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Das Gebot der Rache

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Manche Dinge blieben besser begraben ...

Als Detective Max Craigie zu einem Leichenfund auf einem Friedhof gerufen wird, muss er fast ein wenig über die Situation schmunzeln. Doch bei der Leiche handelt es sich um das gefürchtete Oberhaupt eines der mächtigsten schottischen Verbrecherclans. Brutal wurde der Mann ermordet und anschließend in ein uraltes Grab mit steinerner Platte verfrachtet. Und nicht nur die kriminelle Familie des Toten erwartet jetzt so einiges von Max, sondern auch seine eigenen Vorgesetzten. Je länger er und seine Kollegin Janie Calder im Fall ermitteln, desto deutlicher wird, dass ein Großteil der schottischen Polizei von der mafiösen Familie geschmiert wird. Die Mordaufklärung wird zu einem wahren Spießrutenlauf, und Max und Janie geraten in Bedrängnis ...


  • Erscheinungstag: 23.05.2023
  • Aus der Serie: Ds Max Craigie
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002650

Leseprobe

Für John Fisher.
24. Januar 1941 24. Januar 2021.
Ein Leben verbracht auf den Antipoden,
doch immer ein Schotte.

Was du mir bei einem guten Maltwhisky erzähltest, über die Suche eines jungen Polizisten nach seiner Familiengeschichte, war der Funke für die hier folgende Geschichte.

Ich wünschte, du hättest sie lesen können.

Der Teufel ist fort, der Teufel ist fort,
Ist fort mit dem Mann von der Steuer;
Er tanzte fort, er tanzte fort,
Tanzt fort mit dem Mann von der Steuer.

Robert Burns, 1792

1

Jetzt war sich Tam Hardie sicher. Er hatte den Ort gefunden. Während er die ineinander verschlungene Masse aus Farnen, Ginster und Brombeergestrüpp betrachtete, die die niedrige Friedhofsmauer überzog, stauten sich die Gefühle in seiner Brust an. Der einzige Hinweis darauf, dass hier mal eine Kapelle gestanden hatte, waren ein paar verstreute Häufchen von Granitsteinen, die um den von Gras überwucherten Broch herumlagen. Die Landschaft war ein beeindruckendes Panorama der Ödnis. Das Meer war nur zu erahnen hinter dem herannahenden Nebel, der sich dann und wann genug lichtete, dass man die Windfarmen auf den umliegenden Feldern sehen konnte, die regungslos in der windstillen Luft standen.

Er hatte im Internet einige Artikel über den ausgedienten Friedhof gelesen, doch erst nach einer Menge Herumkurverei in der kargen Landschaft und einigen Fragen an die Einheimischen in einem Pub in Dunbeath hatte er ihn gefunden.

Er zog das zerknitterte Schwarz-Weiß-Foto aus der Tasche seiner Barbour-Jacke und schaute sich noch einmal das alte Bild an, das er im Laufe der Jahre so oft betrachtet hatte. Als jüngerer Mann hatte er ihm nur wenig Beachtung geschenkt, doch das Alter und die Realität der eigenen Sterblichkeit lassen einen mit mehr Nostalgie auf die Vergangenheit blicken. Tam war aufgeregt. Das Gestrüpp war dichter und höher und die Mauer etwas niedriger und stärker verfallen, aber er war sich sicher: Das war der Friedhof, von dem sein Großvater ihm früher erzählt hatte.

Er bewegte sich schnell, sein Atem ging schwer und pfeifend in der Kühle des späten Nachmittags, während der eisige Nebel von der Nordsee her immer näher kroch. Ein Schauern packte ihn, und er fröstelte in der feuchten, klammen Luft. Es brannte ihm in der Brust, und er hustete, ein tiefes, trockenes Bellen, bei dem ihm schwindelig wurde. Er wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab und versuchte, die roten Flecken auf dem weißen Stoff nicht zu beachten. Etwas ließ ihn erzittern, und zwar nicht nur der Nebel, der wie immer die Lufttemperatur nach unten drückte. Er warf einen Blick über die Schulter, zurück zu seinem Range Rover. Hatte er da ein Geräusch gehört? Für einen langen Augenblick stand er stocksteif da, blickte in die Ferne, doch nichts regte sich. Wieder erschauerte er, verwundert darüber, dass sich ein kleiner Knoten Angst in seinem Magen bildete. Er schüttelte den Kopf und ging weiter, entschlossen, sich dem zu stellen, was ihn auf diesem Friedhof erwartete.

Er holte sein Handy aus der Tasche. Er hatte kaum noch Empfang, als er seinen ältesten Sohn anrief, Tam junior.

»Pa, alles in Ordnung? Die Jungs haben gefragt, wohin du verschwunden bist.«

»Mir geht’s gut, Junge, mir geht’s gut. Ich glaub, ich habe ihn gefunden, tatsächlich.«

»Ernsthaft?«

»Ich spaziere gerade über den Friedhof. Er ist es, ohne jeden Zweifel, und wenn das Grab noch hier ist, dann werde ich vermutlich direkt mit der Nase drauf stoßen.«

»Na ja, pass auf dich auf. Du solltest nicht allein dort draußen sein.«

»Ach, hör auf mit deinem Gejammer. Hat sich der alte Mistkerl Turkish Joe schon gemeldet?«

»Aye. Er will aber dreißig für den Tausender.«

»Tja, das kann der gierige Mistkerl sich abschminken. Ich zahl keine dreißigtausend pro Kilo, und wer sonst nimmt es ihm ab?«

»Das meinte ich auch zu ihm, Pa. Er war ein bisschen angepisst, als ich es ihm gesagt habe.«

»Der kommt schon zur Vernunft. Also, ich such dieses Drecksloch hier mal ab. Melde mich später.« Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete er das Gespräch.

Das rostige Tor quietschte, als er es öffnete. Das Geräusch schreckte einen Schwarm Krähen auf, die im Gebüsch gekauert hatten. Tam zuckte erschrocken zusammen. »Verdammte Mistkrähen«, stieß er aus. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. Irgendetwas hatte dieser Ort an sich.

Er schlich Stück für Stück durch die wild wuchernden Sträucher und Gräser. Seine Muskeln ächzten unter der Anstrengung. »Ist doch scheiße, so alt zu sein«, schimpfte er vor sich hin. In seinen jungen Jahren war er fürchterlich stark gewesen, ein talentierter Boxer und noch tödlicherer Schläger. Niemand ging als Sieger aus einer Prügelei mit Tam Hardie hervor – oder zumindest behaupteten das die Leute, die ihn kannten.

Schwer atmend und mit Schwindel im Kopf kämpfte er sich durch die Büsche und schnitt eine Grimasse, als die Ginsterdornen ihm in die Hände stachen. Die meisten Grabsteine waren zerbrochen und umgekippt, aber hier und da ragten noch welche aus dem Unterholz hervor. Die Inschriften waren nach Jahrhunderten in der gnadenlosen Witterung verblasst. Der ganze Ort stank nach Alter und lang vergessener Geschichte.

Der Nebel waberte um ihn herum, und er begann sich zu fragen, ob der ganze Ausflug ein Schuss in den Ofen war. Wieder erschauerte er, dieses Mal begleitet von dem unausweichlichen Gefühl, dass es ihm an den Kragen gehen würde. Was, wie er zugeben musste, sehr zutreffend war. Seine fein justierten Antennen vibrierten, als er sich umsah, aber nichts entdecken konnte. Tam war es nicht gewohnt, Angst zu haben, also rang er sie nieder, bevor sie ihn übermannen konnte.

Ein Grabstein erregte seine Aufmerksamkeit. Er stand ein paar Meter vor ihm, stolz aufgerichtet, die Inschrift noch immer deutlich lesbar. Er beschleunigte seine Schritte und blieb mit dem Stiefel an der Ecke von etwas Flachem, Hartem hängen, das fast vollständig von Unkraut und Moos bedeckt war. »Scheiße«, zischte er, als er auf die feuchte Erde stürzte und sich das Knie an der Kante eines flachen, teilweise von Brombeerranken verdeckten Grabsteins stieß. Leise fluchend und mit einem plötzlichen Gefühl von Schuld, dass er derartige Blasphemien auf heiligem Boden laut aussprach, betrachtete er die Grabstelle mit mehr Interesse. Anders als auf den anderen, gut sichtbaren und aufrechten Grabsteinen war hier das Wort »Grab« noch frisch und scharf konturiert zu lesen, fast, als hätte der Steinmetz gerade erst Hammer und Meißel weggelegt.

Mit neu geweckter Aufregung rappelte er sich auf und begann, das dicke Moos von der glatten Granitfläche zu schieben. Er zog sein altes Klappmesser aus der Barbour-Jacke, klappte die abgenutzte Klinge aus und begann, auf das Gestrüpp einzuhacken.

