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Das Geheimnis der Sternenuhr

Als Buch hier erhältlich:

Durch eine Tür in eine Welt voll Magie und Abenteuer

Imogen und ihre nervige kleine Schwester Marie folgen einer Silbermotte in einen verborgenen Garten. Die Motte führt sie zu einer Tür in einem großen, alten Baum. Dahinter verbirgt sich eine Welt wie aus dem Märchen. Ein Königreich, das von düsteren Kreaturen bedroht wird, die nachts ihr Unwesen treiben, wenn sich die Menschen in ihren Häusern verbarrikadiert haben. Hier müssen die beiden Schwestern zusammenhalten, um den verwöhnten Prinzen Miro und mit ihm eine ganze Welt vor dem Untergang zu retten. Dabei wollen sie eigentlich nur eines: zurück nach Hause. Zum Glück helfen ihnen ein Tanzbär, eine mutige Jägerin … und die geheime Sternenuhr.


  • Erscheinungstag: 20.04.2021
  • Aus der Serie: Sternenuhr
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 400
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800590

Leseprobe

Für Mini und Bonnie,
die für mich immer klein bleiben werden

Prolog

Das Monster stand allein am Berghang. Es streckte die Hände aus.

»Fliege mutig und geschwind und mit dem Willen der Sterne. Tust du auch nur eins, so hilf zurückzuholen, was unser ist.«

Es spreizte die Klauen, sodass der Falter genügend Platz hatte, um durch die Zwischenräume zu entkommen. Er kroch über den Handrücken des Monsters und einmal um sein Handgelenk herum. Sein Körper war silbergrau und flauschig.

»Fliege mutig und geschwind und mit dem Willen der Sterne. Tust du auch nur eins, so hilf zurückzuholen, was unser ist.«

Der Falter öffnete und schloss die Flügel, um zu zeigen, dass er überlegte. Dann krabbelte er den Arm des Monsters hinauf. »Ich hatte vergessen, was für merkwürdige Wesen ihr seid«, sagte das Monster und kratzte sich den kahlen Kopf. »Alle anderen Falter sind einfach fortgeflogen.«

Die winzigen Beine des Falters kitzelten das Monster am Schlüsselbein. Es schloss die Augen und wiederholte seine Worte ein drittes Mal.

»Fliege mutig und geschwind und mit dem Willen der Sterne. Tust du auch nur eins, so hilf zurückzuholen, was unser ist.«

Das Monster öffnete die Augen wieder. Der Falter krabbelte jetzt über sein Gesicht, an den Zähnen vorbei, die wie Hauer vorstanden, über die eingedrückte Nase hinweg und bis oben auf seinen Kopf.

»Das ist alles«, sagte das Monster. »Du bist an Zubys Ende angelangt. Mehr gibt es von mir nicht.«

Ein leichtes Flügelschlagen und das Monster schaute hoch. Der Falter flatterte fort, aber er flog nicht über den Wald, wie die anderen Falter, die Zuby vor ihm freigelassen hatte. Er flog die Bergwand hinauf.

Obwohl Zuby so scharf sehen konnte, verlor er ihn in der Dunkelheit bald aus den Augen.

»Wo willst du denn hin?«, rief das Monster. »Zwischen den Sternen wirst du es nicht finden!«

Kapitel 1

»Du glitschiges Ungeheuer der Tiefe, mach dich zum Sterben bereit!«

Die Ritterin griff an. Die riesige Meeresnacktschnecke bleckte die Zähne, knurrte und rutschte schützend vor den Schatz. Aber die Ritterin war schnell. Ihr Schwert versank im weichen, schleimigen Fleisch des Ungeheuers.

»Das ist die Stelle, an der du stirbst«, sagte die Ritterin.

»Ich will nicht sterben«, sagte die Meeresnacktschnecke.

»Musst du aber. Du bist die Böse.«

»Warum muss ich denn immer die Böse sein?«

»Marie! Du hast es versprochen.«

»Aber wie wäre es, wenn diesmal die Ritterin stirbt? Die Meeresnacktschnecke schleppt sie weg –«

»Nein. So geht die Geschichte nicht. So hab ich sie nicht geschrieben. Die Ritterin tötet das Ungeheuer und holt sich den Schatz zurück, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

»Alle außer der Nacktschnecke …«

»Das ist bloß eine Nebenrolle.«

Die Meeresnacktschnecke begann, sich aus ihrem Kostüm zu schälen.

»Was machst du denn da?«, fragte die Ritterin. »Wir sind noch nicht fertig.«

»Ich wohl.«

»Aber was ist mit der Generalprobe?«

Die Meeresnacktschnecke öffnete die Schatztruhe und strich mit den Fühlern über die Edelsteine. »Also, wenn ich nur eine Nebenrolle habe, dann kommst du auch gut ohne mich klar.«

»Finger weg – das ist meine Steinesammlung«, sagte die Ritterin. Sie ließ ihr Schwert fallen und griff nach der Schatztruhe. Der Deckel ließ sich leichter bewegen als gedacht und quetschte ein paar Fühler der Meeresnacktschnecke ein. Das Monster heulte auf.

Diesmal kämpften sie richtig. Unter ihrem Kostüm war die Meeresnacktschnecke ein kleines Mädchen mit rosa Haut und strubbligem roten Haar. Sie hieß Marie.

Marie stopfte die geklauten Steine in ihre Taschen. »Du hast gesagt, ich darf einen Stein behalten!«, schrie sie.

Die Ritterin hatte kurzes braunes Haar, das sie selbst geschnitten hatte, und ganze Kolonien von Sommersprossen, die sich wie eine Kriegsbemalung auf ihren blassen Wangen ausbreiteten. Ihre Rüstung hatte sie aus Alufolie und Cornflakeskartons selbst konstruiert, und sie hieß Imogen. Sie war älter als Marie, daher wusste sie mehr – über so gut wie alles.

»Ich hab gesagt, du darfst einen Stein behalten, wenn du in meinem Theaterstück mitspielst«, sagte sie jetzt, »aber das tust du ja nicht.« Sie packte Marie am Arm und holte ihr die Steine wieder aus den Taschen.

»Mama!«, rief Marie. »Imogen ärgert mich schon wieder!«

»Stimmt gar nicht!«, schrie Imogen und ließ Maries Arm los.

Mit einer Hand in der Tasche rannte Marie ins Haus. Imogen überlegte, ob ihre Schwester vielleicht doch noch einen Stein hatte. Den würde sie ihr dann nachher wegnehmen.

Imogen hob ihre Steinesammlung auf, denn es fing an zu regnen. Wenn sie doch nur alle Rollen in ihrem Theaterstück selbst spielen könnte, dann würde sie Marie gar nicht brauchen. Aus ihrer Schwester einen Star zu machen, war harte Arbeit.

Sie folgte Marie nach drinnen und lud ihre Sachen an der Hintertür ab. Mama stand im Flur, in einem langen roten Kleid, das Imogen noch nie gesehen hatte. Marie hatte sich hinter ihr versteckt, sodass bloß ein Auge und ein paar Locken zu sehen waren.

Imogen wusste schon, was jetzt kam. Mama würde sie ausschimpfen, und sie hasste es, ausgeschimpft zu werden. Schließlich hatte sie Maries Finger nicht mit Absicht in der Schatztruhe eingeklemmt.

Sie musterte ihre Mutter. »Warum hast du dich denn so schick gemacht?«, fragte sie.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, fuhr Mama sie an. »Hier geht’s um dich. Ich lasse mir dieses Benehmen nicht länger bieten – die Zankerei mit deiner Schwester, das Chaos, das ihr im Garten angerichtet habt –«

»Das ist eine Meeresnacktschneckenhöhle!«

»Imogen! Du bist zu alt für solchen Blödsinn! Und vor allem bist du zu alt dafür, Marie zum Weinen zu bringen.«

»Sie hat angefangen!«

»Und ich beende es jetzt«, sagte Mama. »Oma passt heute Nachmittag und Abend auf euch auf. Sie nimmt euch mit in die Teestube, wenn ihr brav seid. Benehmt ihr euch anständig?«

»Wo willst du denn hin?«, fragte Imogen.

