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Das Herz im Wald, die Füße im Sand

Als Buch hier erhältlich:

Der Duft von Meer und Wald, ein alter Gutshof und die Liebe

Das Rascheln der Blätter, die in sanftes Licht getauchten Bäume und das Rauschen des Meeres. Als Ella in ihre Heimatstadt an der ostfriesischen Küste zurückkehrt, um eine Vertretungsstelle als Försterin anzunehmen, verzaubert die idyllische Landschaft sie erneut. Aber wieder in Ostfriesland muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen und endlich wichtige Entscheidungen treffen, die ihr Familienerbe betreffen. Der attraktive Clemens, auf dessen Gutshof sie ein Haus gemietet hat, macht alles noch komplizierter. Er weckt eine tiefe Sehnsucht nach Zweisamkeit in ihr – vielleicht ist sie doch bereit, Wurzeln zu schlagen. Ist sie mutig genug, das Glück mit beiden Händen zu ergreifen?


  • Erscheinungstag: 22.02.2022
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749902569

Leseprobe

Für meine Enkelkinder Sarah, Claas und Merle

Kapitel 1

Wie immer war ihre Anfahrt von Herzklopfen und Glücksgefühlen begleitet. Ella liebte den weiten Blick über die Wiesen und das funkelnde Wasser der unzähligen Schloote, die das Grün durchzogen. Wenn dann noch der Himmel strahlend blau leuchtete, zeigte sich Ostfriesland von seiner schönsten Seite.

Jedoch nicht heute. Gestern hatten sie den Ersten Mai gefeiert, aber das Wetter schien im April stecken geblieben zu sein. Dicke Wolken bedeckten den Himmel und spiegelten Ellas zwiespältige Stimmung wider. Sie parkte ihr Gespann, das aus einem Offroader und ihrem Wohnwagen Karlchen bestand, vor dem gepflegten Einfamilienhaus in Westerholt. Einerseits freute sie sich auf die Wochen, die vor ihr lagen, andererseits hätte sie das anstehende Gespräch mit Connie nur zu gern schon hinter sich gebracht.

Sie zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, griff nach den selbst gemachten Pralinen und stieg aus.

Zu Hause. Wärme breitete sich in ihr aus, während sie den Blick über die schmale Dorfstraße schweifen ließ. Hier kannte jeder jeden, und so sehr es Ella als Teenager manches Mal genervt hatte, genoss sie dennoch das Gefühl von Dazugehörigkeit, das damit einherging.

Sie öffnete die Heckklappe und befreite ihre Hündin Paula aus der Hundebox.

»Dass du dich ja gut benimmst«, ermahnte sie die Labradordame, die sie schwanzwedelnd anschaute. »Du weißt, dass Connie keine Hundefreundin ist. Also zeig dich bitte von deiner besten Seite.«

Als würde sie ihr zustimmen wollen, stupste Paula mit der Schnauze gegen ihren Oberschenkel.

Trotz des Regens kraulte sie der Hündin ausgiebig den Nacken. Du bist so ein Feigling, schalt sie sich selbst, du willst bloß Zeit schinden! Bis heute hatte sie es erfolgreich vor sich hergeschoben, Connie zu erzählen, dass sie einen Vertretungsjob in direkter Nachbarschaft angenommen hatte. Sie hatte ihr am Telefon nur gesagt, dass sie in der Gegend sei und bei ihr vorbeischauen würde. Dass sie nicht nur wie üblich auf einen kurzen Besuch käme, hatte sie wohlweislich verschwiegen. Auf die Gefühlsausbrüche ihrer Pflegemutter, wenn sie ihr gestand, dass sie dieses Mal nicht bei ihr wohnte, sondern etwas Eigenes gemietet hatte, konnte sie gut und gerne verzichten.

Laut aufseufzend schloss Ella die Heckklappe. Sie liebte Connie von ganzem Herzen, allerdings fühlte sie sich von ihr manchmal zu sehr unter Druck gesetzt. Oft unterschwellig, doch nicht weniger drängend. Andererseits war Connie das Einzige, was sie noch Familie nennen konnte. Sie war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen und hatte nach dem Tod ihrer Eltern die Vormundschaft angetreten. Sie hatte sie wie selbstverständlich bei sich aufgenommen und sich fürsorglich um sie gekümmert, hatte ihr ein Heim gegeben. Das würde sie ihr niemals vergessen.

Kaum hatte Ella die ersten Schritte auf dem sorgfältig gefegten Plattenweg gemacht, flog auch schon die Haustür auf.

»Du bist wieder da!« Ungeachtet des Regens lief Connie, die Arme weit ausgestreckt, auf sie zu. »Dass du wieder da bist, Kind, ich kann es noch gar nicht glauben!«

Trotz aller inneren Widersprüche genoss Ella die liebevolle Umarmung. »Du tust gerade so, als wäre ich zehn Jahre nicht daheim gewesen. Dabei waren es kaum sieben Wochen.«

»Sieben Wochen sind eine lange Zeit, wenn man jemanden vermisst. Komm schnell rein, wir werden ja klitschnass!« Ihre Pflegemutter eilte zurück ins trockene Innere, und Ella, Paula im Schlepptau, folgte ihr.