Nach ein paar Minuten eifrigen Kratzens und Schneidens war seine Arbeit erledigt. Tam Hardie richtete sich auf, und eine Mischung aus böser Vorahnung und Vorfreude begann von ihm Besitz zu ergreifen, als er die vier Wörter las, von denen sein Großvater geschworen hatte, dass er sie hier finden würde.

Dieses Grab niemals öffnen

Es gab keine Namen, keine Daten, nichts außer dieser mahnenden Aussage. Sein Atem beschleunigte sich schmerzhaft, als er tief die feuchte Luft einatmete. Das war der Ort. Ohne jeden Zweifel, das war er.

Er kratzte noch mehr Moos und Erde von der glatten Granitfläche, legte die Inschrift frei und befreite sie von den letzten Ausläufern der Brombeerhecke. Als die Fläche komplett gesäubert war, erhob er sich wieder und blickte hinab. Das Gewicht der Geschichte lag schwer auf seinen Schultern, während er an die Legende dachte, von der ihm immer wieder erzählt worden war, dass sie in diesem Grab läge. Er klopfte mit dem Messer gegen den schweren Granit. Er war solide, unverrückbar in die feuchte Erde unter ihm eingelassen.

Das scheußliche Prickeln zwischen seinen Schulterblättern kehrte zurück, und etwas in dem instinktgesteuerten Teil seines Gehirns verriet ihm, dass er nicht länger allein war. Gerade als er sich umdrehen wollte, ertönte eine leise, fast flüsternde Stimme hinter ihm.

»Sie sagten, dass jemand kommen würde.«

Er wirbelte herum, das Messer erhoben. Eine kleine, vertraut wirkende Gestalt stand ihm gegenüber und sah ihn aus tief liegenden, hohlen Augen an. Der ungepflegte Mann stand seltsam vornübergebeugt da, eine Hand in der Jacke. Tams Instinkte brüllten auf. Das konnte nur eins bedeuten. Der Mann trug schwere Stiefel und einen alten, schmutzigen Mackintosh-Regenmantel über seinen knochigen Schultern.

»Himmel, Sie haben mir fast einen Herzinfarkt verpasst!«, rief Tam. »Was zur Hölle treiben Sie hier?« Sein Herz raste, und er festigte den Griff um sein Messer.

»Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«, entgegnete der kleine Mann leise.

»Ich, Jungchen, bin Tam Hardie, und wenn du wüsstest, wer zur Hölle ich bin, würdest du mich nicht so anglotzen.« Tam fuchtelte mit dem Messer in seiner Hand herum. Als Antwort ergriff ihn ein seltsames Gefühl von Furcht vor dem viel kleineren, schmaleren Mann. Es waren seine Augen – dunkel und unergründlich und bar jeder Spur von Angst. Und das war etwas, was Tam nicht kannte. Tam wusste mit absoluter Gewissheit, dass der Fremde eine Bedrohung darstellte. Mit noch festerem Griff um sein Messer hob er es dräuend an – die abgenutzte Spitze zeigte zielgenau auf den Fremden. »Ich habe keine Ahnung, was du vorhast, Freundchen, aber ich würde dir davon abraten. Ich habe im Laufe der Jahre eine Menge Typen umgelegt, und du machst mir kein bisschen Angst.« Noch während ihm die Worte über die Lippen kamen, wurde ihm klar, dass sie nicht ganz der Wahrheit entsprachen.

Der Mann lächelte, nur ein wenig und ohne jede Spur von Furcht. Er spitzte die Lippen, seine Augen leuchteten auf und waren doch seltsam abwesend und leer.

»Aye, sie sagten immer, dass irgendwann ein Hardie käme.« Er griff in seinen Mantel, und etwas Langes, Metallisches funkelte, als er den schmutzigen Stoff zur Seite schob.

»Du kannst dich zu deinen Ahnen gesellen, Hardie, und du wirst mit ihnen in der Hölle schmoren.«

2

Detective Sergeant Max Craigie gähnte inbrünstig und kratzte sich an den Stoppeln auf seinem rasierten Schädel, während er ausdruckslos auf seinen Computermonitor im Großraumbüro der Zentrale der Abteilung für Organisierte Kriminalität in Gartcosh starrte. Nachdem er heute um vier Uhr morgens mit der Arbeit angefangen hatte, war er wirklich müde. Das Team hatte ein Drogenversteck in Glasgow gestürmt, nachdem ein Informant ihnen den Tipp gegeben hatte, dass dort eine große Menge erstklassigen Heroins gelagert wurde.

Das war Max’ erster großer Einsatz gewesen, seit er sich vor sechs Monaten von der Londoner Polizei hierher hatte versetzen lassen. Daher spürte er einen leichten Hauch von Verlegenheit, jetzt, da er im Büro saß und auf den Text auf seinem Monitor blickte, ohne die Wörter wahrzunehmen. Der Rest des Teams hatte versucht, sich das Grinsen angesichts seines offensichtlichen Unwohlseins zu verkneifen, und ein wenig Spott hatte ihn bereits getroffen, als sie alle im Kreis gesessen und ihren Tee getrunken hatten. Es war ein aufwendiger Einsatz gewesen, inklusive der bewaffneten Einheit, des Zugriffsteams und der Durchsuchungsbeamten. Sie hatten mehrere Stunden damit zugebracht, das Haus auseinanderzunehmen, aber nicht mal eine Spur von Heroin gefunden. Offen gestanden hatten sie gar nichts in dem Haus gefunden, kein einziges Möbelstück, nicht mal eine alte Socke. Als wäre das Haus professionell grundgereinigt worden, bereit für den nächsten Mieter.

»Gute Arbeit, Max. Dafür schuldest du uns ein Frühstück, uns in ein leeres Haus zu schicken. Für so ’ne Scheiße zerrst du mich aus meinem warmen Bett? Wer war die Ratte, die dir das gesteckt hat? Verdammte Großstadtbullen, kommen hier hoch und klauen uns unseren wohlverdienten Schlaf.« Die Stimme vom Schreibtisch nebenan triefte vor Sarkasmus, aber gleichzeitig war da auch eine Spur Verständnis. Jeder Polizist war irgendwann schon mal durch die falsche Tür gestürmt.

Max seufzte erneut und begegnete dem Hohn mit einem erzwungenen Lächeln. Er hätte sich gewünscht, dass sein erster Einsatz glatt verlief, aber offenbar hatte »Cookie«, der Informant, ihn mit nicht mehr ganz aktuellen Infos versorgt.

Auch wenn er der Neue im Team war, war er kein Anfänger als Polizist. Seit fünfzehn Jahren machte er den Job, bis vor Kurzem immer in London, wo er ziemlich erfolgreich gewesen war: Beförderung zum Detective nach nur vier Jahren und nur fünf Jahre später Mitglied des elitären Flying Squads, der Sondereinsatzeinheit der Londoner Polizei zur Bekämpfung organisierter Kriminalität. Alles war ziemlich gut gelaufen, bis ein Einsatz komplett in die Hose gegangen war. Ihm wurde schwindelig, als er an jenen Tag vor zwei Jahren zurückdachte – das Bild der abgesägten Schrotflinte, deren Mündung in seine Richtung schwenkte, in den Händen des in die Ecke getriebenen, maskierten Angreifers. Max erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Der Ausdruck reiner Panik im Blick des Schützen, der ihn durch die Sehschlitze der mit einem Totenkopf verzierten Sturmhaube traf, während er die Schrotflinte auf Max richtete. Er erinnerte sich, wie sich die Glock 17 in seiner Hand aufbäumte, als er zwei Schüsse in den Mann jagte, direkt in den Torso, und der zu Boden gesunken war wie ein Stein.

Eine laute, barsche Stimme vom anderen Ende des Büros riss Max aus seinen Gedanken. »Max, was zum Teufel? Sie sagten mir, das sei ein todsicherer Tipp.« Max schaute von seinem Bildschirm auf und zur massigen, von Haarausfall gekrönten Gestalt von Detective Inspector Ross Fraser, der mit zornesrotem Gesicht auf ihn zuhumpelte. Sein Anzug war zerknittert und offensichtlich schon länger in keiner Reinigung mehr gewesen, wenn er den Fleck am Revers richtig deutete.

»Alles in Ordnung, Boss?«, fragte Max und schaute grinsend zu Frasers abgelatschten, zerschrammten Oxford-Schuhen. Elegante Kleidung stand nicht sehr weit oben auf Ross Frasers Prioritätenliste.

