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Das Haus der stummen Toten

Als Buch hier erhältlich:

Spannend, unheimlich, eiskalt - die neue Generation der schwedischen Bestsellerautorinnen

Als Eleanor ihrer Großmutter Vivianne auf deren Drängen hin einen Besuch abstattet, findet sie diese ermordet vor. Zwar sieht sie den Täter noch kurz, kann ihn aber aufgrund ihrer Gesichtserkennungsschwäche nicht beschreiben. Bald erfährt sie, dass sie von ihrer Großmutter einen Hof namens Solhöga geerbt hat, von dem sie noch nie zuvor etwas gehört hat. Zusammen mit ihrem Freund fährt Eleanor zu dem Anwesen. Dort geschehen mysteriöse Dinge, und bald wird klar, dass sie nicht allein auf dem Gut sind. Wer ist hinter ihnen her? Was hat es mit diesem Hof auf sich? Können sie lebend entkommen?


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904167
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Meinem Kater Rasmus,
du warst ein kleiner Lichtblick.
Ich bin so froh, dass du bei mir warst,
selbst wenn wir viel zu wenig Zeit miteinander hatten.
Ich vermisse dich jeden Tag.

SONNTAG, DER 15. SEPTEMBER
FÜNF STUNDEN DANACH

Eleanor

Die Energiesparlampe taucht den kleinen Raum in ein kaltes Licht. Sicher soll das einen Eindruck beruhigender Normalität vermitteln, genau wie die unpersönliche Einrichtung mit den schlichten Stühlen und dem glatten, hellen Holztisch vor mir.

Wenn ich auf meine Hände blicke, glaube ich immer noch, das Blut zu sehen, obwohl ich sie in dem nackten Badezimmer mit der antiseptischen Seife so lange gescheuert habe, bis sie ganz rau und rot waren.

Die Tür öffnet sich, und ich zucke zusammen. Der Mann, der hereinkommt, trägt eine Polizeiuniform und hat kurze blonde Haare. In der Hand hält er ein kleines graues Diktiergerät, das er zwischen uns auf den Tisch legt.

»Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufzeichne, Frau Fälth?«, fragt er mich mit gekünstelt sanfter Stimme.

Die Welt um mich herum scheint sich zu drehen. Ich bin so müde, und mir ist so kalt. Ich schließe die Augen, will einfach alles ausblenden.

»Victoria?«, fragt er mich dann, als würden wir uns kennen, wieder mit dieser verfluchten Stimme.

»Eleanor«, sage ich. Mein Mund ist trocken. Ich öffne die Augen. »Ich heiße zwar Victoria Eleanor, aber niemand nennt mich Victoria.« Ich sehe ihn an. »Niemand außer Vivianne.«

»Na gut«, sagt er. »Ist es in Ordnung, dass ich unser Gespräch aufzeichne?«

Ich nicke.

»Können Sie mir erzählen, was passiert ist, als Sie zu Ihrer Großmutter gefahren sind?«, fragt der Polizist.

»Bitte, nennen Sie sie nicht Großmutter. Das mag sie nicht. Sie heißt – sie hieß Vivianne.«

»Okay«, sagt der Beamte entgegenkommend. »Können Sie mir erzählen, was passiert ist, als Sie zu Vivianne gefahren sind?«

Das helle Blau seiner Augen wirkt fast unnatürlich. Daran kann man sich leicht erinnern. Ein gutes Erkennungsmerkmal.

Ob er es weiß? Ich ertappe mich dabei, mich das zu fragen. Hat ihm gegenüber schon jemand das Wort Prosopagnosie erwähnt? Ihm erklärt, was es bedeutet?

Ich bin inzwischen gut darin, es anderen Leuten zu erklären. Das wird man, wenn man es immer wieder tun muss.

Prosopagnosie, Gesichtsblindheit. Das heißt, mein Gehirn registriert menschliche Gesichter nicht auf die gleiche Art wie andere Menschen. Ich erkenne Gesichter nicht wieder, sondern muss mir stattdessen charakteristische Merkmale einprägen.

Nein, auf Partys ist das nicht so praktisch. Ja, es ist eine gute Ausrede, nur dass es eben keine Ausrede ist. Es ist mein Leben. Ich erkenne niemanden wieder. Ich erkenne nicht einmal mich selbst im Spiegel wieder.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sage ich.

Er entgegnet nichts. Nötigt mich, etwas zu sagen.

»Ich wollte am Sonntag zum Essen zu Vivianne. Wir essen jeden Sonntag zusammen. Das ist unsere Abmachung. Sie kommt nicht zu Sebastian und mir nach Hause, taucht nicht auf meiner Arbeit auf oder ruft ständig an – und im Gegenzug komme ich jeden Sonntag zum Abendessen zu ihr. Das tue ich immer. Ich wollte nur zum Abendessen zu ihr fahren, und dann …«

Ich starre den Beamten an. Die Worte verlassen mich.

»Es muss nicht druckreif sein«, sagt der Mann. »Erzählen Sie einfach, woran Sie sich erinnern.«

Also mache ich das.

FÜNF STUNDEN UND FÜNF MINUTEN ZUVOR

Eleanor

Meine Schritte hallten im Treppenhaus wider. Schon immer hatte es mir vor diesen letzten Stufen bis zu Viviannes Wohnung gegraut. Sechzehn Jahre lang war sie mein »Zuhause« gewesen. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich niemals dorthin zurückgekehrt.

Die sonntäglichen Abendessen waren ein Kompromiss. Zwei Stunden pro Woche, in denen Vivianne flüstern, krakeelen, mir in Kristallgläsern servierten Sherry einflößen und mich ins Kreuzverhör nehmen durfte. Meine Therapeutin hatte die Idee dazu gehabt, und beinahe vier Jahre lang hatte dieses Arrangement gut funktioniert. Es war eben ein Kompromiss.

Ich wollte den Kontakt zu Vivianne nicht völlig abbrechen. Theoretisch gesehen war sie meine Großmutter, praktisch aber meine Mutter. Mit ihr zu leben war ebenso unmöglich wie ohne sie.

Doch mit jenen Anrufen während der vergangenen drückend heißen Septemberwoche hatte sie unsere Vereinbarung gebrochen. Sie sollte nur in wirklich dringenden Fällen anrufen. Ich nahm nicht ab, aber sie hinterließ mir eine Nachricht nach der anderen auf dem Anrufbeantworter. Vier am Dienstag, sechs am Donnerstag. Spät am Freitagabend eine einzige.

Ich höre sie in den Wänden. Sie flüstern mir zu.

Beim letzten Satz war es mir eiskalt den Rücken hinuntergelaufen.

Ich war daran gewöhnt, dass Vivianne mich betrunken und wütend anrief, oder betrunken und traurig oder betrunken und manisch, aber dieses Mal war es anders. Es war unmöglich, sich Vivianne als alt vorzustellen – sie war einfach nur Vivianne, sie kannte kein Alter –, aber sie ging auf die achtzig zu. Baute sie langsam ab?

Vor ihrer Wohnungstür blieb ich stehen. Auf dem sorgfältig polierten Schild glänzte ihr Name, V. Fälth. Knapp und korrekt.

Ich wappnete mich.

Warum war es in diesem elenden Gebäude nur immer so stickig? Ich vermisste meine luftige Wohnung. Sebastians Arm um meine Schultern, unser durchgesessenes Ikea-Sofa und den viel zu teuren Fernseher. Wünschte, meine Sonntagabende so wie alle anderen verbringen zu können und mich von Netflix berieseln zu lassen.

Ich hob die Hand, um anzuklopfen.

Die Sekunden vergingen. Eine. Zwei.

Dann öffnete sich die Tür.

Ich formte meine geschlossenen Lippen zu einem Lächeln und wollte schon über die Schwelle treten. Doch dann hielt ich inne. Irgendetwas stimmte nicht. Die Person in der Tür war die falsche.

Ich schaute die Person an, die vor mir stand. Suchte nach Viviannes Erkennungsmerkmalen, sah aber nur eine grobe schwarze Strickmütze, wo ihr glänzend gebürstetes Haar hätte sein sollen.

Schnell richtete ich den Blick auf die Hände der Person.