»Du bist dünn geworden, Kind, das sehe ich sofort«, erklärte Connie streng, während sie ihr ein Handtuch reichte, damit sie Paulas Pfoten sauber machen konnte. »Sicher hast du wieder vor lauter Arbeit das Essen vergessen.«

Kaum dass Ella sich aufrichtete, tätschelte Connie ihr die Wange, als wäre sie wieder vier Jahre alt. »Nun, ich werde dich schon wieder aufpäppeln.«

Eine von Connies Lieblingsbeschäftigungen war, andere Leute zu bekochen. Ella lächelte, während sie die kurvige Figur ihrer Pflegemutter betrachtete. Diäten gab es für Connie nur in Zeitschriften. Für sie sprach nichts dagegen, sich gut zu kleiden und zugleich die Sinnlichkeit guten Essens zu genießen. Als Modefachfrau verstand sie es auch ausgezeichnet, ihre Kurven kleidungstechnisch vorteilhaft in Szene zu setzen.

»Und deine schönen Haare! Kind, warum hast du dir denn deine schönen Haare abgeschnitten?«

Unwillkürlich zupfte Ella an den kurzen blonden Fransen herum, die von ihrem langen Haar geblieben waren. Einen frechen Kurzhaarschnitt hatte es die Friseurin genannt, aber sie selbst hatte sich noch nicht ganz daran gewöhnt.

»Es war Zeit für etwas Neues«, antwortete sie, obwohl sie gar nicht genau benennen konnte, warum genau es Zeit für etwas Neues war. Sie fühlte sich schon seit einigen Monaten rastlos und unzufrieden. Wobei ihr die Arbeit im Wald nach wie vor gefiel und Paula und sie ein wirklich gutes Team waren. Trotzdem, irgendetwas nagte an ihr, sie war nur noch nicht dahintergekommen, was.

»Ihr immer mit euren Neuerungen«, schimpfte Connie. »Dein Haar war so schön, und jetzt schau dich an.«

Ja, auch Neuerungen waren nichts für ihre Pflegemutter, sinnierte Ella, während sie sich die Jacke auszog. Soweit sie sich erinnern konnte, trug Connie das blondierte Haar kinnlang geschnitten. Und auch ihr Kleidungsstil änderte sich nur saisonal in der Auswahl von Stoffen, Farben und Mustern.

»Das wächst wieder nach«, beschwichtigte Ella sie von daher bloß und reichte ihr die Pralinen in der Hoffnung, Connie damit von sich abzulenken. »Hier, die sind für dich.«

»Danke! Die werde ich mir heute Abend beim Fernsehen schmecken lassen.«

»Und du hast gebacken«, stellte Ella fest und sog schnuppernd den betörenden Duft ein, der sich durch die geöffnete Küchentür im Haus entfaltete.

»Ich genieße meine freien Nachmittage. Heute habe ich mich an Brownies versucht, und sie sind tatsächlich so geworden, wie ich sie zuletzt in New York gegessen habe!« Connie lächelte stolz. »Wasch dir rasch die Hände, dann kannst du sie probieren.«

Ella grinste und schaute ihrer Pflegemutter hinterher, die in der Küche verschwand. Nächsten Winter wurde sie zweiunddreißig, aber für Connie blieb sie offenbar zeitlebens die pummelige Fünfzehnjährige, die sie vor gut sechzehn Jahren bei sich aufgenommen hatte.

»Ich habe für Paula eine Decke in den Flur gelegt!«, rief Connie ihr zu.

Ella musste lächeln, während sie sich die Hände abtrocknete. Der Entscheidung, Försterin zu werden, gingen damals unzählige Diskussionen mit Connie voraus. Aber auch wenn ihre Pflegemutter sie letztlich in ihrer Berufswahl unterstützte, war es doch eine ganz andere Sache gewesen, als ihr mit Paulas Einzug bei Ella bewusst wurde, dass ihre Pflegetochter auch einen Arbeitshund brauchte. Da Connie jegliche Art von Schmutz als persönliche Beleidigung empfand, hatten die beiden keinen guten Start. Aber über die Jahre hinweg hatten sie Frieden geschlossen und respektierten einander. Wobei Ella den Eindruck hatte, dass die gegenseitige Zuneigung den Respekt bereits bei Weitem überstieg.

Den Beweis für diese Annahme entdeckte sie, sobald sie wieder den Flur betrat. Ella grinste. Ein großes Stück Ochsenziemer lag auf der beigen Baumwolldecke, und Paula kaute schon begeistert darauf herum.

Ja, so schwierig Connie auch manches Mal war, sie war eine herzensgute Seele.

Als Ella die Küche betrat, dampfte der Tee bereits in den zarten Rosenthaltassen, und ein saftiger Brownie samt einem dicken Klecks Sahne befanden sich auf ihrem Teller. Sie setzte sich und schaute sich um. Wie immer war nirgendwo ein Staubkorn, geschweige denn ein Teigspritzer zu erkennen. In den weißen Oberflächen der Einbauschränke konnte sie sich spiegeln. Doch obwohl Connie ein kleiner Putzteufel war, hatte sie sich immer bei ihr wohlgefühlt. Vom ersten Tag ihres Aufenthalts an war sie umsorgt worden wie das Küken von der Henne. Ähnlich begluckt fühlte sie sich heute noch, wobei sie sich inzwischen manches Mal eingeengt vorkam.

Ella teilte mit der Gabel ein Stück des Küchleins ab und schob es sich in den Mund. »Lecker!«

Besser sie genoss erst einmal das Gebäck, ehe sie Connie reinen Wein einschenkte, was ihren Aufenthalt in Ostfriesland betraf.