»Nein, es ist, verflucht noch mal, gar nichts in Ordnung, und ersparen Sie mir diese Londoner ›Boss‹-Scheiße.« Er machte Anführungszeichen mit seinen Fingern. »Sie sind jetzt bei der schottischen Polizei, hier braucht niemand Ihr Süßholzgefurze, Freundchen.«

»Sie wirken verstimmt, Ross«, erwiderte Max, immer noch lächelnd. Trotz seines wütenden Auftretens war Ross Fraser ein freundlicher und warmherziger Mann. Vielleicht, weil sie beide Highlander waren und beide – wenn auch nicht zur selben Zeit – bei der Black Watch gedient hatten und beide Fans des Ross County FC waren, verstanden sie sich so gut. Max stammte ursprünglich von der Black Isle, etwas nördlich von Inverness, und Ross kam aus Dingwall einige Meilen entfernt. Es war nur eine Reihe von zufälligen Kleinigkeiten, aber sie hatten geholfen, ein Band der Freundschaft zwischen ihnen zu knüpfen.

»Verstimmt wie ’ne Kuh mit ’nem Elektroschocker im Arsch, Junge. Ist wieder diese kreuzvernagelte Gicht-Scheiße. Unter vier Augen in meinem Büro?« Er verzog das Gesicht, als er zurück in seinen mit Glas verkleideten Bereich in der Mitte des Großraumbüros humpelte, vorbei an den überall verstreuten Schreibtischen, an denen all die anderen Mitglieder des Teams für Organisierte Kriminalität sich abrackerten.

»Das kommt vom feinen Leben, Boss. Hatte Henry der Achte nicht auch Gicht? Zu viel Portwein und Wildfleisch.«

»Ziehen Sie Leine, und besorgen Sie mir einen Tee. Wir müssen uns unterhalten.« Detective Inspector Fraser betrat sein Glasdomizil, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Max lächelte in sich hinein, während er zwei Tassen Tee zubereitete. Ross spielte sich gern auf, aber er und Max waren sofort auf einer Wellenlänge gewesen. Trotz seines streitlustigen Auftretens war Ross ein überaus talentierter Detective mit einer langen, von Erfolgen gekrönten Geschichte im Kampf gegen große Verbrecherbanden, die ihr Team ins Fadenkreuz genommen hatte.

Max’ Versetzung von der Londoner Polizei direkt ins Team für Organisierte Kriminalität war ungewöhnlich, da die meisten frisch versetzten Detectives in irgendeine abgelegene Hauptzentrale verfrachtet worden wären, wo sie Standard- und Routineverbrechen bearbeiteten. Ein Anruf von Max’ altem Boss in London hatte die Kollegen in Schottland von seinen Fähigkeiten überzeugt. Es war nur vernünftig gewesen, ihn angesichts seiner Erfahrung in Überwachung, Informantenkontakt und Handhabung verschiedenster Waffentypen in diese Abteilung aufzunehmen, aber Max fühlte sich nicht allzu geschmeichelt davon. Ihm war klar, dass es vermutlich nur eine Sparmaßnahme war, um niemand anderes durch eine lange und schwierige Ausbildung mit hoher Abbruchrate scheuchen zu müssen.

Er hatte sich schnell auf seinem neuen Posten eingelebt und genoss es, in Schottland zu sein und sein altes Leben als Detective Sergeant Max Craigie in London zurückgelassen zu haben. DS Craigie, der Beamte, gegen den eine Untersuchung lief, weil er einen bewaffneten Kriminellen erschossen hatte. Er hatte eine neue Aufgabe gebraucht, und die Gelegenheit, in Schottland zu arbeiten, war ihm da gerade recht gekommen.

»Tee, zwei Stück Zucker, Boss, obwohl bei Ihrer Gicht etwas weniger Zucker angeraten wäre.«

»Fangen Sie bloß nicht an, frech zu werden, Sie Trottel. Dass ich nur zwei Stück Zucker nehme, ist schon mein Eingeständnis an die Vernunft, vor allem jetzt, wo mir Mrs. Fraser das Rauchen untersagt hat. Also, warum ging dieser Einsatz nach hinten los? Angeblich sollte dieser Turkish Joe doch zehn Kilo reinen Stoff in der Wohnung haben. Oder ist Cookie ein so unzuverlässiger Zeitgenosse?«

»Das sind alles unzuverlässige Zeitgenossen. Verwundert das bei ihrer Berufswahl?«

»Aye, das stimmt. Aber bisher waren seine Tipps verlässlich. Bei diesem großkotzigen Pfandleiher lag er richtig, bei dem Einsatz konnten wir einen ganzen Haufen gestohlener Uhren sicherstellen.«

»Ich habe ihn angerufen. Er ist genauso überrascht wie wir und meinte, dass das Zeug vor drei Tagen eindeutig dort war. Es wurde dort aufbewahrt, bis Turkish Joe es an den Mann hätte bringen sollen.«

»Darum brauche ich Sie hier. Soweit ich das sagen kann, gibt es nur einen, der so viel Stoff verkaufen kann, und zwar Hardie und seine Familie.«

Max zuckte mit den Schultern.

»Wie lange sind Sie jetzt bei uns?« Ross nahm einen Schluck Tee und verzog das Gesicht. »Echt mieser Tee übrigens. Darin müssen Sie besser werden.«

»Sechs Monate oder so?«

»Schon eingelebt?«

»Aye, alles in Ordnung.«

»Keine Sehnsucht nach London?«

»Nope. Bin froh, nach all den Jahren zurück in Schottland zu sein.«

»Mal wieder was von Katie gehört?«

»Aye, gelegentlich, aber wir sind uns einig, dass gerade jeder sein Ding macht. Sie wissen schon, Freiraum und so.«

»Ist das ein Problem?«

Max zuckte wieder mit den Schultern. »Wir haben uns einfach drauf geeinigt, Boss. Ich wollte nicht in London bleiben, und sie wollte nicht mitkommen, nicht im Augenblick zumindest. Vielleicht irgendwann mal.«

»Nun, dann können Sie ja jetzt das Singledasein genießen, Sie Glückspilz. Ehefrauen machen einem ständig nur die Hölle heiß. Gucken Sie sich Mrs. Fraser an, zum Beispiel. Ich würde mir wünschen, das Weib würde mich rausschmeißen.«

»Das ist eindeutig nicht wahr. Und Katie hat mich nicht rausgeworfen, aber das habe ich Ihnen ja erzählt«, erwiderte Max, nicht gewillt, den Köder zu schlucken.

»Es ist sehr wohl wahr, denn sie treibt mich in den Wahnsinn«, sagte Ross und warf dem gerahmten Bild seiner Frau auf seinem Schreibtisch einen düsteren Blick zu, in dem Max jedoch deutliche Zuneigung erkannte. Egal, wie laut er bellte, Ross liebte seine Frau und seine Kinder.

»Ist die Untersuchung Ihrer Schießerei schon abgeschlossen?«

»Eigentlich ja. Der Untersuchungsausschuss kam zu dem Schluss, dass die Tötung rechtens war, die Staatsanwaltschaft erklärte, dass keine Beweise gegen mich sprächen, und die IOPC, die interne Untersuchungsbehörde, hat die Ergebnisse abgesegnet.«

»Aber …?«, fragte Ross.

»Die Familie des Toten hat einen Antrag auf Revision eingereicht, womit sie jede Menge Mist aufwirbelt.«

»Himmel, das ist mies, Mann. Wann werden sie die Sache fallen lassen?«

»Sie klammern sich daran, dass ich in meinem Bericht erwähnt habe, zweimal geschossen zu haben, die Untersuchung meiner Waffe aber ergab, dass drei Schüsse abgefeuert wurden. Ich kann mich nur an zwei erinnern, aber Sie wissen ja, wie seltsam das menschliche Gehirn manchmal tickt.«

»Ich habe mal was darüber gelesen. Sie wissen schon: extremer Stress und wie er die Erinnerungen beeinflusst?«

»Genau das. Aber es reicht, um eine Horde polizeifeindlicher Anwälte weiter versuchen zu lassen, mich doch noch dranzukriegen. Gibt nicht viel, was ich dagegen tun kann, ich muss einfach abwarten, wie sich die Sache entwickelt. Ob nun zwei oder drei Schüsse, der Kerl hatte eine geladene, abgesägte Schrotflinte, die er in meine Richtung schwang, und das ist alles auf der Überwachungskamera festgehalten.« Max sprach, als würde ihn das alles nicht berühren, konnte aber nicht verhindern, dass sich bei dem Thema ein vertrautes Gefühl von Sorge in seiner Brust ausbreitete. Sie war geradezu spürbar, wie ein Klumpen Fleisch.

»Alles in Ordnung?«

Max erwiderte nichts, sondern sah seinen Boss nur erwartungsvoll an, damit dieser weiter davon erzählte, was er über Stress und dessen Auswirkungen aufs menschliche Gehirn gelesen hatte. Die Kombination aus einem Zwischenfall in Afghanistan vor etlichen Jahren und der Schießerei in London hatte ihre Spuren bei Max hinterlassen, und Ross wusste das. Max ging es aber inzwischen besser, und er träumte viel seltener schlecht, erst recht, seit er mit dem Trinken aufgehört hatte. Das Schweigen hing in dem hell erleuchteten Büro, und die Spannung war fast greifbar.

