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Bridgerton - Ein hinreißend verruchter Gentleman

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Der sechste Band der Bridgerton-Reihe: Francesca Bridgerton heiratet erneut

Unter den schönsten jungen Damen der Gesellschaft könnte Michael Stirling seine Zukünftige wählen. Doch er ist rettungslos in die Einzige verliebt, die er nicht haben kann. Denn Francesca Bridgerton hat seinen Cousin John geheiratet! Als Ehrenmann muss Michael sich wohl oder übel mit der Rolle des guten Freundes begnügen. Als John dann kurz nach der Heirat verstirbt, wagt Michael es nicht, Francesca seine Gefühle zu gestehen. Stattdessen reist er nach Indien, um sich von seiner Sehnsucht abzulenken. Doch ohne Francesca hält er es nicht aus und kehrt nach London zurück. Gerade rechtzeitig! Denn Francesca plant, zum zweiten Mal zu heiraten.

»Quinn ist eine formvollendete Erzählerin. Ihre Prosa ist lebendig und treffsicher, meisterhaft erschafft sie Figuren, die man nicht vergisst.« Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 27.12.2021
  • Aus der Serie: Bridgerton
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904037

Leseprobe

Für B. B.,
der mir während des Schreibens an diesem Buch
Gesellschaft geleistet hat.
Die besten Dinge passieren denen, die warten!

Und auch für Paul,
obwohl er das Buch
Liebe in Zeiten der Malaria genannt hätte.

TEIL I

März 1820

London, England

1. KAPITEL

… ich würde zwar nicht direkt behaupten wollen, dass es mir hier prächtig ergeht, aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Schließlich gibt es hier Frauen, und wo Frauen sind, kann ich mich auch halbwegs amüsieren.

Michael Stirling während seiner Zeit beim 52. Gardeinfanterieregiment in den Napoleonischen Kriegen an seinen Vetter John, den Earl of Kilmartin

In jedem Leben gibt es einen Wendepunkt. Einen Moment, der so überwältigend ist, so klar und deutlich, dass man das Gefühl hat, einen Schlag vor die Brust bekommen zu haben, der einem den Atem raubt, und dann weiß man, man weiß es ohne den leisesten Zweifel, dass das Leben nie mehr dasselbe sein wird.

Für Michael Stirling kam dieser Moment, als er Francesca Bridgerton begegnete.

Nachdem er sein Leben lang hinter den Frauen her gewesen war, mit verschmitztem Lächeln zur Kenntnis genommen hatte, wie sie hinter ihm her waren, sich von ihnen hatte einfangen lassen und dann den Spieß umgedreht hatte, bis er der Sieger war, sie liebkost und geküsst und mit ihnen das Lager geteilt hatte, ohne je das Herz an eine von ihnen zu verlieren, nach alledem bedurfte es nur eines einzigen Blicks, und er verfiel Francesca Bridgerton so rasend schnell, dass er von Glück sagen konnte, dass es ihn nicht umwarf.

Leider sollte Francescas Nachname nur noch ganze sechsunddreißig Stunden Bridgerton lauten: Er lernte sie auf einem Dinner anlässlich ihrer unmittelbar bevorstehenden Vermählung mit seinem Vetter kennen.

Das Leben kann ganz schön ironisch sein, fand Michael, wenn ihm gerade vornehm zumute war.

In einer weniger vornehmen Stimmung bediente er sich eines ganz anderen Adjektivs.

Und seitdem er sich in die Frau seines Vetters verliebt hatte, war er nicht besonders oft vornehmer Stimmung.

Natürlich verbarg er es gut. Er wollte nicht, dass man ihm seine Missstimmung ansah. Am Ende bemerkte das noch irgendein nervtötend einfühlsamer Mensch und fragte ihn – Gott behüte! – nach seinem Wohlergehen. Und auch wenn Michael nicht ganz grundlos stolz auf seine Fähigkeiten war, sich zu verstellen und andere zu täuschen (schließlich hatte er mehr Frauen verführt, als er zählen konnte, ohne deswegen jemals in ein Duell verwickelt gewesen zu sein) – nun, die Wahrheit war eben die, dass er bisher noch nie verliebt gewesen war, und wenn es denn eine Situation gab, in der ein Mann es bei direkter Befragung nicht schaffte, eine harmlose Fassade aufrechtzuerhalten, dann war es vermutlich diese.

Daher lachte er und war vergnügt und fuhr fort, Frauen zu verführen, wobei er tunlichst darüber hinwegsah, dass er dazu neigte, die Augen zu schließen, wenn er sie endlich im Bett hatte. Auch ging er nicht mehr in die Kirche, weil er es sinnlos fand, auch nur in Erwägung zu ziehen, für seine Seele zu beten. Dazu kam, dass die kleine Kirche von Kilmartin im Jahr 1432 erbaut worden war und das bröckelnde Gemäuer einem direkten Blitzschlag mit Sicherheit nicht mehr gewachsen wäre.

Und wenn Gott einen Sünder strafen wollte, könnte er sich keinen besseren aussuchen als Michael Stirling.

Michael Stirling – Sünder.

Er sah es direkt vor sich auf der Visitenkarte und hätte sich die Karte auch anfertigen lassen – es hätte genau seinem schwarzen Humor entsprochen –, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass seine Mutter dann auf der Stelle tot umfallen würde.

Er mochte ja ein Wüstling sein, aber deswegen brauchte er die Frau, die ihn geboren hatte, noch lange nicht zu quälen.

Komisch, dass er all die anderen Frauen nie als Sünde betrachtet hatte. Natürlich waren sie alle freiwillig zu ihm gekommen, eine unwillige Frau konnte man gar nicht verführen, solange man das Wort Verführung wörtlich nahm und es nicht mit Vergewaltigung verwechselte. Die Frauen mussten es auch wollen, und wenn nicht – wenn Michael auch nur das geringste Anzeichen von Zurückhaltung verspürte, wandte er sich ab. So unkontrolliert waren seine Leidenschaften nicht, dass er sich nicht jederzeit rasch und entschlossen aus einer noch so verfänglichen Situation hätte entfernen können.

Außerdem hatte er nie eine Jungfrau verführt und auch nie mit einer verheirateten Frau geschlafen. Also gut, zu sich selbst sollte man ehrlich sein, auch wenn man eine Lüge lebte – er hatte durchaus mit verheirateten Frauen geschlafen, mit jeder Menge. Aber nur, wenn ihre Ehegatten Schufte waren. Und auch nur dann, wenn sie bereits zwei männliche Nachfahren geboren hatten, drei, wenn einer der Knaben ein wenig kränklich wirkte.

Man hatte schließlich seine Prinzipien.

Aber das hier … Das ging zu weit. Viel zu weit. Dies war der eine Fehltritt (und er hatte viele begangen), welcher seine Seele endgültig schwärzen oder sie zumindest – vorausgesetzt, er blieb stark genug, seine Wünsche nie in die Tat umzusetzen – tief dunkelgrau einfärben würde. Denn das … das …

Er begehrte die Frau seines Vetters.

Er begehrte Johns Frau.

John.

John, der ihm mehr war als ein Bruder, als es ein leiblicher je hätte sein können. John, dessen Familie ihn aufgenommen hatte, als sein eigener Vater starb. John, dessen Vater ihn aufgezogen und ihn gelehrt hatte, ein Mann zu sein. John, mit dem er …

Ach, verdammt noch mal. Musste er sich das wirklich antun? Er könnte leicht zwei Wochen damit verbringen, all die Gründe aufzuzählen, warum er dafür, dass er sich ausgerechnet in Johns Frau verliebt hatte, direkt zur Hölle fahren würde. Und an einer einfachen Tatsache würde sich trotzdem niemals etwas ändern: Er konnte sie nicht bekommen.

Er konnte Francesca Bridgerton Stirling niemals bekommen.

Aber, dachte er, während er sich im Sessel zurücklehnte, die Beine überschlug und John mit Francesca am anderen Ende des Salons beobachtete, wie sie lachten und lächelten und einander ekelhaft schöne Augen machten, er konnte noch einen zweiten Whisky gebrauchen.

»Genau so mache ich es«, verkündete er laut und stürzte das Glas in einem Zug hinunter.

»Was sagst du, Michael?«, erkundigte sich John, der, zum Teufel mit ihm, über ein ausgezeichnetes Gehör verfügte.

Michael setzte ein hervorragend falsches Lächeln auf und hob das Glas. »Hab nur Durst«, erklärte er, wie immer die perfekte Verkörperung eines Lebemannes.

Sie befanden sich in Kilmartin House in London – im Gegensatz zu Kilmartin (schlicht Kilmartin, ganz ohne House oder Manor) in Schottland, wo die Knaben aufgewachsen waren, oder das andere Kilmartin House in Edinburgh – nicht besonders einfallsreich, meine Ahnen, hatte Michael schon oft gedacht –, und dann gab es noch Kilmartin Cottage (wenn man bei einem Herrenhaus mit zweiundzwanzig Zimmern noch von einem Cottage sprechen konnte), Kilmartin Abbey und natürlich Kilmartin Hall. Michael hatte keine Ahnung, warum niemand auf die Idee gekommen war, einer der zahlreichen Behausungen den Familiennamen zu geben: Stirling House klang seiner Meinung nach völlig ehrbar. Vermutlich waren die ehrgeizigen – und einfallslosen – alten Stirlings so vernarrt in ihr neues Earldom, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen waren, irgendetwas nicht danach zu benennen.