»Freut mich, dass es dir schmeckt, mein Schatz. Wenn wir Tee getrunken haben, helfe ich dir beim Auspacken. Dein Zimmer ist schon hergerichtet, und für heute Abend habe ich dir einen deftigen Braune-Bohnen-Eintopf gemacht, den magst du doch so gern. Für Paula habe ich eine dicke Decke neben dein Bett gelegt und auch einen Wassernapf dazugestellt.«

Was Ella ihr hoch anrechnete und weshalb es ihr noch schwerer fiel, diese friedliche Stimmung zu zerstören.

Leise seufzte Ella. Diesen Moment hätte sie am liebsten noch weiter hinausgeschoben, aber nun wurde es Zeit zum Beichten. Sie legte die Gabel beiseite und wandte sich ihrer Pflegemutter zu. »Es tut mir leid, dass ich dir vorher nichts gesagt habe, aber dieses Mal werde ich nicht bei dir wohnen.«

Erstaunt zog Connie die Augenbrauen hoch. »Warum denn nicht? Du wohnst doch immer hier, wenn du zu Besuch kommst.«

»Stimmt, aber dieses Mal bin ich nicht zu Besuch, ich werde etwas länger bleiben.«

»Du bleibst für länger? Wie schön! Wie lang genau?«, stieß Connie fröhlich hervor.

»Erst einmal wurde mir gesagt, für gut zwei Monate. Es könnte jedoch auch länger werden.«

»Zwei Monate? Das ist ja traumhaft!«

Da war sich Ella noch nicht ganz sicher. Dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln. »Es ist schön, mal wieder zu Hause zu sein«, meinte sie.

Einen Moment herrschte Stille, so als müsse Connie sich erst sammeln. »Aber wenn das hier dein Zuhause ist, warum willst du nicht hier wohnen?«

»Ich weiß, dass ich immer bei dir willkommen bin, aber ich stehe seit gut zehn Jahren auf eigenen Beinen. Und da ich dieses Mal so lange bleibe, brauche ich meine eigenen vier Wände.«

»Du hast hier doch das ganze Dachgeschoss für dich. Ich verstehe das nicht.« Die Augen ihrer Pflegemutter schimmerten plötzlich feucht.

Ella stand auf, ging hinüber zu ihr und nahm sie in den Arm. »Ich bin dir wirklich sehr dankbar für alles, was du für mich getan hast. Aber inzwischen bin ich erwachsen geworden und habe mir mein eigenes Leben aufgebaut. Zu dem du natürlich dazugehörst«, fügte sie hinzu.

Connie schaute sie mit wässrigen Augen an. Alles entwickelte sich genau so, wie Ella befürchtet hatte.

»Aber du wirst doch wohl nicht in deinem Camper wohnen, was sollen denn die Leute denken?«

Ella atmete tief durch und schluckte eine heftige Erwiderung herunter. Was die Leute von ihr dachten, war ihr schon immer egal gewesen, aber erst ihre Eltern hatten das anders gesehen und anschließend auch Connie.

»Du bist in Aurich Inhaberin eines großen Modegeschäfts. Dass du immer nur in Jeans und Sweatshirts herumläufst, ist ja schon schlimm genug, doch dieser Wohnwagen …«, fuhr Connie fort.

»Für mich ist das praktisch«, wiederholte Ella zum x-ten Male, »sowohl, was die Klamotten angeht, als auch der Camper, da ich ja ständig woanders bin. Wenn ich nur für ein paar Monate in einem Forstrevier eingesetzt werde, lohnt es sich nicht, was anzumieten, und Ferienwohnungen für längere Zeit sind vor allem im Sommer schwer zu kriegen.«

Außerdem liebte sie ihren Wohnwagen, ihr Karlchen. Alles war perfekt für ihre Bedürfnisse eingerichtet, sie vermisste nichts. Dazu wohnte sie immer im Grünen und hatte an jedem neuen Ort rasch Kontakte zu anderen Campern, die ein offenes, hilfsbereites Völkchen waren, aber auch die Privatsphäre des Nachbarn respektierten. Doch all das hatte sie Connie schon hundertmal erklärt.

Und ebenso wenig lohnte es sich, Connie darauf aufmerksam zu machen, dass sie nicht immer nur in Jeans und Shirts rumlief, denn im Hochsommer mochte sie es, in ihrer Freizeit Kleider zu tragen. Wenn auch die meisten nicht so elegant waren, wie Connie es gern an ihr sähe.

»Wenn du woanders bist, mag das egal sein«, insistierte ihre Pflegemutter, »aber hier kennt dich jeder als Eleonora Vanbrecht und bringt dich mit dem Geschäft in Verbindung.«

Das Geschäft, das Geschäft, das Geschäft. Schon bei ihren Eltern gab es kein wichtigeres Thema. Alles musste dahinter zurückstehen. Auch sie. Aber obwohl es ihr auf die Nerven ging, dass sich auch bei Connie immer alles nur um den Laden drehte, konnte sie sich doch nicht dazu durchringen, ihn zu verkaufen. Das Geschäft und das dazugehörige Wohnhaus waren das Lebenswerk ihrer Eltern und ein starkes Band, durch das sie noch immer mit ihnen verbunden sein konnte. Sie war hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl, Liebe zu ihren Eltern und ihrem angeborenen Freiheitsdrang und hatte keine Ahnung, wie sie sich entscheiden sollte.