Schließlich unterbrach Max die Stille: »Es geht mir gut, Ross. Ich möchte hart arbeiten und möglichst viel zu tun haben.«

»Nun, da ich genug Arbeit habe, um Sie darin zu ertränken … Wissen Sie über die Hardie-Familie Bescheid?«

»Ich habe natürlich schon von ihnen gehört. Stammen aus Glasgow, haben aber überall Einfluss. Sind die Hauptvertreiber von Heroin und Kokain im Land. Der Vater ist Tam, hat drei Jungs, Tam junior, Frankie und Davie, die alle bis zum Hals im organisierten Verbrechen stecken. So wie ich es verstanden habe, sind das durchgeknallte, gnadenlose Mistkerle, die fast sämtliche Drogengeschäfte in Schottland kontrollieren. Hier geschieht nichts, was über einen kleineren Ladendiebstahl hinausgeht, ohne dass der alte Hardie es absegnet.«

»Das ist in etwa alles, ja. Tam ist inzwischen ein alter Mann, herrscht aber immer noch mit eiserner Hand über die Familie und alle, die für sie arbeiten. Unterstützt wird er dabei von seinem Ältesten, Tam junior. Der ist nicht weniger gefährlich, und es gibt nichts, was er nicht tun würde, um sein Territorium zu schützen. Das sind alles richtig harte Typen: Boxer und MMA-Kämpfer, aber darüber hinaus auch ziemlich clevere Jungs. Die Söhne haben recht ordentliche Abschlüsse auf irgendwelchen Privatschulen gemacht. Wir konnten ihnen niemals irgendwas Großes nachweisen, und inzwischen haben sie mehr als genug legale Geschäfte: Pubs, Clubs, Saunen und so weiter.«

»Okay. Und?«

»Der alte Hardie ist verschwunden. Und zwar so spurlos, dass sein Ältester, Tam junior, ihn als vermisst gemeldet hat. Es ist bisher noch nie vorgekommen, dass einer aus der Familie die Polizei um Hilfe gebeten hat.«

»Warum dann jetzt?«

»Gute Frage. Ich vermute, dass es bedeutet, sie haben selbst überhaupt keine Erklärung für sein Verschwinden und brauchen daher unsere Hilfe, da wir andere Möglichkeiten als sie haben. Außerdem ist er krank. Also, todkrank. Lungenkrebs, darum wurde die Meldung als dringlich eingestuft. Wenn die Hardies ihn als vermisst melden, dann muss was Schlimmes passiert sein, und im Augenblick haben wir keinen anderen Hinweis, als dass Pa Hardie wegen irgendeiner Familiengeschichte in die Highlands hochgefahren ist. Wir müssen das klären, denn wir können keine wütenden Hardies gebrauchen, die durchdrehen und anfangen, jedes Arschloch in Schottland in die Mangel zu nehmen. Er muss gefunden werden, und zwar pronto. Ich schicke Ihnen den Link zum Bericht. Werfen Sie ein Auge drauf, bevor Sie die Familie besuchen.«

»Okay. Aber warum die Abteilung für Organisierte Kriminalität und warum ich? Wäre das nicht ein Vermisstenfall für die örtliche Polizei?«

»Sollte man meinen, aber – und ich sag das nur sehr ungern – die Hardies haben überall ihre Leute, auch in etlichen Polizeiwachen. Wir brauchen saubere Leute für die Sache und einen frischen Blickwinkel. Und wir müssen sichergehen, dass wir nichts übersehen. Das könnte eine echte Chance sein, Max. Die Hardies sind uns schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge, und Sie sind ganz neu bei der schottischen Polizei, wenn man bedenkt, dass Sie mit sechzehn Jahren von hier in die Army verschwunden sind. Sie sind ein Fremder.«

Max zuckte mit den Schultern. »Das stimmt wohl.«

»Nehmen Sie Janie mit. Haben Sie schon mit ihr gearbeitet?«

»Ja, ein paarmal. Sie war bei der Trommel dabei. Scheint gut zu sein. Sehr still.«

»Trommel? Ist das wieder so ein Londoner Slang-Scheiß, den Sie mir hier auftischen?«, fragte Ross spöttisch.

»Trommel wie in ›die Trommel drehen‹. Das müssen Sie doch schon mal gehört haben.«

Ross schüttelte mit gespielter Gereiztheit den Kopf. Selbst schottische Polizisten wussten, dass »die Trommel drehen« der Ausdruck der Londoner Polizei für die Durchsuchung einer Wohnung oder eines Hauses war, weil man dabei alles auf den Kopf stellte. Halb lächelnd sprach er weiter: »Sie ist eine gute Polizistin, sehr jung, die wird im Turbo durch die Ränge fliegen. Todschickes Vögelchen. Im Augenblick noch Detective Constable, aber nicht mehr lange. Wer weiß, vermutlich ist sie im Nullkommanix unser aller Vorgesetzte. Sie ist ein bisschen seltsam und hatte einige Schwierigkeiten, sich einzuleben, aber ich vertraue ihr. Und ihr alter Chef bei der Sitte, ein Freund von mir, hat sie in den höchsten Tönen gelobt. Okay, machen Sie sich auf die Socken, Mann, erledigen Sie das. Ein aufgebrachter Haufen von Hardies wäre echt die Hölle.«

»Natürlich, ich mache mich bald auf den Weg.«

»Machen Sie Überstunden, wenn nötig. Wir müssen rausfinden, was dem alten Mistkerl passiert ist.«

»Wir machen uns direkt an die Arbeit«, gab Max zurück und stand auf.

»Eine Sache noch …«

Max blieb stehen. Die Sorge stand seinem Boss ins rote, fleischige Gesicht geschrieben. In der kurzen Zeit, seit er Ross kannte, hatte er ihn noch nie mit diesem Ausdruck gesehen. Normalerweise strahlte er Sarkasmus aus oder trug ein breites Grinsen zur Schau.

»Kommen Sie den Hardies nicht zu nahe, Max, und erwähnen Sie diesen Auftrag niemandem gegenüber, weder im Büro noch außerhalb. Das sind wirklich miese Typen, also erzählen Sie ihnen nichts über sich, und seien Sie immer wachsam, zu jeder Sekunde. Es gibt nichts, was die nicht tun würden, wenn sie den Eindruck haben, dass es ihnen weiterhilft.«

3

»Nette Gegend«, sagte Max, als Detective Constable Janie Calder den BMW durch die breiten, gut gepflegten Straßen lenkte.

»Aye. Sehr. Diese Kerle haben eine Menge Geld«, erklärte Janie.

Sie war Anfang zwanzig und sprach mit einem gebildeten Edinburgh-Akzent. Sie war schlank, durchtrainiert und trug lässige Kleidung: Jeans und ein Polohemd. Sie wirkte schüchtern, ein bisschen nervös. Max hatte bisher noch nie richtig mit ihr gesprochen, hatte aber die Gerüchte im Team gehört. Beamte, die schnell befördert wurden, erregten meistens Aufmerksamkeit, und bei der schottischen Polizei gab es genug Dinosaurier, damit jung und weiblich zu sein ihr zusätzliche Probleme bereitete.

»Hatten Sie schon oft mit den Hardies zu tun?«, fragte Max und gähnte.

»Nicht direkt. Mein Gespräch mit Tam junior heute war das erste Mal, dass ich mit einem von ihnen gesprochen habe. Ich habe den Jüngsten mal eine Weile beschattet, als wir einen Tipp bekamen, dass er mit einer Waffe herumrennt. Er hat sie immer wieder verloren, fast als wüsste er, dass ihm jemand folgt, falls Sie verstehen, was ich meine.« Janie wirkte frustriert.

»So schlimm?«

»Japp. Es heißt, sie hätten mehrere Polizisten in der Tasche, aber man kann ihnen nichts nachweisen.«

»Himmel, und ich dachte, bei der Londoner Polizei wäre es schlimm.«

»Die Hardies sind die dicksten Fische in Schottland und haben mehr Geld, als sie ausgeben können. Sie verkaufen das Heroin der türkischen Banden und bekommen ihr Kokain direkt vom Kartell in Kolumbien. Der alte Hardie hat auch jede einzelne Pille in den Clubs in der Hand, die er direkt von den Holländern kriegt. Es heißt, dass er schon den geringsten Anschein von mangelndem Respekt von irgendwem äußerst persönlich nimmt, und wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich über ihn erzählt … Früher war es offensichtlich sein Markenzeichen, denjenigen, die ihn verärgert haben, große Hautstücke zu entfernen. Darum der Spitzname ›Abdecker‹, was vermutlich ziemlich ironisch ist. Da sind wir schon.«

»Und was ist mit Hardies Jungs?«, fragte Max.

