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Das Fest der Weihnachtsschwestern

Als Buch hier erhältlich:

Verschneite Weihnachten in Schottland

Den Schwestern Samantha und Ella Mitchell ist die Weihnachtszeit heilig. Jedes Jahr verbringen sie die Feiertage gemeinsam, backen Kekse und schmücken gemeinsam den Baum. Dieses Jahr aber haben sie einen unerwarteten Gast: ihre Mutter, die sie seit dem großen Streit vor fünf Jahren eigentlich nur noch aus dem Fernsehen kennen. Kann es sein, dass sie wirklich neue Prioritäten setzen und doch eine Rolle im Leben ihrer Töchter spielen will? Samantha und Ella geben ihr eine letzte Chance und treffen sie im romantisch verschneiten Schottland. Schließlich ist ja Weihnachten!

»Perfekte Lektüre für graue Wintertage.«
Ratgeber Frau und Familie über »Die Zeit der Weihnachtsschwestern«

»Die perfekte Wohlfühllektüre im schottischen Gewand.«
Veronica Henry über »Die Zeit der Weihnachtsschwestern«

»Das perfekte Geschenk für Fans von warmherzigen Geschichten über Schwestern und Liebe.«
Booklist über »Die Zeit der Weihnachtsschwestern«

»Keine kitschige Weihnachtsgeschichte, sondern eine, die sich um die Verarbeitung vergangener Ereignisse, Verlust und Schuldgefühle sowie Familienprobleme dreht. Mit diesem Roman beweist die Britin Sarah Morgan, dass sie zu Recht regelmäßig auf den Bestsellerlisten von USA Today ist.«
Schweizer Familie über »Die Zeit der Weihnachtsschwestern«


  • Erscheinungstag: 21.09.2021
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950867
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Für Ele und Si in Liebe.

Zitat

Ich werde Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, es das ganze Jahr über in mir zu tragen.

Charles Dickens: Eine Weihnachtsgeschichte

Gayle

Als Gayle Mitchell dem Live-Interview in ihrem Büro zustimmte, konnte sie nicht ahnen, dass ihr Leben auf derart spektakuläre Weise vor einem Millionenpublikum in die Brüche gehen würde. Interviews zu geben gehörte für sie zum Alltag, und es bestand kein Grund zur Annahme, dass ausgerechnet dieses hier in eine Katastrophe münden würde. Daher saß sie völlig entspannt, womöglich sogar ein klein wenig gelangweilt hinter ihrem Schreibtisch, während die Filmcrew den Raum vorbereitete.

Wie immer waren die Lichter grell und strahlten so viel Hitze aus, dass man darin eine Rinderkeule hätte schmoren können. Trotz der eiskalten Luft, die aus der Klimaanlage strömte, klebte Gayle ihr schmal geschnittenes schwarzes Kleid an den Oberschenkeln.

Jenseits der vollverglasten Außenwände ihres Büros, die sich steil in den Himmel reckten, breitete sich die ihrer Meinung nach aufregendste Metropole der Welt aus. Dass es auch mit die teuerste war, brauchte Gayle seit geraumer Zeit nicht mehr zu interessieren.

Dabei hätte genau diese Stadt Gayle einst fast das Leben gekostet. Aber das war lange her, und die Erinnerungen daran verstärkten eher die tiefe Zufriedenheit, die sie empfand, wenn sie heute von ihrem Reich im fünfzigsten Stock auf New York hinabblickte. Ihr Eckbüro war Gipfel der Welt, ein Symbol für ihren Sieg. Der Stiletto-Absatz, den sie ihrem Gegner in die Brust rammte. Ich habe gewonnen. Sie hatte nichts mehr gemein mit den Leuten, die dort unten durch die kalten Straßenschluchten von Manhattan hasteten und versuchten, in dieser Stadt, die die Schwachen und Verletzlichen mit Haut und Haar verschlang, zu überleben. Von ihrem Arbeitsplatz aus konnte sie das Empire State Building sehen, das Rockefeller Center und in der Ferne den breiten grünen Farbtupfer des Central Park.

Gayle legte den Kopf nach hinten, um sich Frisur und Make-up auffrischen zu lassen. Die Regisseurin diskutierte noch mit dem Kameramann über Beleuchtung und Kamerawinkel. Gayle gegenüber saß die jüngste Reporterin der Morning Show und studierte mit fieberhafter Aufmerksamkeit ihre Aufzeichnungen.

Rochelle Barnard. Sie war wirklich jung, Anfang zwanzig vielleicht. Nur einige Jahre älter, als Gayle gewesen war, damals, als sie den Tiefpunkt ihres Lebens erreichte. Nichts fand Gayle so aufregend wie unverbrauchtes Potenzial, und davon witterte sie bei Rochelle jede Menge. Dafür musste man natürlich wissen, worauf man achten sollte – so wie Gayle. Sie erkannte dieses Potenzial in Rochelles Blick, ihrer Körpersprache, ihrer Haltung. Und die junge Frau brachte noch etwas mit, das Gayle stets bei anderen suchte: Ehrgeiz.

Ehrgeiz war der stärkste Motor, den es gab. Niemand wusste das besser als sie.

Wobei es bei ihr weit über Ehrgeiz hinausgegangen war. Ihr Arbeitseifer hatte an Besessenheit gegrenzt, gepaart mit einer gehörigen Portion Verzweiflung, wobei es ihr rückblickend meistens gelang, diesen Teil auszublenden. Sie war heute ein anderer Mensch, eine Frau, die einer anderen die Hand reichen konnte, um ihr im passenden Moment den nötigen Stups in die richtige Richtung zu geben.

»Zehn Minuten, Miss Mitchell.«

Gayle beobachtete, wie der Licht- und Tontechniker den Reflektor ausrichtete. Machte sie in gewisser Weise nicht genau dasselbe? Sie richtete den Scheinwerfer auf Leute, die ansonsten im Schatten bleiben würden. Sie veränderte Leben. So, wie sie gleich das Leben von Rochelle Barnard verändern würde.

»Legen Sie Ihre Notizen weg«, sagte sie. »Sie werden sie nicht brauchen.«

Rochelle blickte auf. »Aber man hat mir Fragen mitgegeben, die ich Ihnen stellen soll. Ich habe sie selbst erst vor fünf Minuten bekommen.«

Weil sie genüsslich dabei zusehen wollen, wie du dir die Zähne an mir ausbeißt, dachte Gayle.

»Würden Sie mir diese Fragen auch stellen, wenn es nach Ihnen ginge?«

Die Frau blätterte raschelnd durch ihre Unterlagen und verzog das Gesicht. »Um ehrlich zu sein, nein. Aber so will die Chefetage das Interview nun mal haben.«

Gayle beugte sich vor. »Tun Sie immer, was andere Ihnen sagen?«

Rochelle schüttelte den Kopf. »Nein, nicht immer.«

»Schön zu wissen. Ansonsten wären Sie nämlich nicht die Frau, für die ich Sie halte, seit ich letzte Woche gesehen habe, wie Sie den kurzen Beitrag aus dem Central Park moderiert haben.«

»Den haben Sie gesehen?«

»Ja. Ihre Fragen waren hervorragend, und Sie haben sich von diesem kleinen Wiesel von Mann nicht mit Ausflüchten abspeisen lassen.«

»Ist das Interview der Grund dafür, dass Sie darum gebeten haben, heute von mir interviewt zu werden? Ich hatte mich schon gefragt, was wohl dahintersteckt.«

»Sagen wir, ich hatte den Eindruck, dass Sie eine junge Frau mit bislang ungenutztem Potenzial sind.«

»Ich bin sehr dankbar für diese Chance.« Rochelle richtete sich auf und glättete ihren Rock. »Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass ich wirklich hier bin. Die Interviews mit bekannten Persönlichkeiten macht normalerweise Howard.«

Warum nur waren die meisten Leute bereit, einfach klein beizugeben, sobald sich ihnen Hindernisse in den Weg stellten? Warum wollten sie ihre eigene Macht nicht erkennen? Nun ja, natürlich brachte Macht auch Risiken mit sich, und das Gros der Menschheit war nun mal risikoscheu.

»Es ändert sich nichts, bis wir etwas ändern«, erwiderte sie. »Trauen Sie sich was. Finden Sie heraus, was Sie wollen, und dann holen Sie es sich. Und wenn Sie auf dem Weg zum Ziel ein paar Leuten auf den Schlips treten müssen, dann ist es eben so.« Sie schloss die Augen, weil ihr jemand eine Haarsträhne zurechtzupfte und dann mit Haarspray fixierte. »Das hier ist Ihre Chance, mir all die Fragen zu stellen, auf die ein Howard Banks nie kommen würde.«

Und das sind eine ganze Menge, dachte sie. Der Mann hat ungefähr so viel Fantasie und Charisma wie trocken Brot.

Howard hatte sie vor etwa zehn Jahren interviewt und dabei eine unangenehm herablassende und joviale Art an den Tag gelegt. Bei der Vorstellung, wie er sich jetzt ärgern musste, weil sie darauf beharrt hatte, statt von ihm von einer Nachwuchsreporterin interviewt zu werden, empfand Gayle diebische Freude. Mit etwas Glück platzte ihm vor lauter Wut gerade ein Blutgefäß in seiner wichtigsten Körperregion – bei der es sich in Howards Fall höchstwahrscheinlich um sein Ego handelte.

»Wenn ich meinen Vorgesetzten nicht gebe, was sie von mir erwarten, verliere ich vielleicht meinen Job.«

Gayle öffnete ein Auge. »Außer Sie geben ihnen etwas, das ihre Erwartungen übersteigt. Man würde Sie niemals feuern, wenn Sie für hohe Einschaltquoten sorgen. Was steht denn auf der Fragenliste? Lassen Sie mich raten … Meine Work-Life-Balance? Wie ich als Frau in einer Männerdomäne zurechtkomme?«

Langweilig. Oh, so langweilig.