»Wo ich hinwill, interessiert nicht. Ich habe euch für heute Abend selbst gebackene Pizza hingestellt. Das wird bestimmt schön. Jetzt versprich mir, dass du nett zu deiner Schwester bist.«

Maries Gesicht war vom Weinen fleckig geworden. Sie sah aus wie eine halbreife Himbeere. Imogen wollte einfach nicht nett zu ihrer Schwester sein.

»Na komm, Imogen«, sagte Mama mit sanfterer Stimme. »Ich verlass mich auf dich.«

Es klingelte an der Haustür, und Mama drehte sich einmal im Kreis herum. »Er kommt zu früh!«, rief sie.

»Wer kommt zu früh?«, fragte Marie.

»Wirst du gleich sehen«, sagte Mama.

Kapitel 2

Mama öffnete die Haustür, und ein Mann kam herein. Er trug ein schickes Hemd und blanke schwarze Schuhe. Die Schuhe fielen Imogen sofort auf, weil sie bei jedem Schritt quietschten, als würde er auf Mäuse treten.

»Cathy! Du siehst toll aus«, sagte der Mann mit seiner Männerstimme. Er gab Mama einen Kuss auf die Wange und wandte sich dann an die Mädchen. »Und das müssen die beiden kleinen Prinzessinnen sein, von denen ich schon so viel gehört habe.«

»Ich bin keine Prinzessin«, sagte Imogen und schaute auf ihre Rüstung hinunter. »Ich bin eine Ritterin, und die da ist eine riesige Meeresnacktschnecke. Wer sind Sie?«

»Imogen!«, stieß Mama hervor.

»Schon gut«, sagte der Mann. Er schaute auf Imogen hinunter und verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ich heiße Mark. Ich bin mit eurer Mutter befreundet.«

»Sie hatte noch nie einen Freund, der Mark hieß«, sagte Imogen.

Der Mann beugte sich in seinen quietschenden Schuhen vor. »Ist das so? Na ja, in der Erwachsenenwelt ändern sich die Dinge schnell.«

Imogen öffnete den Mund, aber Mama redete ihr gleich dazwischen: »Schnell, ihr Mädchen, helft mir mal, die Fenster zu schließen, bevor Oma kommt. Da draußen ist es ganz ungemütlich geworden.«

Mama griff hinauf zu dem kleinen Fenster, das auf den Garten hinausging, aber da musste irgendwas sein, denn sie fuhr erschrocken zurück.

»Was ist denn?« Mit einem Satz war Imogen bei ihr.

»Da hat sich was bewegt! Hinter der Gardine hat sich was bewegt!«

Auch Mark war sofort da. »Lasst mal sehen«, kommandierte er und zog mit Schwung die Gardine zurück.

Es war ein Falter. Er kroch an der Gardine hinunter auf Marks Hand zu. Je nachdem, aus welcher Richtung man ihn betrachtete, wirkten seine Flügel grau oder silbern. Imogen wollte ihn sich näher ansehen.

»Keine Sorge, Cathy«, sagte Mark. »Ich kriege das Biest.« Er machte eine Bewegung, als wolle er den Falter totschlagen, und Imogen hatte keine Zeit zum Nachdenken. Sie warf sich vor Mark und nahm das Insekt in die hohlen Hände. Mark versuchte, sie wegzuschieben, aber da stampfte sie einmal fest auf – genau auf die Spitze einer seiner quietschenden Schuhe.

Mark fluchte. Marie kreischte. Mama schimpfte los, aber Imogen rannte einfach weg. Sie machte mit dem Ellbogen die Hintertür auf und stürzte hinaus in den Regen. Den Falter in ihren Händen spürte sie kaum, so leicht war er. Nur dass seine Flügel sanft über ihre Finger streichelten, verriet ihn.

Mama rief nach ihr, aber Imogen sprintete bis zum Ende des Gartens und kniete sich neben einen niedrigen Busch. Dass sie beim Rennen einen Teil ihrer Rüstung verloren hatte, war ihr egal. Hier, unter dem dichten Laub, war der Falter sicher.

Sie nahm die Hände auseinander, und der Falter kroch auf ein Blatt. Seine silbergrauen Flügel verschwammen mit den Schatten. »Ich nenne dich Schattenfalter«, sagte Imogen und wischte sich Regentropfen von der Stirn.

Der Falter öffnete und schloss dreimal die Flügel, als wollte er Danke sagen.

»Gern«, sagte Imogen.

Wenn die Flügel des Falters geöffnet waren, hatte er etwa die Größe ihrer Handfläche. Wenn sie geschlossen waren, lagen sie so dicht an seinem Körper an, dass er kaum breiter war als ein Fingernagel. Sein Rücken war mit samtigem Flaum überzogen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Nachtfalter auch am Tag fliegen«, sagte Imogen.

Der Falter bewegte seine Fühler nach rechts und nach links. Sie sahen aus wie winzige kleine Federn.

»Du bist anscheinend anders als die anderen.«

Imogen schaute zum Haus hinüber. Ihre Mutter stand in der Hintertür, die Hände in die Hüften gestemmt. Imogen machte ganz schmale Augen. Nichts und niemand würde sie dazu bringen, sich zu entschuldigen.

So langsam, wie sie nur konnte, ging sie zum Haus zurück.

»Entschuldige dich bei Mark«, sagte Mama. »Man darf nicht einfach anderen Leuten auf die Füße treten.«

»Man darf auch nicht einfach kleine Tiere ermorden«, entgegnete Imogen. »Das solltest du Mark mal sagen.«

Kapitel 3

Fünf Minuten später kam Oma an und Mama verschwand. Imogen zog die Alufolienrüstung aus und schob ihre Steinesammlung unter ihr Bett.

»Deine Mutter hat gesagt, du bist unartig gewesen«, sagte Oma. »Aber wir fahren trotzdem in die Teestube. Es wäre nicht fair, Marie für dein Benehmen zu bestrafen, und ich kann eine Siebenjährige doch nicht allein zu Hause lassen.«

»Ich bin schon elf«, sagte Imogen. »Ich kann gut selbst auf mich aufpassen.«

»Sieben. Oder elf. Spielt keine Rolle«, sagte Oma. »Jetzt steigt ein.«

Als sie aus der Einfahrt auf die Straße abbogen, fing Marie an zu summen. Das war eine ihrer nervigsten Angewohnheiten: Sie summte Melodien, die sie selbst erfand. »Hörst du bitte auf?«, fragte Imogen.

Marie summte weiter, aber ganz leise.

»Hör auf!«, schrie Imogen.

»Das reicht«, schimpfte Oma, »oder ihr kriegt beide keinen Kuchen.«

Da waren sie still. Oma sagte so was nicht zweimal, und es war besser, sie nicht abzulenken, wenn sie am Steuer saß. Als sie sich das letzte Mal im Auto gezankt hatten, hatte Oma ein Eichhörnchen überfahren. Da hatte sie die Mädchen aufgefordert, auszusteigen und eine Trauerfeier abzuhalten.

»Wo ist Mama denn hin?«, fragte Imogen und suchte im Rückspiegel Omas Blick. Aber Oma guckte nur auf die Straße.