»Tam ist der älteste und wird das Geschäft übernehmen. Die anderen beiden, Davie und Frankie, sind die Vollstrecker, soweit ich das beurteilen kann.«

»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht«, meinte Max.

Janie zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab.

Die Residenz der Hardies war gigantisch. Ein riesiger moderner Bau inmitten eines parkähnlichen Gartens in der South-Lanarkshire-Landschaft. Als sie sich näherten, öffnete sich ein elektrisches Tor und gewährte ihnen Einlass auf das weitläufige Grundstück. Es gab keinen Grund zu klingeln oder für eine Gegensprechanlage, man hatte sie eindeutig bereits bemerkt.

»Sie scheinen uns erwartet zu haben. Offenbar sehen wir aus wie Polizisten«, sagte Max.

»Ich vermute, dass sie überall Kameras haben. Die Hardies sind vermutlich äußerst pingelig, was ihre Sicherheitssysteme betrifft.«

»Überrascht mich nicht. Himmel, sehen Sie sich an, wie groß der Kasten ist.« Max versuchte, nicht allzu beeindruckt zu klingen. Das ganze Gelände war um einen zentralen Turm herum angelegt worden, mit drei Straßen, die von dort aus in entgegengesetzte Richtungen führten. Es gab nur wenige Mauern; das Gebäude bestand überwiegend aus Glas und Stahl.

»Japp, 2009 gebaut. Die Hardies haben es vor einigen Jahren für etwas unter zwei Millionen gekauft. Keine Ahnung, woher das Geld kommt, aber einen Kredit haben die nicht aufgenommen, so viel ist sicher.«

Max stieß ein leises Pfeifen aus und bewunderte die gepflegten Rasenflächen und Blumenbeete, während sie langsam über die lange Zufahrt aus Asphalt rollten. Das Sonnenlicht spiegelte sich in dem großen Frontfenster.

»Sieht für mich wie ein verdammtes Bankgebäude aus«, entgegnete Max. »Aber gut, jedem das Seine.« Er war noch nie ein großer Fan der strengen, modernen Architektur gewesen. Sein jüngst erworbenes Heim war ein kleines, zweihundert Jahre altes Cottage aus Stein am Ende einer Schotterpiste.

»Es ist alles sehr undurchsichtig, nichts als Sackgassen und sich verlaufende Spuren, aber sie haben eine Menge legaler Geschäfte und Auslandskonten, die uns, zumindest im Augenblick, davon abhalten, ihr Geld einzusacken.« Sie parkte vor der riesigen Glasfront, vor der sich eine breite, geschwungene Steintreppe befand.

»Nun, schauen wir mal, wohin uns das hier führt«, sagte Max und stieg aus.

Die große Tür schwang lautlos auf, als sie die Stufen erklommen, und ein kräftig gebauter Mann mit grimmiger Miene trat ins Sonnenlicht.

»Officers?«, fragte er ohne jede Spur eines Lächelns.

Max und Janie holten beide ihre Ausweise heraus. »Ja. Ich bin DS Max Craigie, und das ist DC Janie Calder. Und Sie sind?« Max ließ die Frage in der Luft hängen, obwohl er ganz genau wusste, wer da vor ihm stand. Die Familienähnlichkeit war erstaunlich. Tam Hardie junior. Er war lässig, wenn auch teuer gekleidet, mit Designerjeans und einem Polohemd von Ralph Lauren. An seinem Handgelenk funkelte eine Rolex. Er war groß und muskulös, seine gebrochene Nase und die Blumenkohlohren verrieten, dass er sich gern prügelte. Im Gegensatz dazu standen seine leicht grau und silber durchwirkten Haare, die makellos geschnitten und frisiert waren, ebenso wie sein sorgsam getrimmter Goatee.

»Ich bin Tam Hardie. Kommen Sie herein. Es gibt Kaffee.« Er verhielt sich höflich und geschäftsmäßig, konnte aber nicht die Sorge verbergen, die ihm ins raue Gesicht geschrieben stand.

Im Inneren war das Haus nicht weniger beeindruckend als von außen. Er führte sie in eine große, über zwei Etagen reichende Halle mit einer durch ein Geländer geschützten Empore über ihnen und einem Marmorfußboden unter ihnen. Es ging weiter in eine riesige, modern eingerichtete Küche. Ganze Hektar von Granitarbeitsflächen voll mit den allerneuesten Küchengeräten glänzten um die Wette, es gab einen riesigen Herd und einen gut ausgestatteten Weinkühlschrank mit Glastür.

Hardie zeigte auf eine Reihe Barhocker neben einer gigantischen Kücheninsel. Max vermutete, dass der Granit, auf den er sich gleich stützen würde, etwa sein halbes Jahresgehalt kostete.

»Kaffee?«, fragte Tam tonlos. Die edle Küche roch appetitanregend nach frisch gekochtem Kaffee.

»Ja, gerne«, sagte Max.

»Sehr freundlich. Vielen Dank, Mr. Hardie«, gab Janie zurück.

»Kein Problem. Ihr Akzent stammt aus den Highlands. Habe ich recht, DS Craigie?«

»Aye, Ross-shire.«

»Ein hübsches Fleckchen Erde. Mein Cousin lebt dort, hat eine winzige Werkstatt, und manchmal fahren wir hoch«, sagte Hardie.

»Es ist schön dort«, war alles, was Max entgegnete, der keinen Bedarf an noch mehr Small Talk hatte.

Der große Mann hantierte an einer großen, professionell aussehenden Maschine herum, und eine Minute später standen zwei dampfende Porzellantassen vor den Detectives.

»Milch und Zucker sind dort drüben«, erklärte Hardie und deutete mit dem Kinn auf ein kleines irdenes Kännchen und eine Dose.

»Also, was können Sie uns über Ihren Vater erzählen, Mr. Hardie?«, fragte Max, nachdem er einen Schluck des dunklen, würzigen Gebräus genommen hatte.

Hardie sammelte eine Sekunde seine Gedanken. »Pa ist sehr krank, Detective. Er hat Lungenkrebs im letzten Stadium und nur noch einige Monate zu leben. Er hat viel über sein Leben nachgedacht und hatte diese fixe Idee im Kopf … irgendeine alte Familiengeschichte. Ich weiß nicht viel darüber, aber er hat sich all diese Abstammungs-Webseiten und Familienbäume angeschaut. Er kannte kein anderes Thema mehr und nannte es seine Suche nach der Wahrheit über unsere Familiengeschichte und dass er ›die Fehler der Vergangenheit geradebiegen‹ wollte. Wenn ich ehrlich bin, habe ich dem nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt.«

Hardie sprach anders, als Max es vom Sohn eines rauen schottischen Gangsters mit furchterregendem Ruf erwartet hätte. Tatsächlich klang er eher kultiviert als rau.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Vorgestern. Er fuhr frühmorgens los und meinte, er wolle irgendwo im Norden das Grab eines Vorfahren suchen. Wo genau, hat er nicht erwähnt. Später rief er mich an und meinte, dass er einen alten Friedhof gefunden hätte und sicher sei, dass es sich um den richtigen handele. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Gestern war ich geschäftlich unterwegs, darum wusste ich nicht, dass er nicht nach Hause gekommen ist. Meine Frau und meine Kinder sind gerade auf Zypern. Ich hatte einfach angenommen, dass er hier wäre. Auch wenn er krank ist, ist er immer noch unabhängig und wird ziemlich wütend, wenn wir uns nach ihm erkundigen.«

»Was für ein Auto fährt er?«

»Range Rover.«

»Das Kennzeichen?«

Hardie nannte es ihm.

»Irgendeine Vorstellung, wo dieser Friedhof liegt?«

»Nur, dass er im Norden ist. Wie ich schon sagte, das war ganz und gar seine Sache, und er war ein klitzekleines bisschen besessen davon. Hat Stunden vor dem Computer verbracht.«

»Haben Sie den Computer hier? Wir könnten nachschauen, ob wir einen Hinweis darauf finden, wo er hinwollte.«

»Nein. Er hatte ihn immer bei sich. Hat niemanden auch nur in die Nähe seines kostbaren alten Laptops gelassen.«

Max fand das keineswegs verwunderlich. Es war sehr unwahrscheinlich, dass irgendein Mitglied der Hardie-Familie wollte, dass die Polizei in seinem Computer herumwühlte. Wer wusste schon, was darin zu finden war?