Rochelle lachte auf. »Man merkt, dass Sie ein Profi sind.«

»Denken Sie an Ihr Publikum. Stellen Sie mir die Fragen, die die Zuschauer mir stellen würden, wenn sie hier wären. Was würden Sie selbst hören wollen, wenn Sie eine Frau wären, die unbedingt ihr Leben ändern will? Sagen wir, Sie wollen sich beruflich weiterentwickeln.« Was ja auch zutrifft. »Aber Ihre Kollegen legen Ihnen unablässig Steine in den Weg.« Was garantiert ebenfalls der Wahrheit entspricht. »Was würden Sie in dem Fall von mir wissen wollen?«

Rochelle nahm die Unterlagen von ihren Knien und faltete sie mit einer entschlossenen Geste zusammen. »Ich würde Ihr Erfolgsgeheimnis erfahren wollen – wie Sie es schaffen, alles im Griff zu behalten. Und wie Sie es früher geschafft haben, als Sie noch nichts von alldem hier hatten. Sie kommen von ganz unten. Haben sich das College mit drei Nebenjobs finanziert. Und heute sind Sie eine der erfolgreichsten Geschäftsfrauen überhaupt, haben zahllosen Unternehmen und Einzelpersonen zum Neuanfang verholfen. Ich würde wissen wollen, ob ich womöglich von Ihrem Erfahrungsschatz profitieren kann. Ob Sie auch mir bei einem Neustart helfen können. Und am Ende wäre ich gern so erfüllt von Inspiration, dass ich am liebsten beim Sender anrufen und mich für den Beitrag bedanken würde.«

»Und Sie glauben wirklich, dafür würde man Sie feuern?«

Rochelle starrte sie an. »Nein. Nein, das glaube ich nicht.« Sie klatschte die Unterlagen auf den Tisch. »Was ist denn nur los mit mir? Ich habe all Ihre Bücher gelesen, und zwar mehrfach. Und trotzdem war ich drauf und dran, Ihnen einfach die Fragen zu stellen, die man mir in die Hand gedrückt hat. Einer meiner Lieblingsabschnitte in Ihrem letzten Buch war der über die Erwartungen anderer Menschen. Dass sie wie Zügel sind, die uns zurückhalten. Auf dem College waren Sie unser großes Vorbild.« Sie legte sich eine Hand auf die Brust. »Sie kennenlernen zu dürfen ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk.«

»Wieso denn Weihnachten?«

»Bis dahin sind es nur noch ein paar Wochen. Ich liebe die Feiertage. Sie nicht?«

Nein, das konnte Gayle wahrlich nicht von sich behaupten. Es missfiel ihr, dass die Welt in dieser Zeit zum Stillstand kam. Sie mochte weder die überfüllten Straßen noch die geschmacklosen Dekorationen. Und die unangenehmen Erinnerungen, die an der Weihnachtszeit hafteten wie die Überreste von altem Paketband, mochte sie ebenfalls nicht.

»Sind Sie nicht schon ein bisschen zu alt dafür, sich auf Weihnachten zu freuen?«, fragte sie.

»Dafür ist man doch nie zu alt.« Rochelle lachte. »Ich finde es einfach schön, wenn die ganze Familie zusammenkommt. Dazu ein riesiger Baum, Geschenke vor dem Kaminfeuer … Sie wissen schon, das ganze Programm.«

Gayle richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Visagistin, die ihr mit einem Lippenstift vor dem Gesicht herumwedelte. »Nicht dieses grauenhafte Braun. Rot.«

»Aber …«

»Rot. Und keinen von diesen faden, verwaschenen Tönen. Ich trage Knallrot, Schaut-alle-her-Rot. Warten Sie, ich habe genau den richtigen Lippenstift in meiner Handtasche.«

Nach einigem Wühlen und Suchen war die passende Farbe gefunden.

Gayle hielt still, während die Visagistin ihre Arbeit beendete. »Das hier ist Ihre Chance, Rochelle. Nutzen Sie sie. Wenn es Ihnen gelingt, das Publikum zu beeindrucken, haben Ihre Chefs nichts gegen Sie in der Hand.«

Erledigt.

Gayle verfügte über die Macht, Rochelle einen Stups in die richtige Richtung zu geben, und hatte sie soeben erfolgreich eingesetzt. Es gefiel ihr, anderen Menschen die Art Chance zu vermitteln, die sie selbst nie erhalten hatte. Wie es weiterging, lag dann bei diesen Menschen selbst.

»Noch fünf Minuten, Miss Mitchell.« Die Regisseurin musterte prüfend die Regale hinter Gayles Schreibtisch. »Wenn wir mit dem Interview fertig sind, machen wir vielleicht noch ein paar Einzelaufnahmen zu Werbezwecken.«

»Alles, was Sie brauchen.« Wenn sie die Zuschauer mit ihrer Geschichte inspirieren konnte, war sie glücklich. Sie wollte, dass auch andere Frauen begriffen, wie viel Macht und Stärke sie besaßen.

Rochelle beugte sich zu ihr vor. »Für den Fall, dass ich nachher nicht mehr die Chance habe, mich angemessen bei Ihnen zu bedanken, möchte ich Ihnen jetzt schon sagen, wie viel mir Ihre Unterstützung bedeutet. Sie haben ja keine Vorstellung, wie sehr es mich inspiriert, dass Sie das Leben, von dem Sie in Ihren Büchern erzählen, auch tatsächlich leben. Was Sie da schreiben, ist nicht nur heiße Luft. Sie haben es bis ganz nach oben geschafft, und trotzdem nehmen Sie sich die Zeit, anderen eine helfende Hand zu reichen.«

Ein verdächtiger Schimmer trat in Rochelles Augen.

Sofort schrillten Gayles Alarmglocken los. Die helfende Hand war nicht dazu geeignet, Taschentücher zu verteilen. Wenn man seine Ziele erreichen wollte, blieb kein Raum für Emotionen. Gefühle begünstigten unvorteilhafte Entscheidungen und übten negativen Einfluss auf die Umgebung aus. Gayles Angestellte wussten, dass sie gut daran taten, ihre Gefühle nie zum Thema zu machen.

Ich will Tatsachen und Lösungen, keine Tränen.

Aber das konnte Rochelle ja nicht wissen.

»Im College hatten wir ein Mantra: Was würde GM jetzt tun?« Sie wurde rot. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass wir Sie so genannt haben.«

Manche Leute sagten, »GM« stünde für »Göttin des Managements« oder »Großes Mastermind«. Allerdings gab es in Gayles Team auch einige Mitarbeiter, die glaubten, es stünde für »Gen-modifiziert«. Nicht, dass einer von ihnen je den Mut aufgebracht hätte, ihr das ins Gesicht zu sagen.

Rochelle versprühte weiter ungehemmte Bewunderung. »Sie fürchten nichts und niemanden. Sie waren ein Vorbild für so viele von uns. Wie Sie Ihre Karriere, Ihr Leben geformt haben … Sie entschuldigen sich niemals für die Entscheidungen, die Sie getroffen haben.«

Warum denn auch? Und bei wem?

»Nutzen Sie Ihre Chance, Rochelle. Hat mein Assistent Ihnen bereits ein Exemplar meines nächsten Buchs gegeben?«

»Ja, sogar ein signiertes.« Rochelle schien ihr inneres Groupie wieder in den Griff bekommen zu haben. »Übrigens finde ich es echt stark, dass Sie einen Mann als Assistenten eingestellt haben.«

»Cole passte am besten auf das Stellenprofil.«

Aus dem Augenwinkel überprüfte sie die Schreibtische ihrer wichtigsten Führungskräfte. Bill Keen und sie selbst waren die einzigen Mitglieder des Unternehmens mit eigenem Büro. Alle anderen arbeiteten in dem lichtdurchfluteten Großraumbüro, das sich über die gesamte Breite des Gebäudes erstreckte. Manchmal ließ Gayle von ihrer sicheren Oase hinter der Glaswand aus den Blick über ihr Reich schweifen und dachte: All das habe ich eigenhändig aufgebaut, mit nichts weiter als Schneid und eiserner Willenskraft.

Die glänzende Rundung von Simon Beltons Kahlkopf war über der Trennwand seiner Arbeitsnische gerade eben so erkennbar. Er war heute Morgen noch vor ihr eingetroffen, was ihrer Stimmung einen kleinen Extrakick gegeben hatte. Simon arbeitete hart, auch wenn es ihm ein wenig an innovativen Ideen mangelte. Neben ihm saß Marion Lake. Gayle hatte sie im Vorjahr als Marketingchefin ins Haus geholt, befürchtete aber mehr und mehr, eine Fehlentscheidung getroffen zu haben. Gerade erst heute Morgen hatte sie bemerkt, dass Marion ihren Blazer über die Stuhllehne geworfen hatte, um ihre Anwesenheit vorzugaukeln.

Gayle verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. Wenn sie jemandem eine Chance gab, dann erwartete sie, dass dieser Jemand sie auch nutzte.

Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, wurde sie immer wieder unterschätzt. Glaubte Marion ernsthaft, ein Blazer auf einem Stuhl würde Gayle davon überzeugen, dass sie heute bereits zur Arbeit erschienen war? Auf dem Schreibtisch hatte kein Kaffee gestanden, und Gayle wusste genau, dass Marion ohne Kaffee nicht lebensfähig war. Außerdem war es an ihrem Arbeitsplatz totenstill gewesen. Marion hatte aber eine laute Stimme und die lästige Angewohnheit, sie auch häufig einzusetzen – eine Unart, die womöglich mit besagten Unmengen an Kaffee zusammenhing, die sie in sich reinschüttete. Wäre Marion tatsächlich irgendwo in der Nähe gewesen, dann hätte Gayle sie garantiert gehört.

Sie hatte schon oft gedacht, dass sie eine hervorragende Detektivin abgegeben hätte.

»Wir gehen in drei Minuten live«, sagte jemand von der Filmcrew, und Gayle nahm eine bequemere Sitzhaltung ein und glättete bewusst ihre Züge.

Sie hatte schon Hunderte von Interviews gegeben, teils live, teils aufgezeichnet. Daher fand sie die Situation nicht im Geringsten beängstigend. Es gab keine Frage, die man ihr nicht schon x-mal gestellt hatte, und für den Fall, dass das Gespräch eine Wendung nehmen sollte, die ihr missfiel, verfügte sie über ein ganzes Repertoire an Ausweichmanövern. Wie alles im Leben war es nur eine Frage der Entscheidung. Nicht die anderen hatten die Kontrolle, sondern Gayle.

In Gedanken summte sie ein paar Takte der Puccini-Oper, die sie vergangene Woche besucht hatte. Herrlich. Natürlich auch dramatisch und tragisch … Aber so war das Leben nun einmal.

Rochelle räusperte sich und fuhr sich durchs Haar.

»Live in fünf, vier, drei …« Der Mann hob erst zwei, dann einen Finger, und Gayle musterte die junge Reporterin. Sie hoffte aufrichtig, Rochelle würde ihr die richtigen Fragen stellen. Andernfalls hätte sie sich schwer in ihr geirrt.