Er blickte in sein Whiskyglas. Ein Wunder, dass er nicht Kilmartin-Tee trank oder auf einem Kilmartin-Sessel saß. Wahrscheinlich hätte ihm genau das geblüht, wenn seine Großmutter irgendeinen Weg gefunden hätte, das zu bewerkstelligen, ohne in die Niederungen der Kaufmannszunft hinabzusteigen. Die alte Zuchtmeisterin war so stolz auf den Familiennamen gewesen, dass man sie für eine geborene Stirling statt nur für eine Angeheiratete hätte halten können. Soweit es sie betraf, war die Countess of Kilmartin (also sie selbst) ebenso wichtig wie erhabenere Personen. Mehr als einmal hatte sie die Nase gerümpft, wenn sie einer emporgekommenen Marchioness oder Duchess den Vortritt lassen musste.

Die Königin, dachte Michael leidenschaftslos. Vor der Königin hatte wohl auch seine Großmutter gekniet, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich irgendeiner anderen weiblichen Person unterworfen hätte.

Francesca Bridgerton wäre mehr nach ihrem Geschmack gewesen. Zwar hätte sie die Nase gerümpft, wenn sie erfahren hätte, dass Francescas Vater nur ein Viscount gewesen war, doch die Bridgertons waren eine alte und sehr beliebte und, wenn ihnen gerade danach war, auch einflussreiche Familie. Außerdem war Francescas Rücken kerzengerade und ihre Haltung stolz, und sie verfügte über einen verschmitzten Humor. Wenn sie fünfzig Jahre älter und nicht so attraktiv gewesen wäre, hätte sie eine feine Gesellschafterin für Großmutter Stirling abgegeben.

Und jetzt war Francesca die Countess of Kilmartin und mit seinem Vetter John verheiratet, der ein Jahr jünger war als er, doch im Haushalt der Stirlings immer mit der Ehrerbietung behandelt worden war, die dem Älteren zustand. Schließlich war er der Erbe. Ihre Väter waren Zwillingsbrüder gewesen, doch Johns Vater war sieben Minuten vor Michaels auf die Welt gekommen.

Die wichtigsten sieben Minuten in Michael Stirlings Leben, und dabei war er da noch nicht einmal geboren gewesen.

»Was sollen wir an unserem zweiten Hochzeitstag unternehmen?«, fragte Francesca, die sich gerade ans Pianoforte setzte.

»Was du möchtest«, erwiderte John.

Francesca wandte sich an Michael. Ihre blauen Augen leuchteten unglaublich, sogar im Kerzenlicht. Oder vielleicht lag es einfach daran, dass er wusste, wie blau sie waren. Er schien dieser Tage überhaupt nur noch in Blautönen zu träumen. Man sollte die Farbe Francescablau nennen.

»Michael?«, sagte sie, und ihr Ton verriet, dass sie ihn eben etwas gefragt hatte.

»Entschuldigung«, erwiderte er und schenkte ihr das schiefe Lächeln, das er so gern aufsetzte. Mit diesem Lächeln nahm ihn niemand ernst, und genau darauf legte er es ja an. »Ich hab nicht zugehört.«

»Hast du irgendeine Idee?«

»Wofür?«

»Unseren Hochzeitstag.«

Hätte sie einen Pfeil benutzt, sie hätte sein Herz nicht zielsicherer durchbohren können. Doch er zuckte nur mit den Schultern, was er erschreckend gut konnte. »Es ist ja nicht mein Hochzeitstag«, erinnerte er sie.

»Ich weiß«, entgegnete sie. Er sah sie zwar nicht an, doch sie klang, als rollte sie mit den Augen.

Allerdings tat sie das sicher nicht, das war Michael klar. Im Lauf der letzten zwei Jahre hatte er Francesca schmerzlich gut kennengelernt, und er wusste, dass sie nie mit den Augen rollte. Wenn ihr sarkastisch oder ironisch zumute war, drückte sich das Gefühl in ihrem Tonfall aus und dem hochgezogenen Mundwinkel. Sie hatte es nicht nötig, auch noch mit den Augen zu rollen. Sie sah einen einfach nur an mit ihrem direkten Blick, und ihr Mundwinkel hob sich kaum merklich und …

Michael nahm einen Schluck Whisky. Es sprach nicht gerade für ihn, dass er so viel Zeit damit verbrachte, die Lippenform der Frau seines Vetters zu analysieren.

»Verlass dich darauf«, sagte Francesca, während sie die Fingerspitzen geräuschlos über die Tasten gleiten ließ. »Ich bin mir durchaus bewusst, mit wem ich verheiratet bin.«

»Davon bin ich überzeugt«, brummte er.

»Wie bitte?«

»Schon gut.«

Gereizt presste sie die Lippen zusammen. Diesen Gesichtsausdruck trug sie ziemlich oft, meist dann, wenn sie es mit ihren Brüdern zu tun hatte. »Ich habe dich um deinen Rat gefragt«, erklärte sie, »weil du oft so lustig bist.«

»Ich bin oft lustig?«, wiederholte er. Er wusste, dass ihn die anderen so sahen – schließlich nannte man ihn nicht umsonst den fidelen Wüstling –, aber von ihr wollte er das nicht hören. Es vermittelte ihm das Gefühl, oberflächlich und frivol zu sein.

Und dann fühlte er sich noch schlimmer, denn vermutlich entsprach es der Wahrheit.

»Etwa nicht?«, erkundigte sie sich.

»Doch, doch«, murmelte er. »Ich bin es nur einfach nicht gewohnt, dass man zu Hochzeitstagen meinen Rat einholt, da ja klar ist, dass ich kein Talent zur Ehe habe.«

»Das ist überhaupt nicht klar«, wandte sie ein.

»Jetzt bist du dran«, erklärte John lachend und lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Morgenausgabe der Times in der Hand.

»Du hast es mit der Ehe doch noch nie probiert«, sagte Francesca. »Woher willst du da wissen, dass du kein Talent dazu hast?«

Michael brachte ein Grinsen zustande. »Ich denke, allen, die mich kennen, ist das ziemlich klar. Außerdem, warum sollte ich? Ich habe keinen Titel, keinen Besitz …«

»Natürlich hast du Besitz«, warf John ein, womit er zu erkennen gab, dass er hinter seiner Zeitung immer noch zuhörte.

»Nur ein kleines Anwesen«, korrigierte Michael ihn, »und das hinterlasse ich gern euren Nachkommen, da ich es ja ohnehin von John habe.«

Francesca sah ihren Gatten an, und Michael wusste, was sie dachte – dass John ihm das Anwesen überlassen hatte, weil er ihm damit das Gefühl verleihen wollte, er habe eine Aufgabe, ein Ziel. Seit Michael vor ein paar Jahren seinen Abschied von der Armee genommen hatte, wusste er nicht recht, was er mit sich und seinem Leben anfangen sollte. Und obwohl John nie etwas sagte, wusste Michael doch, dass ihn das schlechte Gewissen plagte, weil er nicht für England gekämpft hatte, weil er zurückgeblieben war, während Michael der Gefahr entgegengetreten war.

Doch John war Erbe eines Earldoms. Es war seine Pflicht zu heiraten, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Niemand hatte von ihm erwartet, dass er in den Krieg zog.

Michael hatte sich oft gefragt, ob das Anwesen – ein sehr schönes und bequemes Herrenhaus mit acht Hektar Grund – Johns Art der Buße war. Und er hatte den Verdacht, dass Francesca sich dasselbe fragte.

Doch sie würde niemals nachfragen. Francesca verstand die Männer erstaunlich gut – vermutlich lag das daran, dass sie mit so vielen Brüdern aufgewachsen war. Francesca wusste genau, welche Frage sie einem Mann nicht stellen durfte.

Weswegen Michael sich immer ein wenig Sorgen machte. Er glaubte zwar, dass er seine Gefühle ziemlich gut verbarg, aber was wäre, wenn sie Bescheid wüsste? Natürlich würde sie es nie ansprechen, nicht einmal darauf anspielen. Er hatte den Eindruck, dass sie einander in dieser Hinsicht glichen: Wenn Francesca glaubte, er sei in sie verliebt, würde sie ihr Verhalten ihm gegenüber niemals ändern.

»Ich finde, ihr solltet nach Kilmartin gehen«, meinte Michael abrupt.

»Nach Schottland?«, fragte Francesca und drückte die schwarze Taste für das B sanft herunter. »Jetzt, wo bald die Saison anfängt?«

Michael stand auf. Plötzlich drängte es ihn zum Aufbruch. Er hätte ohnehin nicht herüberkommen sollen. »Warum nicht?«, fragte er in lässigem Ton. »Du bist gern dort. John ist auch gern dort. Wenn die Kutsche gut gefedert ist, ist die Reise gar nicht so strapaziös.«

»Kommst du mit?«, fragte John.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Michael scharf. Als ob er ihnen dabei zusehen wollte, wie sie ihren zweiten Hochzeitstag feierten. Es würde ihn doch nur daran erinnern, was er niemals bekommen könnte. Was ihn wiederum an seine Schuldgefühle erinnern würde. Beziehungsweise sie verstärken würde – daran erinnert zu werden brauchte er nicht, schließlich lebte er tagtäglich mit ihnen.

Du sollst nicht begehren deines Vetters Weib.

Das hatte Moses wohl aufzuschreiben vergessen.

»Ich habe hier jede Menge zu tun«, sagte Michael.

»Wirklich?«, fragte Francesca mit interessiert glänzenden Augen. »Was denn?«

»Ach, du weißt schon«, erwiderte er mit schiefem Grinsen, »all das, was ich eben tun muss, um mich meinem ziellosen Lotterleben zu ergeben.«

Francesca stand auf.