»Okay, und sein Handy?«

»Er hat uns von derselben Nummer aus angerufen, die er schon seit Jahren hat.«

»Wann genau, um wie viel Uhr?«

»Am Montag, so um vierzehn Uhr.«

Max sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei am Mittwoch, was bedeutete, dass seit achtundvierzig Stunden niemand mehr etwas von Hardie senior gehört hatte.

»Könnten Sie ganz genau mit der Zeit sein? Ist womöglich wichtig.«

Hardie seufzte und holte sein Handy aus der Tasche. Er scrollte durch die Anrufliste und sagte: »Vierzehn Uhr zwanzig, ein zweiminütiges Telefonat am Montag. Genau genug, Detective?« Zum ersten Mal klang er ein bisschen schroff, und Max bekam eine Ahnung von Hardies echtem Wesen.

»Sein Handy ist vielleicht die beste Möglichkeit, seine Bewegungen nachzuverfolgen. Danach haben Sie nichts mehr von ihm gehört, richtig?«

»Richtig«, sagte Hardie und war inzwischen unübersehbar gelangweilt von den Polizisten in seinem Haus.

»Was für ein Handy hat er?«

»Warum ist das wichtig?« Hardie wurde allmählich ungeduldig.

»Wegen der GPS-Funktion. Wenn wir sein Passwort rauskriegen, können wir ihn unter Umständen sehr genau orten«, antwortete Max weiterhin diplomatisch.

»Er mochte keine Smartphones. Hat immer befürchtet, dass man ihn damit verfolgen oder seine Identität stehlen kann und so. Er hatte seit Jahren dasselbe Nokia.«

»Jetzt muss ich fragen: Hat Ihr Vater Feinde?«, fragte Max mit unschuldiger Stimme.

Bei der Frage breitete sich langsam ein Lächeln auf Hardies Gesicht aus, und er schaute auf seine polierten Schuhe hinunter.

»DS Craigie, mein Vater ist ein alter, kranker Mann, aber er hat eine bunte und vielseitige Vergangenheit. Er ist ohne Zweifel einigen Leuten auf die Füße getreten, während er sich die Karriereleiter hinaufgearbeitet hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand dumm genug wäre, ihn herauszufordern, egal ob sie ihn als Feind betrachten oder nicht. Sie müssen solche Situationen bereits in London erlebt haben, also warum beenden wir nicht das Geplauder, und Sie finden einfach meinen Vater?«

Zum ersten Mal meldete Janie sich zu Wort: »Wir werden uns sofort darum kümmern, Mr. Hardie. Können Sie uns zeigen, wo im Haus er seine Zeit verbringt? Vielleicht gibt es dort Hinweise auf seinen Aufenthaltsort.«

Hardie wandte sich von Max an Janie und taxierte sie mit einem unangenehm langen Blick aus seinen stahlblauen Augen. Seine Stimme wechselte von ausdruckslos zu herablassend: »Können Sie nicht, Liebes. Mein Vater schätzt seine Privatsphäre und würde nicht wollen, dass die Polizei ihre Nase in seine Angelegenheiten steckt. Jetzt, wo wir alle wissen, dass Sie meinen Vater über sein Telefon orten werden, können wir auf die unverhohlenen Versuche verzichten, aus fadenscheinigen Gründen in unserem Leben herumzuschnüffeln? Sie müssen meinen Vater finden, oder wir sind gezwungen, unsere eigenen Mittel und Methoden dafür einzusetzen, was unvorhergesehene Nebenwirkungen für die Strafverfolgungsbehörden nach sich ziehen könnte. Haben wir uns verstanden?«

Janie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und in ihrem Blick flammte Zorn auf, aber Max kam ihrem Ausbruch zuvor. »Absolut, Mr. Hardie. Wir machen uns sofort an die Arbeit und melden uns bei Ihnen, sobald wir etwas haben.«

4

»Was halten Sie von ihm?«, fragte Max, als Janie vor der Hardie-Residenz losfuhr.

»Arrogant.«

»Sehe ich auch so, aber im Augenblick haben wir nichts zu gewinnen, wenn wir ihn gegen uns aufbringen. Seine freundliche, kaffeekochende Fassade hat er nicht lange aufrechterhalten können, oder?«

»Nein. Nicht mal ansatzweise. Ich vermute, dass wir ausgetrickst werden.«

»Da haben Sie vermutlich recht, aber Leute wie die Hardies wenden sich nicht an die Polizei. Ich vermute, dass sie bei der Suche nach ihm nicht weiterkommen und wir ihre letzte Hoffnung sind. Das sind Kriminelle, keine Ermittler.«

»Richtig. Also, wie gehen wir die Sache an?«

»Wir erzählen ihnen nichts von dem, was wir tun, bevor wir etwas Konkretes haben. Er macht sich offensichtlich Sorgen um seinen alten Herrn, aber wir sind es, die ihn finden müssen, also haben wir hier die Kontrolle. Was hat die Kommunikationstechnische Überwachung gesagt, wann sie die Daten haben?«

»Jetzt jeden Augenblick, hoffe ich. Vielleicht liegen sie sogar schon vor.« Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und entsperrte es, bevor sie es Max gab, um sich aufs Fahren zu konzentrieren. »Gucken Sie in meine E-Mails, vielleicht ist da was.«

Max öffnete die E-Mail-App und fand tatsächlich eine Mail der Abteilung für Kommunikationsüberwachung.

»Da ist sie. Perfektes Timing.« Max öffnete die Nachricht und vergrößerte die mitgelieferte Excel-Tabelle, auf der eine lange Liste von Telefonaten aufgeführt war, die mit dem Handy des alten Gangsterbosses in Verbindung standen. Es war eine viel genutzte Nummer und das Telefon regelmäßig in Gebrauch.

»Der letzte Anruf erfolgte, genau wie Tam junior meinte, um vierzehn Uhr zwanzig. Tam senior rief Tam junior an, ein zweiminütiger Anruf.«

»Von welchem Funkmast aus?«

»Moment, ich schaue nach.« Max kopierte die Postleitzahl in die Kartenapp auf dem Handy. Ein roter Marker erschien in der Landschaft.

»Also?«, fragte Janie.

»Mitten im Nirgendwo, ein winziges Dorf namens Latheron. An der A9 in Caithness, hoch nach Thurso. Ganz präzise ist die Angabe nicht, aber es gibt wohl nur einen Weg, das herauszufinden.«

»Ich habe eine böse Vorahnung, was Sie gleich sagen werden«, entgegnete Janie resigniert.

»Der Fall hat höchste Priorität, und es ist noch früh. Wir haben noch jede Menge Zeit. Es ist mitten im Sommer, das heißt, in den Highlands bleibt es quasi bis Mitternacht hell.«

Janie gähnte. »Wie lange dauert die Fahrt?«

Max ließ die App die Route berechnen. »Weniger als fünf Stunden. Hervorragend, wir sind am frühen Abend da. Ich rufe den Boss an.«

Janie nickte. »Super, das ist ja mal ein interessanter Fall.«

»Ich hoffe, ich ruiniere Ihnen nicht Ihr Sozialleben.«

»Kein Problem, nichts, was ich nicht absagen könnte.«

»Denken Sie ans Geld, nicht mehr lange, und Sie kassieren Überstunden.«

»Stimmt auch wieder.«

»Ist Ihnen die kleine Spitze von Hardie aufgefallen?«, wechselte Max das Thema.

»Welche?«

»Seine Muskelspielchen, wie gut er vernetzt ist.«

Janie sah ihn fragend an. »London?«

»Genau. Er wollte uns zeigen, dass er Dinge über uns herausfinden kann. Das ist interessant, immerhin wusste er erst eine Stunde vorher Bescheid, dass wir kommen würden, und er hat die Zeit genutzt, sich über uns zu informieren. Seine Anspielung auf meine Arbeit in London war seine Art, uns das unter die Nase zu reiben.«

»Himmel.«

»Oh ja.«

»Und was bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass wir vorsichtig sein müssen. Sehr vorsichtig.«

5

Die späte Sommersonne brannte auf die A9 hinab, während Max und Janie in dem BMW nordwärts fuhren. Sie waren beide zutiefst von der atemberaubenden Landschaft der Cairngorm Mountains beeindruckt, als sie auf dem Weg nach Caithness den Nationalpark durchquerten. Sie machten nur kurz in Inverness Halt, um aufzutanken und zur Toilette zu gehen.

»Bereit?«, fragte Max und reichte Janie einen großen Kaffee aus dem Automaten der Tankstelle.

»Ich vermute, mein Date muss ich absagen«, sagte Janie, nahm ihr Handy und schaute auf das Display.

»Sie hatten ein Date? Jemand Nettes?«

»Wäre unser erstes gewesen. Ist nicht schlimm. Ich sage gerade ab.« Janie tippte eine Nachricht ein. »Erledigt.«

»Wow, Sie sind gnadenlos«, sagte Max.

