussfeld. Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl.«

»Das werden wir ganz bestimmt«, erwiderte Katharina. »Vielen Dank, Frau Kleve.« Sie nahm die Schlüssel, die ihr die Vermieterin hinhielt. Dann begleitete sie sie zur Tür und schloss sie so leise hinter ihr, dass man buchstäblich nichts hörte.

Da fiel Fenja zum ersten Mal auf, wie unfassbar still es hier war. Totenstill geradezu, dachte sie und blickte erschrocken auf ihre Mutter, die ihr so starr den Rücken zudrehte, als hätte sie in dem Moment genau denselben Gedanken gehabt.

*

Während Katharina sich auf den Weg machte, um den ersten Einkauf zu erledigen, setzte sich Fenja auf den Boden in ihrem Zimmer und sah nach, was es Neues gab. Es war unglaublich: Die Sommerferien waren noch nicht zu Ende, aber irgendwie fand sie schon gar nicht mehr statt in den Gruppen. Sicher, sie hatte jetzt nicht irre viel geschrieben oder gepostet, aber es war auffällig, dass sich eigentlich schon keiner mehr bei ihr meldete, ihr was schickte, sie irgendetwas fragte. Sie lief nur noch mit. Die Schweine hatten sie alle schon vergessen. Es war nicht so, dass sie viele besonders enge Freundschaften gehabt hätte in Coburg. Aber hey, Carla hätte trotzdem mal fragen können, wie es in Hussfeld so ist. Jenny hätte sich interessieren können oder Tilo. Stattdessen posteten sie Bilder aus dem Urlaub und bescheuerte TikTok-Videos und machten ihr eigenes Ding.

Sie steckte das Handy weg. Immerhin hatte sie hier ein Netz, das war schon mal gut, ein Pluspunkt für diese Wohnung. Sie stand auf und ging herum. Irgendwann heute sollte auch der Möbelwagen kommen. Eigentlich war es nicht einzusehen, warum der so lange brauchte. Die fuhren doch die gleiche Strecke wie sie und ihre Mutter.

Fenja machte die Fenster auf. Alle. Luft! Sie lehnte sich ans Fenster im Wohnzimmer, das zugleich das Schlafzimmer ihrer Mutter war – dafür hatten sie extra ein ausziehbares Sofa gekauft. Vor dem Haus gab es einen Parkplatz, der ein bisschen überdimensioniert schien. Vor allem war er hässlich. Aber auf der anderen Straßenseite stand ein hübsches grün gestrichenes Bushäuschen, auf das irgendjemand in Rosa »Süße Sau« gepinselt hatte. Fenja musste grinsen. Ganz tot schien es also nicht zu sein hier. Und ganz so brav, wie Frau Kleve tat, war’s wohl auch nicht. Sie machte ein Foto und schickte es in die Gruppe: #niceplace2stay. Allerdings ohne Reaktion. Na ja, vielleicht später.

Solange der Möbelwagen noch nicht da war, konnte sie sich noch im Haus umsehen. Den Keller hatte ihnen die Vermieterin gar nicht gezeigt. Aber den hatte Mama vermutlich bei der ersten Besichtigung gesehen. Das Treppenhaus war düster und eng. Enger, als man bei so einem Haus gedacht hätte. Und es roch nach kaltem Essen. Eintopf oder so. Irgendwas mit Kohl. Fenja spürte, wie sich ihr Magen hob, obwohl sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Eine Tür ging nach hinten raus. Sie war abgesperrt. Natürlich. Aber der Wohnungsschlüssel passte auch hier.

Als Fenja nach draußen trat, fühlte sie sich wie auf einem Gefängnishof. Eine Mauer von mindestens drei Metern Höhe erstreckte sich auf beiden Seiten des Hauses zu einer Reihe von Garagen hin, deren Blechtore rotbraun gestrichen waren – und alles, was es auf dieser Fläche gab, war ein geteerter Boden und am Rand zwei Teppichstangen. Trostloser hätte es nicht sein können. Seitlich war eine Einfahrt von der Straße her. Fenja drehte sich um und betrachtete das Haus, bemerkte, wie jemand im zweiten Stock hinter einem Vorhang verschwand, machte sich heimlich lustig über die Massen an Topfpflanzen, die auf den Fensterbänken standen, schoss ein paar Fotos und ging dann wieder hinein, um in die leere Wohnung hochzusteigen und auf ihre Mutter zu warten oder auf den Umzugswagen, wer immer zuerst hier ankam.

In ihrem Zimmer sah sie sich noch mal die Aufnahmen an, die sie gemacht hatte: Alpenveilchen, einen Riss in der Hauswand, Garagentore, die »Süße Sau«, der kleine Bau an der Kirchenmauer mit dem Fenster, an das sie sich gelehnt hatte. Auf der anderen Seite des Fensters schien jemand zu stehen. Neugierig zoomte Fenja ins Bild hinein. Tatsächlich war im Dunkel des Inneren eine Gestalt zu erkennen, ein Gesicht hauptsächlich, blass und ernst, aus dem große dunkle Augen in ihre Richtung starrten, während die Hände … Fenja hielt den Atem an, verschob das Foto ein wenig, um den unteren Teil besser zu sehen, den Teil, auf dem zu erkennen war, wie diese Hände auf einem blank polierten Stück Holz lagen. Sie spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen aufstellten. Das war nicht einfach ein Stück Holz. Das war ein Sarg.

*

Hussfeld war ein kleines Paradies. Katharina war ja schon ein paarmal hier gewesen, zur Besichtigung der Wohnung und zur Unterzeichnung des Mietvertrags. Ihr war auch dabei schon aufgefallen, dass es ein idyllisches Örtchen war, wo die Welt noch in Ordnung schien. Die Straßen und Wege waren gepflegt und reinlich wie in der Schweiz – jedenfalls stellte sich Katharina die Schweiz so vor –, zwischen den bürgerlichen Häusern aus jüngerer Zeit standen tatsächlich noch einige Fachwerkanwesen aus dem vorletzten Jahrhundert, wenn sie nicht noch älter waren. Sicher, es gab auch ein paar Wohnblöcke aus der DDR-Zeit, so wie der, in dem sie nun eine Wohnung gefunden hatte. Aber auch die waren halbwegs ansehnlich und jedenfalls gut gepflegt. Dort, wo die Straße einen Knick machte, war sogar so etwas wie ein Ortskern erkennbar, an dem auch das Rathaus lag – hinter einer mächtigen Buche, unter der sich drei Parkbänke gruppierten, auf denen allerdings niemand saß. Überhaupt schienen die Bewohner von Hussfeld gut beschäftigt. Denn was ebenfalls auffiel, war, dass kaum jemand unterwegs war.

Immerhin, im Supermarkt waren ein paar Kunden und in der Apotheke ebenfalls. Katharina kaufte erst einmal nur das Nötigste: Milch, Eier, zwei Päckchen Nudeln, Brot, Butter, Marmelade und nebenan Aspirin, und sie löste ihr Rezept für die Pille ein, obwohl sie für die eigentlich schon länger keine Verwendung hatte – weshalb sie auch noch ein Päckchen Kondome mitnahm. Zur Not würde sie die an Fenja abtreten, auch wenn die ebenfalls Single und Katharinas Einschätzung nach noch Jungfrau war. Vielleicht würde sie ja hier ihren ersten Freund finden. Wahrscheinlich! Das Mädchen war immerhin schon siebzehn. Und dann war es gut, wenn das Nötige zur Hand war. Ein wenig bang war Katharina wegen der kleinen Wohnung. Schwer vorstellbar, wie das werden würde, wenn sie nebenan im Wohnzimmer war, und Fenja hätte einen Freund bei sich. Aber man würde sehen. Sie selbst hatte ihre Unschuld ja auch nicht bei sich zu Hause verloren.