Lieber Himmel, sie stand auf und kam zu ihm herüber. Das war am schlimmsten – wenn sie ihn tatsächlich berührte.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Michael gab sich große Mühe, nicht zusammenzuzucken.

»Ich wünschte, du würdest nicht so reden«, erklärte sie.

Michael blickte über ihre Schulter zu John, der die Zeitung gerade so hoch gehoben hatte, dass er tun konnte, als hörte er gar nicht zu.

»Soll ich vielleicht dein neuestes Projekt werden?«, fragte er ein wenig unfreundlich.

Sie richtete sich auf. »Wir machen uns eben etwas aus dir.«

Wir. Wir. Nicht ich, nicht John. Wir. Ein subtiler Hinweis darauf, dass sie eine Einheit bildeten. John und Francesca. Lord und Lady Kilmartin. So hatte sie es natürlich nicht gemeint, aber dennoch fasste er es so auf.

»Genau wie ich mir etwas aus euch mache«, erklärte Michael und wartete darauf, dass eine Heuschreckenplage über den Raum hereinbrach.

»Ich weiß«, erwiderte sie, ohne seinen Kummer zu bemerken. »Ich könnte mir keinen besseren Vetter wünschen. Ich will eben, dass du glücklich bist.«

Michael sah zu John hinüber, der inzwischen die Zeitung gesenkt hatte, und warf ihm einen verzweifelten Blick zu, der ganz klar besagte: Rette mich.

John legte die Zeitung beiseite. »Francesca, mein Liebling, Michael ist ein erwachsener Mann. Um sein Glück kann er sich schon selbst kümmern. Wann und wie er es für richtig hält.«

Francesca presste die Lippen zusammen. Michael sah, dass sie verärgert war. Es gefiel ihr nicht, wenn man ihren Willen durchkreuzte, und ebenso ungern räumte sie ein, dass sie ihre Welt – und die Menschen, die darin lebten – nicht einfach nach Gutdünken arrangieren konnte.

»Ich sollte dich meiner Schwester vorstellen«, sagte sie.

Lieber Himmel. »Ich kenne deine Schwester«, erwiderte Michael rasch. »Ich kenne sie alle. Sogar die eine, die noch am Gängelband herumgeführt wird.«

»Wird sie doch gar nicht …« Sie unterbrach sich zähneknirschend. »Ich gebe ja zu, dass Hyacinth sich nicht eignet, aber Eloise …«

»Ich werde Eloise nicht heiraten«, unterbrach Michael scharf.

»Ich sage doch gar nicht, dass du sie heiraten sollst«, erklärte Francesca. »Nur ab und zu mit ihr tanzen.«

»Das habe ich bereits«, erinnerte er sie. »Und mehr werde ich auch nicht tun.«

»Aber …«

»Francesca«, sagte John. Sein Tonfall war sanft, doch die Botschaft war eindeutig. Hör auf.

Michael hätte ihn am liebsten geküsst. John dachte natürlich nur, dass er seinem Vetter weitere sinnlose Ermahnungen ersparte, denn die Wahrheit konnte er nicht ahnen: Michael versuchte abzuwägen, wobei man wohl größere Schuldgefühle empfand – wenn man in die Frau seines Vetters verliebt war oder in die Schwester seiner Frau.

Lieber Himmel, verheiratet mit Eloise Bridgerton! Wollte Francesca ihn umbringen?

»Wir sollten einen Spaziergang machen«, schlug Francesca plötzlich vor.

Michael sah aus dem Fenster. Alles Tageslicht war vom Himmel geschwunden. »Ist es dafür nicht schon etwas spät?«

»Nicht wenn ich zwei starke Männer dabeihabe«, erwiderte sie, »und außerdem sind die Straßen in Mayfair gut beleuchtet. Da sind wir vollkommen sicher.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Was meinst du, Liebling?«

»Ich bin heute Abend verabredet«, erklärte John und sah auf seine Taschenuhr. »Aber du und Michael, ihr solltet gehen.«

Wieder ein Beweis, dass John von Michaels wahren Gefühlen keine Ahnung hatte.

»Ihr beiden habt immer so viel Spaß miteinander«, fügte John hinzu.

Francesca wandte sich lächelnd zu Michael um. »Na, magst du?«, wollte sie wissen. »Ich muss unbedingt etwas frische Luft schnappen, jetzt, wo es endlich zu regnen aufgehört hat. Und mir war heute den ganzen Tag ein bisschen komisch, muss ich sagen.«

»Natürlich«, erwiderte Michael, da sie alle wussten, dass er keine Verabredungen hatte. Er führte ein Leben sorgfältig kultivierter Ausschweifungen.

Außerdem konnte er ihr nicht widerstehen. Er wusste, dass er sich eigentlich von ihr hätte fernhalten sollen, wusste, dass er sich nicht allein in ihrer Gesellschaft aufhalten sollte. Natürlich würde er seinen Sehnsüchten niemals nachgeben, aber war es wirklich nötig, dass er sich diesen Qualen immer wieder aussetzte? Am Ende des Tages würde er nur wieder allein im Bett liegen, gleichermaßen gemartert von Schuldgefühlen und Begierde.

Doch wenn sie ihn so anlächelte, konnte er einfach nicht Nein sagen. Und außerdem war er nicht stark genug, sich eine Stunde in ihrer Nähe zu versagen.

Denn ihre Nähe war alles, was er jemals bekommen würde. Keinen Kuss, keinen bedeutungsvollen Blick, keine vielsagende Berührung.

Mehr als ihr Lächeln, ihre Gesellschaft würde er niemals bekommen, und er, lächerlicher Narr, der er war, gab sich damit zufrieden.

»Nur einen Augenblick«, sagte sie und blieb in der Tür stehen. »Ich hole nur meinen Mantel.«

»Beeil dich«, sagte John. »Es ist schon nach sieben.«

»Solange Michael dabei ist, um mich zu beschützen, bin ich ja in Sicherheit«, erklärte sie mit einem munteren Lächeln, »aber keine Sorge, ich beeile mich.« Und dann lächelte sie ihren Ehemann frech an. »Ich bin doch immer schnell.«

Michael wandte den Blick ab, als er seinen Vetter erröten sah. Lieber Himmel, er wollte wirklich nicht wissen, was dieses Ich bin doch immer schnell nun genau besagen wollte. Leider gab es jede Menge Bedeutungen, alle beunruhigend körperlich. Und er würde nun die nächste Stunde damit verbringen, all diese Möglichkeiten in Gedanken durchzugehen und sie sich mit sich selbst in der Hauptrolle vorzustellen.

Er zerrte an seinem Halstuch. Vielleicht konnte er sich dem Spaziergang mit Francesca noch entziehen. Vielleicht könnte er nach Hause gehen und sich ein kaltes Bad einlassen. Oder, besser noch, sich eine Frau mit langem kastanienbraunem Haar suchen. Und, wenn er Glück hatte, auch noch mit blauen Augen.

»Tut mir leid«, sagte John, sobald Francesca den Raum verlassen hatte.

Michael sah ihn rasch an. John würde doch nie auf Francescas erotische Andeutung anspielen!

»Ihr Genörgel meine ich«, fügte John hinzu. »Du bist noch jung. Du brauchst noch nicht ans Heiraten zu denken.«

»Du bist jünger als ich«, erwiderte Michael, hauptsächlich um des Widerspruchs willen.

»Das stimmt, aber ich bin ja auch Francesca begegnet.« Hilflos zuckte John mit den Schultern, als wäre dies Erklärung genug. Und das war es ja auch.

»Es macht mir nichts aus, wenn sie nörgelt.«

»Natürlich macht es dir etwas aus, das sehe ich dir doch an.«

Und das war das Problem. John sah es ihm tatsächlich an. Niemand auf der Welt kannte ihn besser. Wenn ihn etwas quälte, würde John das immer sofort sehen. Das Wunder war, dass John nicht erkannte, was Michael solchen Kummer bereitete.

»Ich sage ihr, dass sie dich in Ruhe lassen soll«, versprach John, »obwohl du wissen solltest, dass sie nur nörgelt, weil sie dich gern hat.«

Michael rang sich ein verkrampftes Lächeln ab. Worte brachte er keine zustande.

»Danke, dass du mit ihr spazieren gehst«, erklärte John und erhob sich. »Ihr war den ganzen Tag ein wenig beklommen wegen des Regens. Sie sagt, dass sie sich wie eingesperrt fühlt.«

»Wann ist denn deine Verabredung?«, fragte Michael.

»Um neun«, erwiderte John, während sie in die Halle hinausgingen. »Ich treffe mich mit Lord Liverpool.«

»Regierungsgeschäfte?«

John nickte. Er nahm seine Position im Oberhaus sehr ernst. Michael fragte sich oft, ob er selbst diese Pflicht ebenso gewissenhaft wahrnehmen würde, wenn er dem Hochadel angehörte.

Vermutlich nicht. Aber darauf kam es ja wohl auch nicht an, oder?

Michael sah, wie sich John die linke Schläfe rieb. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er. »Du siehst ein wenig …« Er vollendete den Satz nicht, da er sich nicht ganz sicher war, wie John aussah. Jedenfalls nicht gut. Das war alles, was er wusste.

Und er kannte John. In- und auswendig. Vermutlich besser, als Francesca ihn kannte.

»Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen«, murmelte John. »Schon den ganzen Tag.«

»Soll ich Laudanum bringen lassen?«

John schüttelte den Kopf. »Kann das Zeug nicht ausstehen. Das vernebelt mir nur den Verstand, und ich brauche alle Geistesgegenwart, wenn ich Lord Liverpool treffe.«

Michael nickte. »Du siehst blass aus«, sagte er. Warum, das wusste er nicht. Die Bemerkung würde John nicht umstimmen, was das Laudanum betraf.

»Wirklich?« John presste sich die Finger fester an die Schläfe und zuckte zusammen. »Ich glaube, ich lege mich ein wenig hin, wenn es dir nichts ausmacht. Ich muss erst in einer Stunde aufbrechen.«

»Genau«, murmelte Michael. »Soll ich jemanden schicken, der dich weckt?«

John schüttelte den Kopf. »Ich bitte meinen Kammerdiener selbst darum.«

In diesem Moment kam Francesca die Treppe herunter, in einen Mantel aus mitternachtsblauem Samt gehüllt. »Guten Abend, die Herren«, sagte sie und sonnte sich offen in der männlichen Bewunderung. Doch als sie unten angekommen war, runzelte sie die Stirn. »Stimmt etwas nicht, mein Liebling?«, fragte sie John.

»Nur Kopfschmerzen«, erwiderte der. »Sonst nichts.«

»Du solltest dich hinlegen«, riet sie ihm.

John brachte ein Lächeln zustande. »Gerade eben habe ich Michael gesagt, dass ich genau das vorhabe. Simons soll mich rechtzeitig zu meiner Verabredung wecken.«

»Mit Lord Liverpool?«, fragte Francesca.

»Ja, um neun.«

»Geht es um die Versammlungsgesetze?«

»Ja, und um die Rückkehr zum Goldstandard. Ich habe dir beim Frühstück davon erzählt, wenn du dich erinnerst.«

»Vergiss nicht, dafür zu sorgen …« Sie unterbrach sich und schüttelte lächelnd den Kopf. »Nun ja, du weißt ja, wie ich da empfinde.«

John lächelte, beugte sich zu ihr und drückte ihr einen warmen Kuss auf die Lippen. »Ich weiß immer, wie du empfindest, mein Liebling.«

Michael gab vor, in die andere Richtung zu blicken.

»Immer nicht«, sagte sie mit warmem neckendem Unterton.

»Aber immer dann, wenn es wichtig ist«, erklärte John.

»Nun, das stimmt«, räumte sie ein. »So viel also zu meinen Versuchen, die geheimnisvolle Dame zu spielen.«

Er küsste sie noch einmal. »Mir ist es lieber, wenn ich in dir lesen kann wie in einem Buch.«

Michael räusperte sich. Das alles sollte ihm nicht so schwer werden. Schließlich verhielten sich John und Francesca nicht anders als sonst auch. Sie waren, wie man in der Gesellschaft nicht müde wurde zu beobachten, ein Herz und eine Seele, in wunderbarer Harmonie und einfach göttlich verliebt.

»Es wird allmählich spät«, erklärte Francesca. »Wenn ich noch an die frische Luft will, sollte ich jetzt aufbrechen.«

John nickte und schloss kurz die Augen.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Ja, es sind nur Kopfschmerzen.«

Francesca hängte sich bei Michael ein. »Dann nimm etwas Laudanum, wenn du von deinem Treffen zurückkommst«, sagte sie, über die Schulter gewandt, als sie die Tür erreicht hatten. »Dass du es jetzt nicht willst, weiß ich ja.«

John nickte mit erschöpfter Miene. Dann ging er die Treppe hinauf.

»Der arme John«, sagte Francesca und trat nach draußen in die frische Abendluft. Sie atmete tief durch und stieß dann einen Seufzer aus. »Ich hasse Kopfschmerzen. Mir geht es dann immer besonders schlecht.«

»Ich habe nie welche«, erklärte Michael und geleitete sie die Treppe hinunter zum Gehsteig.

»Wirklich?« Sie sah zu ihm auf, einen Mundwinkel zu dem schmerzlich vertrauten Lächeln angehoben. »Was für ein Glückspilz du doch bist.«

Beinahe hätte Michael gelacht. Hier stand er, an seinem Arm die Frau, die er liebte.

Er war wirklich ein Glückspilz.

2. KAPITEL

… und wenn es so schlimm wäre, würdest du es mir sicher nicht erzählen. Und was die Frauen angeht, so versuche doch wenigstens, ein bisschen darauf zu achten, dass sie sauber und gesund sind. Ansonsten musst du natürlich alles tun, um dir das Leben einigermaßen erträglich zu machen. Und bitte gib dir alle Mühe, dich nicht umbringen zu lassen. Auf die Gefahr hin, sentimental zu klingen: Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen sollte.

Der Earl of Kilmartin an seinen Vetter Michael Stirling, zu Händen des 52. Gardeinfanterieregiments während der Napoleonischen Kriege

Trotz all seiner Fehler – und Francesca gab gern zu, dass Michael Stirling davon jede Menge hatte – war er wirklich ein ganz reizender Mann. Natürlich flirtete er schrecklich (sie hatte ihn in Aktion gesehen und zugeben müssen, dass auch intelligente Frauen völlig den Verstand verloren, wenn es ihm einfiel, den Charmeur hervorzukehren), und er begegnete dem Leben nicht mit dem Ernst, den sie und John für wünschenswert erachteten, und doch liebte sie ihn von ganzem Herzen.

Er war der beste Freund, den John je gehabt hatte – bis er sie geheiratet hatte –, und im Lauf der letzten beiden Jahre war er auch ihr Vertrauter geworden.

Eigentlich seltsam. Wer hätte gedacht, dass sie einmal einen Mann zu ihren engsten Freunden rechnen würde? Sie fühlte sich in männlicher Gesellschaft nicht unwohl – mit vier Brüdern aufzuwachsen trieb auch der femininsten Frau das Zartgefühl aus. Doch war sie nicht wie ihre Schwestern. Daphne und Eloise – und vermutlich auch Hyacinth, obwohl sie immer noch ein wenig zu jung war, um es endgültig beurteilen zu können – waren von offenem, heiterem Gemüt. Sie gehörten zu den Frauen, die sich im Jagen und Schießen hervortaten – die Sorte Frau, die sich angeblich zum Pferdestehlen eignete. Männer waren gern mit ihnen zusammen, und dieses Gefühl beruhte, wie Francesca schon oft beobachtet hatte, auf Gegenseitigkeit.

Doch sie war anders. Schon immer hatte sie das Gefühl gehabt, etwas anders als der Rest der Familie zu sein. Sie liebte alle heiß und innig und hätte ihr Leben für jeden Einzelnen gegeben, doch obwohl sie äußerlich aussah wie eine Bridgerton, fühlte sie sich innerlich doch immer ein wenig wie ein Wechselbalg.

Während der Rest der Familie offen auf andere zuging, war sie … nun ja, nicht direkt schüchtern, aber etwas reservierter und in ihrer Wortwahl zurückhaltender. Sie war für ihren ironischen Witz bekannt, und sie musste zugeben, dass sie sich nur schwer zurückhalten konnte, wenn sich eine Gelegenheit bot, ihre Geschwister mit einer trockenen Bemerkung zu ärgern. Natürlich tat sie es aus Liebe und vielleicht ein wenig aus einer Verzweiflung, die daher rührte, dass man zu viel Zeit mit der Familie verbrachte; doch ihre Geschwister zogen Francesca dann ihrerseits auf, sodass alles wieder in Ordnung war.

So ging es in ihrer Familie eben zu. Sie lachten, sie ärgerten einander, sie zankten sich. Francescas Beiträge zum allgemeinen Radau waren nur ein wenig leiser, ein wenig subtiler.

Sie fragte sich oft, ob sie sich auch deswegen so zu John hingezogen gefühlt hatte, weil er ihr eine Chance bot, dem chaotischen Bridgerton-Haushalt zu entfliehen. Nicht dass sie ihn nicht geliebt hätte, das tat sie. Sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens. Er war eine verwandte Seele, ihr auf so vielfältige Weise ähnlich. Aber sie war auch seltsam erleichtert, das Haus ihrer Mutter verlassen zu können, sich in ein ruhigeres Leben an Johns Seite zu flüchten. John hatte genau denselben Sinn für Humor wie sie.

Er verstand sie, nahm ihre Reaktionen vorweg.

Er war ihre andere Hälfte.

Ihn kennenzulernen hatte in ihr die merkwürdigsten Gefühle ausgelöst. Als wäre sie ein überzähliges Puzzleteil, das nun endlich an seinen Platz fiel. Ihre erste Begegnung war nicht gerade von überwältigender Liebe und Leidenschaft erfüllt, sondern eher von dem beinahe bizarren Eindruck bestimmt, dass sie endlich den Menschen gefunden hatte, bei dem sie ganz sie selbst sein konnte.

Dieses Gefühl hatte sich umgehend und ganz plötzlich eingestellt. Sie wusste nicht mehr, was es war, das er zu ihr gesagt hatte, doch von dem Moment an, da er die Worte ausgesprochen hatte, hatte sie sich zu Hause gefühlt.

Und mit ihm war auch Michael, sein Vetter, gekommen – wobei die beiden Männer eigentlich eher wie Brüder waren. Sie waren zusammen aufgewachsen, und da sie auch ähnlich alt waren, hatten sie alles miteinander geteilt.

Nun ja, fast alles. John war Erbe eines Earldoms und Michael nur sein Vetter, und es kam nicht infrage, dass die beiden Jungen gleich behandelt wurden. Doch nach dem, was Francesca gehört hatte, und dem, was sie mittlerweile von den Stirlings wusste, waren sie beide gleichermaßen geliebt worden, und sie neigte dazu, darin den Schlüssel zu Michaels Gelassenheit zu sehen.