»Eure Mutter fährt ins Theater.«

»Warum?«

»Weil sie das Theater so gern mag.«

»Mag sie Mark auch gern?«

Jetzt blickte Oma Imogen einen Moment lang über den Spiegel in die Augen. »Natürlich mag sie Mark gern. Die beiden sind gute Freunde.«

»Freunde.« Imogen schmeckte das Wort auf der Zunge, als wäre es ihr neu. »Bist du sicher, dass er nicht ein neuer Verehrer ist?«

Sie hielten an einer roten Ampel, und Imogen drehte das Gesicht zum Autofenster und hauchte ein großes O auf die Scheibe. Als sie durch den beschlagenen Fleck eine Bewegung wahrnahm, wischte sie ein Loch in das O, um hindurchsehen zu können.

Es war der Schattenfalter, der auf das Auto zugeflogen kam. Er kämpfte sich durch den Regen. Was für ein unglaubliches Insekt, dachte Imogen. Er wirkte wie ein Bote aus uralter Zeit, der entschlossen war, seine Botschaft zu überbringen, und sollte es ihn das Leben kosten.

Die Ampel wurde grün, und das Auto fuhr ruckend an. Imogen drehte sich um und guckte durchs Rückfenster, aber der Falter war nicht mehr zu sehen. Der Arme, wahrscheinlich hat der Regen ihn zerquetscht, dachte sie. Wenn man so klein ist, ist jedes Tröpfchen ein Meteor.

Kapitel 4

Die Teestube gehörte zu einem großen Gut. Oder jedenfalls war es einmal ein großes Gut gewesen. Heutzutage war das Herrenhaus der Haberdashs verschlossen, bis auf ein Zimmer, in dem Mrs Haberdash mit ihren Hunden wohnte.

Mrs Haberdash bewirtschaftete die Teestube von ihrem Elektromobil hinter der Theke aus. Da saß sie in einem ausgeblichenen Spitzenkleid, altmodische Ohrringe schimmerten auf ihrer kupferbraunen Haut, und auf ihrem Kopf türmten sich graue Korkenzieherlocken.

Imogen und Marie saßen in der Ecke der Teestube. Sie aßen Kuchen und zeichneten auf ihren Skizzenblöcken. Imogen arbeitete an einem Porträt von Mrs Haberdashs Hunden.

Oma redete auf Mrs Haberdash ein. »Es war dämlich von Winifred, einem Friseur zu vertrauen und einem Mann noch dazu«, sagte sie gerade. Sie hatte sich über die Theke gebeugt. »Ich hab ihr gesagt, dass es eine irrwitzige Idee sei. Ebenso gut könnten Sie Ihre Hunde bitten, hier zu servieren.«

Mrs Haberdash nickte so heftig, dass ihre Ohrringe klimperten.

Imogen versuchte sich vorzustellen, wie die Hunde der alten Dame Tassen und Untertassen auf den Köpfen balancierten. Vielleicht würde sie das beim nächsten Mal zeichnen, denn für heute hatte sie genug. Sie versuchte, Oma auf sich aufmerksam zu machen, aber die war gerade voll in Fahrt.

»Fertig! Fertig!« Marie hielt ihre Zeichnung hoch. Imogen kniff die Augen zusammen. Das Bild sah fast genauso aus wie ihr eigenes Hundeporträt.

»Oma! Marie malt von mir ab!«, rief Imogen.

Die Großmutter tat so, als hätte sie Imogen nicht gehört. Sie redete weiter mit Mrs Haberdash: »Ich hab meinem Arzt gesagt, dass ich schon mit Bernie gesprochen hatte, und Bernie hat gesagt, wenn ich sechs Paracetamol nehme, ist das Problem im Nu verschwunden.«

Imogen warf ihrer Schwester einen todbringenden Blick zu und stapfte aus der Teestube ins Freie. Sie marschierte zum Parkplatz, aber Omas Auto war abgeschlossen. Auch gut. Dann würde sie eben draußen beleidigt sein. Sie würde die ganzen Sommerferien lang beleidigt sein, wenn es sein musste. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Imogen schaute sich nach einem Platz zum Sitzen um.

Dabei entdeckte sie in der Ecke des Parkplatzes eine Pforte, die ihr noch nie aufgefallen war. Oben über der Pforte hingen in ansprechenden Buchstaben die Worte: Willkommen im Haberdash-Park. In weniger ansprechenden Buchstaben war quer auf die Pforte gepinselt: KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE!

Imogen war sich nicht ganz sicher, was »Unbefugte« in diesem Fall bedeutete, aber es klang spannend. Sie drehte sich zur Teestube um. Niemand beobachtete sie. Als sie sich wieder der Pforte zuwandte, sah sie, dass ihr Falter darauf saß. Oder wenigstens glaubte sie, dass es ihr Schattenfalter war. Sie ging dicht an ihn heran und bückte sich, um ihn ganz aus der Nähe anzuschauen, und der Falter erwiderte ihren Blick.

»Du bist es wirklich.« Imogen lächelte. »Ich dachte schon, der Regen hätte dich erwischt.« Der Falter flog von der Pforte auf und in den Haberdash-Park hinein.

Imogen versuchte, das Schloss an der Pforte zu öffnen. Es war durchgerostet und plumpste ihr in die Hand. Also, dachte sie, Mrs Haberdash hätte das wirklich mal reparieren lassen sollen. Sie ließ das Schloss fallen und trat in den Park. »Warte auf mich!«, rief sie.

Die Pforte schwang hinter ihr zu.

Kapitel 5

Im Haberdash-Park wurde gekämpft. Bäume schlugen sich mit dem Gewicht von Kletterpflanzen herum, und Efeu erstickte die Rosen. Die Wildpflanzen hatten es fast geschafft, ihr rechtmäßiges Eigentum zurückzuerobern.

Imogen musste schnell gehen, um den Falter nicht aus den Augen zu verlieren. Sie wünschte, er würde irgendwo sitzen bleiben, damit sie ihn noch einmal aus der Nähe betrachten konnte. Ein Zweig knackte. Sie fuhr herum, aber hinter ihr war niemand.

Der Falter flog weiter, und Imogen folgte ihm. Ranken warfen sich ihr todesmutig in den Weg. Sie bog nach rechts ab und gelangte an einen Fluss. Zwischen den Rohrkolben hockten dicke Frösche.

In ihrer Eile stolperte Imogen zu nah ans Wasser heran. Ein Frosch sprang rülpsend zur Seite, und schon sackte sie mit einem Absatz in den schwammigen Untergrund ein. Kaltes Wasser sickerte ihr in den Schuh, aber sie hatte keine Zeit, stehen zu bleiben, denn der Falter flog ihr davon.

Sie eilte am Ufer entlang. Der Falter flatterte über den Fluss ans andere Ufer. »Dahin kann ich dir nicht folgen!«, rief Imogen. Sie sah sich nach einer Brücke um. Hier, wo alles auseinanderfiel, fiel manches auch an die richtige Stelle. Quer über dem Fluss lag ein umgestürzter Baum.

Imogen kletterte am Wurzelwerk hinauf und breitete die Arme weit aus. Sie setzte erst den linken Fuß auf den Baumstamm, dann den rechten. Asseln wuselten in Deckung, als das Mädchen ihr moderndes Paradies betrat. Langsam schritt Imogen über den abgestorbenen Baum. Dabei wagte sie kaum zu atmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Das letzte Stück des Baumstamms war glitschig, also legte Imogen sich auf den Bauch und robbte vorwärts. Dass sie sich dabei Schmutz in ihr Shirt und ihre Jeans rieb, konnte sie nicht aufhalten. Als der Stamm nicht mehr über dem Wasser schwebte, sondern wieder auf festem Boden auflag, ließ sie sich hinunterrutschen und landete auf den Füßen. Zufrieden mit sich selbst lächelte Imogen und setzte ihren Weg fort.