»Wenn du die nächsten Wochen hier bist, wirst du dich ja sicher mehr ins Geschäft einbringen können.«

»Das werde ich nicht schaffen«, erwiderte Ella. »Ich sitze jeden Tag mindestens eine Stunde an der Buchhaltung, helfe dir beim Einkauf und nehme mir Zeit für die Messen. Dafür geht fast mein ganzer Urlaub drauf. Mehr kann ich wirklich nicht tun.«

Doch all ihre Argumente wurden von Connie nur mit einer ungeduldigen Handbewegung vom Tisch gewischt. »Du wirst aber auch im Laden gebraucht! Dort lastet alles auf meinen Schultern, ich bin auch nicht mehr die Jüngste.«

Ein Argument, auf das sich kaum etwas erwidern ließ, da Connie die sechzig bereits gut überschritten hatte. Allerdings war sie noch weit davon entfernt, in irgendeiner Weise alt zu wirken – außer in ihren manchmal etwas übertrieben altmodischen Meinungen vielleicht. Trotzdem war es gut, dass sie neben den anderen Mitarbeiterinnen in Astrid, die bereits seit vielen Jahren im Modehaus arbeitete, eine gute Assistentin hatte.

Da Ella sich nicht streiten wollte und sie mit Connie bei diesem Thema sowieso auf keinen grünen Zweig kam, ließ sie den letzten Vorwurf einfach so stehen.

»Dieses Mal habe ich mir ein Ferienhaus gemietet«, sagte sie stattdessen.

»Wo?«

»In Hilgenriedersiel. Auf einem ehemaligen Gutshof.«

»Ach, Kind«, meinte Connie resigniert. »Warum machst du es mir so schwer. Zuerst ein Wohnwagen und jetzt ein Bauernhof? Du könntest dir doch auch ein schönes Hotel leisten.«

Wieder so eine antiquierte Meinung. Was bitte war schlecht daran, auf einem Bauernhof zu wohnen? Und warum sollte sie viel Geld für ein Hotel ausgeben, bloß weil sie es hatte?

»Also zum einen ist Urlaub auf dem Bauernhof äußerst beliebt. Zum anderen handelt es sich hier um einen ehemaligen Gutshof, also ganz sicher nicht so, wie du es dir offenbar vorstellst. Das Häuschen, das ich gemietet habe, wurde wunderschön renoviert. Du wirst begeistert sein, wenn du es siehst. Soll ich dir mal ein paar Bilder zeigen?«

Ella griff nach ihrem Handy und suchte die Website des Hofes heraus. »Schau mal. Sieht das nicht traumhaft aus?«

Widerstrebend nahm Connie das Smartphone entgegen und scrollte durch die Fotos.

»Nun gut. Das ist wirklich sehr hübsch«, gab sie zu.

Dann reichte sie Ella das Handy und stand auf, um das Geschirr abzuräumen. »Trotzdem ist es schade, dass du nicht bei mir wohnen willst.«

Ella seufzte im Stillen, ehe sie sich ebenfalls erhob und die Teller zur Spüle brachte. Es würde nichts nützen, sich weiter zu erklären, und natürlich konnte sie ihre Pflegemutter auch verstehen. Aus deren Sicht wäre es sicher schön, Ella im Haus zu haben. Aber dafür hatte sie einfach schon zu lange allein gelebt. Sie war nicht mehr bereit, sich mehrere Monate lang anzupassen, auch wenn Connie immer nur ihr Bestes wollte.

»Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mir etwas von dem Eintopf einpackst. Dann kann ich ihn mir heute Abend warm machen.« Ein Friedensangebot, das ihr nicht schwerfiel, da Connies Kochkünste vorzüglich waren.

Wie erhofft, umspielte ein leichtes Lächeln Connies Lippen. »Natürlich, das tue ich gern. Wann kommst du denn mal zum Mittagessen vorbei? Ich habe da ein paar schöne Rezepte, die ich schon lange ausprobieren wollte.«

»Wie wäre es mit nächster Woche Donnerstag? Könntest du dir da freinehmen?«

Connie nickte. »Ich werde das mit Astrid besprechen, aber das ist sicher kein Problem. Zudem passt es prima, weil ich dann am Mittwoch auf dem Wochenmarkt einkaufen kann.«

Bei der Aussicht, ein leckeres Menü zu planen, schien jeglicher Ärger von ihrer Pflegemutter abzufallen. Sie begann Ella ausführlich von der letzten Woche im Geschäft zu erzählen, von der Kundin, deren Baby seine Milch auf den neuen Teppichboden in den Umkleiden spuckte, und der komplett ruinierten Lieferung von Ballkleidern, die samt und sonders wieder zurückgeschickt werden mussten.

Auch wenn es Ella drängte, ihr neues Zuhause auf Zeit zu begutachten, lauschte sie doch lächelnd Connies Worten. Trotz der Spannungen fühlte es sich gut an, wieder zu Hause zu sein.

Als sie den Theener Oststreek in Richtung Hilgenriedersiel entlangfuhr, spürte sie, wie die Aufregung langsam anstieg. Das Bauernhaus hatte auf der Website ausgesehen wie aus einem Bilderbuch. Roter Backstein, eine breite Freitreppe, die zur doppelflügeligen, grün gestrichenen Haustür führte und weiß blitzende Sprossenfenster, die sich auf der lang gestreckten Fassade verteilten. Aber sie hatte bei der Buchung einer Unterkunft schon oft erlebt, dass die Internetdarstellung und die Wirklichkeit nicht unbedingt übereinstimmten.