Es waren nicht die von Vivianne. Die Nägel waren nicht lang und rot, und am Zeigefinger der rechten Hand saß kein schwerer Topasring. Diese Hände waren voller Flecken, die wie Rost aussahen.

»Wer …«, setzte ich an, aber die Person hatte sich schon an mir vorbei ins Treppenhaus geschoben und verschwand mit schnellen Schritten. Verdutzt schaute ich der Gestalt hinterher, bevor ich mich wieder umdrehte und die Wohnung betrat.

Vivianne lag mitten im Flur auf dem Rücken. Vor ihr auf dem blaugrau gemusterten Läufer befand sich etwas, das im Schein des kleinen Kristallleuchters glitzerte. Ich öffnete den Mund, um sie danach zu fragen, als ich plötzlich den Geruch wahrnahm. Er war schwer und süßlich – Eisen und Fleisch und Parfüm  –, und mir wurde übel.

Auf dem Läufer klafften mir die weit geöffneten Klingen der Schere entgegen. So hatte ich sie noch nie gesehen, immer nur blank geputzt, schön und unnütz neben dem dazugehörigen zierlichen Handspiegel und der Snusdose auf der Kommode im Flur.

Jetzt war sie nicht frisch poliert. Sie würde Flecken auf dem Läufer hinterlassen.

Vivianne streckte sich mit schlanken, gespreizten Fingern danach.

Wie komisch, ging mir durch meinen müden Kopf, während ich für einen Moment völlig reglos dastand. Wozu will sie die Schere? Und warum setzt sie sich nicht einfach auf und nimmt sie?

Dann erwachte ich aus meiner Starre und begriff, dass sie sich nicht nach der Schere streckte, sondern nach mir; dass dieses feuchtgurgelnde Wimmern von ihr kam, ihr Versuch war, meinen Namen zu rufen; dass ihre gemusterte Bluse kein Muster hatte, sondern durchstochen worden war, wieder und wieder, mit der glänzenden Schere, die einen halben Meter vor meinen Füßen auf dem Flurläufer lag.

Mit zwei Schritten durchquerte ich den Flur und kniete mich neben sie.

»Was ist los, was ist passiert, was soll ich tun? Was willst du?«, hörte ich mich selbst wie von weit entfernt hastig fragen.

Denn sie wusste immer, was das Richtige war.

Also fragte ich sie, immer und immer wieder, obwohl ich ihre durchstochene Kehle sehen konnte, das rohe, nackte Fleisch unter der Haut.

Sie umfasste mit der ausgestreckten Hand mein Handgelenk, wie sie es schon so oft zuvor getan hatte. Drückte so fest zu, dass es schmerzte, als wäre ich die Rettungsleine und sie die Ertrinkende. Was sie in gewisser Hinsicht ja auch war. An ihren angestrengten röchelnden Atemzügen hörte ich, dass das Rotschwarze, Klebrige, das immer zähflüssiger aus ihrem Hals rann, das ihre gelbe Seidenbluse und den echten persischen Läufer unter ihrem schmalen Rücken befleckte, nun auch in ihre Lungen zu laufen begann.

Ich tat das Einzige, das mir einfiel.

Ich presste meine freie Hand auf das Loch in ihrem Hals.

JETZT

Eleanor

»Erinnern Sie sich daran, wie die Person aussah, die Ihnen die Tür geöffnet hat?«, fragt der Polizeibeamte. »Können Sie das Gesicht beschreiben? War es ein Mann oder eine Frau? Erinnern Sie sich daran, wie alt die Person war?«

Ich schüttele langsam den Kopf. Sehe ihm in die glänzenden blauen Puppenaugen und antworte tonlos.

»Nein.«

FÜNF MONATE SPÄTER
MITTWOCH, DER 19. FEBRUAR

Eleanor

Eigentlich ist es für meinen Geschmack zu warm im Auto, aber das sage ich nicht. Es ist bisher ein ungewöhnlich grauer Winter gewesen, und die Felder, an denen wir vorbeifahren, liegen farblos und öde unter dem schweren Himmel; nur eine dünne Schneeschicht schützt sie vor dem Wind. Ein Anblick, der jedem das Gefühl geben würde, bis ins Mark zu frieren.

Außerdem ist es Sebastians Auto, und Sebastian fährt. Da ist es nur gerechtfertigt, wenn er über die Temperatur bestimmt.

»Danke, dass du fährst«, sage ich.

Er lächelt schwach, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»Schon in Ordnung. Hier draußen fahre ich gern. Nur in der Innenstadt werde ich ein bisschen nervös.«

Ich lege meine Hand auf sein Knie und drücke es leicht, weil ich weiß, dass es das Richtige ist, es zu tun. Obwohl wir seit sechs Jahren zusammen sind, fühlen sich solche Gesten noch immer unnatürlich für mich an.

Ein paar Minuten lang schweigen wir beide. »Ich frage mich, ob das Haus in einem schlechten Zustand ist. Ob deine Großmutter es deshalb nie erwähnt hat, meine ich«, sagt Sebastian dann.

»Ich weiß es nicht«, erwidere ich.

Als Viviannes Notar Solhöga zum ersten Mal ansprach, hatte ich geglaubt, es handele sich um einen Irrtum. Damals war ich frisch aus dem Krankenhaus entlassen gewesen, noch immer unsicher, wie ich draußen in der Realität zurechtkommen würde.

Der Notar war sehr sachlich geblieben, er sprach mir kein Beileid aus, was eine Erleichterung war.

Zuallererst müssen wir über Solhöga sprechen, so hatte er das Treffen eingeleitet.

Er fasste sich kurz. Sagte, Vivianne habe Papiere besessen, die zeigten, dass auf ihren Namen ein Grundstück registriert sei. Ein alter Landsitz mit weitläufigen Wald- und Jagdgebieten, ungefähr anderthalb Stunden nördlich von Stockholm. Sie hatte es von ihrem verstorbenen Ehemann geerbt. Meinem Großvater.

»Soweit ich weiß, ist mein Großvater irgendwann um Weihnachten herum gestorben«, erkläre ich Sebastian. »Offenbar haben sie meist die Weihnachtstage dort verbracht, also ist es vielleicht da passiert. Vielleicht ist sie deshalb nicht mehr hingefahren.«

Ich sehe, wie Sebastian die Stirn runzelt.

»Wie ist er noch mal gestorben?«, fragt er. »Entschuldige, ich bin sicher, dass du es mir schon einmal erzählt hast.«

»Das habe ich nicht«, antworte ich. »Ich weiß es tatsächlich nicht so genau. Sie hat nie darüber gesprochen, sowieso hat sie nie gern über Großvater geredet. Aber ich bin immer davon ausgegangen, dass es ein Herzinfarkt oder so was in der Richtung war. Jedenfalls war er anscheinend nicht lange krank, es muss etwas Akutes gewesen sein.«

Die Entfernungen zwischen den Gebäuden, an denen wir vorbeikommen, sind größer geworden, die gemütlichen Einfamilienhäuser sind Bauernhöfen und vereinzelten alten Katen mit eingestürzten Wänden und kaputten Scheiben gewichen. Die Landschaft wirkt verlassen. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass wir hier draußen allein sind.

Ich schaue aus dem Fenster und kaue an meinem Daumennagel. Eine schlechte Angewohnheit aus der Kindheit, die ich nie richtig habe ablegen können. Manchmal gelingt es mir mehrere Monate lang, es zu lassen, doch dann geschieht irgendetwas, und ich falle wieder darin zurück. Seit jenem Abend habe ich nicht einmal mehr versucht, es bleiben zu lassen. Meine Nägel sind allesamt bis aufs Fleisch abgekaut, die Nagelhaut überall eingerissen und entzündet.

Das Navigationsgerät instruiert uns mit gefühlloser Stimme, rechts abzubiegen. Sebastian fährt von der Landstraße ab und in den Wald hinein.

In Richtung Solhöga.

Annuschka, 18. Juni 1965

Bevor ich abfuhr, sagte Mama mir, dass es dort fürchterlich kalt sein werde und ich mich darauf einstellen müsse, immer zu frieren. Sie drängte mich, dicke Pullover einzupacken und ihren eigenen warmen Mantel über meinen fadenscheinigen zu ziehen.