»Beides?«, fragte der Apotheker mit Blick auf das Rezept und die Kondome.

»Beides bitte«, erklärte Katharina und lächelte ihn freundlich an.

Er erwiderte das Lächeln nicht, sondern runzelte kaum merklich die Stirn. »Gerne«, sagte er. Klang aber nicht so. Als er das Päckchen mit der Pille auf die Theke legte, musterte er Katharina. »Sie sind neu hier?«

»Ja«, sagte sie. »Katharina Bosch. Ich wohne jetzt mit meiner Tochter bei Frau Kleve. Oben beim …«

»Ich weiß, wo Frau Kleve wohnt«, erklärte der Apotheker. »Und jetzt machen Sie die wichtigsten Besorgungen«, bemerkte er mit Blick auf ihre Einkaufstasche.

»Genau so ist es. Wir freuen uns, dass wir hier sind.«

»Ja.« Er scannte die Codes der beiden Päckchen. »Das macht zweiundvierzig siebzig.«

Katharina reichte ihm einen Fünfziger über die Theke.

»Ist ein guter Ort hier«, sagte der Apotheker. »Man kann gut in Hussfeld leben. Wenn man sich ein wenig auf die Leute einstellt …« Er ließ das im Raum stehen, ohne es zu erklären. »Die Hussfelder legen Wert auf Ruhe und Ordnung.«

Vielleicht fürchtete er ja, zwei Frauen, die sich erst einmal mit Empfängnisverhütungsmitteln eindeckten, könnten die öffentliche Moral gefährden. Katharina lächelte ihm noch einmal zu und deutete ein Zwinkern an. »Damit bin ich sehr einverstanden«, sagte sie. »Das werden wir auf jeden Fall beachten.« Sie nahm das Wechselgeld und wandte sich zur Tür. Doch ehe sie sie öffnen konnte, hörte sie den Apotheker in ihrem Rücken: »Haben Sie sich schon gemeldet? Im Rathaus?«

»Heute ist Samstag«, erwiderte Katharina und sah dem Mann ins Gesicht. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? »Ich wollte mich gleich am Montag darum kümmern.«

Der Apotheker nickte. »Ist immer gut, wenn man weiß, wer im Ort wohnt.«

»Ganz meine Meinung, Herr …«

Er überhörte die unausgesprochene Aufforderung, ihr auch seinen Namen zu nennen.

»Also dann, danke.«

»Schönen Tag noch.«

»Ihnen auch, Herr Apotheker.«

*

Die Sonne strahlte, aber die etwas eigenartige Atmosphäre in der Apotheke hatte Katharina ein wenig die Laune verdorben. Auf dem Rückweg konnte sie sich an der Aufgeräumtheit und der Gepflegtheit des Örtchens nicht mehr in der gleichen Weise freuen wie vorhin noch. Sie beschloss, sich für einen Augenblick auf eine der Bänke vor dem Rathaus zu setzen. Die Tasche stellte sie neben sich und holte ihr Handy hervor, um Fenja anzurufen. »Fenny? Alles gut bei dir? War der Möbelwagen schon da?«

»Fährt gerade vors Haus. Ich geh jetzt runter und mach denen auf.«

»Wieso haben die so lange gebraucht?«

»Das fragst du mich? Keine Ahnung.«

»Okay, ich bin gleich da.«

»Alles klar. Bis gleich.«

»Bis gleich.«

Sie hätte noch eine Flasche Sekt oder wenigstens Wein mitnehmen sollen, um heute Abend mit Fenja auf das neue Zuhause anzustoßen, eigentlich auf einen ganz neuen Lebensabschnitt. Denn der Umzug bedeutete ja nicht nur eine neue Wohnung, sondern auch eine andere Schule für ihre Tochter, eine neue Arbeitsstelle für sie, neue Nachbarn, im Grunde eine ganz neue Art zu leben. Kurz entschlossen ging Katharina noch einmal in den Supermarkt und sah sich im Weinregal um. Sie verstand nicht viel von Wein, aber dass die Auswahl hier einigermaßen gruselig war, das verstand sie durchaus. Aus einer Laune heraus griff sie zu einer Flasche Rotkäppchen-Sekt und ging an die Kasse. »Die hier hatte ich noch vergessen.«

»Sonst nichts?«, fragte die Kassiererin und starrte auf Katharinas Einkaufstasche.

»Die anderen Sachen sind von vorhin«, erklärte Katharina. »Wollen Sie sehen?« Sie hob die Tasche hoch, sodass die Kassiererin einen Blick hineinwerfen konnte.

»Nein. Das passt. Wir haben hier Vertrauen zueinander.« Die Frau an der Kasse nahm das Geld, gab Wechselgeld heraus und sah Katharina hinterher, als wollte sie sichergehen, dass sie auf dem Weg zum Ausgang nicht noch irgendetwas mitgehen ließ.

Vor der Tür wäre Katharina beinahe in einen Mann gelaufen, der auf dem Weg zum Rathaus schien. »Oh! Entschuldigung!«, stotterte sie.

»Meine Schuld«, behauptete der Mann und nickte ihr freundlich zu. Er mochte in Katharinas Alter sein, ein unauffälliger Mensch, mittelgroß, ordentlich rasiert, kurzes Haar, Sakko, glänzend geputzte Schuhe. Das fiel Katharina immer gleich auf, weil sie selbst nicht besonders sorgfältig beim Schuheputzen war. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er zu allem Überfluss und gewann damit sofort Katharinas Sympathie. Es gab also auch nette Menschen hier.

»Nein, nein«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich muss mich jetzt nur beeilen. Wir sind neu im Ort, und meine Tochter hat mich gerade wissen lassen, dass die Möbel angekommen sind.«

»Ach, dann sind Sie die Familie, die bei Frau Kleve einzieht!«

»Das wissen Sie schon?«

»Gehört zu meinen Aufgaben«, erklärte der Mann. »Ich bin der Bürgermeister hier.« Er lachte. »Und der Vorsitzende der freiwilligen Feuerwehr. Und der Vorstand der Gemeindebibliothek. Und … ach. Sie kommen also nicht um mich herum.«

»Verstehe«, sagte Katharina mit einem Lächeln. »Das ist ja nett. Also, freut mich, ähm, Katharina Bosch.« Sie nahm die Tasche in die linke Hand und reichte ihm die rechte.