Auf dieser Seite des Flusses hatten die Pflanzen den Kampf gegen die Gärtner schon gewonnen. Sie hatten kein Interesse daran, so auszusehen, wie die Menschen sie schön fanden. Übergroße Sträucher hatten dornige Zweige, eigenwillige Blumen nickten mit den Köpfen, als Imogen vorbeihuschte, und je tiefer sie in den Haberdash-Park eindrang, desto stärker wurde ihr Gefühl, nicht willkommen zu sein.

Irgendwo hinter sich hörte Imogen ein Geräusch, es klang wie ein leises Trappeln. Sie drehte sich um, doch niemand war zu sehen.

Sie überlegte, ob sie zur Teestube zurückkehren sollte, aber sie war sich sicher, dass der Falter versuchte, ihr etwas zu zeigen, und sie wollte sehen, was das war. Ein großer Wassertropfen landete auf ihrer Stirn, und sie schaute zum Himmel hoch. Ein weiterer Tropfen spritzte auf ihre Wange, und dann fing es an zu schütten. Der Falter flog schneller, und Imogen rannte, um mitzukommen. Wieder hörte sie das merkwürdige Geräusch hinter sich, aber sie konnte sich jetzt nicht umdrehen. Sie wollte sich nicht umdrehen. Sie lief, so schnell sie konnte. Der Schlamm spritzte ihr an den Beinen hoch.

Der Schattenfalter führte Imogen zu einem gigantischen Baum. Die höchsten Äste schienen die Wolken zu berühren, und Imogen war sich sicher, dass sie trotz des prasselnden Regens hören konnte, wie Wurzeln aus der Tiefe der Erde Wasser hochsaugten.

Sie trat unter das Laubdach und legte die Hände auf den rauen Stamm. Der Falter landete direkt neben ihren Fingern und ließ seine Fühler kreisen. Bei diesem Licht wirkte er eher grau als silbern, sodass er auf der Rinde gut getarnt war.

Imogen konnte es kaum erwarten, Marie zu berichten, was sie gefunden hatte: den größten Baum der Welt. Marie würde staunen – und vielleicht auch ein kleines bisschen neidisch sein.

Der Falter krabbelte von Imogens Hand fort, und sie verfolgte seinen Weg. Bald kroch er nicht mehr über knorrige Rinde, sondern über glattes Holz. Imogen strich mit dem Finger über diese ganz andere Oberfläche. Sie glaubte zu wissen, was das war, und trat ein paar Schritte zurück. Ja, es war genau so, wie sie vermutete.

In diesem Baum war eine Tür.

Kapitel 6

Die Tür war ungewöhnlich niedrig. Ein Erwachsener hätte sich bücken müssen, um hindurchzupassen, aber für Imogen hatte sie genau die richtige Höhe.

Sie fragte sich, was sie auf der anderen Seite vorfinden würde. Vielleicht war der Baum ein Versteck für einen Schatz. Und vielleicht hatte Mrs Haberdash ja vergessen, dass sie hier einen Schatz versteckt hatte.

Der Falter krabbelte an der Tür hinunter und blieb neben dem Schlüsselloch sitzen. Imogen kniete sich davor, wobei sie noch mehr Erde in ihre Jeans schmierte, und lugte hindurch. Auf der anderen Seite jedoch konnte sie nur Dunkelheit sehen, sonst nichts. Sie schaute den Falter an.

»Wolltest du mir das hier zeigen?«, fragte sie.

Der Falter legte die Flügel zusammen und wand sich durch das Schlüsselloch.

»Ich glaube, das ist ein Ja«, sagte Imogen. Sie erhob sich, zog die Tür auf und ging hindurch.

Zuerst war alles ganz dunkel. Doch als ihre Augen sich daran gewöhnt hatten, tauchten riesenhafte Formen aus der Finsternis auf. Nach ein paar Sekunden erkannte Imogen, dass es Bäume waren. Sie stand allein in einem Wald, kurz vor Sonnenuntergang. Über ihr zerteilten Zweige den dunkelnden Himmel.

Ihr Kopf füllte sich mit Fragen. Wie konnte ein ganzer Wald in einen einzigen Baum hineinpassen? Warum regnete es hier nicht? Warum war es so dunkel und still? Es kam ihr vor, als hätte sich ein riesiges Federbett über den Wald gebreitet.

Imogen drehte sich zur Tür um, und da wurde ihr klar, dass die Geräusche hinter ihr keine Einbildung gewesen waren. Ihr war wirklich jemand gefolgt. Soeben trat nämlich ihre Schwester über die Schwelle.

Marie wurde vom Licht aus dem Park angestrahlt. Ihr Haar war im Regen dunkel geworden, ihr pinkes Kleid war matschverkrustet, und ihre Augen waren riesengroß. Sie zog die Tür hinter sich zu. Die Angeln mussten gut geölt sein, denn die Tür ließ sich mühelos bewegen und schloss sich mit einem Klicken. Die Schwestern sahen sich an.

»Marie!«, rief Imogen. »Was machst du denn hier?«

Einen Moment lang wirkte Marie ängstlich, überrumpelt, aber sie hatte sich schnell wieder in der Gewalt.

»Was ich hier mache?«, erwiderte sie. »Genau das könnte ich dich auch fragen.«

»Dann warst du es also, die mir gefolgt ist.« Imogen verschränkte die Arme.

»Du darfst gar nicht in den Haberdash-Park rein.«

»Du auch nicht«, sagte Imogen. »Kannst du mich nicht ein einziges Mal was allein machen lassen?«

»Das sag ich Oma. Du bist unbefugt.«

Imogen machte ein finsteres Gesicht. Es war ihr Falter, ihr Garten und ihre geheime Tür. Marie war nicht eingeladen. Sie hatte sich einfach in ihr Abenteuer reingemogelt, und jetzt drohte sie, es kaputtzumachen. Imogen hätte ihre kleine Schwester am liebsten mit irgendetwas beworfen. Oder sie am Pferdeschwanz gezogen. Oder nein, sie wollte einfach, dass Marie wieder verschwand.

»Dann geh doch. Geh und heul Oma was vor.«

»Gut! Das mach ich!« Marie drehte sich um und fasste nach dem Türgriff. Doch dann wandte sie sich wieder ihrer Schwester zu.

»Auf was wartest du noch?«, fragte Imogen.

»Die geht nicht auf«, sagte Marie.

»Mach mal Platz.«

Imogen rüttelte an der Klinke, aber die Tür rührte sich nicht. »Na, super!«, rief sie.

»Ich wusste ja nicht, dass sie sich von selbst abschließt!«, kreischte Marie.

»Wie kann man nur so blöd sein? Wenn man nicht weiß, wie irgendwas funktioniert, dann fasst man es gar nicht erst an!«

»Du hättest sie gar nicht erst aufmachen sollen!«, rief Marie.

»Und du hättest zu Hause bleiben sollen, dann würdest du mir jetzt nicht alles verderben!«

Imogen spürte, wie Panik in ihr hochstieg. Sie trat gegen die Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen, aber die Tür blieb zu.

Der Schattenfalter, dem sie gefolgt war, war nirgends mehr zu sehen.

Kapitel 7

Marie sah aus, als könnte sie gleich losweinen, und Imogen war klar, dass es ihre Aufgabe war, für sich und ihre Schwester einen Ausweg aus dieser unheimlichen Situation zu finden. Außerdem wusste sie, dass sie sich bewegen mussten. Hier war es deutlich kälter als im Haberdash-Park, und sie zitterte schon in ihrer feuchten Kleidung.

»Wir müssen weiter.« Wie ein General drehte sie sich auf dem Absatz um.

»Glaubst du, wir sind zum Abendbrot zurück?«, fragte Marie mit zittriger Stimme.

Imogen hielt das für unwahrscheinlich. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich gar nicht mehr im Park befanden, sondern ganz woanders, aber sie konnte es nicht ertragen, wenn Marie weinte, daher murmelte sie irgendwas Beruhigendes über Oma, die bestimmt schon nach ihnen suche.