Aber in diesem Haus ist es so heiß, dass mir der Schweiß nur so herunterrinnt. Ich fühle mich so schwerfällig und plump.

Wir sind jetzt seit vier Tagen auf dem Land, und ich weiß nicht, wie ich es länger aushalten soll. Hier kann man nicht einmal die Fenster öffnen. Jemand hat die Rahmen überstrichen mit so viel Farbe, dass sie völlig festklemmen. Und obwohl ich weiß, dass es zwecklos ist, kann ich es nicht lassen, am Fenstergriff zu rütteln, wenn sie draußen am See sind, ich presse meine Stirn gegen das warme Glas, wobei ich Fettflecken auf der Scheibe hinterlasse.

Ich wische sie weg, bevor sie zurückkommen, damit die gnädige Frau es nicht sieht.

Der gnädige Herr redet die ganze Zeit davon, dass es der heißeste Sommer aller Zeiten sei, und scheint sonderbarerweise sogar erfreut darüber, wenn er sich beim Frühstück mit der Zeitung Luft zufächelt. Ich sage nichts dazu, sondern lächle einfach nur. Ich weiß, dass er glaubt, ich verstünde nicht, was er sagt, dabei fällt mir bloß nichts ein, das ich darauf erwidern könnte.

Anfangs blieb ich stumm, weil ich mich dafür schämte, wie unförmig mir die Wörter im Mund lagen, wie hässlich und ungelenk meine Sätze waren. Ich bin immer aufgeweckt gewesen. Das haben unsere Nachbarn schon von mir gesagt, als ich noch klein war. Sie ist nicht süß, aber aufgeweckt, sagten sie oft zu meiner Mutter. Du kannst dich glücklich schätzen, eine so gescheite Tochter zu haben.

Jetzt fühle ich mich nicht aufgeweckt. Seit ich hierhergekommen bin, habe ich mich nicht aufgeweckt gefühlt.

Hier bin ich nicht witzig, keiner lacht über meine Scherze, und meine Einfälle und Gedanken beeindrucken niemanden. Keiner will sich auch nur anhören, was ich zu sagen habe. Wenn ich still bin, glauben sie, ich verstünde nichts, und wenn ich rede, hören sie nur, wie ich die Wörter an den falschen Stellen betone, und halten mich für beschränkt.

Das hier ist nicht das neue Leben, das sich Mama für mich gewünscht hat. Es ist keine neue Chance.

Ich bin erst seit vier Monaten in diesem Land, und ich weiß, dass ich es aushalten muss, aber o Gott, Mama, dabei möchte ich nichts lieber, als wieder nach Hause zu fahren.

Ich wünsche mir so sehr, ich könnte wieder nach Hause.

Eleanor

»Da«, sagt Sebastian und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe auf.

Wir haben Acker um Acker hinter uns gelassen, und ein schmaler Privatweg hat uns durch ein dichtes Waldstück mit hohen, frostbedeckten Stämmen geführt, das sich nun vor einer Ansammlung von Gebäuden lichtet. Ein Kiesweg führt bis zum eigentlichen Gutshaus – ein stattliches und gut erhaltenes Gebäude mit zwei Stockwerken, weiß verputzt, mit dunklen Fensterreihen, die uns leer anstarren. Hinter dem Haus erkenne ich weitere kleinere Gebäude und einen von gefrorenem Schilf umgebenen kleinen See. Die Eisfläche ist makellos blau und unversehrt.

»Mein Gott, was für ein Ort!«, ruft Sebastian aus.

»Ja, wirklich … Ich meine, der Notar hat ja tatsächlich von einem Gutshof gesprochen, aber das hier …« Ich schüttele den Kopf.

»Was sind das für Nebengebäude?«, fragt Sebastian.

Ich versuche, die Umgebung zu überblicken. Manche der umliegenden Gebäude sind gar nicht so klein. Eines ist beinahe halb so groß wie das Haupthaus – ich vermute, dass es ein Stall oder eine Art Scheune ist, denn es steht ein Stück abseits der anderen Häuser, kauert geradezu am Waldrand.

»Alles Mögliche«, sage ich. »Keine Ahnung.«

Zu meiner Verwunderung stehen zwei Autos in der Auffahrt. Eines ist ein unauffälliger grauer Volvo, aber das andere …

»Ich dachte, wir wären allein mit dem Notar?«, stutzt Sebastian, als er bremst und das Auto parkt.

Ich schüttele ratlos den Kopf.

»Das dachte ich auch.«

Im selben Moment entdecke ich meine Tante. Sie trägt einen ihrer unzähligen schwarzen Mäntel und lehnt mit einer Zigarette im Mundwinkel an der Hauswand. »Typisch Veronika«, entfährt es mir, und ich höre selbst die ungewöhnliche Schärfe, die in meiner Stimme liegt und mich für einen Augenblick auf unheimliche Weise nach Vivianne klingen lässt.

Keiner von uns macht Anstalten, aus dem Auto zu steigen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie kommen würde«, sagt Sebastian, und ich höre die Beunruhigung in seiner Stimme, obwohl er versucht, sie zu verbergen. Sebastian hat Veronika erst ein einziges Mal getroffen, aber das hat ihm gereicht. So geht es den meisten.

»Ich auch nicht. Sie hat gesagt, sie würde nicht kommen.«

Das würde ich nicht mal tun, wenn die alte Hexe mich dafür bezahlt hätte, waren ihre exakten Worte gewesen. Auf gewisse Weise ist es aber doch so, als würde Vivianne sie dafür bezahlen, wenn eine Inspektion und Begutachtung von Solhöga nötig sind, damit Veronika ihren Erbanteil ausgezahlt bekommt.

Ich pflege keine enge Beziehung zu Veronika. Keine Ahnung, ob überhaupt jemand eine enge Beziehung zu ihr hat. Als ich klein war, brachte sie mir oft Geschenke mit, immer von diesem beißenden, glamourösen Zigarettengestank umgeben, der wie eine Wolke um ihre losen schwarzen Kleider waberte. Später kam sie dann nicht mehr. Jetzt sehe ich sie nur noch zu einem langen steifen Mittagessen an Weihnachten, bei dem wir Rehrücken mit Johannisbeergelee und Kartoffelgratin essen, während Veronika und Vivianne sich gegenseitig von ihrer Seite des Tisches mit halb geschlossenen Augen anfunkeln und ich versuche, soweit es geht, irgendeine Imitation von guter Stimmung aufrechtzuerhalten.

Beziehungsweise, so war es immer. Wir werden es nie wieder tun. Nicht wir drei. Nicht Vivianne.

Veronika betrachtet Sebastians Wagen mit demselben trägen und leicht angewiderten Blick, den sie auch einem überfahrenen Dachs auf der Straße schenken würde. Der zu große schwarze Mantel hängt wie ein Paar schlaffer Flügel an ihr herab, und ihr akkurater schwarzer Pagenschnitt rahmt ihr schmales längliches Gesicht messerscharf ein.

Die Haare sind schon immer ihr bestes Erkennungsmerkmal gewesen. Es kommt gelegentlich vor, dass ich zusammenzucke, wenn ich auf der Straße eine Frau mit geradem schwarzen Pagenschnitt sehe, ihrem Blick mit pochendem Herzen begegne und darauf warte, dass sie wegschaut, ohne mich wiedererkannt zu haben, und ich mich traue auszuatmen.

Sebastian schaltet den Motor aus.

»Es ist okay«, sagt er. »Es sind nur ein paar Tage. Bestimmt ist sie es morgen leid und fährt wieder nach Hause.«

Sebastian ist ein unverbesserlicher Optimist.

»Das muss der Notar sein«, sagt er im gleichen Moment, in dem auch ich ihn entdecke.

Während Veronika einer Krähe ähnelt, so wie sie sich an die Hauswand lehnt, wirkt der Testamentsvollstrecker, als wäre er einem Musterkatalog für Notare entsprungen. Er trägt einen grauen Mantel in derselben unauffälligen Farbe wie sein Volvo – ich frage mich unwillkürlich, ob das Absicht ist –, das Haar ordentlich gescheitelt, schwarze Lederhandschuhe und eine dazu passende, ebenfalls lederne Aktentasche, die er vor sich abgestellt hat, während er auf dem Treppenabsatz vor der Eingangstür wartet.