Rochelle sprach direkt in die Kamera. Ihre Stimme war klar und selbstbewusst. »Guten Morgen, ich bin Rochelle Barnard, und ich befinde mich hier im Büro von Mitchell and Associates im Zentrum von Manhattan, um Gayle Mitchell zu interviewen – bei ihren Angestellten und Millionen Fans besser bekannt als GM. Sie zählt zu den mächtigsten und bekanntesten Frauen der Geschäftswelt und hat es bis ganz nach oben geschafft. Ihr letztes Buch Du hast die Wahl stand zwölf Monate lang auf Platz eins der Bestsellerliste. Kommende Woche erscheint ihr Ratgeber Dein neues Ich. Sie ist eine der wichtigsten Autoritäten im Bereich Veränderungsmanagement und bekannt für ihre philanthropische Arbeit. Vor allem aber macht sie sich stark für Frauen. Erst diese Woche wurde ihr im Rahmen eines glamourösen Events hier in Manhattan der begehrte Star Award in der Kategorie ›Frauen in Führungspositionen‹ verliehen. Herzlichen Glückwunsch, Miss Mitchell. Wie fühlt es sich an, solche Anerkennung für Ihre Arbeit zu erfahren?«

Gayle neigte den Kopf, damit die Kamera sie von ihrer besten Seite einfing. »Selbstverständlich fühle ich mich geehrt. Aber eine noch viel größere Ehre ist es mir, anderen Frauen dabei helfen zu dürfen, ihr eigenes Potenzial zu erkennen und auszuschöpfen. Es heißt so oft, wir könnten nicht mithalten, Rochelle. Und als Spitzenkraft ist es meine Aufgabe, andere Frauen dazu zu ermutigen, diese Ansicht infrage zu stellen.«

Sie lächelte. Es war wichtig, dass sie menschlich und sympathisch wirkte.

»In der Vergangenheit haben Sie sich mit großem Elan für die Stellung von Frauen in der Arbeitswelt eingesetzt. Welcher Antrieb steckt hinter diesem Engagement?«

Gayles Antwort kam flüssig und natürlich.

»Die Menschen lieben oder hassen Sie«, setzte Rochelle zu ihrer nächsten Frage an. »Was Gayle Mitchell betrifft, scheint es keine Grauzone zu geben. Gibt es Ihnen zu denken, dass manche Leute Sie für skrupellos halten?«

»Ich bin Geschäftsfrau, und dafür brauche ich mich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Gayle. »Es gibt Menschen, die den Erfolg anderer per se als bedrohlich empfinden und Angst vor Veränderungen haben. Ich dagegen finde Veränderungen begrüßenswert. Veränderungen bedeuten Fortschritt, und wir alle wollen Fortschritte machen. Veränderung ist das Einzige, was uns voranbringt.«

»Mitchell and Associates bezahlt seine Praktikantinnen und Praktikanten besser als irgendein Unternehmen sonst. Sie haben zudem ein Stipendienprogramm ins Leben gerufen. Warum haben Sie beschlossen, in diesen Bereich zu investieren?«

Weil sie sich einst, vor langer Zeit, als sie einsam und verzweifelt gewesen war, geschworen hatte, dass sie eines Tages Menschen in ähnlicher Situation helfen würde, wenn sie sich je in einer entsprechenden gesellschaftlichen Position wiederfinden sollte.

Aber das ging niemanden etwas an. Ein derartiges Eingeständnis hätte ihr als Schwäche ausgelegt werden können. Und wie hätte man ihren Hintergrund auch verstehen sollen? Die junge Frau, die gerade vor ihr saß, hatte nie erlebt, was es bedeutete, wenn die Existenzängste einem die Luft abschnürten. Gayle dagegen wusste, was für tiefe Wunden diese Krallen schlagen konnten. Sie wusste, wie leicht man zum Gefangenen seiner Angst werden und in einen Zustand der Erstarrung verfallen konnte. Und sie wusste auch, wie schwer es war, sich wieder daraus zu befreien. Doch sie war bereit, einigen wenigen, würdigen Menschen zu zeigen, wo sie den Schlüssel finden konnten, der aus diesem Gefängnis führte.

»Ich betrachte mein Engagement als Investition …« Sie erzählte ein wenig mehr darüber, wie sie sich für Menschen aus unterprivilegierten Verhältnissen einsetzte.

Ein Ausdruck tiefster Bewunderung trat in Rochelles Augen. »Manche Leute behaupten, Sie hätten einfach nur Glück gehabt. Wie reagieren Sie darauf?«

Nicht besonders freundlich.

Für Glück und Zufälle gab es in Gayles Leben keinen Platz. Sie hatte gründlich durchdachte Entscheidungen getroffen und sich dabei von ihrem Verstand leiten lassen, nicht von ihren Gefühlen. Dem Zufall hatte sie rein gar nichts zu verdanken. Sie hatte ihr Leben selbst erschaffen, und deswegen sah es nun genau so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte.

»Es ist leichter, sich einzureden, dass andere einfach nur Glück hatten, als zuzugeben, dass wir alle unser Leben selbst in der Hand haben. Unterstellt man einem anderen reines Glück, verkennt man seine Leistung – ein Verhalten, das meist aus Unsicherheit entsteht. Wer an Glück und Zufall glaubt, drückt sich vor der eigenen Verantwortung. Ganz gleich, welchen Lebensweg man geht und welche Ziele man sich setzt, es ist wichtig, dabei aktive Entscheidungen zu treffen.«

Sie richtete den Blick direkt in die Kamera.

»Wenn Sie unzufrieden mit Ihrem Leben sind, dann setzen Sie sich jetzt sofort hin und schreiben Sie all die Dinge auf, an denen Sie gern etwas ändern würden. Ihr Alltag macht Sie unglücklich? Dann tun Sie etwas dagegen! Sie beneiden jemanden? Dann fragen Sie sich, um was genau! Wie soll Ihr Leben aussehen? Die Antwort auf diese Frage ist der erste Schritt in Ihr neues Leben.«

Rochelle nickte. »Ihr Buch Du hast die Wahl hat mein Leben nachhaltig verändert – und ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, der es so erging.«

»Ich bin mir sicher, dass die Zuschauer gern mehr über Ihre Geschichte erfahren würden.« Gayle bezog das Publikum mit ein, als wäre es live vor Ort. Sie wusste, dass in diesem Augenblick Frauen in Wohnzimmern und Küchen im ganzen Land vor dem Fernseher klebten und auf ein Allheilmittel warteten, das ihrem Leben einen neuen Sinn gab. Einige Minuten lang würden Telefone ungehört weiterklingeln, Babys ungetröstet plärren, Besucher vergeblich läuten. Hoffnung würde aufkeimen, die flüchtige Vision einer anderen Zukunft, die die Zuschauerinnen für einen Augenblick von ihrer Erschöpfung und Desillusionierung befreite.

Natürlich war Gayle bewusst, dass die meisten dieser Frauen wieder in ihr altes Leben zurückkehren würden, sobald das Interview vorüber war. Doch jetzt, in diesem Moment, waren sie hier bei ihr, wollten hören, was sie zu sagen hatte.

»Nichts ist so inspirierend wie die persönlichen Erfahrungen anderer« fuhr sie fort. »Mein Ansatz lässt sich auf jeden Lebensalltag anwenden, ganz gleich, ob Sie einen Haushalt oder ein Unternehmen führen.«

»Ich habe mich von meinem Partner getrennt.« Rochelle lachte nervös, als könnte sie selbst nicht glauben, dass sie das gerade vor laufenden Kameras und einem Millionenpublikum zugegeben hatte. »Nachdem ich das Kapitel Was deinen Zielen im Weg steht gelesen hatte, schrieb ich alles auf, was mich davon abhielt, mich weiterzuentwickeln. Zu meiner Überraschung stand der Mann, mit dem ich damals zusammen war, ganz oben auf der Liste. Und dann die Kapitel über Freundschaftsrevision und Kontaktentrümpelung … einfach genial! Stell dir die Frage, ob dich diese Beziehung deinen Zielen näher bringt. Nun, da möchte ich natürlich gern wissen, ob auch Sie, GM, sich diese Frage in Ihrem Privatleben regelmäßig stellen?«

»Selbstverständlich. Meine Bücher sind eigentlich nichts weiter als eine Blaupause des Lebenswegs, den ich gegangen bin. Die zentrale Botschaft von Du hast die Wahl lautet, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen sollten. Dein neues Ich dagegen beschäftigt sich eher mit unserer tief verwurzelten Angst vor Veränderungen.«

Wunderbar. Sie hatte beiläufig ihr neues Buch erwähnt, und da sie live auf Sendung waren, konnte niemand diesen Teil des Interviews herausschneiden. Ihr Verlag würde begeistert sein.

»Ich will, dass alle Frauen dieser Welt ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – von der Barista, die mir jeden Morgen meinen Kaffee serviert, bis zu meiner Finanzberaterin.« Wieder blickte sie direkt in die Kamera. »Sie haben mehr Macht, als Sie glauben.«

Rochelle beugte sich vor. »Besonders bekannt ist Ihr Ausspruch, man könne nicht alles haben. Mussten Sie selbst Opfer für Ihre Karriere bringen?«

»Ich habe keine Opfer gebracht, sondern Entscheidungen getroffen. Entscheidungen. Machen Sie sich klar, was Sie wollen, und dann nehmen Sie es sich. Ohne Wenn und Aber.«

»Sie haben also nie im Leben eine Entscheidung getroffen und sie später bereut?«

Reue?

Für einen Sekundenbruchteil geriet Gayle innerlich ins Schleudern. Wie gründlich hatte diese Frau recherchiert?

Dann setzte sie sich aufrechter hin und schaute erneut in die Kamera. »Nein, nicht eine einzige.«

Und damit war das Interview vorbei.

Rochelle klipste ihr Mikrofon ab. »Danke.«

»Gern.« Gayle stand auf. »Wie sind Sie eigentlich beim Fernsehen gelandet?«

»Nach dem College habe ich mich auf eine Menge Stellen beworben, aber immer nur Pech gehabt.« Jetzt, wo sie nicht mehr auf Sendung waren, wirkte Rochelle entspannt und gesprächig. »Dann bot man mir ein Praktikum im Studio an. Ich durfte einem Reporter über die Schulter schauen, und weil sie mich telegen fanden, bekam ich die Gelegenheit, selbst hin und wieder zu präsentieren. Man kann also sagen, dass ich in den Job hineingestolpert bin.«

Gayle verzog das Gesicht. Man stolperte in Gruben – nicht in Jobs.

»Heute sind Sie an einem Scheideweg angelangt, Rochelle. Dieses Interview wird Ihnen einige Türen öffnen. Ich hoffe, Sie gehen auch hindurch.«

»Danke, GM. Ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben.« Rochelle sah kurz zur Crew hin, dann wandte sie sich wieder Gayle zu. »Wir bräuchten noch Fotos, damit wir das Interview auf unserer Homepage und in den sozialen Medien bewerben können.«

»Selbstverständlich.« Gayle trat vor ihr Bücherregal und nahm eine schmeichelhafte Haltung ein, wobei sie darauf achtete, dass ihre beiden Bücher samt Cover klar zu erkennen waren.

Der Fotograf schaute sich um. »Könnten wir vielleicht ein Foto mit dem Award bekommen?«

Dem Award?