»Hutter. Armin. Angenehm.« Er hatte einen kräftigen Händedruck und einen freundlichen Blick, auch wenn in seinen Augen eine gewisse Melancholie verborgen schien. Etwas, das ihn spontan noch ein wenig sympathischer für Katharina machte. »Willkommen in Hussfeld.«

»Danke. Wir freuen uns, dass wir hier sind. Ich würde am Montag ins Rathaus kommen. Wegen der Anmeldung, meine ich.«

»Gerne. Wir haben ab sieben Uhr dreißig geöffnet.«

»Das ist ja wunderbar. Dann kann ich sogar noch vor der Arbeit da sein.«

»Sehr schön. Dann einen guten Einzug und ein schönes Wochenende.«

»Ihnen auch, Herr Hutter.«

*

An diesem Abend lag Katharina lange wach, obwohl sie vom Möbelräumen so erschöpft war, dass sie sich kaum noch rühren konnte, und obwohl die zwei Gläser Rotkäppchen-Sekt sich anfühlten wie eine Flasche Schnaps. Alles drehte sich um sie. Fenja konnte auch nicht schlafen. Katharina hörte, wie sie sich im Nebenzimmer immer wieder hin und her wälzte. Von Zeit zu Zeit war auch leise Musik zu hören. Offenbar guckte sie zwischendurch irgendwelche YouTube-Filmchen, um sich abzulenken.

Vorhänge hatten sie noch nicht. Deshalb leuchtete die Straßenlaterne, die genau vor dem Haus stand, grell herein wie ein Scheinwerfer auf den Gefängnishof. Ansonsten war die Nacht unfassbar friedlich. Es war buchstäblich nichts zu hören, obwohl das Fenster auf Kipp war. Nichts außer Fenja nebenan.

Irgendwann meinte Katharina, ein leises Schluchzen zu hören. Erschrocken stand sie auf und lauschte. Sie ging auf die Toilette, kam zurück, lauschte wieder. War das ein Schniefen? Vielleicht war’s auch nur ein Geräusch, das so ähnlich klang. Vorsichtig klopfte Katharina an die Tür ihrer Tochter.

»Hm?«

»Kannst du auch nicht schlafen? Darf ich reinkommen?«

»Mhm.«

Augenblicke später schlüpfte Katharina unter die Decke zu ihrer Tochter und nahm ihren Kopf in ihre Armbeuge. »Ist besser so, oder?«

Fenja nickte. Und tatsächlich schliefen sie wenig später beide und ließen sich von ihren Träumen durch die erste Nacht an diesem neuen Ort tragen.

*

II.

Karl holt erst wieder Luft, als sie vorbei ist. Er hat sie beobachtet, die Neue, die mit ihrer Mutter in das Haus an der Bushaltestelle eingezogen ist. Sie ist heiß. Und sie ist ungefähr in seinem Alter. Okay, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Aber sie ist heiß, das steht fest. Er riecht gleich, dass das Ärger geben wird in Hussfeld, ohne zu wissen, warum. Vielleicht einfach, weil solche Mädchen hier nicht herpassen. Jetzt ist er sogar ein bisschen neugierig, wie die Mutter aussieht. Die hat er noch nicht entdeckt.

Von seinem Fenster aus hat er einen Teil der Straße ganz gut im Blick. Er schaut nicht oft runter, weil sowieso nie etwas passiert. Lieber hängt er am Computer ab. Dazu ist in den Ferien jetzt viel Zeit. In drei Jahren kann er den Führerschein machen, dann kann er endlich auch mal schnell rüber nach Chemnitz. Aber mit dem Fahrrad ist ihm das meist zu anstrengend. Sind immerhin von hier aus fünfzehn Kilometer. Noch mal fünfzehn zurück, das bringt es nicht. Und eigentlich ist Chemnitz ja auch trostlos. Obwohl – ab und zu fährt er zum American Diner’s rüber, das ist schon geil. Nur dass die richtigen Leute dort halt auch mit ihren Autos auf dem Parkplatz stehen. Einmal hat er sein Fahrrad sogar um die Ecke abgestellt und ist zu Fuß hingegangen. Weniger peinlich als mit dem Rad. Karl kann es kaum erwarten, volljährig zu sein, er denkt täglich daran. Und sein Vater erinnert ihn auch ständig daran. Bei dem geht’s allerdings mehr so um »Verantwortung übernehmen«, was immer er damit meint. Aber Vater hat eben dieses soziale Ding. Es nervt, aber besser so, als wenn sich einer gar nicht kümmert. Und sein Vater kümmert sich um ihn, das steht fest. Hat ihn immerhin allein großgezogen, nachdem die Mutter gestorben war.

Er würde ja gerne runtergehen und nachsehen, wohin die Neue unterwegs ist. Da drüben gibt’s doch nichts außer dem Fußballplatz, auf dem jetzt keiner ist, und das Vereinsheim, wo erst recht keiner ist. Würde er wirklich gerne. Aber wenn er ehrlich ist zu sich selbst, hat er ein bisschen Schiss. Die Neue ist eben heiß. Und er ist es nicht. Das weiß Karl selber.

Ob sie einen Freund hat? Eher nicht. Hier jedenfalls kann sie ja noch keinen haben, weil sie ja gerade erst hergezogen ist. Ob sie einen finden wird? Klar, wenn’s nach ihm ginge, wüsste er schon, wer dafür infrage kommt. Karl muss grinsen. Überlegt sich, doch runterzugehen. Er muss sie ja nicht ansprechen. Wieso auch? Einfach mal eine Runde draußen drehen. Sein Vater sagt sowieso immer, er soll nicht so viel drinnen sitzen. Von wegen ist nicht gesund und so. Vielleicht nimmt er das Fahrrad. Dann fährt er ihr hinterher und einfach weiter. Guter Plan.

*

Hier gab es ein paar Geschäfte, ein Rathaus, das hier »Bürgerhaus« hieß, irgendeine Firma mit Landmaschinen, ein Versicherungsbüro und natürlich die unvermeidliche Kirche, in die Fenja keine zehn Pferde mehr bringen würden, nachdem sie erkannt hatte, dass sie im Nebengebäude die Toten aufbahrten. Keinen Kindergarten, keine Schule, keinen Club, nicht mal eine Tanke, aber ein Leichenhaus. Irre. Oh ja, und hier am anderen Ortsende hatten sie einen Sportplatz mit Vereinsheim, Fenja hätte kotzen können. Noch lahmer ging es ja wohl nicht.

Drei Minuten nachdem sie von zu Hause losgegangen war, erreichte sie schon das andere Ende von Hussfeld. Sie blieb stehen und versuchte einzuschätzen, wie weit es bis zum Wald war, hatte aber keine Idee. Neben dem Sportplatz zweigte ein Feldweg ab, der dorthin führte. Nach ein paar Metern überquerte dieser Trampelpfad einen kümmerlichen Bach, vermutlich war das die Huss. Oder hieß es der Huss?

Es war heiß, Fenja war froh, dass sie nur das kurze Top angezogen hatte. Die Jeans waren natürlich die Hölle. Aber kurze hatte sie zurzeit nicht. Und im Kleidchen wollte sie auf keinen Fall rumlaufen. Kurz überlegte sie, ob sie die Füße ins Wasser hängen sollte, aber dann fiel ihr die Schlange vom Vortag wieder ein, und sie verzichtete lieber darauf.

Hinter sich hörte sie eine Fahrradklingel. Sie drehte sich um und sah einen Jungen auf der andere Spurrille des Feldwegs auf sich zu und an ihr vorbei holpern. »Hey!«, rief sie.