»Hallo«, begrüße ich ihn, als ich aus dem Auto steige und die Wagentür hinter mir schließe. Nach dem überhitzten Wageninneren fühlt sich die Februarluft angenehm kühl auf meinem Gesicht an.

»Victoria Fälth? Wir haben miteinander telefoniert, nicht wahr?«, fragt er mit ausgeprägtem Stockholmer Dialekt. »Ich bin Rickard, von der Notarkanzlei Lindqvist.«

Er ist der Mann, der sich vor zwei Wochen gemeldet und gesagt hat, dass es an der Zeit für einen Besuch auf Solhöga sei, um ein Nachlassverzeichnis zu erstellen. Er ist jünger, als ich bei seinem ersten Anblick aus dem Auto heraus gedacht habe: Ende vierzig, den Falten um die Augen und den Silbersträhnen in seinen Haaren nach zu schließen. Um das Testament hatte sich ein anderer älterer Notar gekümmert.

»Eleanor.« Ich lächele, um nicht unfreundlich zu wirken. »Ich ziehe Eleanor vor.«

»Ah«, sagt er. »Schön, Sie endlich kennenzulernen, Eleanor.«

Sein Händedruck ist warm und fest. Ich lasse seine Hand ein wenig zu rasch wieder los.

Auf einmal klopft mein Herz ängstlich.

Er ist nur der Notar, der uns mit dem Nachlassverzeichnis hilft. Er ist nicht gefährlich. Du hast mit ihm telefoniert, weißt du noch?

Ich suche nach etwas anderem, auf das ich meinen Blick heften kann, damit ich ihn nicht anstarre, und lande bei Veronika. Sie lässt ihren Zigarettenstummel in den Kies fallen, zertrampelt ihn brutal und wirkungsvoll mit dem Absatz und sieht zu mir.

Sekundenlang sagt keiner von uns beiden etwas. Sie wartet, bis ich reagiere. Das ist einer von Viviannes Kniffen, auch wenn Veronika ziemlich sauer würde, falls ich sie darauf hinwiese.

»Wie schön, dass du kommen konntest«, sage ich schließlich.

Sie verzieht den Mund. Nur auf einer Seite, den linken Mundwinkel.

Als ich klein war, habe ich geglaubt, sie täte das absichtlich. Zu der Zeit war ich noch verzaubert von meiner Tante gewesen, die mich mit zerstreuter Zuwendung überschüttete wie einen kleinen Hund. Ihre Beachtung währte zwar länger als Viviannes, allerdings schlug ihre Laune schneller um. Damals vergötterte ich sie.

Erst als ich in die Pubertät kam und Veronikas Eigenart sich in Aggression zu wandeln begonnen hatte, erzählte Vivianne mir in giftigem Vertrauen, dass dieses schiefe Lächeln das Überbleibsel einer einstigen Gesichtslähmung sei, die sich Veronika vor meiner Geburt zugezogen habe. Im Grunde war es ein Segen, hatte Vivianne gesagt, mit perfekt symmetrisch nach oben gezogenen Mundwinkeln. Sie sah ohnehin aus wie ihr Vater. Diese Lähmung hat ihrem Gesicht wenigstens zu ein bisschen Charakter verholfen.

»Ich hab’s mir anders überlegt«, sagt Veronika. Sie hat Sebastian bisher nicht einmal angesehen, geschweige denn begrüßt. »Ich bin seit meiner Kindheit nicht mehr auf Solhöga gewesen. Das hier konnte ich mir nicht entgehen lassen.«

Sie zieht ihre Augenbrauen ein wenig hoch, dann wirft sie einen raschen Blick auf Sebastian. »Aha, da haben wir also den Freund.«

Sebastian lächelt breit, als hätte sie ihn nett begrüßt. »Schön, dich wiederzusehen, Veronika.«

Gut pariert.

Veronika starrt ihn ein paar Sekunden an, ehe sie steif nickt und sich an den Notar wendet.

»Und Sie sind?«, fragt sie ihn mit abschätziger Miene, als hätte sie vor unserer Ankunft einfach hier gewartet, ohne sich vorzustellen oder ihm einen Blick zu gönnen. Wahrscheinlich trifft das sogar zu.

Er sieht sie an wie einen knurrenden Hund. »Rickard Snäll«, stellt er sich vor. »Notar. Ich bin hier, um beim Erstellen des Nachlassverzeichnisses und der Bewertung des Anwesens zu helfen.«

»Sie haben dann sicher den Schlüssel?«, fragt er nun an mich gewandt.

»Ja«, antworte ich, gehe die Treppe nach oben und greife in die Tasche. Meine Finger sind schweißnass, als ich nach dem Schlüssel krame. Seinem Blick weiche ich aus.

»Er lag in dem Umschlag, den wir in Viviannes Wohnung gefunden haben. Samt der Adresse von Solhöga und der Handynummer von Herrn Bengtsson. Ich weiß nicht, ob der Schlüssel außer am Haupthaus auch woanders passt. Möglicherweise braucht man für die anderen Türen weitere Schlüssel, aber in diesem Fall sind sie wohl bei Bengtsson zu finden. Er ist der …«

»Derjenige, der sich um das Anwesen kümmert, ja«, beendet Rickard meinen Satz. »Ich habe bereits versucht, ihn unter der Nummer zu erreichen, die Sie mir mitgeteilt haben, bisher jedoch ohne Erfolg.«

»Ich habe ihn ebenfalls nicht erreicht«, sage ich.

Schon seit Wochen versuche ich, den Gutsverwalter anzurufen, doch jedes Mal lande ich direkt bei einem anonymen Anrufbeantworter. Dem ersten Notar zufolge gibt Viviannes Testament an, dass der Lohn des Verwalters so lange aus ihrem Vermögen weitergezahlt werden soll, bis das Erbe verteilt ist.

»Vielleicht ist er nicht mehr hier«, sagt der Notar.

Ich begegne seinem Blick nicht, sondern stecke den Schlüssel ins Schloss und versuche, ihn herumzudrehen. Es ist ein wenig schwergängig, aber dann schwingt die Tür lautlos an den gut geölten Scharnieren auf.

Das also ist Solhöga. Das Geheimnis, das Vivianne mein ganzes Leben vor mir verborgen gehalten hat.

Eleanor

Wir treten in eine große offene Eingangshalle, in der ein ausgeblichener Perserteppich auf dem edlen Holzboden liegt. Die Decke ist hoch – sicher drei Meter –, und das Licht, das durch die Fenster beidseits der Außentür hereinscheint, dringt in jede Ecke des Raums.

Es sieht nicht verlassen aus. Nur ein wenig Staub auf dem Boden, keine Spinnweben in den Ecken, und auch die Fenster sind mehr oder weniger sauber. Unter einem großen Spiegel an der linken Wand steht ein kleiner Tisch, einer, der keine wirkliche Funktion erfüllt, sondern mit seinen verschnörkelten goldfarbenen Beinen und der gesprenkelten Marmorplatte eher als Blickfang dient. Die Tischplatte ist sogar sauber genug, um im Nachmittagslicht zu glänzen.

Auch wenn Bengtsson nicht ans Telefon geht, ist es offensichtlich, dass er sich um das Anwesen gekümmert hat. Oder irgendjemand anderes.

»Ist sie das?«, fragt Sebastian.

Erst jetzt bemerke ich das Gemälde. Das Licht trifft den Spiegel auf der gegenüberliegenden Seite so, dass er einem ins Auge fällt und einen gleichzeitig blendet, aber trotzdem verstehe ich nicht, wieso ich das Bild nicht als Erstes gesehen habe. Es ist enorm, sicher zwei Meter breit und anderthalb hoch, so dunkel und gesättigt, dass es den Anschein hat, als wolle die Ölfarbe von der Leinwand tropfen.

Es ist ein Familienporträt. Ein Mann, eine Frau und zwei kleine Mädchen vor einem dunkelgrauen Hintergrund. Der Mann sitzt in einem Sessel, die Frau auf der Armlehne, die Beine kokett übereinandergeschlagen. Eines der Mädchen – das jüngere – steht mit einer Puppe im Arm neben der Frau, sie ist wohl kaum älter als zwei, und das ältere Mädchen – fünf, vielleicht sechs Jahre alt? – sitzt zu Füßen ihres Vaters. Sie trägt ein rotes Kleid mit einer weißen Schleife. Ihr Gesicht ist ein weißes Oval, ihre Augen groß, dunkel und gedankenverloren, das Haar zu zwei adretten schwarzen Zöpfen geflochten.