Gayle folgte seinem Blick. Die Trophäe stand ganz oben auf dem Regal, das die einzige massive Wand in ihrem Büro säumte. Wäre das Ding vorzeigbar gewesen, hätte Gayle es sicher an einer prominenteren Stelle untergebracht. Aber es handelte sich um ein hässliches Ungetüm, das offenbar von jemandem entworfen worden war, dem es nicht nur an kunsthandwerklichem Geschick, sondern auch an Inspiration mangelte. Der Goldstern an sich war nicht weiter schlimm, aber er ruhte auf einem ausgesprochen scheußlichen Sockel. Als er ihr am Vorabend überreicht worden war, hatte sie unwillkürlich an einen Grabstein denken müssen, aber natürlich trotzdem gelächelt und erfreut getan.

An ihrer Einstellung dem Teil gegenüber hatte sich über Nacht nichts geändert.

Sie musterte den Award mit derselben Verachtung, die sie gestern bei der Verleihung empfunden hatte. Welche Botschaft schickte sie in die Welt hinaus, wenn sie sich mit etwas fotografieren ließ, das optisch derart wenig ansprechend war? Dass sie bereit für den Tod war und auch schon für den nötigen Grabstein gesorgt hatte?

Sie spähte nach draußen, wo ihr Assistent Cole sich während des Interviews zur Verfügung halten sollte, für den Fall, dass er gebraucht wurde. Wo steckte er bloß? Er hätte mit dieser Entwicklung rechnen und die Trophäe bereithalten müssen.

Entweder sie wartete ab, bis er zurückkam – was bedeutete, dass das Fernsehteam weiter in ihrem Büro herumlungern würde –, oder sie holte das verdammte Ding einfach selbst herunter.

Verärgert streifte sie die Schuhe ab und schob ihren Bürostuhl zum Regal.

Der Fotograf räusperte sich. »Lassen Sie mich das doch machen, Miss Mitchell. Ich bin größer als Sie und …«

»Stühle wurden unter anderem auch erfunden, damit Frauen sich daraufstellen können, falls es nötig ist.«

Trotzdem verfluchte sie Cole in Gedanken dafür, dass er den Award ganz nach oben gestellt hatte, bis ihr wieder einfiel, dass sie selbst ihm diese Anweisung gegeben hatte.

Sie stieg auf den Stuhl und streckte die Hand aus.

Warum hatte Cole das Teil bloß so weit nach hinten geschoben? Vermutlich, weil er es ebenfalls abscheulich fand.

Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, geriet der Stuhl leicht ins Wackeln. Sie schloss die Rechte um den Sockel. Zu spät erinnerte sie sich daran, dass sie gestern Abend beide Hände gebraucht hatte, um den Preis entgegenzunehmen. Als sie die Trophäe schwungvoll vom Regal zog, wackelte der Stuhl erneut, und diesmal verlor Gayle ebenfalls das Gleichgewicht.

Als sie begriff, dass sie stürzen würde, war es zu spät, um noch etwas dagegen zu unternehmen.

Mit der freien Hand schnappte sie nach dem Regal, aber anstatt ihr Halt zu bieten, kippte es auf sie zu. Gayle hatte gerade noch Zeit, sich vorzunehmen, das hirnlose Geschöpf zu feuern, das vergessen hatte, das Regal an der Wand festzuschrauben, dann fiel sie. Fiel und fiel und prallte schließlich hart auf dem Boden auf, wobei sich einer der Zacken des schweren Goldsterns in ihren Schädel bohrte.

Sie war noch lange genug bei Bewusstsein, um sich zu wünschen, der Innenausstatter hätte einen hochflorigen Teppich verlegen lassen, dann wurde die Welt schwarz.

Für einen kurzen Augenblick hatte sie das Glück, nichts von dem Chaos mitzubekommen, das um sie herum ausbrach. Sie hörte weder Rochelles schrillen Schrei noch das unablässige Klicken der Kamera.

Als sie langsam wieder zu sich kam, ergab nichts einen Sinn. Sie hörte ein tiefes Summen, das aus ihrem Kopf zu kommen schien. War sie tot? Bestimmt nicht, denn sonst hätte sie wohl nichts hören können.

Um sie herum hasteten die Leute panisch herum, obwohl Panik in ihrem Büro doch strengstens verboten war.

»Oh Gott, ist sie tot? Ist sie tot?«

»Nein, sie atmet noch, ganz sicher.«

Gayle war erleichtert, dass ein Außenstehender ihre Vermutung bestätigte.

»Aber sie ist bewusstlos. Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie sind schon auf dem Weg.«

»Hat sie echt ein Loch im Kopf? Ich glaube, ich werde ohnmächtig.«

»Reiß dich zusammen.« Eine raue Männerstimme. »Hast du das im Kasten, Greg?«

»Ja, alles mitgefilmt. Das wird ein glücklicher Tag für die Klatschpresse. Ich wette, Starstruck zahlt am besten.«

»Habt ihr denn nicht mal den kleinsten Funken Anstand im Leib?« Das war Rochelles Stimme. Sie klang, als stünde sie unter Schock. »Hier liegt eine schwer verletzte Frau am Boden, und euch fällt nichts Besseres ein, als euch Schlagzeilen auszudenken?«

Wussten diese Leute denn nicht, dass sie alles hören konnte? Warum nur fiel den Menschen das Mitdenken so schwer? Sie hatte keine Ahnung, wie lang sie bewusstlos gewesen war. Eine Minute? Eine Stunde? Einen Tag? Nein, wäre es ein Tag gewesen, hätte sie sich beim Aufwachen in einem Krankenhausbett wiedergefunden, umgeben von piependen Maschinen.

Ihr Brustkorb schmerzte. Warum?

Ihr fiel wieder ein, dass das Bücherregal mit ihr zusammen umgekippt war. Entweder jemand hatte es im Fall aufgefangen oder danach von ihr heruntergewuchtet. Und was den Award betraf … über dessen Verbleib hatte sie nicht die leiseste Ahnung. Wobei ihre Kopfschmerzen allerdings darauf schließen ließen, dass er immer noch in ihrem Schädel steckte.

Ein Krachen ertönte, dann flog ihre Bürotür auf.

Gayle versuchte, die Augen zu öffnen und irgendjemanden mit ihrem mörderischsten Blick zu bedenken, aber ihre Lider waren zu schwer.

Sie hörte weitere Stimmen, souverän und bestimmt diesmal. Vermutlich die Sanitäter.

»Wie heißt sie?«

Warum fragte er nach ihrem Namen? Erkannte er sie denn nicht? Jeder wusste, wer sie war. Sie war eine Legende. Gerade erst gestern war sie für ihre Vorbildfunktion ausgezeichnet worden, und auch wenn die Trophäe selbst gerade nicht so gut zu erkennen sein mochte, war die Award-förmige Delle in Gayles Schädel ja wohl bestimmt nicht zu übersehen.

Sie würde den Organisatoren schreiben und vorschlagen, der nächsten Gewinnerin doch lieber eine Brosche zu überreichen.

»Gayle? Können Sie mich hören? Ich bin Dan.«

Wie konnte er es wagen, sie einfach so beim Vornamen zu nennen? Sie war entweder Miss Mitchell oder GM. Die Jugend von heute kannte keinen Respekt. Deswegen beharrte sie in ihrem Büro ja auch so sehr auf einem förmlichen Umgang.

Dieser »Dan« blaffte seinem Partner einige Anweisungen zu, dann nahm er ihre Verletzungen weiter in Augenschein.

Gayle spürte, wie an ihr herumgepikt und – gedrückt wurde.

»Wurde ihre Familie bereits kontaktiert? Irgendjemand, der ihr nahesteht?«

»Der ihr … was?« Das war Cole. Er klang gestresst und durcheinander.

»Nahestehende Personen. Familie? Freunde? Angehörige?« Der Rettungssanitäter drückte ihr etwas an den Kopf.

»Ich glaube nicht …« Cole räusperte sich. »Sie hat niemanden, der ihr nahesteht.«

»Irgendjemanden muss sie doch haben.« Dan zog Gayles Lider auf und leuchtete ihr mit einer Taschenlampe in die Augen.

»So lange hat ihr vermutlich seit Jahren niemand mehr in die Augen geschaut.«

Sehr lustig, dachte Gayle. Coles Sinn für Humor war ihr bisher entgangen. Was für eine Schande, dass der Witz auf ihre Kosten ging.

»Kein Partner?« Das war wieder Dan, der irgendetwas tat, das offenbar dazu dienen sollte, ihren Nacken zu stützen.

»Nein. Nur die Arbeit. Sie liebt ihre Arbeit.«

»Wollen Sie mir weismachen, dass es in ihrem Leben niemanden gibt, der ihr etwas bedeutet?«

»Nun ja, da ist natürlich Puccini …«

»Na also! Dann rufen Sie diesen Puccini an und erklären Sie ihm, was passiert ist. Er soll bitte ins Krankenhaus kommen.«

Gayle hätte gern die Augen verdreht, aber die Kopfschmerzen waren einfach zu stark. Sie hoffte inständig, dass sich dieser Rettungssanitäter mit Kopfverletzungen besser auskannte als mit Kultur.

»Puccini war ein Komponist. Opern. GM liebt Opern. Menschen dagegen nicht so sehr. Sie ist nicht der Familientyp. GM ist mit ihrer Arbeit verheiratet.«

Dan klipste etwas an ihren Finger. »Oh Mann, wie traurig.«

Traurig? Traurig?

Sie leitete eine der erfolgreichsten Beratungsfirmen Manhattans. War eine begehrte Rednerin. Hatte einen Bestseller geschrieben – bald sogar zwei, wenn man nach den Vorbestellungen ging. Was war daran traurig? Ihr Leben erregte Neid, kein Mitleid.

»Als Chefin ist sie dadurch jedenfalls ein ziemlicher Dragoner«, murmelte Cole. »Nicht mal zur Beerdigung meiner Großmutter hat sie mich gelassen, weil sie einen wichtigen Termin hatte und mich hier brauchte.«

Cole hielt sie für einen Dragoner?!

Nein. Nein! Sie war doch kein Dragoner. Sie war ein Vorbild! Die Journalistin hatte das auch gesagt. Sicher, Gayle arbeitete hart, aber dafür gab es gute Gründe. Und hätte sie nicht so hart gearbeitet und dem Unternehmen dadurch zu seinem heutigen Erfolg verholfen, hätte auch niemand aus ihrem Team seinen schönen, bequemen und sicheren Job gehabt. Warum nur wollte das niemand anerkennen? Vielleicht sollte sie diese Trophäe in Zukunft nutzen, um ihren Angestellten damit täglich ein wenig gesunden Menschenverstand einzubläuen.

Es war an der Zeit, zu signalisieren, dass sie wach war – ehe sie noch mehr über sich zu hören kriegte, was sie lieber nicht wissen wollte.