Der Junge hielt an. »Ja?«

»Bist du von hier?«

»Klar. Wieso?«

»Ich würde gerne was wissen.«

Er stieg ab und versuchte sich lässig an sein Fahrrad zu stellen, was niedlich aussah. »Okay?«, sagte er.

»Ich bin neu hier.«

»Ähm, ja. Hi. Ich bin Karl.«

»Karl. Okaaay«, sagte Fenja amüsiert und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Und ich hab kein Fahrrad.« Ob er merkte, dass sie sich über ihn lustig machte?

»Ich kann dir meines mal leihen. Wenn du willst«, sagte er.

»Das wäre cool.« Sie sah sich um. »Was macht man hier so?«

»Hä?«

»Ich meine, das ist hier doch total tot, oder?«

»Schon, ja.«

»Was macht ihr, wenn ihr was unternehmen wollt?«

»Hm.« Die Frage schien ihn spontan zu überfordern. Fenja überlegte, wie alt er sein mochte. Dreizehn? Vierzehn? Dass er schon fünfzehn sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Aber es spielte ja auch keine Rolle.

»Also, es ist ja nicht weit bis Chemnitz«, sagte er.

»Echt jetzt? Man muss bis Chemnitz, wenn man hier was erleben will?«

»In Zwönitz gibt’s einen Club«, schlug der Junge vor. »In Zschopau, glaub ich, auch.«

»Zwönitz. Echt, ja?« Kurz fragte sich Fenja, ob er sie verarschen wollte. Zwönitz klang ungefähr so geil wie … wie Hussfeld. Eher noch geiler.

»Ich fahr nach Chemnitz, wenn ich was vorhab.«

»Ja? Mit dem Fahrrad?«

Er zuckte die Schultern.

»Und wo gehst du dann so hin?«

»Ins Diner’s«, erklärte der Junge.

»Verstehe.«

*

Sie kommt näher. Sehr nah sogar. Er kann sie riechen. Sie hat ein bisschen geschwitzt, aber sie trägt auch Parfüm. Er spürt, wie er eine Erektion bekommt.

»Ich bin neu hier«, sagt sie und guckt ihn an, wie ein … wie ein Untersuchungsobjekt, schießt es ihm durch den Kopf. Wie irgendwas, was sie im Bio-Unterricht auf den Tisch legen und untersuchen, bevor sie es aufschneiden. »Fenja.«

»Ähm, ja. Hi. Ich bin Karl.«

»Karl. Okaaay.« Sie lächelt, und hey, sie hat ein Megalächeln. »Und ich hab kein Fahrrad.«

»Ich kann dir meines mal leihen. Wenn du willst.«

»Das wäre cool.«

»Kein Ding.«

Sie sprechen über Clubs und wo man so hingehen kann in der Gegend. Dinge, von denen Karl nicht genug weiß, weil er abends noch nicht lange genug wegkommt von zu Hause, was ihn tierisch ärgert. Aber das will er sich nicht anmerken lassen.

»Und wo wohnst du, Karl?«, fragt das Mädchen namens Fenja irgendwann.

»Also, ich wohne gleich da vorne, zweites Haus.« Er deutet am Vereinsheim vorbei nach rechts. Sie nickt, obwohl sie gar nicht hinguckt. Stattdessen guckt sie Richtung Straße, wo ein Auto stehen geblieben ist, aus dem ein Mann herüberspäht.

»Das ist mein Vater«, erklärt Karl und winkt hinüber zu dem Wagen. Sein Vater erwidert den Gruß nicht, sondern lässt nur wieder die Fensterscheibe hochfahren. Das ärgert Karl. Es lässt ihn irgendwie blöd dastehen, findet er. »Er ist hier Bürgermeister«, sagte er und weiß gleich, dass das ein Fehler war. Es klingt sogar in seinen Ohren angeberisch. »Aber nur ein ganz kleiner«, schiebt er hinterher. »Ist ja nur ein ganz kleiner Ort.«

»Wow«, sagt das Mädchen. Klingt aber nicht nach wow, sondern eher ein bisschen gelangweilt.

Karl schluckt. Es hätte so gut laufen können. Tut es aber nicht. Er spürt, dass das Mädchen sich heimlich über ihn lustig macht. »Fenja, ja?«

»Fenja. Genau. Ich muss dann mal«, erwidert sie.

»Ich auch. Aber wir sind ja in dieselbe Richtung unterwegs, oder? Du wolltest doch auch Richtung Wald?«

»Hab’s mir anders überlegt«, sagt sie und verschwindet Richtung Dorf. Karl bleibt noch einen Moment stehen, starrt auf ihren Po, der sich in den engen Jeans beim Gehen hin- und herbewegt, als würde sie das absichtlich tun, weil sie weiß, dass er sie beobachtet. Dann seufzt er leise und schwingt sich wieder in den Sattel, um hinüber zum Wald zu fahren, wo er absolut nichts zu tun hat. Er wird eine Weile warten und dann wieder zurückfahren.

*

Der Junge war fünfzehn. Klar, dass ihm solche Mädchen gefielen. Wenn Armin Hutter an seine eigene Jugend zurückdachte, dann erkannte er sich in seinem Sohn wieder. Leider nicht nur in den positiven Eigenschaften, die Karl hatte. Hutter machte sich keine Illusionen, wieso der Junge den ganzen Tag am Computer hing. Bis vor Kurzem hatte er jede Website gekannt, auf der sich Karl herumtrieb. Aber jetzt hatte sein Sohn herausgefunden, wie er sich im Internet verstecken konnte. Das machte Armin Hutter Sorgen. Denn auf dieser Welt geschahen viele schreckliche Dinge, und er sah es als seine Pflicht an, sein Kind davor zu beschützen. So lange und so gut es ging.

Hussfeld war seit vielen Jahren eine Insel des Friedens in einer immer brutaler werdenden Welt. Das hatte die Gemeinde nicht zuletzt ihm zu verdanken. Als Bürgermeister war Hutter bereits zum zweiten Mal gewählt worden. Und dass er nach bald vierzehn Jahren auch noch für eine dritte Amtszeit gewählt werden würde, stand außer Frage. Denn Hutter kannte die Hussfelder. Er wusste, wie er sie zu nehmen hatte, wusste, was gut für die Gemeinde war. Und die Hussfelder kannten ihn. Sie wussten, dass es niemanden gab, der besser für Recht und Ordnung sorgen konnte, für ein friedliches Miteinander und für Stabilität. Es war eines seiner Lieblingswörter. Stabilität. Ein Gemeinwesen musste stabil sein. Man musste darauf bauen können, dass galt, was galt, dass die Dinge Bestand hatten. Für seinen letzten Wahlkampf hatte Hutter den Slogan gefunden: Hussfeld + Hutter = Stabilität.

Gut, ein Wahlkampf war es im Grunde nicht gewesen, denn schon im Vorfeld hatte sich kein Gegenkandidat für den Gemeindevorstand gefunden. Auch das ein klares Zeichen des Vertrauens der Hussfelder in ihren ersten Mann.

Hutter lenkte den Wagen vors Rathaus und blieb auf dem für den Bürgermeister reservierten Parkplatz stehen. Er fuhr einen VW Passat, ein solides, ordentliches Auto, vor allem: kein Angeberfahrzeug. Er hatte nie verstehen können, warum Politiker immer mit großen dunklen und teuren Limousinen durch die Lande kreuzten. Es entfremdete sie vom Volk.