Während links immer wieder einzelne Gehöfte auftauchten, lag auf der rechten Seite in einiger Entfernung der Deich. Ein wesentlicher Grund, weshalb sie sich für den Gutshof von Familie Niehus entschieden hatte. Hilgenriedersiel bestand zwar nur aus einer Handvoll Gehöfte, befand sich allerdings unmittelbar an einem atemberaubenden Naturstrand, der weder Kioske noch Strandkörbe bot, dafür aber unberührte Natur in Form von zerklüfteten Salzwiesen und dem Meer.

Sie bog nach rechts in Richtung Deichstraße ab. Dort, etwas abseits von den anderen Häusern, lag ihr Ziel. Zwischen den Bäumen, die den Hof umsäumten, sah sie nur einige Dächer hervorlugen, bis sie schließlich die Einfahrt hinunterfuhr und das Haupthaus vor ihr auftauchte. Auf den ersten Blick schien es so, als würden die Bilder aus dem Internet der Realität standhalten. Das Kopfsteinpflaster der Hoffläche wirkte ebenso gepflegt wie die Gebäude, die es umgaben. Rechts befand sich die ehemalige Scheune, und links, ein gutes Stück vom Haupthaus entfernt, konnte Ella das Altenteilerhäuschen hinter einer hochgewachsenen Lorbeerhecke erspähen.

Leider konnte sie von hier aus kaum mehr als den Giebel sehen, aber auf der Homepage der Familie Niehus war es, ebenso wie die Scheune, mit vielen Fotos vorgestellt worden.

Voller Vorfreude parkte Ella vor dem Haupthaus, dessen dunkle Rottöne im hellen Licht der Nachmittagssonne gastfreundlich schimmerten. Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Obwohl es nur ein Zuhause auf Zeit war, kam es ihr absolut richtig vor.

Während Ella ausstieg, seufzte sie auf, weil sie an Connies Predigt wegen ihrer weiteren Planung dachte. Aber es lohnte nicht, sich jetzt mit solchen Gedanken den weiteren Tag zu verderben, also schob sie sie beiseite. Sie spürte, wie die Anspannung zunehmend von ihr abfiel, und schloss die Augen. Hier würde sie sich wohlfühlen, da war sie sich sicher. Mehr brauchte sie nicht. Nur einen Ort, an den sie sich zurückziehen und ihre Seele baumeln lassen konnte.

Bevor sie hinüber zur Haustür gehen konnte, ertönte hinter ihr eine Stimme. »Hallo?«

Ella drehte sich um und sah eine junge Frau auf sich zukommen. Vielleicht ein paar Jahre älter als sie selbst und um einiges größer, was bei ihren eins vierundsechzig allerdings auch nicht allzu schwer war.

»Hallo, ich bin Ella Vanbrecht«, rief sie ihr zu.

»Frau Vanbrecht, wie schön! Anne Niehus, wir hatten miteinander telefoniert.«

Lächelnd reichte Frau Niehus ihr die Hand. »Herzlich willkommen! Ich habe Ihnen gerade noch frische Handtücher gebracht.«

»Sehr nett, vielen Dank«, sagte Ella. »Sie haben es wirklich wunderschön hier.«

Anne Niehus lachte. »Ja, uns gefällt es auch sehr gut. Soll ich Ihnen direkt Ihre Unterkunft zeigen? Ihren Wohnwagen können Sie erst einmal hier stehen lassen, und den Vertrag unterschreiben wir später.«

Ella nickte und folgte ihrer Vermieterin in Richtung Altenteilerhäuschen. Auf dem Weg dorthin liefen sie an einem großen eingezäunten Gartenstück vorbei.

»Unser Blumengarten«, erklärte Frau Niehus im Vorbeigehen, »meine kleine Oase. Wir richten in unserer Scheune Veranstaltungen aus, also mein Bruder, meine Mutter und ich. Clemens ist ausgebildeter Veranstaltungskaufmann. Da ich gelernte Floristin bin, kümmere ich mich um den Blumenschmuck, für den ich unter anderem auch meine eigenen Pflanzen verwende. Aber ich genieße es auch, dass ich mich ab und zu hierher zurückziehen kann, wenn ich mal Abstand von dem ganzen Rummel brauche. Sie können sich auch gern hierhersetzen, wenn Ihnen danach ist.« Frau Niehus zeigte auf eine rustikal geschreinerte Holzbank, die auf der rechten Seite des Areals inmitten von blühenden Blaukissen stand.

Ella brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dort zu sitzen, zu lesen und inmitten der sie umgebenden Düfte einfach nur zu entspannen.

»Wenn der Himmel so grau ist wie heute, wirkt der Garten ja schon mal ein wenig karg, aber selbst zu dieser frühen Jahreszeit trotzen bereits die ersten Pflanzen dem Wetter. Ich liebe ihre bunte Vielfalt«, plauderte Frau Niehus vergnügt weiter und riss sie aus ihren Gedanken. »Warten Sie nur ab, bis die Sonne länger scheint, dann verwandelt sich hier alles in ein kleines Paradies.«

Hinter der Lorbeerhecke tauchte schließlich das Ferienhaus auf, das Ella gemietet hatte. Ebenso wie das Hauptgebäude war es auch aus roten Backsteinen errichtet worden und hatte weiße Sprossenfenster. Üppige Kletterrosen rankten die Hauswand empor und würden in ein paar Wochen unzählige Blüten tragen. Mit seinem niedrigen Dach wirkte es einladend und gemütlich.