»O Gott!« In Veronikas Ausruf schwingt ein ganzer Satz voller Verachtung mit.

»Ja«, sage ich zu Sebastian und schlucke. »Das muss Vivianne sein. Und Evert und die Mädchen …«

»Ich«, fällt mir Veronika ins Wort und zeigt auf ihr zweijähriges Selbst. Es ist unmöglich, in den runden Bäckchen, den weichen dunklen Locken und dem rosig geschürzten Mund des Kindes auf dem Gemälde die magere Frau mit den dünnen hochgezogenen Augenbrauen neben mir wiederzuerkennen.

»Und … Vendela«, fügt sie mit ein wenig weicherer Stimme hinzu und zeigt auf meine Mutter.

Verzweifelt wünsche ich mir, irgendetwas von meiner Mutter in dem kleinen Mädchen auf dem Bild erkennen zu können, in den sorgfältig geflochtenen Zöpfen, den geraden Augenbrauen, den kleinen Händen oder den bedacht angewinkelten Beinen, doch ich habe nur flüchtige Erinnerungen an meine Mutter. Als sie starb, war ich drei Jahre und vier Monate alt. Vivianne hat mir nie erzählt, an welchem Datum genau es passierte. Ansonsten hätte ich die Tage und Wochen ebenfalls mitgezählt.

Was spielt es für eine Rolle, welcher Tag es war, Victoria?, höre ich Viviannes giftige Stimme im Kopf, exakt so, wie sie immer klang, als sie noch lebte, mit dem hochgestochenen Schwedisch der Stockholmer Oberklasse und dem kaum wahrnehmbaren kleinen Sprachfehler, den sie nie völlig hatte ablegen können. Ich habe mich immer gefragt, ob sie als Kind gelispelt oder eine in früher Kindheit operierte Gaumenspaltenfehlbildung hatte, aber ich habe mich nie getraut, sie zu fragen.

Sie ist tot. Ich werde es nie erfahren.

Die wenigen Erinnerungen an meine Mutter sind bruchstückhaft. Ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht, sondern an ihren Geruch, daran, wie es sich anfühlte, meine Nase in ihren Hals zu graben, wie es klang, wenn sie lachte, und wie es klang, wenn sie mit mir schimpfte. In meiner deutlichsten Erinnerung an sie schreit sie mich an, weil ich beinahe auf die Straße spaziert wäre, und kurz danach, als ich zu weinen anfange, presst sie mich so fest an sich, dass jede Traurigkeit verschwindet.

An meinen Vater erinnere ich mich nicht. Vivianne sagte, er sei ein Niemand, sei meiner schönen Mutter nicht würdig gewesen und dass er sich aus dem Staub gemacht habe, sobald er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag entdeckte ich seinen Namen auf meiner Geburtsurkunde, fand sein Profil auf Facebook und schrieb ihm eine Nachricht. Keine Antwort. Bislang scheint Vivianne also recht zu behalten.

Sebastian legt einen Arm um meine Schultern. Zuerst glaube ich, er hat den flüchtigen, aber heftigen Anflug von Trauer in meinem Gesicht wahrgenommen, doch dann sagt er: »Sie war wirklich … hm.«

Natürlich sieht er nicht zu meiner Mutter. Natürlich ist es Vivianne. Immer Vivianne.

Ich weiß, was sein »hm« bedeutet, und es regt mich auf, obwohl es das nicht sollte. Denn sie war wirklich eine Schönheit. Selbst mit über siebzig war sie noch schön, auf eine fast schon furchterregende Weise. Die weiße Haut künstlich gestrafft, das Make-up aufreizend feminin, das überraschend weiche Haar. Wie eine Wahnsinnige kämpfte Vivianne gegen das Altern an.

Sie nahm alles persönlich, sogar das Alter. Besonders, als sie den Kampf dagegen zu verlieren begann.

Manchmal ist ein schönes Gesicht alles, was man hat, Victoria.

Trag ein wenig Lippenstift auf. Du bist weiß Gott nicht brillant genug, um nicht süß sein zu müssen.

Auf diesem Gemälde hier muss sie um die dreißig gewesen sein, Evert eher schon vierzig. Doch es ist Vivianne, die unser aller Blicke auf sich zieht. Sie trägt einen blauen Cardigan und einen engen taubengrauen Rock. Ihr Haar lockt sich rabenschwarz um das Gesicht, die Haut ist schneeweiß und hat denselben Ton wie die Perlen an ihren Ohren. Ihre fülligen, rot bemalten Lippen sind zu einem perfekten geheimnisvollen Lächeln geschwungen, die Hände sind lang und schlank, eine liegt auf Everts Schulter, die andere ruht auf ihrem Knie.

Bilde ich mir ein, dass sie mit mehr Details und mehr Glanz als die anderen auf dem Bild gemalt wurde? Sogar die kleine Narbe an ihrem Kinn ist zu sehen; eine dünne weiße Linie, die aber ihre harmonischen Gesichtszüge nur noch mehr betont. Sehe nur ich sie so, oder ließ sich auch der beauftragte Künstler von ihr verzücken? Wie kann es sein, dass die Frau auf dem Bild, vor beinahe einem halben Jahrhundert, mit einem fremden Gesicht, fremder Frisur und fremden Kleidern dennoch so offensichtlich, so unverkennbar Vivianne ist?

»Ja, das war sie wirklich«, sage ich und kann den angespannten Klang in meiner Stimme nicht unterdrücken.

Ich wende mich von dem Gemälde ab und begegne dabei flüchtig Veronikas Blick.

Kurz glaube ich, ihr stünden Tränen in den Augen, doch dann blinzelt sie, und sie sind verschwunden.

Eleanor

Eigentlich hatte ich gedacht, wir würden uns nur kurz umschauen, bevor wir unsere Zimmer beziehen, doch die spontane Hausbesichtigung dauert länger als erwartet. Es ist wie eine Reise in die Vergangenheit; weniger in die Siebzigerjahre, in denen zum letzten Mal jemand hier gewohnt haben muss, sondern eher in die Zeit der Jahrhundertwende. Das Haus ist länglich und schmal, die Zimmer sind in Fluchten angeordnet. Auf einer Seite der Eingangshalle befinden sich eine geräumige Wirtschaftsküche und ein ausgedehntes protziges Speisezimmer, die durch einen Serviergang miteinander verbunden sind. Auf der anderen Seite der Halle schließt sich ein riesiges Wohnzimmer an oder ein Salon, wie Vivianne es genannt hätte. Die Räume sind groß und luftig, auf den blank gewienerten Bodendielen liegen echte Perserteppiche, und die Möbel sehen allesamt aus wie Antiquitäten.

Im Obergeschoss befinden sich vier Schlafräume, zwei Bäder und ein Arbeitszimmer mit eigener Bibliothek. Die Türen zu den Schlafzimmern stehen alle weit offen, die Fenster gehen nach Osten.

Drei der Schlafzimmer sehen gleich aus: ein quadratischer Raum mit einem breiten Bett, ein Kleiderschrank, eine hübsche Kommode und unter dem Fenster ein schmaler Schreibtisch. Sie unterscheiden sich lediglich durch die Farbgebung.

Das vierte ist größer. Augenblicklich wird mir klar, dass es Viviannes Schlafzimmer gewesen sein muss. Schnell schließe ich die Tür und drehe mich um. Wir werden in den anderen Zimmern schlafen.

Daneben gibt es eine weitere Tür. Sie ist übertapeziert, als solle sie mit der restlichen Wand verschmelzen. Wahrscheinlich hätte ich nicht einmal begriffen, dass dort ein Zimmer ist, wenn Sebastian nichts gesagt hätte.

»Was ist das da?«, fragt er.

Es gibt keine Klinke, aber ich stecke den Zeigefinger in das Schlüsselloch, ziehe, und nach ein wenig Widerstand gibt die Tür nach und schwingt auf.