Über ihnen regten sich die ersten Sterne. Sie zwinkerten einander zu und schauten auf die beiden Mädchen hinunter, die durch den Wald wanderten, zwei winzige Gestalten zwischen den Bäumen. Jemand, der die Sterne deuten konnte, hätte vielleicht gesagt, sie lächelten.

Imogen sagte es Marie nicht, aber insgeheim war sie erleichtert, dass sie in diesem fremden Wald nicht allein war. Man konnte kaum etwas sehen, und immer wieder stolperte sie über Wurzeln oder ihre Jeans verfing sich in Brombeerranken. Sie schaute angestrengt in die Dunkelheit, weil sie hoffte, flatternde Flügel zu entdecken, aber ihr Falter war verschwunden.

Ab und zu hörte Imogen ihre Sorgenteufel flüstern. »Im Wald verirrt«, wisperten sie. »Im Wald verirrt und ganz weit weg von zu Hause.«

Imogen beschleunigte ihre Schritte.

»Hey, ich komm nicht mit«, jammerte Marie.

Imogen drehte sich um. Die Sorgenteufel huschten von einem Baum zum nächsten, doch sie ernährten sich nur von ihren eigenen Ängsten, nicht von denen ihrer kleinen Schwester. Marie konnte die Teufel gar nicht sehen.

»Komm«, sagte Imogen, »ich will aus diesem Wald raus.«

Während die Mädchen weitergingen, lichtete sich der Wald allmählich, und Imogen bemerkte etwas. Etwas, das kein Sorgenteufel war. »Marie, kannst du das sehen?«

»Das ist einer von diesen Würmern mit einem Licht im Popo«, sagte Marie.

»Ein Glühwürmchen? Nein, das Licht ist größer. Und weiter weg.«

»Vielleicht ist es Oma! Mit einer Taschenlampe!«

Imogen führte Marie auf das Licht zu. Für einen Stern hing es zu tief und für Oma war es zu reglos – aber es lockte sie weiter. Der sanfte Schein hatte etwas Beruhigendes. Imogen wünschte, sie wären schon dort, bei anderen Menschen. Das war es, was Licht bedeutete: Leben, Wärme, einen Hoffnungsschimmer, ein getoastetes süßes Brötchen und dann eine kurze Fahrt nach Hause.

Die Mädchen gelangten an den Waldrand, und Imogens Hoffnung verflog. Sie standen vor einem Tal, das von riesenhoch aufragenden Bergen umgeben war. Was sich auf dem Grund des Tals befand, konnte Imogen noch nicht erkennen, aber irgendwo dort schien das Licht, dem sie gefolgt waren. Sie schätzte, dass es noch etwa zwei Meilen entfernt war. Vielleicht auch drei. Alle ihre Träume von süßen Brötchen lösten sich in Luft auf. Dieses Tal war groß und fremd und voller Schatten. Der Weg nach Hause würde nicht einfach werden.

An dieser Stelle müsste eigentlich ein Erwachsener das Licht anmachen, den Wald wegpacken und die Mädchen ins Bett schicken. Aber hier waren keine Erwachsenen, und der Wald war echt. Imogen war zum Heulen zumute.

»Das sieht nicht nach der Teestube aus«, sagte Marie.

Imogen biss sich auf die Lippe. Plärren würde ihnen jetzt nicht weiterhelfen.

»Was sollen wir bloß machen?«, fragte Marie. »Mir ist kalt. Ich will nach Hause.«

Imogens aufgestaute Tränen verwandelten sich in Zorn. »Ich weiß den Weg nicht«, fauchte sie. »Ein gewisser Jemand hat die Tür zugeknallt, erinnerst du dich?«

»Das war aus Versehen!«, rief Marie. Die Berge warfen das Echo ihrer Worte zurück, und von dem geisterhaften Hall ihrer eigenen Stimme erschreckt sprang sie hinter ihre Schwester. »Und ich hab die Tür auch gar nicht zugeknallt. Ich hab sie nur angestupst.«

»Na gut, ist ja auch egal«, sagte Imogen.

Einen Moment lang schwiegen die beiden Schwestern. Dann holte Imogen tief Luft. »Sieh mal«, sagte sie. »Da ist doch das Licht. Da müssen Leute sein. Die können uns helfen, wieder nach Hause zu kommen.«

»Glaubst du?«, fragte Marie.

»Ich bin sicher«, sagte Imogen.

Gemeinsam gingen sie weiter auf das Licht im Tal zu.

Marie hielt Imogens Hand ganz fest. Imogen wehrte sich nicht dagegen.

Kapitel 8

Die beiden Schwestern stapften durch Wiesen und sprangen über Bäche.

Nur eine schmale Mondsichel hing am Himmel, aber sie wirkte größer als sonst, und da Imogen keine Äste mehr über sich hatte, reichte ihr das Licht gerade, um zu sehen, wo sie ihre Füße hinsetzte. An manchen Stellen war das Gras kurz geschnitten, an anderen war es lang und wild. Wiesenchampignons wuchsen in Kreisen, so als hätten sie sich zu einem nächtlichen Tanz versammelt.

»Glaubst du, dass Mama mit Mark eine schöne Zeit hat?«, fragte Marie.

»Hoffentlich nicht. Ich mag ihn nicht.« Imogen stampfte besonders kräftig auf das Gras. »Ich weiß nicht, was sie mit diesen ganzen Verehrern will. Sie hat doch uns, oder?«

»Ja … aber vielleicht ist er nett?«

»Das bezweifle ich«, sagte Imogen. »Er hatte bescheuerte Schuhe an. Er hat bescheuerte Sachen gesagt. Ich wette, das geht schief, genau wie mit den anderen Verehrern.«

»Oma sagt, die Schuhe, die jemand trägt, verraten viel über ihn.«

»Sie hat recht«, sagte Imogen. »Und Marks Schuhe waren wirklich bescheuert.«

»Ich wünschte, Oma wäre jetzt hier«, sagte Marie.

Imogen führte sie durch die Wiesen, bis sie am Fuß einer ungeheuren Mauer standen. Dahinter ragten schattenhaft die Umrisse hoher Gebäude auf. »Wow!«, flüsterte Marie. Die Mauer war dreimal höher als ein Haus, und jeder einzelne Stein war so groß wie ein Auto.

»Da muss es in alter Zeit große Kämpfe gegeben haben«, sagte Imogen. »Sonst hätten sie nicht so eine gewaltige Mauer gebraucht.«

»Wie kommen wir da rüber?«, fragte Marie. »Das Licht ist auf der anderen Seite.«

»Ich glaube, da ist ein Tor. Es ist schwer zu erkennen, aber guck mal da drüben –« Eine Glocke unterbrach Imogen. Das Läuten war ohrenbetäubend. Weitere Glocken fielen lärmend ein. Sie hielt sich die Ohren zu.

Marie hüpfte herum und schrie etwas, aber Imogen konnte nichts verstehen. Die kleine Schwester zeigte auf das Tor. Es senkte sich langsam herunter.

Imogen rannte los, und Marie folgte ihr. Die Glocken läuteten weiter. Die Sterne flimmerten vor Aufregung, und selbst die Mondsichel konnte den Blick nicht von den beiden Schattengestalten wenden, die jetzt auf die Lücke zwischen dem Erdboden und dem sich absenkenden Tor zusprinteten.

Während die letzten Glockentöne erklangen, warf Imogen sich auf alle viere und krabbelte unter dem Tor hindurch. »Das war knapp!«, keuchte sie und sprang wieder auf die Füße. Doch als sie sich umdrehte, war Marie nicht mehr hinter ihr. Ihr Hoodie hatte sich in den eisernen Spitzen unten am Tor verfangen. Noch wenige Zentimeter und das Tor würde sie aufspießen.