»Kommen Sie rein«, forderte Frau Niehus sie auf, während sie die Haustür öffnete. »Wir sind erst vorgestern mit der Renovierung fertig geworden, deshalb war es überhaupt noch frei. Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen.«

Ella nickte, folgte ihr in die Unterkunft und stand direkt in einer kleinen Diele, die komplett von einem breiten Garderobenschrank aus dem 19. Jahrhundert dominiert wurde.

»Hier rechts finden Sie die Gästetoilette, und geradeaus kommen wir ins Wohnzimmer«, meinte Frau Niehus.

Neugierig betrat Ella den überraschend großen Raum und war sofort begeistert. Alles wirkte leicht und freundlich, trotz der alten Balken, die die weiß gestrichene Decke zierten. Helle Weichholzmöbel standen auf den alten Landhausdielen, die sicher schon einiges erlebt hatten und auf denen Flickenteppiche in warmen Erdtönen lagen. Vor den hinteren Fenstern stand eine ausladende Sitzlandschaft aus braunem Leder und lud zu entspannten Kuschelstunden ein. Nicht dass sie jemanden zum Kuscheln hätte, aber sie würde es sich schon gemütlich machen.

»Gerade bei einem Wetter wie heute lässt es sich dort hinten am Kamin gut aushalten.«

Ella grinste und betrachtete den schwarzen Schwedenofen, den sie an der rechten Seitenwand erblickte. »Gut aushalten ist wohl ein bisschen untertrieben. Es gefällt mir ausgezeichnet.«

Sie würde hier sicher himmlische Abende verbringen. Dafür brauchte sie nur ihr Strickzeug, ein Feuer im Kamin und dazu eine Tasse Ostfriesentee. Herz, was willst du mehr? Nun gut, der Sommer stand vor der Tür, aber hier oben an der Küste konnte es auch in den warmen Monaten noch ungemütlich werden, sodass sie sicher das Vergnügen hätte, sich in den dunkelroten Ohrensessel gegenüber dem Kamin zu kuscheln.

»Was Sie so an Grundnahrungsmitteln brauchen, finden Sie in den Schränken, Milch und Butter sind im Kühlschrank.«

Ella schaute hinüber zur cremefarbenen Küchenzeile, die direkt neben der Wohnzimmertür eingebaut war. Die chromfunkelnden Küchengeräte machten ihr jetzt schon Lust, sie auszuprobieren.

»Danke, das ist ja ein toller Empfang, sogar mit Lebensmitteln«, sagte sie grinsend.

Anne zwinkerte ihr zu. »Gern geschehen. Sollen wir dann mal oben schauen? Da haben wir noch das Schlafzimmer und das Bad.«

Ella bejahte und stieg hinter Anne Niehus die Holztreppe hinauf. Auch im oberen Stockwerk war alles in hellem Holz und in warmen Erdtönen gehalten. Vom Schlafzimmer aus sah sie direkt in die dichten Baumkronen hinein, die an heißen Sommertagen sicher kühle Schatten warfen.

»Ich lasse Sie dann mal in Ruhe ankommen«, meinte Anne Niehus. »Wenn Sie sich so weit eingerichtet haben, kommen Sie einfach ins Haupthaus, die Tür ist immer offen. Und noch etwas, da Sie so lange hierbleiben und wir uns sicher noch des Öfteren sehen, sollen wir uns nicht duzen?«

»Sehr gern.« Erfreut nahm Ella den Schlüssel entgegen, den Anne ihr hinhielt.

»Trinkst du lieber Kaffee oder Tee?«

»Gerne Tee, danke.«

Sie schaute Anne kurz hinterher und setzte ihre Erkundungstour allein fort. Es war jedes Mal aufs Neue spannend, ein Zuhause auf Zeit zu erkunden, und dieses Haus schien ein wahrer Schatz zu sein. Der Boden im ersten Stock war ebenso wie im Erdgeschoss mit Landhausdielen ausgelegt, was es sehr wohnlich wirken ließ. Das Badezimmer war modern und relativ geräumig für diese kleine Unterkunft. Zu Ellas großer Freude verfügte es sogar über eine Badewanne. Mit einem kleinen Hochgefühl ging sie wieder nach unten. Allein das polierte Treppengeländer an den Fingerspitzen zu spüren, war ein Traum.

Im Wohnzimmer wandte sie sich der Küchenzeile zu, für sie immer das Wichtigste in ihrer festen Unterkunft. Wie Anne schon sagte, war alles nigelnagelneu. Ein kurzer Blick in die Oberschränke machte deutlich, dass sie großzügig mit Gläsern und Geschirr ausgestattet waren. Ausgiebigen Koch- und Backorgien stand demnach nichts im Wege. Weshalb sie sich als Nächstes den Backofen genauer anschaute, der auf Augenhöhe eingebaut war. Liebevoll strich sie über die glänzende Glasfront, das Touchdisplay, öffnete die Klappe und zog nacheinander die Bleche heraus, um sie zu betrachten. Im Geiste sah sie bereits Rhabarberkuchen mit dicken Streuseln darauf liegen und schmeckte schon süßsäuerliche Johannisbeerbaisers.