Einen Augenblick blieb er noch sitzen und hörte sich die Verkehrsmeldungen an. Auf der A 72 hatte es wieder einen Unfall gegeben, eine Fahrspur war gesperrt. Hutter schüttelte den Kopf. Im Rückspiegel sah er, wie das Mädchen vom Ortsende her wieder zurückkam. Knallenge Jeans. Natürlich. Kurzes, enges Oberteil. Klar. Hutter kannte diese Sorte Mädchen. Sie gehörten nicht nach Hussfeld. Das brachte nichts Gutes. Seufzend zog er die Handbremse und stieg aus. »Guten Tag«, grüßte er, als das Mädchen an ihm vorbeiging.

»Tag«, erwiderte sie und wollte schon weitergehen.

»Bist du die Tochter von Frau Bosch?«

»Mhm.«

»Ich bin Armin Hutter«, sagte er. »Der Bürgermeister.«

»Aha? Der Vater von Karl?«

»Richtig. Ihr habt euch schon kennengelernt?«

»Sie haben uns doch gesehen, oder?«

Hutter zögerte kurz. »Stimmt. Ich habe euch beide auf dem Waldweg gesehen.«

»Sonst noch was?«

»Nein, nein. Ich wollte nur Hallo sagen.«

»Okay. Hallo auch.«

»Bis bald!«

»Hm.«

Ja, das würde noch Ärger geben, das spürte Hutter ganz genau. Solche Mädchen passten nicht hierher. Und wenn er bedachte, was er über das Einkaufsverhalten der Mutter gehört hatte, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sich das Problem manifestierte. Kurzer Zeit.

*

Irgendwie ist Ehrweg fast ein wenig sympathischer als Hussfeld, dachte Katharina, als sie aus dem Büro kam. Es war nicht so aufgeräumt, nicht so gleichförmig und außerdem ein bisschen größer. Es gab nicht nur ein Gasthaus, sondern auch noch zwei kleinere Kneipen, eine Tankstelle und einen »Italiener«, der aber eigentlich nur ein Ladenlokal mit zwei Tischen und ein paar Stühlen vor der Tür war – und einen Lieferservice, bei dem anscheinend jeder Oberstufenschüler arbeitete, der schon ein Auto besaß. Jedenfalls hatte Katharina von ihrem Bürofenster aus genau beobachten können, wie sich die Jugendlichen bei Pizza Da Capo die Klinke in die Hand gaben. Viele setzten sich auf eine Zigarette vor den Laden, bis die zu liefernden Pizzen fertig waren, tranken Softdrinks aus Dosen und lachten.

Die neuen Kollegen waren nett, aber die Arbeit war langweilig, das stand jetzt schon fest. Katharina hatte den Ordereingang zu organisieren. Das hieß: Bestellungen aufzunehmen und sie an die zuständigen Abteilungen weiterzugeben, ebenso Stornos und Änderungen. Leider führte das dazu, dass oft auch Reklamationen bei ihr landeten. Die Vorgängerin war schon seit drei Wochen weg, weshalb ein ziemliches Chaos entstanden war. Sie würde Tage brauchen, um allein das in Ordnung zu bringen. Das Unternehmen handelte mit Mode der letzten und vorletzten Saison, also den Stücken, die in den großen Ladenketten nicht abverkauft worden waren. Man bot die Kleidung auf dem »zweiten Markt« an, also den Läden und Boutiquen, die eher nicht ganz fashionable waren. Davon gab es erstaunlich viele. Nun ja, vielleicht auch nicht erstaunlich, wenn man bedachte, dass diese Ware nur einen Bruchteil des Preises von Mode der neuesten Kollektion kostete. Eigene Shops hatte das Unternehmen nicht. »Wir machen hier nur B2B«, hatte der Chef erklärt. Und für den Fall, dass Katharina es nicht kapierte: »Business-to-Business.«

Es war bereits kurz vor sechs, als Katharina an ihrem ersten Arbeitstag endlich nach draußen kam. Bei Pizza Da Capo gingen offenbar gerade die ersten Bestellungen fürs Abendessen ein, denn schon standen wieder ein paar junge Männer vor dem Ladenlokal und rauchten. Kurz entschlossen ging Katharina hinüber und trat ein. »Kann ich Pizza zum Mitnehmen bestellen?«

»Klar«, erwiderte der Junge hinter der Theke. Er mochte etwa zwanzig sein. »Dauert zehn Minuten. Hier ist die Karte.« Hinter ihm hing ein großes Schild an der Wand, auf dem Pizzen in drei Reihen hingen wie Schießscheiben.

»Einmal mit Schinken und einmal mit Pilzen und Peperoni, bitte«, orderte Katharina.

»Einmal Pizza Olaf, einmal Pizza Katja«, sagte der Junge und tippte in seine Kasse: »Macht fünfzehn achtzig.«

»Mach siebzehn«, sagte Katharina und schob ihm einen Zwanziger über die Theke.

»Gerne.«

»Klingt nicht wirklich italienisch, oder? Olaf. Katja …«

»Die Pizza Olaf heißt so wegen dem Hintern von Olaf. War hier mal ein stadtbekannter Lehrer. Und die Katja …«

»Ich will’s lieber gar nicht wissen!«, rief Katharina lachend. »Ich warte draußen, ja?«

»Ich bring sie dann raus. Hier sind die drei Euro Wechselgeld.«

»Danke.«

Katharina ging vor den Laden und betrachtete die drei jungen Männer, die dort auf ihre Ware warteten. »Jemand eine Zigarette für mich?«, fragte sie, weil sie plötzlich riesige Lust darauf hatte, mal wieder eine zu rauchen.

»Klar«, sagte einer der Jungs und reichte ihr sein Päckchen Camel.

»Geht das Geschäft gut?« Sie klopfte eine Zigarette heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen.

Der Junge zuckte die Schultern. »Geht so. Gibt ja nicht viele Jobs in der Gegend.« Er hielt ihr ein Feuerzeug hin. Katharina beugte sich vor und ließ sich Feuer geben. Erstaunt stellte sie fest, dass er nach Aftershave roch. Er sah auch gepflegt aus, wie ihr jetzt auffiel. »Ich bin neu hier«, sagte sie.

»In Ehrweg?«

»In Hussfeld.«

»Oh.« Es klang wie: mein Beileid.

»Wir sind am Wochenende hergezogen.«

»Mhm.«

»Meine Tochter wird nach den Ferien aufs Gymnasium nach Annaberg gehen.«

»Annathal? Welche Klasse?«

»Elfte.«

»Fett.«

Falls sie gedacht hatte, er würde ein bisschen mehr erzählen, hatte sie sich getäuscht. Stattdessen stand der junge Mann aus dem Laden in der Tür und rief: »John? Deine Lieferung.«

Der Junge nahm ihm den Stapel Pizzakartons ab und legte sie in den geöffneten Kofferraum seines alten Peugeots. Er warf seine Kippe auf den Boden, trat sie aus und schwang sich hinters Steuer. Sekunden später war er weg. Mit deutlich zu hohem Tempo Richtung Kreisverkehr, wo er nach Norden abbog.