Die Scharniere quietschen, und mir wird klar, dass ich zum ersten Mal höre, wie etwas in diesem Haus ein Geräusch von sich gibt. Nichts anderes hat bisher geknarzt oder geknackt. Alles wirkt geschmiert, geölt, gewischt und gewartet. Bis auf diese kleine Tür.

Draußen bricht die Dämmerung schnell herein, was für den Raum, den wir gerade betrachten, aber keine Rolle spielt. Hier gibt es keine Fenster. Es ist so dunkel, dass Sebastian sein Handy hervorholt und die Taschenlampe einschaltet, worauf das sterile weiße Licht eine kleine aufgeräumte Schlafkammer erleuchtet. An der Längsseite steht ein schmales Bett ohne Laken oder Decke. Nur ein nacktes Kissen liegt auf der gestreiften Matratze.

Dort drinnen gibt es bis auf das Bett kaum Möbel. Ein Sprossenstuhl steht am Fußende des Betts, und auf dem Boden ein Zinntopf.

»Was ist das hier?«, fragt Sebastian.

»Das Zimmer war für die Bediensteten«, hören wir Veronikas Stimme hinter uns sagen.

Ich drehe mich um. Veronika ist stehen geblieben und lehnt sich an das Treppengeländer.

»Als ich klein war, hat es niemand genutzt, aber Papa erklärte, dass es eine Dienstmädchenkammer ist. Oder gewesen ist. Wenn wir hier waren, mussten die Angestellten immer in den Nebengebäuden schlafen. Mama wollte sie nachts nicht hier haben. Sie wollte nie, dass jemand da drinnen schlief.« Veronika sieht zur Tür.

»Ich glaube, deswegen hat sie die Tür übertapezieren lassen. Als ich noch ganz klein war, konnte man kaum erkennen, dass sie dort war, aber Vendela und ich sind an einem Nachmittag einmal hierhergeschlichen und haben die Tapete an der Tür aufgeschnitten, um hineinspähen zu können.« Sie presst die Lippen zusammen.

»Danach hat sie uns so übel geschlagen, dass Papa eingeschritten ist. Das tat er ansonsten nie.«

Ich sehe Sebastian an, dass er wütend wird und nicht weiß, was er sagen soll. Ein Teil von mir bemitleidet ihn dafür. Ein anderer verspürt einen plötzlichen Stich von Verärgerung, obwohl ich weiß, dass das ungerecht ist. Dass ich ungerecht bin.

Es ist nicht sein Fehler, dass er mit Eltern aufgewachsen ist, denen es niemals in den Sinn gekommen wäre, ihn so fest an den Haaren zu reißen, dass es ihn beinahe vom Boden gehoben hätte. Es ist nicht sein Fehler, dass ihn allein der Gedanke, ein Kind zu schlagen, wütend macht.

Das ist etwas Gutes.

Es bedeutet nicht, dass er schwach oder verwöhnt wäre. Sondern normal.

Das weiß ich.

Eigentlich.

»Hier drinnen will doch aber sowieso keiner schlafen, oder?« Ich blicke von Sebastian zu Veronika und dem Notar, der ebenfalls vor der Tür stehen geblieben ist.

Ich merke, wie sich der Geruch des trockenen Staubs aus der Kammer mit dem schwachen Kunstledergeruch von Veronikas Mantel mischt.

»Ich nehme das grüne Zimmer«, sagt sie. »Ihr könnt ja in der Rumpelkammer schlafen, wenn ihr wollt.«

Sebastian verdreht diskret die Augen. Ich muss grinsen und lehne mich an ihn, nur um seine Wärme durch den dicken Strickpullover zu spüren.

»Ich hole jetzt das Gepäck«, sagt er dann zu mir. »Soll ich alles in das blaue Schlafzimmer bringen?«

Er wendet sich an den Notar. »Ich glaube, Sie landen dann wohl im gelben Zimmer.«

»Passt ausgezeichnet.« Er nickt.

»Spitze«, sage ich und sehe Sebastian die Treppe nach unten verschwinden.

Kurz bleibe ich auf dem Treppenabsatz stehen und starre die Tür an, ohne zu wissen, weshalb. Das ausgefranste Papier, wo meine Mutter die Tapete aufgeschnitten hat. Die kleine, dunkle Schlafkammer dahinter.

Ich versuche, das plötzliche Unbehagen abzuschütteln, das mich erfasst hat, drehe mich um und gehe.

Versuche, das Gefühl abzuschütteln, die Wände würden mich beobachten.

Annuschka, 29. Juni 1965

Ihre Gäste sind heute Morgen wieder abgefahren. Ich stand am Fenster in der Eingangshalle und sah zu, wie das glänzende Auto auf die Straße fuhr und immer kleiner wurde, bis es verschwunden war.

Die Gäste sind eine Woche hier gewesen. Sechseinhalb Tage. Sie waren zu viert, zwei Männer und zwei Frauen. Die Frauen erinnerten an Vögel mit flatternden Händen und kurzen farbenfrohen Kleidern. Ihre Stimmen waren hell und künstlich, und ihre Augen sagten etwas anderes als ihre Münder.

Eigentlich wollte keine der Frauen hier sein. Sie bedankten sich überschwänglich für die Einladung bei der gnädigen Frau, aber ihre Augen waren kalt und hart, und ich weiß, dass die gnädige Frau es bemerkt hat. Ich glaube, sie hat es genossen. Ich glaube, sie genoss ihren Neid mehr als die verstohlenen Blicke ihrer Männer oder die Menüs, die die Köchin und ich jeden Abend zubereiteten und die so üppig ausfielen, dass wir ebenso viel fortwerfen mussten, wie sie aßen, oder mehr als den Alkohol, den sie aus kleinen hauchdünnen Gläsern tranken.

An einem Abend stand ich in der Küche, die Köchin war schon gegangen, nachdem alle Speisen zubereitet gewesen waren, und ich war allein. Ich konnte ihr angeheitertes, ausgelassenes Geplauder im Speisezimmer hören, wie wilde Kinder. Meine Hände waren rot und trocken, der große gusseiserne Topf, in dem wir das Fleisch anbrieten, hatte Blasen auf meinen Handflächen hinterlassen.

Ich hatte die Spirituosenflaschen mit nach draußen genommen, als wir Cognac und Whisky brachten, und jetzt standen sie dort halb voll auf der Anrichte. Ich dachte nicht nach, drehte einfach den Korken einer Flasche ab und nahm einen tiefen Schluck, ließ ihn brennend meine Kehle hinabrinnen.

Erst als ich die Flasche wieder absetzte, hörte ich das Lachen.

Es war ein kleines glucksendes Lachen, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass es einer ihrer Gäste war. Einer der Männer. Er hatte die Art Gesicht, die früher sicher einmal attraktiv gewesen war, jetzt aber verlebt aussah, mit einem roten Geflecht aus geplatzten Äderchen auf der Nase. Seine Augen wirkten wässrig, eine Nuance von ausgeblichenem Blau, das zu dem Tuch in der Brusttasche seines Sakkos passte.

»Doch nicht so unschuldig, trotz allem?«, sagte er, und ich spürte, wie der Alkohol und die Abscheu mir den Magen umdrehten.

»Entschuldigen Sie«, antwortete ich hastig, senkte den Blick und merkte, wie mir die Scham auf den Wangen brannte. »Ich nicht wollen …«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Worte fielen mir nicht ein.

Er lachte wieder und machte ein paar Schritte auf mich zu. Ich stand völlig still da, witterte die Gefahr wie die Maus, zu der ich geworden war, und nicht wie das Wiesel, das ich einmal gewesen war.

Zuerst tat er nichts. Nahm die Flasche von der Anrichte und besah sich das Etikett. Mein Herz flatterte in der Brust.

Er sagte etwas, das ich nicht verstand. Ob es daran lag, dass er nuschelte, oder daran, dass er zu schnell sprach, weiß ich nicht. Irgendetwas über die Flasche.

Dann stellte er sie wieder zurück und sah mich an. Er bewegte sich nicht. Trotzdem stand er auf einmal viel zu dicht vor mir.

»Und auch gar nicht mal so hässlich, wenn man dich genauer betrachtet«, sagte er.