Bereits seit ihrer Kindheit war Backen ihre Leidenschaft. Ella liebte es, sich in Elektromärkten herumzutreiben und zu schauen, was es so Neues für die Küche gab. Nicht dass sie je in die Verlegenheit kam, sich einen High-End-Backofen zu kaufen, schließlich hatte sie nur eine winzige Wohnung in Oldenburg, in der sie sich kaum aufhielt. Aber falls es doch mal passieren sollte, dass sie einen eigenen brauchte, wollte sie dafür gewappnet sein. Träumen war schließlich erlaubt.

Ihre Passion fürs Backen war einer der wenigen Punkte, der gegen das Campen sprach, aber man konnte eben nicht alles im Leben haben.

Ella spürte ein Kribbeln der Vorfreude in ihrem Bauch. Wäre sie nicht Försterin geworden, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, ihren kompletten Arbeitstag innerhalb von vier Wänden zu verbringen, hätte sie liebend gern eine Ausbildung zur Bäckerin gemacht. Und dieser Leidenschaft konnte sie in den nächsten beiden Monaten hemmungslos frönen.

Sie konnte sich nicht zurückhalten, klatschte in die Hände und machte ein kleines Tänzchen durchs Zimmer. Sie hatte einen Sechser im Lotto, was diese Ferienwohnung anging!

Ella entschied, erst später auszupacken, dafür hätte sie noch den ganzen Abend Zeit. Sie brannte so darauf, sich auch den Rest des Areals anzusehen, dass sie ganz zappelig wurde. So kannte sie sich gar nicht. Sie joggte zurück zum Auto, um schon ein wenig Energie abzubauen, öffnete die Heckklappe und ließ Paula hinausspringen.

»So, meine Süße, wir beide drehen jetzt eine große Runde um den Gutshof, damit ich wieder ein bisschen runterkomme«, erklärte sie der Hündin, während sie die Fensterscheiben des Jeeps wieder hochfuhr, die sie für sie geöffnet hatte. Um den Vertrag zu unterschreiben, war anschließend noch Zeit genug.

Während Paula neugierig zu schnüffeln begann, atmete Ella die salzige Meeresluft ein und versuchte sich zu beruhigen. Es war nur ein neuer Ort auf einer langen Liste von Plätzen, an denen sie bereits gewohnt hatte. Aber irgendetwas fühlte sich hier anders an. Vielleicht lag es daran, dass sie in der Gegend aufgewachsen war, vielleicht war sie aber auch einfach nur urlaubsreif und könnte hier das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Doch auch nachdem sie mit Paula eine Powerrunde um den Hof gedreht hatte, fühlte sie sich nicht wesentlich ruhiger als vorher. Möglicherweise hätte sie besser sagen sollen, dass sie gern einen Kräutertee hätte. Am besten Kamille. Der schmeckte so fürchterlich, dass sie von ganz allein auf andere Gedanken kam.

Ella brachte die Hündin ins Ferienhaus und wartete geduldig, bis sie auch dieses erkundet und es sich in ihrem Körbchen bequem gemacht hatte, das sie immer für Paula dabeihatte und sofort in einer kuschligen Ecke aufgestellt hatte. Erst dann lief sie hinüber zum Haupthaus.

Als sie durch die Haustür trat, stand sie in einer wunderschönen Diele. Links neben der Eingangstür entdeckte sie eine breite Holztreppe hinauf in den ersten Stock. Einige Türen waren zu sehen, aber nur eine stand offen und führte augenscheinlich in die Küche.

»Hallo?«, rief sie.

»Ella!« Anne schritt durch die Tür auf sie zu. »Komm rein, der Tee ist schon fertig.«

Ella folgte ihr in eine große Wohnküche, in der eine ältere Frau vor einem langen Holztisch saß und in einer Kochzeitschrift blätterte.

»Das ist meine Mutter«, stellte Anne sie vor.

Ella reichte ihr die Hand. »Ella Vanbrecht.«

»Nenn mich einfach Femke, wir sind hier gerne per Du.«

»Danke.«

»Such dir einen Platz, ich hole die Tassen.«

Während Anne das Geschirr aus einem alten Vertiko nahm, setzte sich Ella gegenüber Femke hin und schaute sich neugierig um. Die Küche schien auf dem neusten Stand der Technik und mit viel Liebe zum Detail eingerichtet worden zu sein. Terrakottafliesen zierten den Boden, und an den Fenstern hingen Spitzengardinen. Auf der rechten Kopfseite stand ein großer Kamin, in dem ein Feuer brannte. Das blau-weiß karierte Sofa daneben lud zu einem entspannenden Nickerchen ein. Auf den robusten Stühlen lagen blaue Kissen, und obwohl auch hier alles neu aussah, war die Tischplatte eindeutig älteren Datums und über die Jahre blank gescheuert. Mit ihren unzähligen Kratzern und Furchen erzählte sie eine Vielzahl von Geschichten. Sanft strich Ella mit einem Finger über die Unebenheiten und erfreute sich an diesem unvollkommenen Meisterstück. Trotz der modernen Einbauschränke wirkte die Küche warm und gastfreundlich.

»Schön habt ihr es hier«, meinte Ella, als Anne sich zu ihnen an den Tisch gesellte.

»Ja, die Küche meiner Mutter ist das Herzstück des Hofs«, stimmte Anne zu und strich Femke liebevoll über die Hand.