»Hilfe!«, schrie Marie, während sie sich strampelnd bemühte, weiterzurobben. »Imogen, ich hänge fest!«

Kapitel 9

Imogen riss Maries Hoodie los, packte sie an den Handgelenken und zerrte sie auf dem Bauch unter dem Tor hindurch. Das Tor schlug auf dem Boden auf. Imogen brach zusammen. Sie hatten es geschafft.

»Fast – fast hätte es mich totgedrückt«, schnaufte Marie. »Stell dir mal vor, was Mama gesagt hätte, wenn das Tor mich zerquetscht hätte.«

»Ich wette, ich hätte Ärger gekriegt«, murmelte Imogen.

»Kann sein«, sagte Marie kleinlaut. »Aber … ähm … danke, dass du mich gerettet hast.«

Als Imogen sich erholt hatte, half sie Marie auf die Beine und schaute sich um. Auf dieser Seite der Mauer befand sich eine Stadt mit angestrichenen Häusern, Ziegeldächern und spitzen Türmen. Manche Gebäude waren so kunstvoll verziert, dass sie Imogen an die Geburtstagstorten erinnerten, die Mama backte – von oben bis unten mit Blumen und Verzierungen aus buntem Zuckerguss bedeckt.

Die Mädchen wanderten durch die Straßen auf das Licht zu. Sie begegneten keiner Menschenseele. Offenbar hatte man die Stadt den Toten überlassen – oder dem, was von ihnen übrig war. Beinknochen baumelten an den Fenstern wie merkwürdige Klangspiele. Ketten aus Wirbelknochen schmückten Haustüren. Seltsam geformte Schädel guckten zwischen Mauersteinen hervor.

Imogen befiel eine leichte Übelkeit. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte: die seltsamen Überreste der Gerippe oder der Gedanke daran, was diese menschenähnlichen Wesen vielleicht getötet hatte.

»Was glaubst du, von wem die Totenköpfe sind?«, fragte Marie.

»Woher soll ich das denn wissen?« Imogen wollte nicht darüber reden.

»Die sind so klein. Glaubst du, dass sie von Kindern sind?«

»Nein.«

»Und guck mal, wie viele Zähne sie haben …«

»Komm, Marie. Wir müssen weiter.«

Imogen holte tief Luft und sah wieder hoch zu dem Licht. Es schien mitten aus der Stadt zu kommen. Da mussten sie hin.

Die Gebäude, an denen die Mädchen vorbeigingen, waren alle verschlossen. Nirgends drang Licht durch die Fensterläden, nirgends quoll Rauch aus den Schornsteinen. Kein Willkommensgruß, nur das Grinsen der Totenschädel.

Die einzigen lebenden Wesen schienen die Nachtfalter zu sein, die überall herumflogen. Es gab kleine, die schimmerten. Es gab große mit gesprenkelten Flügeln. Manche waren blau wie die Mitternacht oder rot wie der Himmel bei Sonnenaufgang. Imogen schaute sich immer wieder nach ihrem Schattenfalter um, der ihr die Tür im Baum gezeigt hatte, aber sie konnte ihn nicht entdecken. Das hier waren bloß normale Insekten. Sie würden ihr nicht den Weg nach Hause zeigen.

Die beiden Mädchen überquerten eine Brücke, die von schwarzen Steinfiguren bewacht wurde. Imogen zählte sie im Vorbeigehen. Es waren dreißig. Normalerweise ging es ihr besser, wenn sie Dinge zählte, aber diesmal funktionierte der Trick nicht.

Alle Figuren waren Männer mit ernsten Gesichtern. Allerdings hatte der Auftraggeber dem Steinmetz anscheinend nicht gesagt, wie viele Gliedmaßen sie haben sollten. Manchen fehlten Arme, bei anderen fehlte ein Unterschenkel. Sogar einige Köpfe fehlten, und die steinernen Körper waren mit Kratzern überzogen.

Je weiter die Mädchen in die Stadt hineingingen, desto höher wurden die Gebäude. Die geduckten Häuschen nahe der Stadtmauer wichen stolzen fünfstöckigen Villen. In die Mauern eines hochherrschaftlichen Hauses waren Totenschädel eingebettet. Marie blieb stehen und betrachtete einen davon. »Imogen, guck dir den mal an!«

Der Schädel gefiel Imogen überhaupt nicht. Nicht nur, dass er viele Zähne hatte, sondern sie waren noch dazu spitz, fast dreieckig. »Wir sind in einem Albtraum gelandet«, murmelte sie. »Lass uns weitergehen.«

»Eine Sekunde noch«, sagte Marie und ging noch dichter an den Schädel heran, sodass die Augenhöhlen in ihr aufwärtsgewandtes Gesicht herunterstarrten. Sie reckte sich hoch und schob die Hand zwischen den klaffenden Kiefer. Die Spitze ihres Zeigefingers schwebte genau über einem Fangzahn und berührte ihn beinahe. Da zuckte sie plötzlich zusammen. Ein entsetzlicher Schrei gellte durch die Stadt. Imogen erschrak genauso.

»Was war das?«, rief Marie, während sie ihre Hand zurückriss.

»Ich glaube, das wollen wir gar nicht wissen«, sagte Imogen. »Komm weiter.«

Die Mädchen hetzten durch die Straßen. Ihre Angst verlieh ihnen Energie. Der Schrei hatte wild und wütend geklungen, und er war aus der Nähe der Stadtmauer gekommen.

Imogen versuchte, sich auf das Licht zu konzentrieren und die Richtung dorthin einzuhalten, und bei jeder falschen Abbiegung schlug ihr Herz schneller. Plötzlich erschienen ihr sogar die Gebäude mit ihren geschlossenen Fensteraugen feindselig.

Wieder ein Kreischen. Lauter, näher.

Imogen hämmerte an eine Haustür. Aus den Fensterläden flatterten Falter, aber niemand kam den Mädchen zu Hilfe.

Imogen trat gegen die Tür und verfluchte den Schattenfalter. Und sie verfluchte ihr verdammtes Pech. Sie versprach Gott und dem Mond und allen, die gerade zuhörten, dass sie nie wieder weglaufen würde. Sie wollte brav Leber und Brokkoli essen. Und sie wollte ihre Sachen mit Marie teilen, wenn sie nur wieder zu Hause wären, sicher in ihre Bettdecken eingemummelt.

Wieder Schreie. »Sie kommen hierher!«, rief Marie.

»Folge mir«, sagte Imogen.

Sie bog um die Ecke und rechnete fast damit, in eine Sackgasse zu laufen, doch stattdessen fanden die Mädchen sich auf einem großen Platz wieder. Auf der anderen Seite erhob sich eine finstere Burg, gekrönt von großen und kleinen Türmen. Von der Spitze eines hohen Turms schien ein Licht. »Da ist es«, sagte Imogen. »Da muss jemand wohnen.«

Die Mädchen rannten über den Platz und schlugen mit den Fäusten gegen das Burgtor.

»Lasst uns rein! Lasst uns rein!«

Als keine Antwort kam, hämmerten sie noch kräftiger. Die Schreie kamen immer näher. Im nächsten Augenblick würden die unsichtbaren Monster den Platz erreichen – aber das Tor blieb verschlossen.

Es gab kein Entkommen mehr.

Kapitel 10

»Ui! Ihr zwei – hierher!« Durch eine kleine Tür in dem großen Eingangstor schaute ein Jungengesicht.

Imogen und Marie zögerten keinen Moment. Sie sprangen zur Tür, der Junge zog sie weiter auf, und die Mädchen stürzten hindurch. Der Junge schloss die Tür wieder und sperrte das Sternenlicht und die kreischenden Wesen damit aus. In der Dunkelheit klimperten Schlüssel.