Denn auch wenn John den Titel und den Reichtum und überhaupt alles geerbt hatte, schien Michael ihm das nicht zu neiden.

Das erstaunte sie zutiefst. Er war wie Johns Bruder aufgewachsen – sogar wie Johns älterer Bruder –, und doch hatte er John keinen einzigen seiner Reichtümer missgönnt.

Und das war der Hauptgrund, warum Francesca ihn liebte. Michael würde sicher spötteln, wenn sie versuchte, ihn deswegen zu loben, und anfangen, seine vielen Missetaten aufzuzählen (wobei zu befürchten stand, dass nichts davon übertrieben war), um zu beweisen, dass seine Seele tiefschwarz und er ein ganz schlimmer Sünder war – doch in Wirklichkeit besaß er einen großzügigen Geist und eine Liebesfähigkeit wie selten ein Mann.

Und wenn sie nicht bald eine Frau für ihn fand, würde sie verrückt werden.

»Was«, sagte sie, wobei sie sich bewusst war, dass ihre Stimme die nächtliche Stille ziemlich unvermittelt durchbrach, »hast du denn an meiner Schwester auszusetzen?«

»Francesca«, erwiderte er, und sie konnte den leisen Ärger in seiner Stimme – und zum Glück auch ein wenig Belustigung – hören, »ich werde deine Schwester nicht heiraten.«

»Ich habe doch nicht gesagt, dass du sie heiraten sollst.«

»Das war auch nicht nötig. Es steht dir ins Gesicht geschrieben.«

Sie sah zu ihm auf und verzog die Lippen. »Du hast mich doch nicht einmal angeschaut.«

»Natürlich habe ich das, und selbst wenn nicht, wäre das egal, denn ich weiß doch ganz genau, was du im Schilde führst.«

Er hatte recht, und das machte ihr Angst. Manchmal befürchtete sie, dass er sie genauso gut verstand, wie John es tat.

»Du brauchst eine Frau«, erklärte sie.

»Hast du nicht eben deinem Ehemann versprochen, dass du aufhören würdest, mich zu quälen?«

»Ganz und gar nicht«, sagte sie mit ziemlich herablassendem Blick. »Er hat mich darum gebeten, aber ich habe natürlich …«

»Natürlich«, brummte Michael.

Sie lachte. Er brachte sie immer zum Lachen.

»Ich dachte, Ehefrauen sollten sich nach den Wünschen ihrer Gatten richten«, meinte Michael und hob die rechte Augenbraue. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das im Ehegelübde vorkommt.«

»Ich würde dir einen schlechten Dienst erweisen, wenn ich dir eine solche Frau suchen würde«, sagte sie und verlieh diesem Gefühl mit einem gewählten und extrem verächtlichen Schnauben Nachdruck.

Er drehte sich zu ihr um und sah mit leicht gönnerhafter Miene auf sie herab. Eigentlich hätte er ein Adeliger sein müssen, fand Francesca. Für die vielen Pflichten, die ein Titel mit sich brachte, besaß er zu wenig Verantwortungsgefühl, aber wenn er einen so ansah, so hochmütig und selbstgewiss, hätte er auch ein hochherrschaftlicher Herzog sein können.

»Es gehört aber nicht zu deinen Pflichten als Countess of Kilmartin, mir eine Frau zu suchen.«

»Sollte es aber.«

Er lachte, was sie entzückte. Sie konnte ihn immer zum Lachen bringen.

»Also schön«, sagte sie und gab es für dieses Mal auf. »Dann erzähl mir was Verruchtes. Etwas, was John nicht gutheißen würde.«

Das war ein altes Spiel zwischen ihnen, das sie auch in Johns Anwesenheit spielten, obwohl John immer wenigstens so tat, als missbilligte er ihr Treiben. Doch Francesca hatte den Verdacht, dass John Michaels Geschichten ebenso genoss wie sie selbst. Sobald er die obligatorischen Ermahnungen hinter sich gebracht hatte, war er immer ganz Ohr.

Nicht dass Michael ihnen je besonders viel erzählt hätte. Dazu war er viel zu diskret. Aber er erging sich in Andeutungen und Anspielungen, bei denen sich Francesca und John königlich unterhielten. Zwar würden sie ihr Eheglück gegen nichts auf der Welt eintauschen, aber Geschichten voll wollüstiger Ausschweifungen hörte jeder gern.

»Ich fürchte, diese Woche habe ich nichts Verruchtes getan«, sagte Michael, während er sie um die Ecke in die King Street führte.

»Nein? Unmöglich.«

»Es ist ja erst Dienstag.«

»Ja, aber auch wenn wir den Sonntag nicht rechnen, den ja wohl nicht einmal du entweihen würdest …«, sie warf ihm einen Seitenblick zu, der verriet, dass sie überzeugt davon war, er habe, Sonntag hin oder her, schon auf jede erdenkliche Art gesündigt, »… dann bleibt dir ja immer noch der Montag, und an einem Montag kann man ganz schön viel unternehmen.«

»Ich nicht. Nicht diesen Montag.«

»Was hast du dann gemacht?«

Er dachte nach und erwiderte: »Eigentlich gar nichts.«

»Ach komm, das ist unmöglich«, zog sie ihn auf. »Ich bin sicher, dass du mindestens eine Stunde wach warst.«

Er schwieg, zuckte nur auf eine Art mit den Schultern, die sie leicht beunruhigend fand, und sagte dann: »Ich habe nichts getan. Ich bin herumgegangen, habe geredet, gegessen, aber am Ende des Tages hatte ich nichts getan.«

Impulsiv drückte Francesca ihm den Arm. »Wir werden etwas für dich finden müssen«, sagte sie sanft.

Er sah sie an, und der Ausdruck in seinen merkwürdig silbergrauen Augen war dabei so eindringlich und intensiv, wie sie es nicht oft an ihm erlebte.

Und dann war der Moment vorüber, er war wieder er selbst, und bei ihr blieb der leise Verdacht zurück, dass Michael Stirling nicht der Mann war, als der er gerne angesehen werden wollte.

Selbst von ihr.

»Wir sollten umkehren«, erklärte er. »Es wird allmählich spät, und John wird mir den Kopf abreißen, wenn ich zulasse, dass du dich erkältest.«

»John würde die Schuld bei mir und meiner Dummheit suchen, das weißt du ganz genau. Das ist nur wieder deine Art, mir zu sagen, dass eine Frau auf dich wartet, und vermutlich trägt sie nichts außer ihrem Bettlaken.«

Er grinste sie an. Sein Lächeln war verwegen und verrucht, und ihr war klar, warum die halbe Gesellschaft – die weibliche Hälfte natürlich – meinte, in ihn verliebt zu sein, auch wenn er weder über einen Titel noch über Vermögen verfügte.

»Du hast gesagt, du möchtest etwas Verruchtes hören, stimmt’s? Soll ich ins Detail gehen? Möchtest du wissen, welche Farbe die Laken haben?«

Sie errötete, zum Kuckuck. Sie fand es furchtbar, aber zumindest verbarg die Dunkelheit ihre Reaktion. »Hoffentlich nicht Gelb«, sagte sie, da sie es nicht ertrug, die Unterhaltung in peinlicher Verlegenheit enden zu lassen. »Das macht blass.«

»Ich werde die Laken ja nicht tragen«, sagte er schleppend.

»Trotzdem.«

Er lachte, und sie wusste, dass er wusste, dass sie das nur gesagt hatte, um das letzte Wort zu behalten. Und gerade als sie dachte, dass er ihr diesen kleinen Sieg lassen würde, und erleichtert aufatmen wollte, sagte er: »Rot.«

»Wie bitte?« Aber natürlich wusste sie, was er meinte.

»Rote Laken, glaube ich.«

»Ich kann nicht fassen, dass du mir das erzählst.«

»Du hast mich gefragt, Francesca Stirling.« Er sah sie an. Eine seiner mitternachtsschwarzen Locken hing ihm in die Stirn. »Du hast Glück, dass ich dich nicht bei deinem Ehemann verpetze.«

»John würde sich meinetwegen nie Sorgen machen«, entgegnete sie.

Sie dachte schon, dass er nicht mehr darauf antworten würde, doch dann sagte er: »Ich weiß.« Seine Stimme war merkwürdig ernst. »Sonst würde ich dich niemals so aufziehen.«

Sie hatte den Blick auf das Pflaster gerichtet, um Ausschau nach unebenen Stellen zu halten, doch sein Ton war so ernst, dass sie unvermittelt aufsehen musste.

»Du bist die einzige Frau in meinem Bekanntenkreis, von der ich sicher weiß, dass sie niemals fremdgehen würde«, sagte er und berührte sie am Kinn. »Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich dafür bewundere.«

»Ich liebe deinen Vetter«, flüsterte sie. »Ich würde ihn nie betrügen.«

Er ließ die Hand sinken. »Ich weiß.«

So attraktiv sah er im Mondlicht aus und so unglaublich liebesbedürftig, dass es ihr beinahe das Herz brach. Ihm konnte doch bestimmt keine Frau widerstehen, bei dem makellosen Gesicht und der hochgewachsenen, muskulösen Gestalt.

Und jede, die sich die Mühe machte, unter die Oberfläche zu blicken, würde ihn so sehen, wie sie ihn kannte – als einen liebevollen, treuen und aufrechten Mann.

Mit einer Spur Verwegenheit natürlich, aber das war es ja wohl überhaupt, was die Damen anzog.