»Ich kann mir so ein Leben gar nicht vorstellen«, sagte der Rettungssanitäter und tätschelte dabei auf der Suche nach einer Vene Gayles Hand. »Aber wenn man keine Familie hat, arbeitet man wohl. So einfach ist das.«

Er schob eine Nadel in Gayles Handrücken, und hätte sie sprechen oder sich bewegen können, hätte sie wohl lautstark protestiert und ihm einen Schlag verpasst – sowohl für die Schmerzen als auch für das, was er gesagt hatte.

So einfach war das nämlich keinesfalls. Er unterstellte ihr, sie würde aus Einsamkeit arbeiten. Aber das war nicht der Fall. Ihre Arbeit war nicht ihr Plan B – die Arbeit war das, wofür Gayle sich bewusst entschieden hatte.

So wie sie sich für alles in ihrem Leben bewusst entschieden hatte. Sie hatte ihr Leben selbst erschaffen, nichts dem Zufall überlassen und darüber sogar ein Buch geschrieben! Ihr Leben war perfekt, maßgeschneidert. Ein Haute-Couture-Leben. Alles, was sie sich je gewünscht hatte.

»Ihr Leben muss sich ganz schön leer anfühlen.«

Leer? Hatte der Mann sich auch nur eine Sekunde lang hier im Büro umgeblickt? Hatte er die Aussicht bemerkt? Es stimmte zwar, dass sie selbst nicht sonderlich oft hinausschaute, weil sie dafür viel zu beschäftigt war. Aber alle Welt bestätigte, wie fantastisch die Aussicht war. Hatte er nicht die Fotos gesehen, die sie mit zahlreichen Industriemagnaten rund um den Globus zeigten?

Ihr Leben war nicht leer, es war zum Bersten gefüllt!

»Ja, das arme Ding.«

Sie war kein armes Ding. Sie war ein Kraftwerk!

Diese Leute sahen nichts anderes in ihr als die Geschäftsfrau. Darüber hinaus wussten sie nichts über sie. Sie wussten nicht, wie hart sie dafür gearbeitet hatte, es bis ganz nach oben zu schaffen. Wussten nicht, weshalb sie so war, wie sie war. Wussten nichts von ihrer Vergangenheit, ihrer Vorgeschichte. Wussten nichts von den Dingen, die ihr widerfahren waren.

Sie kannten sie kein bisschen. Sie glaubten, ihr Leben sei leer. Sie hielten sie für eine einsame, traurige Gestalt. Oh, wie sie sich irrten.

Wie sie …

Aber irrten sie sich denn wirklich?

Plötzlich fröstelte sie, und vor ihren Augen blitzte ein blendendes Licht auf.

Rochelles Frage hallte durch ihren Kopf. Sie haben also nie eine Entscheidung getroffen und sie später bereut?

Das leise Schwanken in ihr wich etwas Größerem. Etwas, das sich von innen her ausbreitete, bis sie am ganzen Leib zitterte.

Oh nein, sie bereute nichts. Nichts.

Reue war reine Zeitverschwendung – die Schwester der Schuldgefühle. Und für beides gab es in Gayles Leben keinen Raum.

Trotzdem konnte sie einfach nicht aufhören zu zittern.

»Wir bringen sie jetzt in die Notaufnahme.«

Zu dem Zittern gesellte sich ein entsetzlicher Druck in ihrer Brust. Lag das Regal etwa doch noch auf ihr? Nein. Nein, das war es nicht. Der Druck kam nicht von außen, sondern von innen. Ihr Herz? Nein. Nein, das hier war nichts Körperliches. Es war etwas Emotionales.

»Ihr Puls rast.«

Natürlich raste ihr Puls! So was passierte eben, wenn Emotionen ins Spiel kamen. Sie brachten einen durcheinander. Aus genau diesem Grund versuchte Gayle, ihnen in ihrem Leben keinen Raum zu lassen. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Gefühle ausgerechnet jetzt trotzdem hereingebeten hatte. Sie selbst war es gewiss nicht gewesen. Vermutlich waren sie durch das Loch in ihrem Schädel in ihren Kopf gekrochen.

»Vielleicht hat sie auch innere Blutungen. Also los, wir nehmen sie mit. Wenn sie zu Hause niemanden hat, der sich um sie kümmern kann, wird man sie vermutlich stationär behandeln.«

Man würde sie im Krankenhaus behalten, weil ihr Leben nur aus Arbeit und Puccini bestand. Und weder die Arbeit noch Puccini würden ihr ein Glas Wasser ans Bett bringen oder nachts regelmäßig nachsehen, ob sie noch lebte.

Da lag sie nun, in ihrem geschundenen, kaputten Körper, und zwang sich zu dem, wozu sie normalerweise andere Menschen zwang: sich die Wahrheit über ihr Leben einzugestehen.

Sie führte ein erfolgreiches Unternehmen. Sie besaß eine Wohnung voller Kunstwerke und Antiquitäten an der Upper East Side und so viel Geld, dass sie für den Rest ihres Lebens versorgt war. Aber sie hatte niemanden, der ihr zur Seite stand, wenn sie in Schwierigkeiten steckte.

Cole war nur hier, weil sie ihn dafür bezahlte, das zählte nicht.

Niemand liebte sie. Niemand interessierte sich für sie. Niemand würde von ihrem Unfall hören und denken: Oh, nein, die arme Gayle! Niemand würde ihr Blumen schicken. Niemand einen Auflauf vorbeibringen und fragen, ob sie sonst noch etwas brauchte.

Sie war allein in diesem Leben, das sie selbst erschaffen hatte.

Absolut, total und vollkommen allein.

Plötzlich begriff sie, warum es den meisten Menschen so widerstrebte, einen ungeschönten Blick aufs eigene Leben zu werfen. Es war eine unangenehme Erfahrung.

Was hatte sie bloß angerichtet?

Sie hatte ihr Leben selbst gestaltet, bis ins kleinste Detail. Nur, um jetzt feststellen zu müssen, dass ihr das Ergebnis nicht mehr gefiel.

In diesem Augenblick hatte Gayle eine Art Erleuchtung. Allerdings keine erfreuliche.

Wenn sie sich nun für den falschen Lebensentwurf entschieden hatte? Wenn all ihre Entscheidungen falsch gewesen waren? Und all die Techniken, die sie in ihren Büchern empfahl, ebenfalls falsch waren?

Sie musste unbedingt verhindern, dass das Buch erschien, und dem Verlag mitteilen, dass sie die Inhalte noch einmal überdenken musste. Wie sollte sie Werbung für Dein neues Ich machen, wenn sie schlotternd am Boden lag wie ein verwundetes Tier?

Sie öffnete den Mund und versuchte, ein paar Worte zu krächzen.

»Sie bewegt sich. Sie ist bei Bewusstsein! Gayle? Gayle! Können Sie mich hören?«

Ja, das konnte sie. Schließlich war sie nur ungeliebt, nicht gehörlos.

Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und sah vor sich einen Rettungssanitäter, hinter dem ein besorgt dreinblickender Cole stand. Dann waren da noch der Kameramann und Rochelle, die wie besessen vor sich hin kritzelte. Sie holt das Maximum für sich aus der Situation heraus, dachte Gayle. Setzt meinen Rat in die Tat um und nimmt ihr Leben selbst in die Hand.

Und das war der Augenblick, in dem sie ihre zweite Erleuchtung hatte. Wer sagte denn, dass man nur einen einzigen Versuch hatte, sein Leben zu gestalten? Schließlich richtete man sich sein Zuhause doch auch regelmäßig neu ein. Dass man jahrzehntelang zwischen weißen Wänden gelebt hatte, bedeutete noch lange nicht, dass man sie nicht plötzlich grün streichen konnte.

Wenn ihr missfiel, wie ihr Leben derzeit aussah, dann musste sie eben etwas daran ändern.

Und da sie offenbar gerade bei selbstkritischen Eingeständnissen war: Wenn sie auch ihre Handlungen nicht unbedingt bereute, so bereute sie doch einen Teil der Ergebnisse.

Vielleicht hätte sie mehr Einsatz zeigen sollen.

Vielleicht war es nun zu spät, um zu reparieren, was sie zerstört hatte.

Aber auf jeden Fall musste sie es sein, die den ersten Schritt tat.

»Meine Tochter«, flüsterte sie. »Rufen … Sie … meine Tochter an.«

Sie sah, wie Cole das Blut aus dem Gesicht wich. »Offenbar hat sie sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen. Sie ist verwirrt. Kann das eine Amnesie sein?«

Der Rettungssanitäter runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Weil GM keine Tochter hat.«

Gayle dachte an das Baby, das man ihr in die Arme gelegt hatte. Wie verantwortlich sie sich gefühlt hatte für das Wohlergehen dieses winzigen, hilflosen Wesens. All das in dem Wissen, was sie dort draußen erwartete. Wie hart das Leben sein konnte. Wäre das Kind nicht gewesen, hätte sie vielleicht einfach aufgegeben. Aber sie war jetzt eine Mutter, und das trieb sie weiter voran. Wie konnte sie aufgeben, wo sie doch eine Tochter hatte, die sie beschützen musste? Ein Baby, das sie am liebsten in Stahl gehüllt und mit einem Elektrozaun umgeben hätte, um es vor allem Bösen auf dieser Welt zu beschützen?

»Gayle, wissen Sie, welchen Tag wir heute haben?«

Ja, natürlich wusste sie das! Es war der Tag, an dem sie schlagartig alles infrage stellte, was sie jahrzehntelang für richtig gehalten hatte. Der Tag, an dem sie feststellen musste, dass Bedauern viel schmerzhafter sein konnte als eine Kopfverletzung und ein paar geprellte Rippen. Wie hatte sie sich nur so irren können?

Sie versuchte es erneut. »Rufen Sie meine ältere Tochter an.«

Und wenn sie nun starb, ehe sie alles wieder in Ordnung bringen konnte?

»Die ältere …?« Cole wirkte nervös. »Sie hat nicht mal eine Tochter, geschweige denn mehrere Töchter. Miss Mitchell, wie viele Finger halte ich hoch? Können Sie mir diese Frage beantworten?«

Gerade hätte sie selbst gern einen Finger hochgehalten. Und zwar den mittleren.

»Rufen Sie meine Tochter an.«

»Sie ist nicht verwirrt. Gayle Mitchell hat tatsächlich zwei Töchter«, warf Rochelle ein. »Ich habe vor dem Interview ihren Hintergrund durchleuchtet. Sie scheinen sich aber zerstritten zu haben.«

Zerstritten? Wer behauptete denn so etwas? Sicher, sie hatten sich zwar schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, ein paar Jahre bestimmt. Fünf vielleicht? Gayle konnte sich nicht erinnern. Aber sie erinnerte sich sehr wohl an ihre letzte Begegnung. Immer, wenn sie daran dachte – was sie tunlichst zu vermeiden versuchte –, kamen die Kränkung und all ihre verletzten Gefühle wieder hoch.