»Da kommen sie nicht durch«, sagte er und zündete eine Kerze an. Im Lichtschein sahen die Mädchen, dass er weit auseinanderstehende Augen, olivbraune Haut und einen wild gelockten braunen Haarschopf hatte, der seine abstehenden Ohren nicht ganz verdecken konnte.

Er drückte ein Ohr an die Tür, und die Mädchen taten es ihm nach. Klauen kratzten über die Pflastersteine. Der Junge legte den Zeigefinger an die Lippen. Die kreischenden Ungeheuer waren ganz nah. Imogen hielt die Luft an. Etwas rüttelte an der Tür. Die Kinder sprangen zurück, und Marie stieß ein Wimmern aus.

Draußen schrien die Monster, um eingelassen zu werden. »Sie kommen nicht durch die Tür«, flüsterte der Junge. »Das haben sie noch nie geschafft.«

Und tatsächlich, nach ein paar Minuten ließ der Lärm nach. Die Kinder standen noch ein Weilchen still. Erst als das Geschrei ganz verklungen war, wagten sie wieder, sich zu rühren.

»Gut«, sagte der Junge und stellte seine Kerze ab. »Eins nach dem anderen.«

Imogen wischte sich die Finger an der Jeans ab, weil sie ihm die Hand schütteln wollte.

»Dreh dich zur Wand und leg die Hände auf den Kopf.«

»Was?«

»Du hast mich gehört«, sagte der Junge. »Umdrehen und Hände hoch.«

Widerstrebend folgte Imogen seinem Befehl. Der Junge untersuchte das obere Stück ihrer Socken. Dann kehrte er ihre Taschen um.

»Was machst du denn da?«, fragte Imogen.

»Ich suche nach Waffen«, sagte der Junge.

»Warum fragst du mich nicht einfach?«

»Bauernkindern ist nicht zu trauen. Außerdem, wenn ihr gekommen wärt, um mich zu töten, würdet ihr eure Messer doch niemals freiwillig hergeben.«

Noch nie hatte jemand Imogen als Bauernkind bezeichnet. Sie schaute auf ihre verdreckte Jeans hinunter. Vielleicht hatte er nicht ganz unrecht, aber höflich war das nicht gerade.

»Alles klar«, sagte der Junge nun. »Tritt zur Seite.« Dann durchsuchte er Marie. Misstrauisch hob er ihren Pferdeschwanz an und schüttelte ihn, als erwartete er, dass ein Dolch herausfallen würde.

Imogen beobachtete ihn. Er musste etwa in ihrem Alter sein, vielleicht ein bisschen älter. Seine Kleidung war ganz merkwürdig, der bestickte Mantel sah aus, als wäre er aus einem kostbaren Vorhang geschneidert. An fast allen Fingern trug er Ringe.

»Wir sind keine Bauernkinder«, sagte sie, aber der Junge hörte nicht zu. Er durchwühlte Maries Taschen. Gerade fand er etwas, das er jetzt zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und im Kerzenlicht genau betrachtete.

Ein Blick auf die schimmernde Oberfläche verriet Imogen, was es war. »Das ist mein Stein«, sagte sie. Marie musste ihn seit ihrem Streit in der Tasche gehabt haben.

Marie nahm die Hände herunter und drehte sich um. Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Der Junge betrachtete das Narrengold immer noch, daher wiederholte Imogen: »Der gehört mir. Er ist aus meiner Steinesammlung.«

»Was will ein Bauernmädchen denn mit einem Edelstein?«

Imogen spürte das vertraute Gefühl, dass ihr Puls zu rasen begann. Trotzdem sprach sie die Wörter ganz langsam. »Gib – ihn – mir – wieder. Ich bin kein Bauernmädchen.«

Marie sah von ihrer großen Schwester zu dem Jungen und wieder zu ihrer großen Schwester. »Tut mir leid, Imogen … ich wollte dir den Schatz irgendwann zurückgeben, ganz bestimmt. Ich wollte ihn mir nur ausleihen …«

Imogen machte einen Schritt auf den Jungen zu. »Gib mir mein Gold, du Dieb.«

»Wer bist du, dass du mich einen Dieb nennst?«, höhnte er. »Das ist mein Königreich, und alles darin gehört mir – auch du und deine Freundin und dein sogenannter Schatz.«

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Imogen stürzte sich auf den Jungen. Sie schlug ihm das Narrengold aus der Hand und schubste ihn um. Marie fing den Stein auf. Schon waren sie und der Junge ein Knäuel aus wirbelnden Armen und Beinen. Er haute ihr mit dem Ellbogen gegen das Kinn, sodass ihr Mund zuklappte. Als Rache stieß sie ihm ein Knie in den Bauch.

»Aua! Du dreckige Rotzgöre! Runter von mir!«

»Marie«, rief Imogen, »nimm seine Arme!«

Marie steckte den Stein wieder in die Tasche und stürzte sich auf die Handgelenke des Jungen. Eins konnte sie packen. Imogen stellte einen Fuß auf seine andere Hand, sodass er aufschrie. Dabei strampelte er wild mit den Beinen. »Hilfe!«, rief er. »So helft mir doch! Die wollen mich umbringen!«

Imogen schleuderte den Schuh von ihrem anderen Fuß, riss sich das Söckchen herunter und stopfte es dem Jungen in den Mund. Sie zog Marie das Haarband vom Pferdeschwanz, schlang es dem Jungen um die Handgelenke und übergab sie an Marie. Damit hatte sie selbst die Hände frei, um seine Knöchel zu packen. Der Junge hörte auf zu zappeln.

»Ha! Du gibst dich also geschlagen?«, rief Imogen voller Schadenfreude.

»Er sieht irgendwie wütend aus«, sagte Marie. »Sein Gesicht wird ganz rot.«

»Na, dumm gelaufen, was? Er darf anderen eben nichts wegnehmen.«

»Drückt dir jemand auf den Kopf?«, säuselte Marie. Sie genoss ihre Macht ein bisschen zu sehr.

Imogen wurde stutzig. »Warte mal. Wie meinst du das, sein Gesicht wird rot?« Aus ihrer Position an den Füßen des Jungen konnte sie seinen Kopf nicht richtig sehen.

»So rot wie Rote Bete …«, sagte Marie.

»Das Söckchen!«, rief Imogen.

»Uh, guck mal, wie seine Augen rausquellen. Er ist wirklich stinksauer.«

»Marie, die Socke! Nimm ihm die Socke aus dem Mund!«

Marie gehorchte. Der Junge holte Luft, und Imogen ließ seine Knöchel los. Die Schwestern schwiegen einen Moment, während der Junge sich auf den Bauch wälzte und dann spuckend und japsend auf alle viere hochkam.

»Ich sollte – ich sollte die Königliche Wache auf euch hetzen!« Mühsam kam er auf die Füße. »Ich sollte euch beide enthaupten lassen! Ich sollte euch zerstückeln und meinen Fischen zum Fraß vorwerfen lassen. Ich –«

»Das reicht«, unterbrach Imogen ihn so freundlich, wie sie konnte. »Wir wollten dich nicht ersticken.« Sie zog ihm das Haarband von den Handgelenken und gab es Marie zurück.

»Du musst meiner Schwester verzeihen.«

»Hallo? Ich hab ihn doch nicht allein gefesselt!«

Imogen warf Marie einen vielsagenden Blick zu. »Jemand hat sie als Baby auf den Kopf fallen lassen.«

Der Junge sah Marie mit seinen weit auseinanderstehenden Augen an. »Sind ihre Haare deswegen orange geworden?«

»Die sind nicht orange«, sagte Marie. »Sie sind rot.«

»Für mich sehen sie orange aus«, sagte der Junge.

Imogen mischte sich ein. »Hör mal, ich glaube, dass wir einen schlechten Start hatten.«

Der Junge stieß einen langen Seufzer aus. »Du hast recht«, sagte er. »Normalerweise mache ich so was nicht mit Gästen. Um ehrlich zu sein, normalerweise habe ich gar keine Gäste.«

»Das wundert mich nicht«, murmelte Imogen.