Als Katharina ihre Zigarette ausgeraucht hatte, war auch ihre Bestellung fertig. »Einmal Olaf, einmal …«

»Katja.«

»Genau.«

»Danke.«

»Gerne. Guten Appetit.«

Katharina wechselte die Straßenseite und ging zu ihrem Wagen, den sie auf dem Firmenparkplatz abgestellt hatte. John, dachte sie. Lässiger Name für ein echtes Landei. Allerdings hatten die ja oft die obercoolen Namen.

Augenblicke später, die Pizza hatte bereits den ganzen Wagen mit ihrem Geruch durchdrungen, fuhr sie vom Hof und schlug den Weg nach Hussfeld ein. Die Straße war leer, die Pizza noch heiß, Katharina trat aufs Gas. Was ihr am Ortseingang von Hussfeld gleich mal ein Foto aus dem Blitzerkasten bescherte. »Kacke!«, schrie sie, weil sie es hasste, Geld für nichts aus dem Fenster zu schmeißen. Na gut, den Strafzettel würde sie sich als Andenken aufheben. Hoffentlich taugte wenigstens die Aufnahme etwas. Mit der Sonnenbrille würde sie vielleicht sogar aussehen wie ein richtiger Verkehrsrowdy.

*

»Ich hoffe, die Frau bringt keinen Unfrieden in die Gemeinde«, sagte der Pastor und sperrte die Kirche hinter sich ab.

»Keine Sorge, ich hab sie im Blick.« Hutter wartete, um den Geistlichen noch ein Stück zu begleiten.

»Geschieden, ja?«

»Das sind heutzutage viele.«

»Aber nicht in Hussfeld.«

»Nein. Hier nicht.«

»Und die Tochter?«

Hutter hob die Hände. »Was soll ich sagen: eine Siebzehnjährige eben.«

»Haben Sie sie schon gesehen?«

Hutter nickte. »Heute. Ja.«

Der Pastor blieb am oberen Ende der Treppe stehen und blickte auf ihn herab. Seine Augen schienen in Hutters Innerstem zu forschen. »Denken Sie, die Mutter hat ihre Tochter im Griff?«

»Dazu kann ich nichts sagen«, erklärte der Bürgermeister und seufzte. »Dafür ist es zu früh. Ich habe beide nur einmal gesehen. Das heißt, nein, die Mutter zweimal. Sie macht einen … einen ordentlichen Eindruck.«

»Ja? Tut sie das?« Der Pastor steckte den Schlüsselbund ein und kam herunter, ging an Hutter vorbei und strebte auf den Ausgang des Kirchhofs zu. Hutter ging ihm hinterher. »Ich habe gehört, sie hat sich erst einmal Schnaps und Zigaretten besorgt.« Er sog scharf die Luft ein. »Und Verhütungsmittel.«

»Also, Pastor Reichert, Sie wissen, dass es in Hussfeld keinen Schnaps zu kaufen gibt und auch keine Zigaretten. Und soweit ich weiß, hat sie hier eingekauft.« Er machte eine kleine Pause. »Sekt. Und Verhütungsmittel. Ja.«

»Na bitte«, erklärte der Pastor. »Quod erat demonstrandum.«

»Ich wüsste nicht, was das beweisen soll.«

»Sie führt ein lockeres Leben. Womöglich ihre Tochter auch.«

»Mit siebzehn?«

»Gerade mit siebzehn! Das sind die Schlimmsten!« Der Pastor hielt inne und wandte sich nach rechts. »Sie wissen, was wir schon alles erlebt haben, Herr Hutter.«

»Ich weiß, Pastor Reichert, ich weiß.« Hutter senkte den Kopf. Sie waren am Leichenhaus angelangt. Immer noch lag dort Otto Pritzkow aufgebahrt. Hutter hatte bereits seine Sorge geäußert, und er wiederholte seine Mahnung: »Ich weiß nicht, ob es gut ist, den Leichnam so lange bei diesen Temperaturen hierzulassen.«

»Toter kann er nicht mehr werden, oder?«, stellte der Pastor fest. »Und Sie werden ihn auch nicht gerne bei sich aufbewahren wollen.«

»Man könnte ihn vielleicht in den Keller …«

»Der ist dafür nicht geeignet.« Der Pastor warf einen Blick auf die Eintragungen im Kondolenzbuch, das auf einem Tisch neben dem Sarg ausgelegt war, nickte zufrieden und wedelte den Bürgermeister wieder aus dem stickigen Raum. »Hören Sie, Herr Hutter«, erklärte der Geistliche. Trotz seiner geringen Körpergröße war er eine imposante Persönlichkeit. »Sie wissen, wohin es führt, wenn eine Frau die falschen Signale gibt.«

»Aber …«

»Es gibt immer Gründe. Unterschiedliche Gründe. Aber eine Einladung ist ein sehr wahrscheinlicher Grund, verstehen Sie? Wo Moral und Anstand verloren gehen, da ist es nur noch ein kleiner Schritt, um verwerflichen Wünschen nachzugeben. Wünschen, die das Böse über uns triumphieren lassen, Hutter.« Er sprach so eindringlich, dass dem Bürgermeister Schweißperlen auf die Stirn traten. Auch das schien Reichert wahrzunehmen, denn er starrte Armin Hutter lange an, als müsste er ihn einer Prüfung unterziehen. Schließlich seufzte er und murmelte: »Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.«

*

»Pizza?«

»Was dagegen?«

»Überhaupt nicht!« Fenja grinste. »Ich sterbe vor Hunger.«

»Ich aber auch. Machen wir halbe-halbe?«

»Ich hätte lieber die mit Schinken«, erklärte Fenja.

»Wenn du wüsstest, warum sie die nennen, wie sie sie nennen, hättest du lieber die andere.«

»Echt? Wie nennen sie sie denn?«

»Pizza Olaf.«

»Voll italienisch.«

»Das ist, weil …«

»Will ich nicht wissen!«, fiel Fenja ihrer Mutter ins Wort. »Solange sie nicht Olaf verarbeitet haben …«

»Na ja«, gab Katharina zu bedenken. »Nicht ganz.«

»Hm. Sollen wir noch den Rest Sekt von vorgestern trinken?«

»Uhhh! Lieber nicht. Das ist so ein schlimmer Fusel.« Katharina schüttelte es beim Gedanken an Rotkäppchen.

»War nur ein Vorschlag.« Fenja holte Besteck aus dem Küchenkasten, dann setzte sie sich zu ihrer Mutter an den Tisch. »Dann lass mal gucken.« Sie klappte den Pizzakarton auf und grinste. »Ich denke, die ist doch deine«, sagte sie und schob ihre Schachtel über den Tisch, um nach der anderen zu greifen.

»Wirklich? Wieso?« Katharina nahm den Karton mit der Schinkenpizza an sich und besah sich das Kunstwerk. »Ist doch eine Eins-a-Pizza«, stellte sie fest.

»Ich meine wegen dem Deckel.«

»Dem Deckel?« Und dann erkannte sie, dass mit Kugelschreiber eine Telefonnummer darauf notiert war. Und dazu die Worte: Für gewisse Stunden.