»Wollen wir?«, fragte Michael, plötzlich wieder leichteren Sinnes. Er nickte Richtung Heimweg, und sie seufzte und wandte sich um.

»Danke, dass du mit mir spazieren gegangen bist«, sagte sie nach ein paar Minuten einvernehmlichen Schweigens. »Ich habe nicht übertrieben, als ich sagte, der Regen macht mich noch verrückt.«

»Das hast du doch gar nicht gesagt«, erwiderte er viel zu hastig und hätte sich im nächsten Moment am liebsten geohrfeigt dafür. Zwar hatte sie tatsächlich nur erwähnt, dass ihr ein wenig komisch gewesen sei und nicht, dass sie verrückt würde. Aber den Unterschied hätte nur ein dämlicher Gelehrter oder ein liebeskranker Tölpel bemerkt.

»Nein?« Sie runzelte die Stirn. »Nun, gedacht habe ich es jedenfalls. Ich fühle mich recht schwerfällig, wenn du es unbedingt wissen willst. Die frische Luft hat mir außerordentlich gutgetan.«

»Dann bin ich froh, dass ich dir zu Diensten sein konnte«, erklärte er galant.

Sie lächelte, als sie die Stufen zum Kilmartin House hinaufstiegen. Sobald sie die oberste Stufe erreicht hatten, öffnete sich die Tür – der Butler musste auf sie gewartet haben –, und Michael blieb in der Halle stehen, während Francesca ihren Mantel ablegte.

»Bleibst du noch auf etwas zu trinken, oder musst du gleich zu deiner Verabredung aufbrechen?«, erkundigte sie sich mit spitzbübisch funkelnden Augen.

Er sah auf die Uhr in der Halle. Es war halb neun, und auch wenn er nirgendwo erwartet wurde – die Frau gab es gar nicht, obwohl er sicher im Handumdrehen eine finden könnte, und vermutlich würde er das auch tun –, war ihm nicht danach, länger in Kilmartin House zu verweilen.

»Ich muss gehen«, sagte er. »Habe jede Menge zu tun.«

»Du hast überhaupt nichts zu tun, und das weißt du ganz genau«, entgegnete sie. »Du willst nur wieder verrucht sein.«

»Ist ja auch eine wunderbare Beschäftigung«, murmelte er.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch in diesem Augenblick kam Simons, Johns kürzlich eingestellter Kammerdiener, die Treppe herunter.

»Mylady?«, fragte er.

Francesca wandte sich ihm zu und forderte ihn mit einem Neigen des Kopfes zum Sprechen auf.

»Ich habe an die Tür seiner Lordschaft geklopft und seinen Namen gerufen … zweimal … doch anscheinend schläft er tief und fest. Wünschen Sie immer noch, dass ich ihn wecke?«

Francesca nickte. »Ja. Ich würde ihn ja gerne schlafen lassen, er hat in letzter Zeit so hart gearbeitet …«, diese Information war an Michael gerichtet, »… aber ich weiß, dass dieses Treffen mit Lord Liverpool sehr wichtig ist. Am besten gehen Sie … Nein, warten Sie, ich wecke ihn selbst. Das wird wohl besser sein.«

Sie wandte sich an Michael. »Sehe ich dich morgen?«

»Wenn John noch nicht weg ist, warte ich auf ihn«, sagte er. »Ich bin zu Fuß hier, und da könnte er mich doch im Wagen mitnehmen.«

Sie nickte und eilte die Treppe hinauf. Michael betrachtete derweil leise vor sich hin summend die Bilder in der Halle.

Und dann schrie sie.

Michael erinnerte sich nicht daran, wie er die Treppe hinaufgerannt war, doch plötzlich war er oben, in Johns und Francescas Schlafzimmer, das einzige Zimmer im Haus, das er noch nie betreten hatte.

»Francesca?«, keuchte er. »Frannie, Frannie, was ist …«

Sie saß neben dem Bett und umklammerte Johns Unterarm, der über den Bettrand hing. »Weck ihn auf, Michael!«, schrie sie. »Weck ihn doch auf. Tu es für mich. Weck ihn auf!«

Michael spürte, wie seine Welt ganz langsam, doch unaufhaltsam in sich zusammenfiel. Das Bett stand an der gegenüberliegenden Wand, gut zwölf Fuß entfernt. Aber er wusste es.

Niemand kannte John so gut wie er. Niemand.

Und John war nicht mehr im Zimmer. Er war fort. Was da auf dem Bett lag …

Das war nicht John.

»Francesca«, wisperte er und bewegte sich langsam auf sie zu. Seine Glieder fühlten sich seltsam und komisch und schrecklich schwerfällig an. »Francesca.«

Sie sah ihn aus riesigen entsetzten Augen an. »Weck ihn auf, Michael.«

»Francesca, ich …«

»Sofort!«, kreischte sie und stürzte sich auf ihn. »Weck ihn auf! Das kannst du doch! Weck ihn auf! Weck ihn auf!«

Und alles, was er tut konnte, war einfach nur dastehen, während sie ihm mit den Fäusten auf die Brust trommelte, ihn am Krawattentuch packte und schüttelte, bis er nach Luft schnappte. Er konnte sie nicht einmal in die Arme nehmen, konnte ihr keinen Trost bieten, weil er ebenso verstört und verwirrt war wie sie.

Und plötzlich verließ sie jeder Kampfgeist, sie sank an seiner Brust zusammen, und ihre Tränen netzten sein Hemd. »Er hatte Kopfschmerzen«, wimmerte sie. »Das war alles. Er hatte doch nur Kopfschmerzen. Mehr nicht.« Sie sah zu ihm auf, suchte sein Gesicht nach einer Antwort ab, die er niemals würde geben können. »Er hatte doch nur Kopfschmerzen«, sagte sie noch einmal.

Sie sah völlig gebrochen aus.

»Ich weiß«, erwiderte er, obwohl er wusste, dass dies nicht genug war.

»Oh, Michael«, schluchzte sie. »Was soll ich nur tun?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete er, weil er es wirklich nicht wusste. In Eton, Cambridge und der Armee war er auf alles vorbereitet worden, was das Leben eines Gentleman ausmachte. Aber auf so etwas war er nicht vorbereitet worden.

»Ich verstehe das nicht«, schluchzte sie gerade. Vermutlich sagte sie eine ganze Menge, aber es rauschte an ihm vorüber, ohne dass er es verstand. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, aufrecht stehen zu bleiben, und so sanken sie beide auf den Teppich und lehnten sich an die Seite des Betts.

Blicklos starrte er an die Wand, fragte sich, warum er nicht weinte. Er war wie betäubt, sein Körper fühlte sich schwer an, und er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass man ihm die Seele einfach aus dem Leib gerissen hatte.

Nicht John!

Warum?

Warum?

Und während er so dasaß, sich vage der Dienstboten bewusst war, die sich vor der offenen Tür versammelten, erfasste er plötzlich, dass Francesca genau dieselben Worte wimmerte.

»Nicht John!«

»Warum?«

»Warum?«

»Meinen Sie, sie ist guter Hoffnung?«

Michael starrte Lord Winston an, ein neues und anscheinend übereifriges Mitglied im Ausschuss für Immunitäten und Sonderrechte des Oberhauses, und versuchte zu begreifen, was der Mann wollte. Ihm fiel es immer noch schwer, überhaupt etwas zu begreifen. Und nun hatte er diesen aufgeblasenen kleinen Wicht vor sich, der Gehör forderte und irgendetwas von wegen Pflicht gegenüber der Krone daherfaselte.

»Ihre Ladyschaft«, sagte Lord Winston beharrlich. »Wenn sie guter Hoffnung ist, verkompliziert das die Angelegenheit.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Michael. »Ich habe sie nicht gefragt.«

»Das müssen Sie aber. Bestimmt möchten Sie bald die Kontrolle über ihren neuen Besitz erlangen, aber zuerst müssen wir wirklich feststellen, ob sie guter Hoffnung ist. Falls ja, wird übrigens ein Mitglied des Ausschusses bei der Geburt anwesend sein müssen.«

Michael blieb der Mund offen stehen. »Wie bitte?«, stieß er hervor.

»Vertauschte Babys«, erläuterte Lord Winston grimmig. »Es ist schon mehrmals vorgekommen …«

»Mein Gott …«

»Es dient doch auch der Wahrung Ihrer Interessen«, unterbrach ihn Lord Winston. »Wenn ihre Ladyschaft ein Mädchen zur Welt bringt und niemand dabei ist, der dies bezeugen könnte, was sollte sie davon abhalten, das Kind gegen einen Knaben auszutauschen?«

Michael brachte es nicht über sich, diese Bemerkung mit einer Antwort zu würdigen.

»Sie müssen herausfinden, ob sie guter Hoffnung ist«, drängte Lord Winston. »Wir müssen Vorkehrungen treffen.«

»Sie hat erst gestern ihren Mann verloren«, erklärte Michael scharf. »Ich werde sie jetzt nicht mit solch zudringlichen Fragen belästigen.«

»Hier geht es nicht nur um die Gefühle ihrer Ladyschaft«, entgegnete Lord Winston. »Wir können den Titel nicht richtig übertragen, wenn an der Erbfolge Zweifel bestehen.«

»Zum Teufel mit dem Titel!«, fuhr Michael ihn an.