Der Junge schien das zu überhören. »Wenn mein Onkel Besuch bekommt, konfisziert die Königliche Wache dessen Waffen.«

»Ach so«, sagte Imogen, weil ihr diese Antwort angemessen erschien.

»Wenn Petr also nicht da ist, muss ich Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.«

»Verstehe«, sagte Imogen, die überhaupt nichts verstand.

»Wie wär’s, wenn wir noch mal ganz von vorn anfangen?«, fragte der Junge.

»Also Rückspiel?«, rief Marie.

»Nein! Angenommen, ihr seid gerade durch die Tür gekommen. Tut mal so, als ob. Ja, genau. Und ich habe die Tür gerade wieder abgeschlossen, und ihr sagt: ›Guten Abend, Eure Königliche Hoheit, es ist uns ein Vergnügen, Euch kennenzulernen.‹«

Imogen war sich mit dem Text nicht sicher. Sie fand, der Junge sollte sich hier nicht als König aufspielen. Doch sie waren in einer vertrackten Lage, und sie brauchten seine Hilfe.

»Guten Abend, Eure Königliche Hoheit«, sagte sie daher mit einem ungeschickten Knicks.

Marie machte ebenfalls einen wackligen Knicks und ergänzte: »Es ist uns ein Vergnügen, Euch kennenzulernen.«

Der Junge verneigte sich tief. »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte er. »Willkommen auf Burg Jaroslaw.«

Kapitel 11

»Ich bin der Prinz auf dieser Burg«, sagte der Junge, »und ihr seid meine Ehrengäste.« Er zog seine lange Jacke glatt und überprüfte, ob der steife Kragen noch hochstand.

Während dieser Darbietung machte er ein sehr ernstes Gesicht. Entweder ist er ein guter Schauspieler, dachte Imogen, oder er ist komplett verrückt.

»Also!« Der Junge hob die Kerze auf. »Sagt mir … was habt ihr da draußen gemacht? Ich dachte, die Bauern würden ihre Kinder bei Sonnenuntergang einfangen. Ihr seid doch keine Ausreißer, oder?«

»Erstens sind wir keine Bauernkinder.« Imogen blies sich zu ihrer vollen Größe auf. »Wie schon gesagt.«

»Was seid ihr dann? Taschendiebinnen?«

»Natürlich nicht!«

»Meuchelmörderinnen?« Er trat einen Schritt zurück.

»Wir haben uns verlaufen!«, sagte Imogen. »Wir sollten eigentlich gar nicht hier sein.«

»Wo solltet ihr denn sein? Kommt ihr aus den Wäldern?«

»Vermutlich könnte man das so sagen …«

Der Junge hielt die Kerze dichter an Imogen heran. »Du siehst aber nicht wie eine aus den Wäldern aus.« Er inspizierte ihr T-Shirt und ihre Jeans. »Du trägst nicht genug Grün, um eine Lesni zu sein. Überhaupt, was hast du denn da an?«

Imogen ballte die Fäuste und öffnete sie dann wieder, weil sie sich sagte, dass sie alle Hilfe brauchten, die sie bekommen konnten.

»Ihr müsst hier übernachten«, sagte der Junge. »Da draußen würdet ihr bei lebendigem Leib aufgefressen.« Diesen Satz auszusprechen bereitete ihm anscheinend großes Vergnügen. Er schaute die Mädchen an, um die Wirkung seiner Worte zu sehen. Marie schien entsetzt.

»Das wäre schön«, sagte Imogen. »Vielen Dank.«

»Ausgezeichnet. Folgt mir.« Der Junge ging los und nahm den kleinen Kreis des Kerzenlichts mit.

»Meinst du, wir sollen mitgehen?«, wisperte Marie.

»Ich sehe keine andere Möglichkeit«, sagte Imogen.

»Bloß, Mama sagt doch immer, wir dürfen nicht mit Fremden mitgehen. Findest du, dass er ein Fremder ist?«

»Na ja, irgendwie fremd ist er schon. Aber Mama will sicher auch nicht, dass wir von Monstern gefressen werden.«

»Nein«, sagte Marie. »Allerdings hat sie nie petzifisch davon gesprochen.«

»Das heißt spezifisch. Aber egal, wenn man jemanden lieb hat, braucht man nicht extra zu sagen: Lasst euch nicht von Monstern auffressen. Das ist auch so klar.«

Imogen stellte sich vor, wie Mama vom Theater nach Hause kam und die selbst gebackenen Pizzas unberührt vorfand. Mama bereitete immer etwas Besonderes zum Essen für die Mädchen vor, wenn sie spät nach Hause kam, und Pizza gehörte zu Imogens Lieblingsgerichten.

Dann dachte sie an Oma, wie sie mit ihrem Gehstock den Park absuchte. Das machte Imogen traurig, daher schob sie den Gedanken fort. »Los«, sagte sie zu Marie. »Seine Königliche Hoheit läuft uns sonst weg.«

Kapitel 12

Die Schwestern folgten dem Jungen durch mit Wandteppichen behängte Flure und durch Zimmer so groß wie die Sporthalle in der Schule.

Am Fuß einer Wendeltreppe blieb er stehen. »Das ist der Eingang zu meinen Gemächern«, sagte er. »Kein gewöhnlicher Sterblicher hat jemals einen Fuß auf diese Stufen gesetzt. Außer den Dienern natürlich. Aber von denen abgesehen seid ihr die Ersten.«

Gaga, dachte Imogen und nickte.

Je höher sie kamen, desto enger wurde die Wendeltreppe. »Bleibt hinter mir!«, rief der Junge, der schon oben verschwunden war.

Die Treppe führte in ein rundes Zimmer. »Ich hab noch nie so viele Kerzen gesehen«, sagte Imogen. »Ist dieses ganze Zeug deins?«

»Ja«, sagte der Junge.

»Wo hast du die her?« Marie guckte ihn mit einem riesengroßen Auge durch eine Lupe an.

»Sie hat meinem Vater gehört.«

»Und den hier?« Marie legte sich auf einen Fellteppich.

»Weiß ich nicht mehr.«

»Und diese Uhr?« Imogen pustete Staub von dem schlafenden Zifferblatt einer alten Uhr.

»Nicht anfassen«, fuhr der Junge sie an. »Sie ist die einzige ihrer Art.«

Imogen beugte sich vor. Sie wollte sich den Gegenstand, den sie nicht berühren durfte, genauer ansehen.

Die Uhr bestand aus Holz. Auf dem Zifferblatt zählte Imogen fünf reglose Zeiger und dazu eine ganze Reihe juwelenbesetzter Sterne. Sie bekam nicht heraus, was die Sterne an ihrem Platz festhielt. Sie schienen zu schweben, aber es waren keine Drähte zu sehen. Hinter dem größten Zeiger lugte ein silberner Mond hervor, als sei er zu schüchtern, um sich ganz zu zeigen.

»Was ist da hinter der Klappe?«, fragte Imogen. Sie trat zurück und zeigte auf ein Türchen oben in der Uhr. Es hatte etwa die richtige Größe für einen Hamster.

»Weiß ich nicht mehr«, sagte der Junge. »Sie ist schon vor Jahren stehen geblieben.«

»Warum?«, fragte Marie.

Der Junge spielte an seinen Ringen herum. »Ich glaube, ihr habt für einen Abend genug Fragen gestellt.«

Marie warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Himmelbett mit seinen gemütlichen dicken Kissen und der Daunendecke. Sie sah ihre Schwester an, und Imogen nickte. Im nächsten Moment zog Marie die Schuhe aus und kroch unter die Decke.

Imogen wandte sich an den Jungen. »Nur noch eine Frage …«

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