»Ich will rausfinden, wo der alte Hardie ist.«

»Wird er Ihnen das übelnehmen?«

»Bezweifle ich. Wir haben uns noch nie getroffen.«

»Internet-Dating?«

Janie lächelte nur schüchtern.

»Damit kenne ich mich nicht aus«, sagte Max.

»So lernen sich die Leute heutzutage kennen, Sarge.«

Max verspürte ein Aufflackern von Verlegenheit und beschloss, das Thema zu wechseln. »Nur noch zweieinhalb Stunden. Soll ich den Rest fahren?«

»Gerne. Sie stammen aus der Gegend, oder?«

»Fast. Nur noch über die Kessock Bridge weiter oben. Ich bin auf der Black Isle aufgewachsen.«

»Hübsche, abgelegene Insel. Ich bin ein Edinburgh-Mädchen und war noch nie so weit im Norden. Ehrlich gesagt werde ich nervös, wenn der Asphalt verschwindet. Wir haben unseren Urlaub immer in Northumberland verbracht. Ich hab’s gehasst, die weite, offene Landschaft und die leeren Strände.«

»Also ein richtiger Großstadtmensch. Black Isle ist eigentlich gar keine Insel, sondern eine Landzunge, auf drei Seiten von Wasser umgeben.«

»Haben Sie dort noch Familie?«

»Nur eine alte Tante. Von Zeit zu Zeit besuche ich sie, wenn ich in der Nähe bin. Ist hübsch dort. Oft kommt eine große Delfinherde zu Besuch am Chanonry Point.«

»Cool. Glauben Sie, dass wir Hardie finden?«

»Vielleicht. Irgendwo muss er ja sein, wir müssen es nur eingrenzen.«

»Aye. Es ist nur so, dass ich im Augenblick einen erfolgreichen Einsatz gebrauchen könnte.«

Max sah sie überrascht an. »Warum?«

»Vielleicht wird dem Team dadurch klar, dass ich es wert bin, dazuzugehören. Manche von ihnen sind nicht gerade freundlich.«

»Sie wissen doch, wie Polizisten sind – sie misstrauen jedem, der eine gewisse Bildung hat. Vor allem einer Frau mit Privatschul-Akzent, die klassische Musik oder Free Jazz im Auto hört und das Auto, das sie gerade benutzt hat, obsessiv saugt, bevor sie es übergibt.«

»Davon haben Sie gehört?«

»Wenn jemand ein schwieriges Streicherstück oder irgendeinen Free Jazz hört, wird das immer einen Kommentar von Polizisten ernten, aber sie mögen es, dass Sie die Autos sauber übergeben. Die meisten von ihnen sind verdammte Dreckschleudern.«

»Die Hälfte der Autos sind absolute Müllhalden. Mögen Sie es?«

»Was?«

»Jazz?«

»Nein. Hört sich an, als ob ein Kleinkind auf Klaviertasten rumkrabbelt.«

»Banause.«

Max lachte.

»Also darum halten mich die Leute für seltsam?«

»Nun, ich hätte das nie angesprochen«, antwortete Max lächelnd.

Zum ersten Mal an diesem Tag sah Max sie aufrichtig zurücklächeln, und es ließ ihr ganzes Gesicht erstrahlen.

»Schottland hat mehr zu bieten als Glasgow und Edinburgh, das werden Sie bald rausfinden. Caithness ist ziemlich wild und abgelegen«, versuchte Max, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.

»Gruselig. Na los, je schneller wir dort sind, desto früher können wir zurück in die Zivilisation.«

*

Von da an wurde die Fahrt uninteressanter. Die wilden, zerklüfteten Munros der Cairngorms wichen den ausladenden Hügeln von Ross-shire und den abgelegenen Gebieten von Sutherland, während sie auf der A9 an der Küste entlangfuhren.

»Wie lange noch?«, fragte Janie, als sie mit verschlafenem Blick aus ihrem Schlummer erwachte und gähnte.

»Sind bald da. Noch zehn Minuten bis Latheron, wo das Telefonsignal abgebrochen ist.«

»Gut, ich muss Pipi machen, und mein Hintern ist wund.« Janie gelang es, gleichzeitig zu kichern und vor Schmerz das Gesicht zu verziehen. »Wie lautet der Plan?«

»Das wissen wir, wenn wir dort sind. Es ist ein winziger Ort, und ich will herausfinden, ob irgendjemand etwas gesehen hat. Hardie ist ziemlich auffällig und fährt einen schicken Range Rover. Die Leute in den Highlands bemerken solche Dinge, und wir müssen uns die Friedhöfe in der Gegend anschauen.«

Latheron war ein winziges Nest mit ein paar Häusern links und rechts der Straße, einem Kriegsdenkmal und einem verwaisten Postamt. Ansonsten nichts von Interesse. Keine Geschäfte, kein Pub, kein Hotel. Tatsächlich war fast nirgendwo irgendjemand zu sehen.

»Tja, das war fünf Stunden im Auto wert«, sagte Janie und gähnte erneut. »Man fragt sich, was einen Gangster aus Glasgow zu dieser Randnotiz an der A9 geführt hat.«

»Gibt es irgendwo eine Kirche in der Nähe?«, fragte Max und ließ den Blick über die Gegend schweifen.

»Es gibt ein paar weiter nördlich entlang der Küstenstraße, in Richtung John o’Groats.« Sie reichte Max das Handy, der aufmerksam auf das Display schaute.

»Das ist nicht präzise genug. Wir müssen das genauer hinbekommen, damit wir das Suchgebiet eingrenzen können.«

»Zeigen Sie mir noch mal die Telefondaten«, sagte Janie.

Max fummelte am Handy herum, bevor er es Janie übergab.

»Nein, nicht da oben. Der Azimut ist völlig falsch. Ich glaube nicht, dass er in die Richtung gefahren ist.«

»Azimut?« Max war verwirrt.

Janie lächelte. »Jeder Mobilfunkmast hat mindestens drei oder mehr Zellen, die er bedient, um dreihundertsechzig Grad abzudecken. Jede davon hat einen bestimmten Identifizierungscode. Wenn wir mit diesem arbeiten, dann sieht man, dass die letzte Zelle, in der Hardie unterwegs war, nicht in dieser Richtung lag. Er ist nach Norden gefahren, die A9 hoch, nicht die A99. Wäre er die A99 langgefahren, wäre er im nordöstlichen Azimut gewesen, nicht im nordwestlichen. Stellen Sie sich den Mobilfunkmast als Mittelpunkt eines Tortendiagramms vor. Er war irgendwo in diesem Bereich.« Janie zoomte in die Zone, die ein riesiges Areal nördlich von Latheron umfasste.

»Okay, sind Sie zufrieden? Das ist immer noch ein gigantisch großes Gebiet, und auf der Karte sind keine Kirchen oder Friedhöfe eingezeichnet. Was schlagen Sie also vor?«

»Ich würde sagen, dass wir Informationen von den Einheimischen brauchen. Haben Sie dazu Ideen? Das hier ist eher Ihre Nachbarschaft als meine.«

»Ein Pub?« Max grinste breit. »Sie meinten doch, Sie müssten pinkeln, und vorhin in Dunbeath sind wir an einem entzückenden kleinen Pub vorbeigefahren.«

»Klingt perfekt. Ich habe Hunger.«

*

»Sieht ja furchtbar aus«, sagte Janie und starrte auf das graue, eingeschossige Gebäude mitten auf einem großen Parkplatz. Der einzige Hinweis, dass es irgendeine Form von Wirtshaus war, war das klapprige Schild mit grünen Buchstaben, das es zum »Restaurant« erklärte.

»Es ist besser, als man meint. Ich habe hier letztes Jahr auf meinem Weg zum Surfen in Thurso Halt gemacht, und es war ganz nett. Gute Fish ’n’ Chips.«

»Na ja, es müsste sich auch anstrengen, um schlechter zu sein, als es aussieht. Wirkt auf mich wie eine öffentliche Toilette.«

Sie stiegen aus. Die Nachmittagssonne wärmte ihr Gesicht, und die Luft roch angenehm nach Meer. Das entfernte Rauschen der Nordsee war in der Stille zu vernehmen, als sie auf das unansehnliche Gebäude zugingen. Max wurde bewusst, wie hungrig er war, nachdem er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.

Im Gebäude hätte der Unterschied zum schlichten, tristen Äußeren nicht größer sein können. Es war warm und heimelig, mit weiß getünchten Wänden und einer holzbeschlagenen Bar, hinter der eine Frau Gläser polierte. Sie lächelte freundlich, als sie eintraten. »Guten Abend, die Herrschaften, wie geht es Ihnen?« Ihr amerikanischer Akzent war so breit wie unerwartet.