Er hob die Hand an meine Wange, und sofort begann meine Kopfhaut zu jucken, die Blasen auf meinen Handflächen brannten und stachen. Seine Hand ekelte mich. Sie war weich und verschwitzt.

Dann ließ er die Hand so fallen, dass sie wie durch einen Zufall mitten auf meiner Brust landete. Sein Daumen strich über meine Brustwarze, und ich hasste mich selbst dafür, dass ich still stehen blieb.

Doch da hörte ich ein leises Räuspern, und seine Hand war ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Auf einmal stand die gnädige Frau da. Die Hand auf der schlanken Hüfte, ein verachtungsvolles, zorniges Lächeln auf ihren geschminkten Lippen.

»Klaes.«

Die Art und Weise, wie sie seinen Namen aussprach, eiskalt und messerscharf. Er zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen.

»Ich …«, setzte er an, aber sie ließ ihn nicht ausreden.

»Ich muss schon sagen«, meinte sie mit einem hässlichen Grinsen, das die glatte Haut um ihre Augen zu Fältchen verzerrte. »Ich dachte, du hättest mehr Geschmack, Klaes.«

Die Sekunden verstrichen – eine, zwei –, dann wandte er den Blick ab.

Er sagte kein Wort, schlüpfte nur an ihr vorbei zurück zum Speisezimmer. Sie blieb unbeweglich stehen. Das teure Kleid fiel in perfekten Falten um ihre Knie, und die zierlichen Füße steckten in Schuhen, die dieselbe rote Farbe hatten wie ihr Lippenstift.

Dann sagte sie mit einer Stimme, die sich um Welten von dem klangvollen Schwedisch unterschied, das ich sie sprechen gehört hatte, einer Stimme mit ihrer ganz eigenen Melodie: »Vorsicht, Cousine. Du bist nur ein billiger Stuhl für ihn.«

Sie drehte sich um und sagte über die Schulter, wie ein Gedanke:

»Für mich übrigens auch.«

Eleanor

Heute Nachmittag haben wir das Essen ins Haus gebracht und dann den Kühlschrank und die Gefriertruhe eingeschaltet, die dankbarerweise beide funktionieren. Von Bengtsson war keine Spur zu sehen, aber es scheint, als hätte er dafür gesorgt, dass Strom und Wasser im Haupthaus funktionieren, was eine wahre Erleichterung ist; ansonsten hätten wir noch einmal losfahren und Lebensmittel einkaufen müssen, die keine Zubereitung erfordern. So kann ich wie geplant Linsensuppe zum Abendessen kochen.

Wir sind davon ausgegangen, bis Sonntag hierzubleiben, aber der Notar sagte, dass wir wahrscheinlich nicht das ganze Wochenende brauchen werden. Wir müssen für den Fall, dass es zu einem Verkauf kommt, ein Verzeichnis über die verschiedenen Gebäude auf dem Grundstück, ihre ungefähre Größe und Funktion erstellen sowie alle Möbel, Gemälde und sonstigen beweglichen Güter durchgehen, die sich im Haus befinden. Im Arbeitszimmer im Obergeschoss stehen mehrere Reihen mit Ordnern, und der Notar glaubte, das meiste darin finden zu können. Er meinte außerdem, dass es gut wäre, wenn Veronika und ich uns die Dinge ansähen, die wir behalten wollten. Veronika verdrehte die Augen, während er das sagte. Ich wusste nicht richtig, was ich fühlen sollte. Ich habe keinerlei Erinnerungen an dieses Haus. Nichts hier fühlt sich so an, als gehörte es mir.

Wie in Trance rühre ich in der Linsensuppe. Das schwache Brummen des uralten Kühlschranks hat mich eingelullt. In der Küche gibt es keine Uhr, aber mir wird plötzlich klar, dass Sebastian schon eine ganze Weile weg ist.

Ich nehme den Blick von dem schwarzen gusseisernen Topf, schaue zu den Baguettes, die halb aufgetaut und noch weiß auf der Arbeitsfläche neben dem Ofen liegen, und dann zu den Fenstern.

Draußen ist es stockduster, so dunkel, als würde direkt vor dem Fenster eine Gardine aus weichem schwarzen Samt hängen.

Ich schiebe den Topf zur Seite, damit die Suppe nicht anbrennt, verlasse die Küche und gehe durch den Serviergang zur Eingangshalle. Der Gang ist so schmal, dass ich glaube, mit beiden Schultern gegen die Wände zu stoßen, wo die fahle gelbe Tapete sich bereits an den Rändern löst.

Er kann nicht länger als zwanzig Minuten weg gewesen sein, höchstens. Bestimmt versucht er bloß, das perfekte Holz für den Kachelofen zu finden, und hat sich darin verloren, Scheite auszuwählen, die nicht zu dick und nicht zu dünn sind, weder durch den Schnee feucht geworden noch faulig sind … So etwas wäre typisch für ihn.

Alles ist gut. Es ist nichts passiert.

Bist du dir sicher, Victoria?

Du weißt es besser, als dich sicher zu fühlen. Oder?

Ich versuche, Viviannes Stimme aus meinen Gedanken zu vertreiben.

Mir geht es mittlerweile besser. Ich bin nicht gesund, denn das wird man nicht, aber es geht einem besser. Diesen Merksatz betet mir meine Therapeutin schon vor, seit sie vor acht Jahren damit angefangen hat, mich zu behandeln. Inzwischen sogar noch häufiger, nach der Sache mit Vivianne, seit ich das Krankenhaus verlassen durfte.

Jeden Tag geht es ein bisschen besser.

Rasch schlüpfe ich in Stiefel und Jacke, ziehe den Reißverschluss zu, stoße die Tür auf und begebe mich nach draußen in den Schnee.

Es ist eine trockene beißende Kälte, und ich wünschte, ich hätte einen Schal, um ihn mir bis über die Nase zu ziehen. Die Temperaturen müssen um mindestens zehn Grad gefallen sein, seit wir hier sind. Ich habe mir den Wetterbericht für das Wochenende angesehen, und dort stand etwas von einem möglichen Sturm und ein wenig Schnee bis Samstag, aber soweit ich mich erinnere, nichts von so niedrigen Temperaturen.

Im Dunkeln sind die anderen Häuser nur schemenhaft zu sehen, während sich der Wald um mich herum wie eine Mauer auftürmt. Es ist schwierig, sich hier draußen nicht einsam zu fühlen.

Ich bin nicht gern im Freien. Manchmal sagte Vivianne, unsere Vorfahren hätten Häuser erfunden, damit wir uns nicht mehr im Freien aufhalten müssten, und dass es respektlos sei, sich ihren Wünschen zu widersetzen. Und dann lachte sie immer ihr glockenhelles klirrendes Lachen, und ganz egal, wie böse oder enttäuscht ich ihretwegen war, fiel es von mir ab, wenn sie auf diese Weise lachte.

Das wusste sie natürlich. Oft lachte sie nur aus genau diesem Grund.

Ich atme keuchend, in der Luft bilden sich Atemwölkchen, und ich sehe zu Boden, um zu erkennen, wohin die Fußspuren führen. Es ist unmöglich. Am Nachmittag sind wir im Haus viele Male ein- und ausgegangen, haben das Gepäck und das Essen aus dem Auto hereingetragen; der Schnee direkt vor dem Haus ist eine gefrorene, eisige und mit Kies gemischte Pampe.

»Sebastian!«, rufe ich laut.

Ich hoffe, dass er mir antworten kann. Aber ich höre nichts weiter als eine nachhallende Stille.

Ein kleiner Windstoß fährt mir durch die viel zu dünne Jacke, und meine Zähne klappern. Ich presse die Arme an den Körper. Denke zwangsläufig, dass es nichts Gutes verheißt, wenn Sebastian jetzt – wie lange schon? Seit einer halben Stunde? – hier draußen in der Kälte ist.

Die Unruhe nagt an mir.

Alles ist gut, rede ich mir ein.

Nichts ist passiert. Was soll schon passiert sein? Wir sind mitten im Wald. Hier gibt es niemanden, der ihm etwas antun könnte.

Hier draußen ist niemand außer Sebastian und mir. »Sebastian!«, rufe ich wieder und gehe um das Haus. Der Kies und das Eis knirschen unter meinen Stiefeln, und ich ziehe die Schultern gegen die Kälte nach oben.