Einen Moment war Katharina so perplex, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Dann lachte sie laut auf und rief: »Die müssen schon sehr verzweifelt sein hier, wenn sie so mit ihren Telefonnummern um sich werfen.«

»War bestimmt ein eleganter Herr in den besten Jahren«, spekulierte Fenja. »Dein italienischer Restaurantbesitzer.«

»Der war eher in deiner Altersklasse, mein Schatz«, erwiderte Katharina. »Und ein Hänfling war er obendrein. Aber sympathisch. Na ja, wenn man davon absieht, dass er …« Sie unterbrach sich. »Vielleicht hat er das für jemand anderen aufgeschrieben und einfach die Kartons vertauscht. Ja, bestimmt. Klar, so muss das gewesen sein.« Sie zwinkerte ihrer Tochter zu. »Da sind eine Menge junger Leute beschäftigt bei diesem Pizza-Lieferdienst. Ist auch gar kein Italiener, wie man ihn sich vorstellt. Eher so ein … ja, so eine Art Laden. Mit Getränken im Kühlschrank und Take-away. Vielleicht nehm ich dich morgen mit nach Ehrweg? Dann kannst du dich dort auch mal ein bisschen umsehen. Oder willst du lieber hier die Gegend weiter erkunden?«

»Hier? Machst du Witze?« Fenja biss herzhaft in die Pizza mit Champignons und Peperoni. »Die Gegend hier ist nach einer Viertelstunde erkundet. Wenn man ganz langsam geht.«

»Na, dann kommst du morgen einfach mit, und wir essen zu Mittag bei Da Capo. Und am Abend kochen wir uns selber was.«

»Klingt nach einem guten Plan.«

*

Pizza in Schachteln. Sie hätte es gleich wissen müssen. Sie hätte es wissen müssen, als diese Frau zum ersten Mal hier aufgetaucht war. Eigentlich schon früher. Als diese Bosch gesagt hatte, sie bräuchte die Wohnung für sich und ihre Tochter, da hätte sie direkt fragen müssen: Was ist mit dem Vater? Jetzt hatte sie den Salat. Über ihr wohnte eine Schlampe mit einem Teenager, der garantiert genauso verkommen war. Saßen da oben und fraßen Pizza aus der Schachtel. Wahrscheinlich tranken sie dazu Bier aus der Flasche. Wer weiß, was sie sonst noch alles da oben trieben. Es war eine dumme Idee gewesen, ihr die Wohnung zu geben. Besser wäre gewesen, sie hätte sie gar nicht vermietet. War lang genug leer gewesen.

Gerda Kleve hatte nichts gegen Fremde. Mit Rövers, Ziegerts und Herkerdorfs war sie gut gefahren. Und man musste sich immer auf die Neuen einlassen, so war das eben. Aber die mussten auch ihrerseits mitspielen. Und sie mussten passen. Gerda Kleve hatte es gleich gespürt, aber nicht auf ihren Instinkt gehört: Diese beiden passten nicht.

Sie drückte die Klingel, als sie endlich oben angelangt war, und fluchte innerlich über ihr Knie, mit dem sie bald nicht mehr die Treppen hochsteigen konnte.

»Frau Kleve!«, rief die Neue und tat, als wäre sie erfreut.

»Guten Abend, Frau Bosch.« Es roch nach kalter Pizza. Wahrscheinlich hatten sie nicht mal richtig gelüftet. »Ich wollte Ihnen noch einen kleinen Nachtisch bringen.« Sie hielt der Neuen den Teller mit den zwei Stück Marmorkuchen hin. »Ist nicht viel. Aber selbst gemacht«, erklärte sie.

»Ach, das ist aber wirklich nett von Ihnen!« Katharina Bosch trat zur Seite. »Möchten Sie vielleicht einen Augenblick hereinkommen? Ich … Also, ich habe leider noch gar nichts im Haus, was ich Ihnen anbieten könnte. Aber vielleicht möchten Sie sich ja mal umsehen?«

»Ich möchte wirklich keine Umstände machen«, sagte Gerda Kleve und trat dennoch ein.

»Überhaupt nicht!«, beeilte sich Katharina, ihr zu versichern. »Wenn Sie sich nicht daran stören, dass gerade gar nicht aufgeräumt ist … Ich bin erst vor einer halben Stunde von der Arbeit gekommen.«

»Und jetzt haben Sie erst einmal etwas gegessen«, stellte die Vermieterin fest, während ihr Blick die leeren Pizzakartons streifte und dann auf Fenja haften blieb.

»Meine Tochter Fenja kennen Sie ja schon.«

Fenja hob etwas schlapp die Hand und sagte: »Hallo.«

»Guten Abend«, erwiderte Gerda Kleve und wartete. Doch von dem Mädchen kam nichts mehr. Sie stand nur da und guckte sie an. Unverschämt.

»Also, hier ist das Wohnzimmer«, sagte Katharina und ging voraus. Immerhin sah es in dem Raum schon einigermaßen ordentlich aus, wenn man sich nicht daran störte, dass es noch keine Vorhänge gab. »Ein bisschen gemütlicher muss es noch werden. Aber das sind Pläne für die nächsten zwei, drei Wochen. Vielleicht haben Sie ja eine Idee, wo ich mir Gardinen besorgen könnte?«

»Da fahren Sie mal am besten nach Zschopau. Da gibt es ein paar Läden für Vorhangstoff. Nähen lassen können Sie ihn bei Frau Petermann. Die hat ihre Schneiderei über dem Versicherungsbüro. Das haben Sie vielleicht schon gesehen?«

»Oh ja! Das hab ich.« Katharina freute sich. »Vielen Dank für die guten Tipps. Und hier ist Fenjas Zimmer.« Sie guckte kurz rein, seufzte und ließ dann zu, dass auch Frau Kleve es in Augenschein nahm. »Teenager«, sagte Katharina mit einem Lächeln.

»Hm. Also, wie gesagt, ich will nicht stören. Den Teller können Sie mir ja morgen wiederbringen. Oder Ihre Tochter.«

»Das wird Fenja sicher gerne machen«, erklärte Katharina und nickte ihrer Tochter zu, die die Augen verdrehte.

»Dann mal einen schönen Abend noch.«

»Ihnen auch, Frau Kleve. Und nochmals vielen Dank! Ich freue mich, dass wir in einem so netten Haus untergekommen sind. Wir fühlen uns richtig willkommen, nicht wahr, Fenja?«

»Total«, sagte Fenja und blickte der Vermieterin hinterher, die leicht hinkend die Wohnung wieder verließ. Und sie fragte sich, ob es nicht noch einen dritten Schlüssel gab, außer ihrem eigenen und dem ihrer Mutter. Einen Schlüssel, den diese Frau Kleve für sich aufbewahrt hatte.

*

Es roch immer noch nach Pizza in der Wohnung, obwohl sie alle Fenster aufgemacht hatten. Die Nacht war warm. Sehr warm. Und es war nicht so still wie die letzten zwei Nächte. Fenja lag auf ihrem Bett und lauschte. Irgendwo bellte ein Hund. Nach einiger Zeit ging das Bellen in ein Jaulen über. Sie fragte sich, ob der Besitzer dem Tier ein paar Schläge mit dem Gürtel verpasst hatte. In der Ferne röhrte ein Motor. Zweimal war das Grollen eines vorüberziehenden Flugzeugs zu hören. Einmal glaubte sie, einen Blitz über den Himmel zucken zu sehen – doch der Donner blieb aus. Kein Gewitter.