»Alles gut, danke. Sind wir noch rechtzeitig für ein spätes Mittagessen?«

»Natürlich. Setzen Sie sich irgendwohin – wir sind nicht gerade rappelvoll.«

Sie setzten sich ans Fenster, und fast auf der Stelle kam die Kellnerin zu ihnen. »Was möchten Sie trinken?«

»Haben Sie Cranberrysaft?«, fragte Max.

Janie betrachtete ihn mit einer gehobenen Augenbraue.

»Natürlich. Pur oder als Schorle?«, fragte die Kellnerin.

»Schorle«, antwortete Max.

»Ma’am?« Sie wandte sich an Janie.

»Cola bitte.«

»Okay. Die Speisekarte ist auf der Tafel dahinten. Als Fisch gibt es heute Haddock, und wir haben ein bisschen Wild und vermutlich noch ein paar Garnelen, wenn die nicht alle schon bestellt wurden.«

Sie schenkte ihnen noch einmal ihr strahlendes Lächeln und ging zurück zur Bar.

»Cranberrysaft? Haben Sie Blasenprobleme, Max?«

»Ich mag ihn einfach.«

»Das ist ziemlich fortschrittlich von Ihnen. Ich bin an Kollegen gewöhnt, die ein Pint Dunkles trinken.«

»Wir sind im Dienst, und ich trinke generell nicht.«

»Niemals?«

»Eigentlich nicht. Zumindest schon eine Weile nicht.«

Es folgte ein langes Schweigen, bevor Janie weitersprach. »Ich habe gehört, was in London passiert ist. Die Jungs haben darüber gesprochen – nicht mit mir natürlich, aber ich habe davon gehört.«

»Es ist kein Geheimnis. Ich habe einen Kerl erschossen, bevor er mich erschossen hätte, es war überall in den Nachrichten. Ich bin der Beamte mit der Kennziffer Zulu 43. So was passiert.«

»Und Sie haben festgestellt, dass Alkohol nicht die beste Medizin ist, richtig?«

»So was in der Art.«

»Aye. Die Lektion habe ich auch gelernt«, erklärte Janie.

»Und ich mag Cranberrysaft wirklich. Stört es Sie? Dass die Jungs nicht übermäßig freundlich sind?«, versuchte Max, das Thema zu wechseln.

»Kann man nicht sagen. Na ja, vielleicht ein bisschen«, entgegnete sie und senkte den Blick.

»Das wird schon werden. Die meisten von ihnen sind in Ordnung, und Sie sind eine gute Polizistin. Die tauen schon auf.«

Es folgte eine kurze Pause, als die Kellnerin ihre Getränke auf den Tisch stellte und sie beide die Fish ’n’ Chips bestellten.

Bevor die Kellnerin wieder verschwand, lächelte Max sie an und fragte: »Kennen Sie sich in der Gegend hier aus?«

»Ein bisschen. Mein Mann und ich führen diesen Laden zusammen, und er stammt aus der Gegend.«

»Kennen Sie hier in der Umgebung irgendwelche alten Friedhöfe? So richtig alte? Vielleicht längst verlassene?«

»Darf ich fragen, warum?«

Max griff in seine Tasche und zog seinen Dienstausweis hervor. »Ich bin DS Max Craigie von der Police Scotland in Glasgow. Das ist DC Janie Calder. Wir ermitteln hier oben, darum unser spätes Mittagessen.«

Die Kellnerin starrte auf den Ausweis und betrachtete sowohl Max als auch Janie mit ganz neuem Interesse. Ihre Miene verriet leichte Verwunderung. »Nun, das ist ein Zufall. Vor ein paar Tagen kam ein Mann hier rein und stellte dieselbe Frage. Ich wundere mich nur, warum Friedhöfe in den Highlands mit einem Mal so angesagt sind.«

Max und Janie wechselten einen Blick. »Wissen Sie, wie der Mann hieß?«

»Nein. War ziemlich alt, muss mindestens achtzig gewesen sein. Sah nicht gesund aus, wenn ich ehrlich bin. Er fragte meinen Mann nach dem Friedhof, aber ich glaube, Willie hat ihm den Weg erklärt.«

»Ist Ihr Mann heute hier?«, erkundigte sich Janie.

»Klar, er ist in der Küche. Ich bringe ihm Ihre Bestellung und sage ihm, dass er zu Ihnen kommen soll.« Sie verschwand durch eine Schwingtür.

»Gute Arbeit«, sagte Janie und sah Max mit ihren tiefblauen Augen an.

»Entschuldigung?«

»Wir sind nicht zufällig hier, oder?«

»War nur so eine Ahnung. Und ich habe wirklich Hunger.«

»Hmm.« Janie musterte Max mit gefurchter Stirn.

»Denken Sie doch mal nach. Tam Hardie wäre genau wie wir fünf Stunden von Glasgow hier hochgefahren. Er sucht nach einem alten, nicht mehr genutzten Friedhof. Wo sollte er seine Suche beginnen, wenn nicht im örtlichen Pub? Es gibt quasi nichts anderes hier. Er rief seinen Sohn um vierzehn Uhr an, vermutlich, nachdem er zum Mittagessen hier war.«

»Sie sind klüger, als Sie aussehen, Sarge.«

»Wollen Sie damit sagen, ich sähe unintelligent aus?«

Janie lachte mit einer Mischung aus Erheiterung und Verlegenheit.

Ein schlanker Mann Anfang vierzig mit einer sauberen weißen Schürze kam lächelnd an ihren Tisch. Er hatte ein freundliches, offenes Gesicht und durchdringende, dunkle Augen.

»Guten Tag, Officers. Ich bin Duncan Ferguson. Mir und meiner Frau Mary, Sie kennen sie ja schon, gehört der Pub. Ich habe gehört, Sie haben eine Frage zu einem früheren Gast?«

»Hi, ich bin DS Craigie, und das ist DC Calder.« Sie zeigten beide ihren Dienstausweis vor. »Ihre Frau meinte, dass ein Gast Sie vor einigen Tagen nach einem Friedhof hier in der Nähe gefragt hätte?«

Er hatte den typisch weichen Caithness-Akzent. »Aye, hat er. Ein älterer Mann, über achtzig, würde ich sagen. Er hat mit Willie deswegen gesprochen, einem unserer Stammgäste.«

»Haben Sie nähere Informationen zu diesem Mann?«

»Es war einfach ein alter Herr. Kurze Haare, Barbour-Jacke. Stechender Blick, ja. Sah aus, als hätte er im Leben schon viel mitgemacht, wenn Sie wissen, was ich meine.« Er sprach leise und bedacht.

»Wissen Sie, wo dieser Friedhof ist?«

»Nein. Ich bin erst seit einigen Jahren wieder hier, nachdem ich im Ausland gelebt habe. Ich habe keine Ahnung.«

»Zu schade. Hätten Sie einen Tipp für uns, wer es wissen könnte?«

»Nein, tut mir leid, Officer.«

»Glauben Sie, Willie konnte es dem alten Mann erklären?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Willie ist normalerweise sehr zurückhaltend und spricht nicht viel mit anderen. Er ist ein ziemlicher Einzelgänger. Ich bin mir nicht sicher, dass er alle beisammenhat, wenn Sie wissen, was ich meine. Er kommt dann und wann auf einen Pint hier vorbei.«

»Wo wohnt Willie?«

»Das weiß ich nicht genau – nahe genug, um für einen Drink herzukommen.«

»Können Sie ihn beschreiben?«

»Winziger Kerl, echt klein und dürr, mit langen, ungepflegten Haaren, immer in Arbeitsklamotten. Kann ich fragen, warum Sie das alles wissen möchten?«

»Wir ermitteln in einem Vermisstenfall und hören uns nur um, aber vor allem sind wir hier, weil wir Hunger haben, und das sieht hervorragend aus«, erwiderte Max und sah zu Mary hinüber, die gerade mit zwei großen Tellern Fish ’n’ Chips auf ihren Tisch zusteuerte.

»Ist heute Morgen frisch vom Boot gekommen, Detectives.« Duncan grinste sie voller Stolz an.

6

»Na schön, dann suchen wir mal nach einem Friedhof«, sagte Janie, als sie mit gefüllten Mägen langsam durch Latheron fuhren.

»Jepp. Irgendjemand hier muss etwas wissen, und ich tippe auf ihn da«, sagte Max und zeigte auf einen Mann in Arbeitsklamotten, der einen Brief in den Briefkasten in der Dorfmitte warf. Er war auf dem Weg zurück zu einem verbeulten Pick-up-Truck mit drei Heuballen auf der Ladefläche, als Max ihm durchs Fahrerfenster ein Hallo zurief.

»Aye?«, sagte der Mann. Er wirkte nicht im Geringsten misstrauisch. Max hielt an, stieg aus dem Auto und stellte sich neben ihn au...

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