Niemand da.

Wir sind mitten im Nirgendwo.

Niemand versteckt sich zwischen den Bäumen und beobachtet mich.

Meine Nackenhärchen haben sich nur wegen der Kälte aufgestellt, das ist alles.

»Sebastian!«, rufe ich zum dritten Mal und gehe um die Ecke zur Hinterseite des Hauses.

Ich muss jetzt auf Höhe des Speisezimmers sein; drinnen brennt kein Licht, und hier draußen ist es so dunkel, dass ich nicht sehe, wohin ich gehe. Ich blicke zum Horizont und halte einen Augenblick inne.

Die Sterne ziehen sich wie ein Band über den Himmel, in der frostigen Luft scheinen sie so klar, als hätte sie jemand poliert. Sie strahlen wie blank geriebenes Silber.

Wie die Schere auf dem Läufer.

Ich drehe mich wieder um, aber erstarre mitten in der Bewegung. Mir stockt der Atem.

Was war das?

Es klang wie Eis, das unter einem Schuh zerbricht.

»Sebastian, bist du das?«, rufe ich. Meine Stimme klingt dünn und fremd, als käme sie von weit her.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, ist fast schon körperlich spürbar. Ich denke an das, was meine Therapeutin gesagt hat. Man muss seine Atmung unter Kontrolle halten. Der Körper verfällt zuerst in Panik, das Gehirn folgt ihm nach. Wenn man einfach langsam atmet und sich zum Entspannen zwingt, lässt sich der Geist täuschen und beruhigt sich.

Ich lasse den Blick von der Hauswand ins Dunkel schweifen. Schatten über Schatten, Nuancen von Grau und tiefstem Blau, sonst nichts.

Aber dann lichtet sich die Wolkenbank am Himmel, und für einen Moment späht der Mond durch eine Lücke.

Da.

Bei einem der kleineren Nebengebäude. Das kleine Haus, das direkt am See steht. Das mit dem schiefen schwarzen Dach.

Der Schrei bleibt mir im Hals stecken.

Dort steht jemand, vor der Tür. Eine große, schlanke, schwarze Silhouette. Die Gestalt scheint geschlechtslos, weist keine markanten Züge auf, sie besteht nur aus schwarzen Konturen und langen, dunklen Gliedmaßen.

Dann wird der Mond wieder von den Wolken verdeckt, und die Finsternis hüllt alles ein.

Ich denke nicht nach. Renne zurück, die Wand entlang, es dröhnt in meinen Ohren, und ich schlittere und rutsche über den glatten Untergrund, ohne stehen zu bleiben. Die Kälte schmerzt bei jedem Atemzug, aber ich renne weiter.

Als ich um die Ecke biege, geschieht es.

Ich bin ein wenig zu schnell und verliere den Halt. Ich spüre, wie das Handgelenk zuerst auftrifft, wie mein Kinn auf der Erde aufschlägt, und gebe einen kurzen dumpfen Schmerzensschrei von mir, als die Haut am Kinn aufplatzt. Dann liege ich reglos auf dem Boden, sehe nur noch Blitze hinter meinen Lidern, bin wie gelähmt vor Schock und Schmerz.

Noch immer pulsiert die Angst in meinen Adern, ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich weiß nicht mehr, wovor ich Angst habe; erinnere mich nur daran, dass ich fliehen muss, aber nicht, warum oder vor was.

Die Schritte nähern sich schnell und zielstrebig, heraneilende Schuhe, die auf dem gefrorenen Boden knirschen.

Ich sehe das leere, ausdruckslose Gesicht unter der schwarzen Mütze vor mir, Viviannes ausgestreckte Gestalt auf dem Läufer, die blutigen auseinanderstehenden Scherenklingen wie obszön gespreizte Beine. Ich bewege mich auf allen vieren rückwärts über Schnee und Eis, falle wieder, und als ich mich auf die rechte Hand stütze, schießt der Schmerz vom Handgelenk durch den ganzen Arm. Aber dann höre ich eine bekannte Stimme.

»Eleanor? Ellie, was tust du? Was ist los?«

Sebastians vertraute Stimme durchbricht den Angstschleier und dringt zu mir durch. Ich kneife die Augen gegen den auf mich gerichteten Lichtstrahl zusammen und sehe eine Hand, die sich mir entgegenstreckt.

Ich ergreife die Hand und lasse mich von Sebastian hochziehen. Meine Knie zittern. Dann schlinge ich die Arme so fest um ihn, dass er keucht und ein wenig lacht, bevor er die Umarmung erwidert.

»Ist alles okay mit dir?«, fragt er in mein Ohr. »Was ist denn los?«

Erst als ich, statt zu antworten, das Gesicht in seiner Jacke vergrabe und ein paar kalte, trockene Schluchzer von mir gebe, ändert sich sein Tonfall.

Er löst sich ein wenig von mir. »He, Eleanor. Was ist los?«

In dem blauen Schein seines Handys sehe ich seine gerunzelten Augenbrauen. Er richtet es auf mein Gesicht und pfeift laut, als er mein Kinn sieht.

»Au weh, du bist aber heftig gestürzt«, sagt er und legt den Daumen auf meinen Kiefer. »Kein Wunder, dass du so durch den Wind bist.«

Ich schüttele den Kopf und sehe mich hastig über die Schulter um. Das Handylicht hat mich so sehr geblendet, dass ich nicht einmal mehr das wenige erkenne, das ich vorher noch sehen konnte.

»Da war jemand«, sage ich und drehe mich wieder um. Noch immer halte ich seinen Ärmel umklammert.

»Was?«

»Da vorne am See«, sage ich. »Ich habe jemanden an dem kleinen Haus gesehen. Da war jemand.«

Er schüttelt den Kopf, aber ich merke, wie sein Blick an mir vorbei in Richtung des Häuschens schweift.

»Bist du dir sicher?«, fragt er. »Es ist ziemlich dunkel.«

»Ich bin mir sicher.«

Im selben Moment, in dem ich es ausspreche, frage ich mich, ob es wirklich stimmt.

In meinen Ohren höre ich die ruhige sichere Stimme meiner Therapeutin widerhallen.

Deine Angst ist gerechtfertigt, aber sie muss nicht echt sein. Die Angst ist real, aber sie muss nicht zu deiner Realität werden.

Es wäre nicht das erste Mal, dass ich etwas sehe, das nicht das ist, wofür ich es halte. Nicht das erste Mal, dass ich mich von Angst beherrschen lasse. Und ich war allein im Dunkeln …

Sebastian streichelt meinen Arm.

»Ich verstehe, dass du Angst bekommen hast«, sagt er mit sanfter, weicher Stimme. »Ich weiß, das hier ist nicht einfach für dich. Wir können einfach wieder heimfahren, wenn du willst, okay? Dann kümmert sich der Notar um alles.«

Ich hole tief Luft und schüttele den Kopf.

»Nein. Du hast recht. Ich habe mich nur erschreckt. Ich wusste nicht, wo du warst, und es war dunkel, und ich habe … Dinge gesehen.«

Sebastian drückt meine Schulter, ich lehne den Kopf an ihn.

»Sollen wir reingehen und uns dein Kinn mal anschauen?«, sagt er. »Es blutet ziemlich heftig.«

Jetzt, wo Sebastian hier bei mir steht, mit der Handylampe und seiner sicheren Stimme und dem vertrauten Geruch, beruhigt sich meine Atmung allmählich.

»Was hast du überhaupt hier draußen gemacht?«, fragt Sebastian, als wir um das Haus zurück in Richtung Auto und Eingang gehen.

»Du warst so lange weg. Ich habe mich gefragt, wo du steckst.«

»O, das tut mir leid, Schatz«, sagt er. »Ich habe nachgesehen, ob es einen Schuppen mit Feuerholz oder etwas in der Art gibt. Alle Äste, die hier auf dem Boden liegen, sind gefroren.«

Ich will gerade etwas erwidern, als Sebastian innehält. Er hat den kleinen Lichtkegel der Handylampe über sein Auto gleiten lassen, und der rote Lack blitzt kurz auf. Der Spalt an der Beifahrertür ist höchstens einige Zentimeter breit, wirkt aber wie ein klaffendes Maul.

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