Es war doch nicht ihre Schuld gewesen, was damals passiert war! Sie hatte nur das Beste für ihre Töchter gewollt, so wie immer. Es war stets Gayles Ehrgeiz gewesen, die beste Mutter zu sein, die sie sich wünschen konnten; sie hatte akribisch darauf geachtet, ihren Kindern alles mitzugeben, was sie brauchten, um in der Welt da draußen zurechtzukommen. Und es war frustrierend für sie gewesen, wie für jede andere Mutter, mit ansehen zu müssen, wenn ihre Töchter die falschen Entscheidungen trafen. Schließlich wusste Gayle aus eigener Erfahrung, wie schrecklich es war, mit seinen Ängsten allein zu sein, ohne einen Funken Kontrolle über das eigene Leben. Sie hatte ihr Bestes gegeben. Es war nicht ihre Schuld, dass ihre Töchter lieber an Märchen glaubten, als der Realität in die Augen zu blicken. Und es war auch nicht ihre Schuld, dass die Mädchen nicht zu schätzen wussten, wie gründlich Gayle sie aufs Erwachsenendasein vorbereitet hatte.

Sicher, das Verhältnis war etwas angespannt, aber das hieß noch lange nicht, dass sie zerstritten waren. So ein schreckliches, drastisches Wort.

Cole schien derweil mit einem regelrechten Schock zu kämpfen. »Sie hat Kinder? Aber das bedeutet ja, dass sie … Ich meine, dann muss sie ja …«

Die Tatsache, dass es ihm derart schwerfiel, sie sich beim Sex vorzustellen, war nicht unbedingt schmeichelhaft. Offenbar hielt er seine Chefin für einen Roboter.

»In Ordnung. Wenn Sie sicher sind, dann sollten wir die Töchter wohl kontaktieren.« Seine Stimme klang gepresst. »Haben Sie eine Telefonnummer, Miss Mitchell?«

Ob Samantha ihre Nummer inzwischen geändert hatte?

Da Gayle sie nie wieder angerufen hatte, konnte sie es nicht wissen. Sie hatte darauf gewartet, dass ihre Töchter sich bei ihr meldeten, um sich zu entschuldigen. Aber aus Tagen waren Wochen und dann Monate geworden. Eine Welle der Scham spülte über sie hinweg. Was sagte es über sie als Mutter aus, dass ihre eigenen Kinder keinen Kontakt zu ihr wollten?

Wenn sie die Wahrheit zugab, würden ihre Mitarbeiter dann schlecht über sie denken? Würden die Rettungsleute beschließen, dass sie es nicht wert war, gerettet zu werden?

Anstatt zu antworten, stöhnte sie auf, was die Umstehenden zu neuerlicher Bestürzung veranlasste.

»Offenbar fällt ihr das Sprechen schwer. Können wir die Nummer ihrer Tochter nicht auch so herausfinden?«

»Ich suche schon …« Rochelle tippte auf ihrem Handy herum. »Eine der beiden heißt Samantha.«

Gayle keuchte auf, als der Rettungsassistent und sein Helfer sie auf eine Trage hievten.

Auch Cole suchte. »Es gibt eine Samantha Mitchell in New Jersey. Oh, die arbeitet als Comedian, die kann es nicht sein.«

Wollte er damit andeuten, dass Gayle keinen Sinn für Humor hatte und ihn daher auch nicht vererben konnte?

»Es gibt eine Samantha Mitchell in Chicago … eine Samantha Mitchell, Hundesitterin, in Ohio. Samantha Mitchell, Geschäftsführerin eines Reisebüros im Luxussegment in Boston …« Als Gayle ein ersticktes Geräusch von sich gab, blickte er auf. »Ist sie das? Leitet sie ein Reisebüro?«

Boston? Samantha war in eine andere Stadt gezogen? Offenbar hatte es ihr nicht gereicht, nicht mehr mit ihrer Mutter zu sprechen. Sie wollte auch nicht riskieren, ihr jemals wieder zufällig über den Weg zu laufen.

Gayle versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Sie war bereit, die Klügere zu sein. Nachzugeben. Kinder enttäuschten ihre Eltern hin und wieder, das war der natürliche Lauf der Dinge. Sie würde ihren Töchtern vergeben und dort weitermachen, wo sie einst aufgehört hatten. Sie wollte das, wollte, dass die beiden wieder Teil ihres Lebens wurden. Es hätte nie so weit kommen dürfen.

Und Geschäftsführerin!

Zwischen der erkalteten Asche ihres Elends entdeckte Gayle ein glühendes Stückchen Stolz. Bravo, Kleine!

Ob Samantha es nun passte oder nicht – offenbar war sie ihrer Mutter gar nicht so unähnlich.

Als Gayle durch das Büro und weiter in den Fahrstuhl gekarrt wurde, konnte sie immer wieder kurze Blicke auf ihre Mitarbeiter erhaschen. Jedem einzelnen hier stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Niemand hatte GM in all den Jahren, die es Mitchell and Associates nun schon gab, auch nur eine Sekunde lang verletzlich erlebt.

Und doch war sie es nun. Nicht, weil sie sich eine Kopfverletzung zugezogen hatte, und auch nicht wegen der Bilder, die dieser erbärmliche Wicht von Fotograf von ihrem Unfall geschossen hatte, oder wegen der Schlagzeilen, die vermutlich nicht weniger wehtun würden als ihre Kopfverletzung.

Nein. Sie fühlte sich verletzlich, weil gleich jemand Kontakt zu Samantha aufnehmen würde.

Und es durchaus denkbar war, dass ihre Tochter den Anruf nicht entgegennehmen würde.

Samantha

»Mein Vorschlag wäre eine Europatour rund um die Weihnachtsmärkte. So können Sie ganz tief in die Festtagsatmosphäre eintauchen und gleichzeitig Ihre Weihnachtseinkäufe erledigen. Perfekt, oder?«

Barfuß und die Haare zu einem improvisierten Dutt hochgesteckt, scrollte Samantha durch den Reiseplan, den ihr Team zusammengestellt hatte.

»Los geht es in Prag. Der Wenzelsplatz zur Weihnachtszeit ist einfach unbeschreiblich! Überall stehen hübsche Holzbuden, in denen Kunsthandwerk und kulinarische Köstlichkeiten verkauft werden – die warmen Lebkuchen dürfen Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen –, und in der Mitte ein gewaltiger Weihnachtsbaum. Man trinkt Glühwein, schaut dabei den Eisläufern zu, und oft singt im Hintergrund sogar ein Chor. Weihnachten pur.«

Sie war eine Meisterin darin, vor den Augen ihrer Kunden Bilder entstehen zu lassen, erzählte vom Bratapfelgeruch, der über den berühmten Kölner Weihnachtsmärkten hing, dem Duft nach winterlichen Gewürzen in Wien, den mittelalterlichen Gassen Tallinns.

»Und die Pferdeschlittenfahrt, von der Sie träumen, können wir selbstverständlich ebenfalls organisieren. Sie werden nie wieder nach Hause wollen, das kann ich Ihnen versprechen. Ich schicke Ihnen gleich eine E-Mail mit der Reiseroute. Geben Sie mir Bescheid, was Sie davon halten, ja? Vielleicht möchten Sie ja auch lieber weniger Märkte besuchen und sich stattdessen für jeden etwas mehr Zeit nehmen. Wir schneidern Ihnen die Reise genau so zurecht, wie Sie es sich wünschen.«

Sie blickte auf, als ihre Assistentin mit ihrem Baby im Arm die Bürotür öffnete.

Samantha schüttelte knapp den Kopf. Ihre Mitarbeiter wussten genau, dass sie nicht gestört werden wollte, wenn sie telefonierte – vor allem, wenn der Anrufer so wichtig war wie Annabelle Wexford. Was auch immer es gab, es konnte warten.

Sie winkte dem Baby zu und redete weiter.

»Ach, das wird einfach herrlich, Annabelle. In Prag haben wir eine Suite mit Blick auf die Karlsbrücke für Sie reserviert. Dort können Sie nach dem Marktbesuch entspannen und die herrliche Aussicht genießen …«

Samantha brachte all ihre Erfahrungen und ihr gesamtes Wissen in das Gespräch ein – und beides war mehr als umfangreich. Niemand wusste besser als sie, wie man das Beste aus der Weihnachtszeit machte. Seit ihrem Abschluss organisierte sie Individualreisen für Winterurlauber, erst für einen großen Reiseanbieter, nun im Rahmen ihres eigenen Unternehmens.

Nach ihrer Ankündigung, dass sie sich selbstständig machen und ausschließlich auf Winterurlaube spezialisieren würde, gab die Konkurrenz ihr höchstens sechs Monate. Aber Samantha hatte es allen gezeigt. Es gab jede Menge Menschen, die bereit waren, viel Geld für eine zauberhafte Weihnachtszeit zu bezahlen, solange sie bekamen, was sie wollten. Und genau das gab ihnen Samantha.

Ihre Firma RFH – Really Festive Holidays – boomte. Auf ihrem Schreibtisch stand die Dankeskarte einer begeisterten Kundin an »die Weihnachtskönigin« Samantha. Von einer anderen Kundin wurde sie nur noch »Mrs. Santa« genannt.

Gab es etwas Schöneres, als anderer Leute Träume von der perfekten Weihnachtszeit wahr werden zu lassen?

»Für Wien haben wir Ihnen mehrere Hotels zur Auswahl geschickt – geben Sie einfach Bescheid, welches Ihnen am besten gefällt.«

Fünf Minuten später konnte sie das Telefonat beenden und sich um ihre Assistentin kümmern.

Sie drückte auf den Gegensprechknopf an ihrem Telefon. »Charlotte? Ich bin fertig.«

Charlotte kam mit einem Tablet in der Hand zur Tür. Auf ihrem dunkelblauen Shirt prangte direkt über der Brust ein großer, nasser Fleck.