Lord Winston zuckte sichtlich entsetzt zurück. »Sie vergessen sich, mein Herr.«

»Ich bin nicht Ihr Herr«, fauchte Michael. »Ich bin überhaupt niemandes …« Er hielt inne, ließ sich in einen Sessel sinken und versuchte mit aller Macht, mit der Tatsache fertigzuwerden, dass er den Tränen gefährlich nahe war. Hier in Johns Arbeitszimmer, in Gegenwart dieses ekelhaften kleinen Mannes, der nicht zu begreifen schien, dass ein Mensch und nicht nur ein Earl gestorben war, wollte Michael zu weinen anfangen.

Und das würde er auch. Sobald Lord Winston weg war und Michael die Tür abschließen konnte, damit ihn niemand überraschte, würde er vermutlich das Gesicht in den Händen vergraben und weinen.

»Jemand muss ihr diese Frage stellen«, beharrte Lord Winston.

»Ich nicht«, erklärte Michael leise.

»Dann tue ich es.«

Michael sprang auf und drängte Lord Winston gegen die Wand. »Sie werden Lady Kilmartin nicht zu nahetreten«, knurrte er. »Sie werden nicht einmal dieselbe Luft wie sie atmen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Allerdings«, gurgelte der kleine Mann.

Michael ließ ihn los, da ihm vage bewusst wurde, dass der Mann im Gesicht schon purpurrot anlief. »Raus«, zischte er.

»Sie müssen aber …«

»Raus mit Ihnen!«, schrie Michael.

»Ich komme morgen wieder«, keuchte Lord Winston, während er aus dem Zimmer schlitterte. »Wir werden darüber sprechen, wenn Sie sich wieder beruhigt haben.«

Michael lehnte sich an die Wand und starrte zur offenen Tür. Lieber Himmel, wie hatte es nur dazu kommen können? John war nicht einmal dreißig geworden. Er war die Gesundheit in Person. Michael mochte in der Erbfolge der Nächste sein, solange Johns und Francescas Ehe nicht mit Kindern gesegnet war, doch hatte keiner damit gerechnet, dass er tatsächlich einmal erben könnte.

Schon hatte er gehört, dass ihn die Männer in den Clubs als den größten Glückspilz von ganz England bezeichneten. Über Nacht war er von den Rändern der Aristokratie in den Mittelpunkt gerückt. Niemand schien zu begreifen, dass Michael sich das niemals gewünscht hatte. Niemals.

Er wollte kein Earldom erben. Er wollte seinen Vetter zurück. Und niemand schien das zu verstehen.

Außer vielleicht Francesca, doch die war so in ihren eigenen Kummer verstrickt, dass sie den Schmerz in Michaels Herz nicht völlig begreifen konnte.

Und er würde sie nie darum bitten. Nicht, wenn sie selbst so erschüttert war.

Michael schlang sich die Arme um den Brustkorb, als er an sie dachte. Niemals würde er Francescas Gesichtsausdruck vergessen, als ihr die Wahrheit schließlich bewusst wurde. John schlief nicht. Und er würde auch nicht wieder aufwachen.

Und Francesca Bridgerton Stirling war im zarten Alter von zweiundzwanzig das traurigste Menschenkind, das man sich vorstellen konnte.

Allein.

Michael verstand ihre Verzweiflung besser, als andere sich hätten vorstellen können.

An diesem Abend brachten sie sie ins Bett, er und ihre Mutter, die auf Michaels drängende Botschaft hin sofort herbeigeeilt war. Und sie hatte wie ein Baby geschlafen, ohne einen Laut, so erschöpft war sie von dem Schock.

Doch als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie die sprichwörtliche britische Haltung wiedererlangt, entschlossen, stark zu bleiben und nicht zu wanken und all die vielen Details zu bewältigen, die Johns Tod mit sich brachte.

Das Problem war, dass keiner von beiden wusste, was das wohl für Details sein mochten. Sie waren jung und sorglos. An den Tod hatten sie bisher keinen Gedanken verschwendet.

Wer zum Beispiel hätte gedacht, dass sich der Ausschuss für Immunitäten und Sonderrechte einmischen würde – und bei etwas, was Francescas Privatangelegenheit sein sollte, einen Platz in der ersten Reihe verlangte?

Wenn sie denn tatsächlich guter Hoffnung war.

Aber, zum Teufel, er würde sie das bestimmt nicht fragen.

»Wir müssen es seiner Mutter beibringen«, hatte Francesca an diesem Morgen gesagt. Das war überhaupt das Erste, was sie geäußert hatte, keine einleitende Bemerkung, keine Begrüßung, nur: »Wir müssen es seiner Mutter beibringen.«

Michael hatte genickt, da sie natürlich recht hatte.

»Wir müssen es auch deiner Mutter sagen. Sie sind beide in Schottland. Sicher haben sie es noch nicht erfahren.«

Wieder nickte er. Mehr brachte er nicht zustande.

»Ich schreibe ihnen.«

Worauf er zum dritten Mal nickte und sich fragte, was er wohl tun könnte.

Diese Frage war beantwortet worden, als Lord Winston zu Besuch kam, doch Michael ertrug es nicht, jetzt darüber nachzudenken. Es schien alles so geschmacklos. Er wollte nicht darüber nachdenken, was er durch Johns Tod alles gewann. Wie konnte jemand nur daherreden, als wäre aus alledem auch etwas Gutes erwachsen?

Michael merkte, wie er zu Boden ging, an der Wand nach unten rutschte, bis er auf den Dielen saß, die Beine angewinkelt, den Kopf auf den Knien. Er hatte das alles nicht gewollt. Oder vielleicht doch?

Er hatte Francesca gewollt. Das war alles. Aber doch nicht so. Nicht zu diesem Preis.

Er hatte John sein Glück nie geneidet. Er hatte weder den Titel noch das Geld noch die Macht für sich gewollt.

Er hatte nur seine Frau begehrt.

Und nun sollte er Johns Titel übernehmen, in seine Fußstapfen treten. Und die Schuldgefühle drückten ihm schier das Herz ab.

Hatte er sich das irgendwie doch gewünscht? Nein, unmöglich. Das hatte er nicht.

Oder doch?

»Michael?«

Er sah auf. Es war Francesca. Ihr Gesicht war immer noch ganz eingefallen, ihre Miene eine ausdruckslose Maske – ein Anblick, der ihn mehr verstörte, als es lautes Wehklagen vermocht hätte.

»Ich habe Janet gebeten zu kommen.«

Er nickte. Johns Mutter. Sie wäre am Boden zerstört.

»Und deine Mutter auch.«

Sie würde es ebenso treffen.

»Meinst du, wir sollten noch jemand anderen …«

Er schüttelte den Kopf. Eigentlich sollte er aufstehen, das war ihm klar, das verlangte der gute Ton, doch er fand einfach keine Kraft. Er wollte nicht, dass Francesca ihn so schwach sah, aber er konnte nichts daran ändern.

»Du solltest dich setzen«, sagte er schließlich. »Du brauchst Ruhe.«

»Ich kann nicht«, erwiderte sie. »Ich muss … Wenn ich auch nur einen Moment innehalte, werde ich …«

Sie brach ab, doch das machte nichts. Er verstand sie auch so.

Er sah zu ihr auf. Sie hatte das kastanienbraune Haar schlicht im Nacken zusammengebunden, und ihr Gesicht war bleich. Jung sah sie aus, als wäre sie kaum dem Schulzimmer entronnen, viel zu jung für einen so herzzerreißenden Kummer. »Francesca«, sagte er, weniger fragend als seufzend.

Und dann sagte sie es. Sie sagte es, ohne dass er danach zu fragen brauchte.

»Ich bin schwanger.«

3. KAPITEL

… ich liebe ihn wahnsinnig! Wahnsinnig! Ehrlich, ich würde sterben ohne ihn.

Die Countess of Kilmartin, eine Woche nach ihrer Hochzeit an ihre Schwester Eloise Bridgerton

»Also wirklich, Francesca, du bist die gesündeste werdende Mutter, die mir je untergekommen ist.« Francesca lächelte ihre Schwiegermutter an, die eben den Garten des Stadthauses in St. James betrat, in dem sie nun alle wohnten. Anscheinend über Nacht war Kilmartin House ein reiner Frauenhaushalt geworden. Zuerst war Lady Janet Stirling bei ihnen eingezogen und dann Michaels Mutter Helen Stirling. Das Haus war voller Stirling-Frauen, allerdings alle angeheiratet.

Auf einmal war alles ganz anders.

Es war seltsam. Sie hätte gedacht, dass sie Johns Anwesenheit irgendwie spüren, ihn in der Luft fühlen und ihn im Haus sehen würde, das sie ja immerhin zwei Jahre miteinander geteilt hatten. Doch stattdessen war er einfach weg, und der Zuzug der Frauen hatte die Atmosphäre im Haus vollkommen verändert. Vermutlich war das gut so, glaubte Francesca, denn sie brauchte im Augenblick weibliche Unterstützung.

Aber es war seltsam, nur unter Frauen zu leben. Seitdem gab es im Haus mehr Blumen – man hatte den Eindruck, als stünden überall Vasen herum. Dafür hatten sich der Geruch von Johns Zigarren und seiner Sandelholzseife vollkommen verflüchtigt.

In Kilmartin House roch es jetzt nach Lavendel und Rosenwasser, was Francesca schier das Herz brechen wollte.

Selbst Michael verhielt sich in letzter Zeit merkwürdig distanziert. Er kam natürlich zu Besuch, mehrmals die Woche, wenn man es genau nahm, was Francesca tat. Aber er war nicht da, nicht so wie vor Johns Tod. Er war nicht mehr so wie früher, aber vermutlich sollte sie ihn nicht dafür tadeln, nicht einmal in Gedanken.