Dabei war es so schwül, dass das Laken an ihrem Rücken klebte. Außer dem Slip hatte sie sowieso schon nichts an. Aber trotzdem schien sie kaum Luft zu bekommen. Immer wieder stand sie auf und stellte sich ans Fenster, um wenigstens ein bisschen durchzuatmen. Die Straße war menschenleer. Natürlich. Wer sollte schon mitten in der Nacht in diesem Kaff unterwegs sein? Fenja beugte sich ein Stück weit hinaus und blickte die Straße hinunter Richtung Ort. Kein einziges Fenster war erleuchtet. Nur die trüben Straßenlaternen standen in Reih und Glied in der Dunkelheit. Und der Kirchturm war angestrahlt, als wäre er eine Sehenswürdigkeit. Dabei sah er mit der seltsamen rostroten Haube über dem rosa gestrichenen Mauerwerk eher aus wie ein riesiger Phallus. Fenja musste lachen, als ihr das in den Sinn kam. Weiter weg von der Realität konnte es gar nicht sein. Denn so tote Hose wie hier, das musste man erst einmal finden.

Sie dachte an Karl. Der Typ hatte es sich offenbar zur Gewohnheit gemacht, ihr aufzulauern. Immer wenn sie im Dorf unterwegs war, tauchte er plötzlich mit seinem lächerlichen Fahrrad auf. Rein zufällig natürlich. Ob er der einzige Jugendliche in Hussfeld war? Das war irgendwie schwer vorstellbar. Immerhin hatten die hier auch ein paar Tausend Einwohner, oder? Wo waren die eigentlich alle?

Tatsächlich kam noch einmal ein Bus die Landstraße entlang! Fenja trat einen Schritt zurück. Musste ja nicht jeder hier auf ihren Busen glotzen. Vorhänge waren dann doch irgendwie eine feine Sache. Bloß dass sie eben noch keine hatten. Der Bus blieb stehen, obwohl niemand an der Haltestelle wartete und außer dem Fahrer niemand darin saß. Weird, oder? Fenja verharrte, bis er wieder abgefahren war, ehe sie wieder ans Fenster trat und die Arme hob, um ein wenig Luft unter ihre Achseln zu lassen. Und dann stand doch einer da. Wie aus dem Nichts. Ein Mann. Er bewegte sich nicht, sondern starrte nur zu ihr hoch. Mit einem Blick, dass ihr plötzlich eiskalt wurde.

*

Er kann nicht schlafen. Und das liegt nicht nur an der verdammten Hitze oder daran, dass sein Vater ihm angedroht hat, ihm das Handy wegzunehmen. Karl kriegt die Neue nicht aus dem Kopf. Fenja. Dreimal hat er sie schon gesehen, nein: Dreimal hat er sie getroffen. Gesehen hat er sie schon öfter. Weil er die Straße beobachtet. Wenn sie am Schwarzen Ochsen vorbeikommt, kann er sie von seinem Zimmer aus sehen. Und wenn sie Richtung Ortsrand geht, auch. Tut sie aber nicht mehr. Der Spaziergang zum Vereinsheim vorgestern war bisher ihr einziger Ausflug dort entlang. Vom Klofenster aus könnte er sie noch ein Stück länger beobachten, weil ihm da das eigene Haus nicht so im Weg steht. Aber wenn sie erst mal so weit ist, rennt er lieber runter und schwingt sich auf den Sattel. Denkt sich irgendwas Blödes aus, was er sagen kann, damit er einen Grund hat, sie aus der Nähe zu betrachten. Weil es eigentlich genau das ist, was er tun will. Wenn er hinter ihr herfährt, saugt sich sein Blick förmlich an ihrem Po fest. Wenn er vor ihr steht, muss er aufpassen, dass er ihr nicht auf die Möpse glotzt. Aber in die Augen sehen darf er ihr auch nicht, denn dann kriegt er kein Wort mehr raus. Das ist ihm gestern passiert.

»Hallo?«

»Ich … äh … ja.« Diese Augen, Mann!

»Wolltest du was von mir?«

Gute Frage. »Wegen dem Fahrrad …«

»Ja?«

»Wenn du es brauchst oder so …«

»Schon klar. Ich melde mich, falls ich dein Luxusgefährt brauche.«

»Ja. Ähm. Gut.«

Hätte echt nicht peinlicher laufen können. Aber so hat er wenigstens einen Blick auf ihren BH werfen können. Rot. Mit Verzierungen am Rand.

Seine Unterhose ist klebrig. Es nervt. Alles nervt. Sein Vater nervt. Dieses ganze Bürgermeister-Ding nervt und die Ordnung und alles. Am liebsten würde er … Er würde …

*

III.

Ehrweg war tatsächlich nicht ganz so das Hinterletzte wie Hussfeld. Es war einfach mehr los. Das heißt: Es war natürlich eigentlich nichts los. Aber wenn man es mit Hussfeld verglich, dann war’s schon fast mega. Fenja hatte mit ihrer Mutter ausgemacht, dass sie mit dem Auto mitkam, mit ihr noch zusammen zu Mittag aß und dann irgendwann später selber mit dem Bus zurück nach Hussfeld fahren würde. »Wenn es dir langweilig wird«, hatte ihre Mutter gesagt. Die hatte gut reden, die war ja beschäftigt. Aber was sollte man tun, wenn man nur die Wahl hatte zwischen sterbenslangweilig und todlangweilig? Ehrweg mochte einen Tick größer sein als der Nachbarort. Sie hatten ein paar Gaststätten und nicht nur Rentnertreffs wie den Schwarzen Ochsen, wo auf der Speisekarte nur Dinge standen wie Kohlroulade, Leipziger Allerlei und Eierschecke.

An der Tanke kaufte sie sich einen Energydrink und setzte sich auf einen Reifenstapel, der vor der Werkstatt nebenan lag. Ein Mechaniker tauchte auf. »Du bist neu hier, oder?«

»Langsam komm ich mir vor wie im Zoo«, erwiderte Fenja. »Hier gibt’s wohl immer nur dieselben Gesichter zu sehen, was?«

»Klar«, sagte der Mechaniker. »Und? Wohnst du jetzt hier?«

»In Hussfeld.«

»Meine Fresse. Dann hast du dich ja gut getarnt.«

»Getarnt?«

»So tipptopp ordentlich, wie die immer sind?«

»Haben die euch genauso gern, wie ihr sie habt?«

»Vermutlich.« Er grinste. »Ich bin übrigens Thorsten.«

»Hi, Thorsten. Fenja.«

»Fenja.« Er wiederholte den Namen, als sei er was ganz Besonderes. »Und was machst du so? Ich meine: berufsmäßig?«

»Schule.«

»Oh. Und ich dachte …«

»Was dachtest du?«

»Nichts.«

»Sieht genauso aus.« Sie grinste zurück. Er war vielleicht nicht der Hellste, aber er war definitiv witzig. »Und du arbeitest hier?«

»Sieht so aus.«

»Dein Laden?«

»Meiner?« Thorsten lachte. »Seh ich aus wie Krösus? Nee. Ich maloche hier für den alten Teichmann.«

»Muss man den kennen?«

»Schadet jedenfalls nichts. Ihm gehört halb Ehrweg.«

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