»Entschuldige bitte, ich hatte vergessen, dass du im Gespräch mit Annabelle bist. Und das hier tut mir auch leid.« Sie zupfte an ihrem Shirt. »Amy hat geschrien, und meine Brüste haben das offenbar zum Anlass genommen, in den Milchmodus umzuschalten. Die Natur ist so beeindruckend – und so unpraktisch! Zum Glück sind gerade keine Kunden im Haus. Morgen ist meine Mom wieder zurück, dann muss ich Amy nicht mehr ins Büro mitnehmen.«

»Wo ist sie?«

»Meine Mom? Sie besucht meine Grandma in …«

»Dein Baby«, unterbrach Samantha sie geduldig. »Amy.«

»Oh. Sie ist eingeschlafen, nachdem ich sie gefüttert habe. Jetzt liegt sie in ihrer Babyschale unter dem Schreibtisch, und ich versuche, die Zeit so effizient wie möglich zu nutzen und meine To-do-Liste abzuarbeiten. Das alles tut mir wirklich wahnsinnig leid.«

»Gar kein Problem. Das ist so eine wichtige Zeit für euch beide. Nichts geht über die Verbindung zwischen Eltern und Kind, vor allem in den ersten Monaten. Die Familie sollte an oberster Stelle stehen, und gerade jetzt müsst ihr so viel Zeit miteinander verbringen wie möglich. Du kannst dich zum Stillen in mein Büro zurückziehen, wann immer du willst.«

»Du bist echt die beste Chefin der Welt, ich glaube, ich heule gleich los.« Charlotte schniefte. »Oh Gott, ich heule ja tatsächlich! Das ist nur deine Schuld, weil du immer so fürchterlich nett sein musst! Und ich bin im Augenblick so emotional, dass ich sogar bei den Nachrichten in Tränen ausbreche.«

»Bei den Nachrichten breche sogar ich in Tränen aus, und ich leide nicht unter Hormonchaos.« Samantha schob ihrer Mitarbeiterin über die Schreibtischplatte eine Packung Taschentücher hin. »Hier. Du machst das toll, Charlotte.«

»Aber ich bin nicht mehr so aufmerksam wie früher. Mein Hirn ist das reinste Sieb. Als Mr. Davidson angerufen hat, hab ich einfach aufgelegt, statt ihn durchzustellen.«

»Aber du hast ihn sofort zurückgerufen, und er hat absolut verständnisvoll reagiert. Also mach dir keine Gedanken. Außerdem wird er dir sowieso auf ewig dankbar sein, weil du seine Rückreise organisiert hast, nachdem er den Herzinfarkt in Indien hatte. Und dann hast du ihn sogar noch im Krankenhaus besucht!«

»Er ist aber auch wirklich ein netter Mann.« Charlotte nahm eine Handvoll Taschentücher, stopfte sich ein paar davon in den BH und nutzte den Rest, um sich die Nase zu putzen. »Trotzdem habe ich Angst, dass du meinetwegen einen Kunden verlieren könntest.«

»So weit wird es nicht kommen.« Samantha stand auf und umrundete ihren Tisch. »Wie läuft es denn insgesamt so? Bist du nur müde, oder steckt noch mehr dahinter? Wenn du ein paar freie Tage brauchst …«

»Nein, ehrlich, mir geht es prima. Es ist einfach nur eine Umstellung, das ist alles. Ich liebe meinen Job, und ich will hier sein, aber bei Amy will ich eben auch sein. Und dadurch fühle ich mich die ganze Zeit, als sei ich eine Rabenmutter und eine schlechte Angestellte.«

»Du machst beides ganz toll – sei nicht so streng zu dir. Du kommst schon wieder rein, mach dir da mal keine Gedanken.«

»Das sagt meine Mom auch, aber … Ich hab einfach solche Angst, dass du mich irgendwann feuerst.«

»Aber Charlotte!« Samantha war aufrichtig entsetzt. »Du warst meine erste Angestellte und kennst RFH von Tag eins an!«

Charlotte lächelte ihr zu und schniefte erneut. »Jeder Tag ist Weihnachten, stimmt’s?«

»Genau! Du leistest fantastische Arbeit, und ich würde dich niemals feuern! Erstens kennst du jedes Detail über all unsere Kunden, was einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass es so gut läuft. Und außerdem bist du absolut krisenresistent. Ich erinnere nur daran, wie du während Mrs. Davidsons Arktisreise die Suche nach ihrer geliebten Katze koordiniert hast!«

Charlottes Lächeln wurde zu einem herzlichen Lachen. »Die Katze war ein echter Teufelsbraten. Ich wette, die Nachbarn haben sie absichtlich weglaufen lassen.«

»Das mag sein, aber Mrs. Davidson liebt sie nun mal, und du hast alles wieder in Ordnung gebracht. Weil das deine Spezialität ist. Du hast im Augenblick eben eine harte Zeit, na, und wenn schon! Du schaffst das. Wir schaffen das. Du hast hier einen Job, solange du ihn willst. Wobei ich hoffe, dass du ihn noch lange willst.«

»Danke.« Charlotte putzte sich lautstark die Nase und nahm ein Foto von Samanthas Schreibtisch. »Ist das neu? Kenne ich noch gar nicht.«

»Ella hat es mir letzte Woche geschickt. Tab durchlebt gerade offenbar eine exzessive Prinzessinnenphase.«

»Und wie ich dich kenne, hast du ihr schon mindestens vier Glitzerprinzessinnenkostüme geschickt.«

»Es waren nur zwei.« Ob sie es damit wieder einmal übertrieben hatte? »Ich habe sie ganz zufällig auf dem Heimweg in einem Schaufenster entdeckt und war mir unsicher, welches Tab wohl besser gefallen würde.«

»Ganz die vernarrte Tante.« Charlotte stellte das Foto zurück. »Deine Nichte ist entzückend. Ich kann mir im Augenblick noch gar nicht vorstellen, dass Amy eines Tages auch viereinhalb sein wird. Tab muss so aufgeregt sein wegen Weihnachten.«

»Stimmt. Ich fahre dieses Wochenende hin, und wir basteln Baumschmuck.«

»Ich kann es gar nicht abwarten, bis Amy endlich alt genug dafür ist. Das hier wird ihr erstes Weihnachten, und wir haben jetzt schon viel zu viel gekauft, obwohl sie sich später an nichts erinnern wird.«

»Sind eigentlich Nachrichten für mich eingegangen?«, wechselte Sam behutsam das Thema, und Charlotte zog ihr Tablet unter dem Arm hervor.

»Ja.« Sie tippte auf dem Gerät herum. »Acht Stück. Die Wilsons haben angerufen, um die Lappland-Reise zu bestätigen. Sie wollen das Komplettpaket, Rentiere, Wichtel, Weihnachtsmann. Nur was die Husky-Schlittenfahrt betrifft, sind sie noch unsicher.«

»Dabei ist die das Beste an der ganzen Reise«, murmelte Samantha. »Vorausgesetzt natürlich, sie sind wetterfest gekleidet. Ich rufe sie noch mal an und bespreche das mit ihnen. Und was noch?«

Sie setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch und machte sich Notizen zu den weiteren Nachrichten. Einige konnte Charlotte bearbeiten, um andere musste sie sich persönlich kümmern.

»Die Mortons sind sehr abenteuerlustig. Denen würde Island sicher gut gefallen. Wir stellen ihnen eine Nordlichttour zusammen, und dann könnten sie die Schneemobil-Safari auf dem Gletscher machen, die bei dieser Familie aus Ohio damals so gut angekommen ist.«

»Du meinst die Dawsons.«

»Genau. Und die Eishöhlen wären auch was für sie. Waren das alle Nachrichten?«

»Nein, es hat noch ein Brodie McIntyre angerufen.«

Der Name sagte Samantha nichts. »Ein neuer Kunde?«

»Der Besitzer dieses Anwesens in den schottischen Highlands.«

»Kinleven?«

Charlotte suchte in ihren Notizen. »Genau. Es ist ein richtiges kleines Schlösschen, samt Türmen wie im Märchen. Du hattest in einer Zeitschrift davon gelesen und mich gebeten, ihn zu kontaktieren, nachdem die Anfrage von dieser Familie aus Seattle einging. Das war letzten Monat, und ich habe McIntyre gleich darauf angerufen.«

»Ah ja, genau. Eine Location für Privatveranstaltungen in einem abgelegenen schottischen Tal. Gab es dort nicht sogar eine eigene Rentier-Herde?« Samantha lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Ich weiß, dass wir so ein Paket bisher noch nie angeboten haben, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass es sich lohnt. Die Leute sind derzeit ganz verrückt nach Schottland, vor allem während der Weihnachtszeit. Und das Anwesen liegt auch noch an einem See direkt am Waldrand. Die Gäste könnten ihren eigenen Weihnachtsbaum schlagen, einen frischen, der noch nach Wald riecht und nicht nach Chemikalien. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt! Whisky am Kaminfeuer … Vielleicht könnten wir über Hogmanay noch ein paar Nächte in Edinburgh anbieten.« Als sie Charlottes ratlose Miene sah, fügte sie hinzu: »Hogmanay ist das schottische Wort für Silvester.«

»Oooh.« Charlotte lächelte. »Das klingt so traumhaft, ich würde die Reise am liebsten gleich selbst buchen.«

»Und genau das ist unser Anspruch. Wir geben den Menschen ihren Wintertraumurlaub. Ein unvergessliches Weihnachtserlebnis.« Samantha trommelte mit einem Stift auf dem Tisch herum. »Was hat er gesagt? Hast du ihm erzählt, dass die Nachfrage nach Unterkünften in den schottischen Highlands derzeit durch die Decke geht?«

»Ja. Und auch, dass du mit all deinen Kunden persönlich sprichst und ein goldenes Händchen für die Branche hast, sodass er damit rechnen kann, dass sich die Zusammenarbeit für ihn lohnt.«

»Uuund?«

»Er meinte, prinzipiell habe er durchaus Interesse, aber er wolle sich gern näher darüber mit dir austauschen. Seine Familie wohnt auf dem Anwesen, und wenn er dort Gäste empfängt, möchte er sichergehen, dass sie angemessen mit seinem Zuhause umgehen.«

»Vereinbare einen Telefontermin, und ich überzeuge ihn davon, dass er mir vertrauen kann.«

»Er möchte dich persönlich kennenlernen.«

»Warum?« Samantha versuchte, nicht an ihren übervollen Terminkalender zu denken. »Ach, egal. Wenn er es so will … Wann ist er denn in Boston?«

»Gar nicht. Er möchte, dass du nach Schottland fliegst.«

Samantha schoss aus ihrem Stuhl hoch. »Nach Schottland? Ich?!«

»Exakt. Schottland, Land der Dudelsäcke und Kilts, Heimat dieser niedlichen gehörnten Kühe.«

»Du meinst Schottische Hochlandrinder. Und das ist wirklich dein Ernst? Er will, dass ich nach Schottland fliege?«

Beschwichtigend hob Charlotte die Hände. »Ich bin nur die Überbringerin der schlechten Nachrichten. Aber ehrlich gesagt kann ich ihn gut verstehen. Er hängt an dem Anwesen, es ist sein Zuhause, der Ort, an dem er geboren wurde. Stell dir mal vor, du wärst nicht in einem sterilen weißen Krankenhaussaal zur Welt gekommen, sondern in einem schottischen Tal …«

»Das hat er dir alles erzählt?«

»Ja, wir haben ein wenig geplaudert. Er sagte, das Anwesen sei nicht jedermanns Geschmack und du müsstest mit eigenen Augen sehen, ob es auch wirklich das Richtige für deine Klientel ist.«

»Da hat er natürlich recht. Und normalerweise besuche ich ja auch alle Unterkünfte, die wir vermitteln. Aber im Augenblick stecke ich einfach bis zum Hals in Arbeit.«

Samantha öffnete einen Blusenknopf und lief vor dem Fenster auf und ab. Die Aussicht beruhigte sie immer wieder. Von ihrem Büro im Bostoner Altstadtviertel Back Bay konnte sie den Boston Harbour sehen. Das Wasser schimmerte blass unter der Wintersonne. Es war noch nicht einmal Dezember, aber vergangene Woche waren bereits die ersten Schneeflocken vom Himmel gerieselt, als wollten sie daran erinnern, dass der Winter gekommen war.