Schließlich trauerte er ebenfalls.

Das wusste sie. Und sagte es sich jedes Mal, wenn sie ihm begegnete und er sich distanziert verhielt. Sie sagte es sich, als sie nicht wusste, was sie mit ihm reden sollte. Sie sagte es sich, als er sie nicht mehr neckte.

Und sie sagte es sich, als sie schweigend nebeneinander im Salon saßen.

Sie hatte John verloren, und nun hatte es den Anschein, als verlöre sie Michael ebenfalls. Und obwohl sie zwei Glucken hatte, die sie treu umhegten – drei, wenn sie ihre eigene Mutter mitzählte, die sie jeden Tag besuchte –, fühlte sie sich einsam.

Und sie war traurig.

Niemand hatte ihr je gesagt, wie traurig man sein konnte. Wer hätte auch auf die Idee kommen sollen, sie auf so etwas vorzubereiten? Und selbst wenn jemand daran gedacht hätte, wenn es ihr vielleicht sogar ihre ebenfalls jung verwitwete Mutter erklärt hätte – wie hätte sie es verstehen sollen?

So etwas musste man erleben, um es verstehen zu können. Wie sehr Francesca sich wünschte, nicht zu dieser entsetzlich melancholischen Schar zu gehören.

Und wo war Michael? Warum konnte er sie nicht trösten? Warum war ihm nicht klar, wie sehr sie ihn jetzt brauchte? Ihn, nicht seine Mutter. Überhaupt keine Mutter.

Sie brauchte Michael, den einen Menschen, der John so gekannt hatte wie sie, den einzigen Menschen, der ihn ebenso geliebt hatte. Michael war die einzige Verbindung zu ihrem verstorbenen Ehemann, und sie verübelte es ihm sehr, dass er sich von ihr fernhielt.

Selbst wenn er bei ihr war, im selben Zimmer, war es nicht dasselbe. Sie scherzten nicht mehr miteinander, neckten sich nicht mehr. Sie saßen einfach nur da und sahen traurig und bekümmert aus, und wenn sie etwas sagten, empfanden sie plötzlich Verlegenheit.

Konnte denn gar nichts so bleiben, wie es vor Johns Tod gewesen war? Ihr wäre nie eingefallen, dass ihre Freundschaft mit Michael ebenfalls in Gefahr sein könnte.

»Wie geht es dir, mein Liebes?«

Francesca sah zur Dowager Lady Kilmartin auf und bemerkte erst jetzt, dass ihre Schwiegermutter ihr eine Frage gestellt hatte. Vermutlich sogar mehrere, und sie hatte keine davon beantwortet, weil sie so in ihre eigenen Gedanken verstrickt war. Das passierte ihr in letzter Zeit ziemlich häufig.

»Gut«, erwiderte sie. »Eigentlich nicht anders als vorher.«

Staunend schüttelte Lady Kilmartin den Kopf. »Bemerkenswert. So etwas habe ich noch nie gehört.«

Francesca zuckte mit den Schultern. Ihr war nicht übel, sie hatte keine merkwürdigen Gelüste, nichts. Vielleicht war sie etwas müder als sonst, aber das konnte genauso gut am Kummer liegen. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sie nach dem Tod ihres Mannes ein Jahr lang müde gewesen war.

Allerdings hatte sich ihre Mutter auch um acht Kinder kümmern müssen. Francesca musste nur auf sich selbst achten und hatte noch eine kleine Armee von Dienstboten, die sie behandelten wie eine kranke Königin.

»Du hast Glück«, sagte ihre Schwiegermutter und ließ sich Francesca gegenüber nieder. »Als ich John unter dem Herzen trug, war mir jeden Morgen übel. Und nachmittags meist auch noch.«

Francesca nickte und lächelte. Das hatte Janet ihr schon öfter erzählt. Johns Tod hatte seine Mutter in eine geschwätzige Elster verwandelt – ständig redete sie, versuchte, das Schweigen zu füllen, aus dem Francescas Trauer bestand. Francesca liebte sie dafür, dass sie es versuchte, glaubte aber, dass ihre Wunden nur die Zeit heilen konnte.

»Es freut mich so, dass du guter Hoffnung bist«, sagte Lady Kilmartin und drückte Francesca impulsiv die Hand. »Das macht es alles ein klein wenig erträglicher. Oder vielleicht ein bisschen weniger unerträglich«, fügte sie hinzu. Sie lächelte nicht direkt, sah aber aus, als versuchte sie es.

Francesca nickte nur, weil sie befürchtete, dass sie sonst zu weinen begönne.

»Ich habe mir immer mehr Kinder gewünscht«, gestand ihre Schwiegermutter. »Aber es sollte nicht sein. Und als John starb, bin ich … Also, sagen wir, dass kein Enkelkind jemals stärker geliebt werden wird als das, welches du unter dem Herzen trägst.« Sie hielt inne und wischte sich verstohlen die Augen. »Sag es nicht weiter, aber es ist mir egal, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird. Es ist ein Teil von ihm. Das ist alles, was zählt.«

»Ich weiß«, erwiderte Francesca leise und legte die Hand auf ihren Bauch. Sie wünschte sich ein Lebenszeichen. Sie wusste, dass es noch zu früh war, um die Bewegungen zu spüren. Ihren Berechnungen zufolge war sie noch nicht weiter als im dritten Monat. Die Kleider passten ihr noch genauso gut wie früher, das Essen schmeckte wie eh und je, und auch die anderen Zipperlein, von denen sie gehört hatte, ließen auf sich warten.

Sie hätte sich gern jeden Morgen übergeben, und wenn es nur deswegen wäre, dass sie dann hätte denken können, das Baby winke ihr zu.

»Hast du Michael in letzter Zeit gesehen?«, erkundigte sich Lady Kilmartin.

»Zuletzt am Montag. Er kommt nicht mehr so oft zu Besuch.«

»Er vermisst John«, bemerkte Lady Kilmartin leise.

»Ich auch«, erwiderte Francesca, selbst entsetzt über die Schärfe in ihrem Ton.

»Es ist bestimmt sehr schwer für ihn«, überlegte ihre Schwiegermutter laut.

Francesca starrte sie nur überrascht an.

»Ich will damit nicht sagen, dass es für dich nicht schwer wäre«, beeilte sich die ältere Frau zu versichern, »aber überleg doch mal, in welch schwieriger Situation er sich jetzt befindet. Er muss noch sechs Monate abwarten, ehe er erfährt, ob er den Titel erbt oder nicht.«

»Daran kann ich auch nichts ändern.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Lady Kilmartin beruhigend, »aber ihn bringt es in eine unglückliche Lage. Ich habe nicht nur eine Dame sagen hören, dass sie ihn für ihre Tochter erst dann in Betracht ziehen könne, wenn du ein Mädchen auf die Welt bringst. Der Earl of Kilmartin wäre durchaus eine gute Partie, nicht aber ein verarmter Vetter. Und keiner weiß, was von beidem er am Ende sein wird.«

»Michael ist doch nicht verarmt«, widersprach Francesca missmutig. »Und außerdem würde er nie heiraten, so lange er um John Trauer trägt.«

»Nein, vermutlich nicht, aber ich hoffe, dass er allmählich anfängt, Ausschau zu halten. Ich wünsche ihm so sehr, dass er glücklich wird. Und wenn er der Earl wird, muss er natürlich einen Erben zeugen. Sonst geht der Titel an diese schreckliche Debenham-Bagage.« Schon bei dem Gedanken erschauerte Lady Kilmartin.

»Michael wird seine Pflicht schon erfüllen«, erklärte Francesca, obwohl sie sich da nicht so sicher war. Es fiel ihr schwer, sich ihn verheiratet vorzustellen, war ihr schon immer schwergefallen, weil Michael einfach nicht der Typ war, der einer Frau auf Dauer treu blieb, und jetzt fand sie die Vorstellung nur seltsam. Jahrelang hatte sie John an ihrer Seite gehabt und Michael als ihren Freund. Konnte sie es ertragen, wenn er verheiratet und sie das fünfte Rad am Wagen war? War sie großherzig genug, sich für ihn zu freuen, während sie allein war?

Sie rieb sich die Augen. Sie fühlte sich sehr müde und auch ein bisschen schwach. Vermutlich ein gutes Zeichen. Schwangere waren angeblich oft müde. Sie blickte Lady Kilmartin an. »Ich glaube, ich lege mich ein wenig hin.«

»Eine hervorragende Idee«, lobte ihre Schwiegermutter. »Du brauchst Ruhe.«

Francesca nickte und stand auf. Dann umklammerte sie die Armlehne des Sessels, als sie ein plötzlicher Schwindel überkam. »Ich weiß nicht, was mir fehlt«, sagte sie und rang sich ein zittriges Lächeln ab. »Ich fühle mich ganz benommen. Ich …«

Als sie Lady Kilmartin aufkeuchen hörte, hielt sie inne.

»Janet?« Besorgt sah Francesca ihre Schwiegermutter an. Sie war ganz blass geworden.

»Was ist denn?«, fragte Francesca, und dann merkte sie, dass sie nicht sie ansah, sondern ihren Sessel.

Mit langsam aufkeimender Angst senkte Francesca den Blick und zwang sich, die Sitzfläche anzusehen.

Auf dem Polster war ein kleiner roter Flecken zu sehen.

Blut.

Das Leben wäre einfacher, dachte Michael ironisch, wenn ich zu alkoholischen Exzessen neigte. Wenn es einen passenden Moment gäbe, seinen Kummer in Alkohol zu ertränken, dann wäre er jetzt gekommen.

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