Für Samantha gab es kaum etwas Schöneres als Schnee. Ganz gleich, wie kalt das Wetter in Boston auch sein mochte, ihrer Liebesaffäre mit dieser Stadt tat das keinen Abbruch. In Boston steckten keine Erinnerungen. Keine Geister der Vergangenheit spukten über die rot gepflasterten Gehwege zwischen den Klinkeraltbauten. Manhattan zu verlassen war die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Boston war ihre Stadt, und sie mochte alles daran – von den Galerien und Luxusboutiquen in der Newbury Street bis zur Beacon Street mit ihren antiken Gaslampen. Selbst zu dieser Jahreszeit, in der stets ein schneidender Wind vom Charles River durch die Straßen pfiff.

»Boss?«

»Ja, ja.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Charlotte. »Dann also Schottland. Wir gehen das Risiko ein und schicken jemanden hin. Es wird sich sicher lohnen, Kinleven scheint wirklich etwas Besonderes zu sein. Wir nehmen Rick, der trägt gern Kilts als Kostüm, habe ich gehört.«

»Der Laird besteht aber darauf, dass du persönlich kommst.«

»Der was?«

»Der Laird, so nennt man schottische Großgrundbesitzer. Sollte nur ein kleiner Witz sein, entschuldige. Ich habe einfach zu viele von diesen historischen Liebesschnulzen gelesen, die wir beide so lieben. Seitdem träume ich davon, von einem Mann im Kilt auf sein Pferd gehoben zu werden und mit ihm in den Sonnenuntergang zu reiten.«

»Mit Amy an der Brust? Klingt nicht sonderlich bequem.« Manchmal wünschte Samantha, dass Charlotte, die nicht eben bekannt für ihre Diskretion war, niemals herausgefunden hätte, was für Bücher sie gern las. »Bitte erzähl Brodie McIntyre nicht, dass wir auf historische Liebesschnulzen stehen.«

»Wieso nicht? Jeder sollte lesen, was ihm gefällt, sage ich immer.«

»Da hast du zwar recht, aber mir ist es trotzdem lieber, Privat- und Berufsleben zu trennen.« Und ihr Innenleben von ihrer Außenwirkung. Liebesromane las sie schon seit ihrer Jugend. Anfangs, um mehr über all die Gefühle zu erfahren, die ihrer Mutter so zuwider waren, später, weil sie merkte, dass sie dabei wunderbar entspannen konnte. Freiwillig hätte sie Charlotte nie von ihrer bevorzugten Lektüre erzählt, aber eines Tages ragte ein Buch aus ihrer Handtasche. Am folgenden Tag brachte Charlotte ihr einen ganzen Stapel Liebesromane mit ins Büro, und seitdem tauschten sie regelmäßig. »Ich bin Unternehmerin und habe Angst, dass es unprofessionell wirken könnte, wenn meine Kunden oder dieser Brodie McIntyre wüssten, dass wir unsere Freizeit damit verbringen, von sexy Männern im Kilt zu träumen, die uns im Heidekraut vernaschen.«

»Aber genau das ist es doch: nur ein Traum. Im wahren Leben wollen wir doch etwas ganz anderes. Abgesehen davon, dass Heidekraut bestimmt pikst. Und voller Insekten ist. Außerdem habe ich den Laird gegoogelt. Er ist schon Ende sechzig. Auf eine zerfurchte, wettergegerbte Weise allerdings sehr attraktiv.«

Samantha beschloss, dass es an der Zeit war, das Thema zu wechseln. »Hat er gesagt, was genau er sich von meinem Besuch erhofft?«

»Nein, ganz so lange haben wir dann auch wieder nicht telefoniert, weil ich Angst hatte, dass Amy jede Sekunde anfängt zu schreien.« Charlotte rückte ihren BH-Träger zurecht. »Er meinte nur, du solltest diesen Monat ein paar Tage dort verbringen, das ist alles. Und seine Stimme war wirklich unfassbar sexy.«

»Du hältst die Stimme des Besitzers für ein Kaufargument? Es sind nur noch vierundzwanzig Tage bis Weihnachten, davor kann ich unmöglich hinfliegen!«

»Warum redest du nicht persönlich mit ihm und versuchst, dich zu einigen? Er hat sogar Weihnachten selbst vorgeschlagen, aber ich sagte, dass du die Feiertage immer bei deiner Schwester verbringst. Woraufhin er wiederum meinte, sie solle doch einfach mitkommen, dann könntet ihr gleich ausprobieren, ob sich das Haus für Familienfeste eignet. Was ziemlich cool wäre, oder?«

»Absolut nicht.«

»Bist du sicher? Gibt es eine bessere Methode, den kommerziellen Reiz eines schottischen Weihnachten einzuschätzen, als Weihnachten in Schottland zu verbringen?«

»Aber das wäre Arbeit. Und ich arbeite niemals an Weihnachten, außer es ist ein echter Notfall. Ich fahre zu meiner Schwester, werfe mich in meinen Schlafanzug und lasse ihn an, bis die Feiertage vorbei sind. Ich rede mit ihm, und wir vereinbaren einen anderen Termin.«

»Also, ich glaube ja, da verpasst du was. Die Liebe des Lairds wäre ein toller Buchtitel, findest du nicht auch?«

»Nein, finde ich nicht. Und bitte verzichte darauf, in seiner Gegenwart Buchtitel zu erfinden, falls du ihm jemals begegnen solltest.«

»Kapiert.« Charlottes Blick wanderte zum Fenster. »Es schneit wieder.«

Aber Samantha hörte nicht mehr zu. Stattdessen dachte sie an das Anwesen in den Highlands. Vielleicht waren ein paar Tage Schottland ja doch nicht so verkehrt. Kinleven sah wirklich perfekt aus, und ihr fielen auf Anhieb mindestens ein Dutzend Kunden ein, die ganz begeistert wären – von dem Anwesen und von Samantha, weil sie es für sie aufgetan hatte.

»Ruf ihn an. Ich versuche, noch vor Weihnachten einen Termin zu finden. Ich schätze, es wird reichen, wenn ich an einem Tag hin- und am nächsten wieder zurückfliege. War das dann alles?«

»Nein, Kyle hat angerufen. Vier Mal. Er klang ganz schön sauer, meinte, er hätte gestern Abend zwei Stunden lang im Restaurant auf dich gewartet.«

»Oh …«

Sie war mit einer ihrer Lieblingskundinnen beschäftigt gewesen, einer verwitweten Dame aus Arizona, die beschlossen hatte, auf ihre alten Tage das Beste aus ihrem Singleleben zu machen. Bisher hatte Samantha drei Reisen für sie organisiert und gestern Abend an den Feinheiten für die vierte Tour gefeilt. Und darüber vollkommen vergessen, dass sie mit Kyle zum Essen verabredet war. Was das über sie und ihre Beziehung aussagte, wollte sie lieber gar nicht so genau wissen.

»Oh weh, das war aber wirklich entsetzlich unhöflich von mir, ich rufe ihn sofort an und entschuldige mich.«

Unbehaglich trat Charlotte von einem Fuß auf den anderen. »Ich soll dir ausrichten, dass du dich erst wieder bei ihm melden sollst, wenn du bereit bist für den nächsten Schritt.«

Herrgott noch mal!

»Den nächsten Schritt? Das ist eine Beziehung, kein Marathon.« Abgesehen davon, dass sie Samanthas Meinung nach noch nicht einmal den ersten Kilometer geschafft hatten.

»Ich glaube, genau darum geht es ihm. Er meinte, du musst dich langsam entscheiden, wohin das zwischen euch führen soll. Ich hatte den Eindruck, dass er schon die Zielgerade vor Augen hat.« Charlotte lächelte bedauernd. »Er scheint sich ernsthaft in dich verliebt zu haben.«

»Er … was? Das kann nicht sein. Er ist genauso wenig verliebt in mich wie ich in ihn.«

Das zwischen Kyle und ihr war eine Zweckbeziehung, von der sie beide profitierten. Sie gingen miteinander ins Theater, in die Oper, manchmal auch ins Bett. Aber meistens schlief Kyle ein, sobald sein Kopf die Matratze berührte. Wie so viele Leute hier in der Gegend leitete er ein Tech-Start-up und hatte beruflich sogar noch mehr um die Ohren als Samantha. Was ihr vor allem deswegen zu denken gab, weil es sie nicht störte.

Es hätte sie stören sollen, richtig?

Dass sie beide lieber arbeiteten, als Zeit miteinander zu verbringen.

Dass es zwischen ihnen keinen Funken Leidenschaft gab.

Dass ihre Gedanken in seiner Gegenwart abschweiften, als würden sie nach etwas suchen, das sie anregender fanden als Kyle.

Dass sie sich häufig sogar darauf freute, dass er endlich ging, damit sie ihr Buch weiterlesen konnte.

Natürlich war ihr bewusst, dass das Leben kein Liebesroman war. Aber ein bisschen mehr Ähnlichkeit mit einer romantischen Fantasie durfte man schon erwarten, oder?

»Ruf ihn bitte für mich an«, bat sie. »Ich rede mit ihm.«

Was sollte sie ihm sagen? Sie hatte keine Ahnung, aber sie würde schon einen Weg finden, die Wogen zu glätten und alles so weiterlaufen zu lassen wie gehabt.

»Nur eins noch: Vor einer Stunde wurde ein riesiger Blumenstrauß von den Talbots geliefert. Sie sind aus ihren Flitterwochen in Wien zurück und wollten dir auf diesem Weg mitteilen, dass alles genau so war, wie sie es sich erträumt haben.«

»Genau so sollten sich Flitterwochen anfühlen.« Samantha freute sich, zwei weitere Kunden glücklich gemacht zu haben.

»So, das war jetzt aber wirklich alles. Ich erledige die Anrufe und …« Sie brach ab, als Amanda, eine der Junior-Kundenbetreuerinnen, in den Raum platzte.

»Samantha! Entschuldige bitte, aber es ist dringend.«

»Was gibt es?«

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