»Papperlapapp«, wehrte Femke ab. »Das Herzstück sind die Menschen, denn ohne die wäre der Hof gar nichts.«

Ella grinste. Die direkte Art von Annes Mutter gefiel ihr gut. Offenbar herrschte hier ein lockerer Umgangston.

»Brauchst du Kandis?« Anne deutete auf eine antike Zuckerdose.

»Ja, bitte. Gerne auch Sahne.« Ella griff nach dem Kandistopf und tat zwei Stücke in die bauchige Tasse.

»Ich weiß, es ist anmaßend, aber wir sind schrecklich neugierig«, setzte Anne an, während sie allen Tee einschenkte. »Normalerweise mieten sich die Leute für zwei, vielleicht drei Wochen irgendwo ein, deshalb fragen wir uns: Wie kommt jemand dazu, sich für volle zwei Monate einzumieten und dann auch noch einen Wohnwagen mitzubringen?«

»Wobei du dazu gar nichts sagen musst«, mischte sich Femke ein, »denn das geht uns wirklich nichts an. Obwohl ich mir deinen Wohnwagen sehr gern einmal von innen anschauen würde.«

Ella grinste. »Kein Problem, es ist kein Geheimnis. Ich bin Försterin und arbeite als Vertretung. Das heißt, ich bin immer nur für ein paar Monate, höchstens ein Jahr, an einem Ort. Es lohnt sich nicht, für diese kurzen Zeiträume eine Wohnung anzumieten, geschweige denn mit Möbeln umzuziehen. Deshalb lebe ich während meiner Aufträge meist in meinem Camper, den ich Karlchen getauft habe. Nur in den Wintermonaten wohne ich lieber in einem Zuhause mit gemauerten Wänden als in meinen Karlchen. Wenn ich eine Vertretungsstelle habe, in einem Ferienapartment vor Ort und ansonsten in meiner kleinen Wohnung in Oldenburg.«

»Also ein richtiges Vagabundenleben, das du da führst«, erwiderte Femke staunend und nippte an ihrem Tee. »Vermisst du dabei nicht dein Zuhause?«

Ein winziger Stich durchfuhr Ella, doch sie ließ sich nichts anmerken. Wenn Femke von ihrem Zuhause sprach, meinte sie sicher ihre Unterkunft in Oldenburg, die sie eben erwähnt hatte. Aber die konnte sie, bei aller Schönheit, die Oldenburg zu bieten hatte, wahrlich kein Heim nennen. Da sie viel unterwegs war, konnte sie keine Pflanzen aufstellen, um eine gemütlichere Atmosphäre zu schaffen. So besaß sie nur einen pflegeleichten Ficus, der von einer älteren Nachbarin gegossen wurde, wenn sie längere Zeit nicht in der Gegend war. Diese sandte ihr auch einmal die Woche die Post an ihre jeweilige Adresse, wofür sich Ella stets mit einer Einladung zum Abendessen bedankte, wenn sie wieder für kürzere Zeit da war. »Manchmal schon, aber eigentlich liebe ich mein Leben, so wie es ist«, erklärte sie deshalb. »Außerdem ist dies hier sozusagen ein Heimaturlaub, ich komme nämlich ursprünglich aus Aurich.«

»Ach!«, rief Anne. »Das ist ja quasi um die Ecke. Hast du dort Familie?«

Ella griff nach ihrer Tasse. »Ja, meine Pflegemutter wohnt noch in der Nähe. Meine Eltern sind leider schon verstorben.«

Anne machte ein betretenes Gesicht. »Das tut mir leid.«

»Ist schon lange her«, erwiderte Ella, obwohl sie unmittelbar ein Gefühl der Sehnsucht nach ihren Eltern beschlich. Sie war ein Einzelkind und hatte weder Großeltern noch Tanten oder Onkel gut gekannt, da alle im Großraum Frankfurt lebten und das Verhältnis zu ihnen nicht wirklich gut gewesen war. Als sie fünfzehn war und ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, waren ihre Großeltern bereits gestorben. Und zu einer ihrer Tanten nach Hessen zu ziehen, war für sie unvorstellbar gewesen.

Doch auch wenn ihre Eltern gute Geschäftsleute gewesen waren, hatten sie kein Testament gemacht. Dem Erbrecht entsprechend ging das große Modehaus an Ella, die mit ihren fünfzehn Jahren aber natürlich noch überhaupt nicht in der Lage war, es zu führen oder rechtlich dazu befugt gewesen wäre. Und obwohl das Verhältnis zur Verwandtschaft nicht gut gewesen war, bemühten sie sich nun hartnäckig um die Vormundschaft, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Aber glücklicherweise hatten sie ihre Rechnung ohne Connie gemacht. Sie kämpfte wie eine Löwin um Ella, die sich gleich zu Beginn des Prozesses gegen die Unterbringung bei ihren Tanten ausgesprochen hatte. Connie nahm etliche Anwaltsgespräche beim Vormundschaftsgericht und Besuche vom Jugendamt auf sich, scheute weder Kosten noch Mühen, bis nach Monaten endlich amtlich bestätigt wurde, dass Ella bei ihr bleiben durfte.

Bevor sie noch weiter in der Vergangenheit versank, beschloss Ella das Thema zu wechseln. »Apropos Neugierde: Warum habt ihr einen Drei-Sterne-Backofen in eurem Ferienhaus?«

»Das war die Idee meines Bruders«, antwortete Anne.

»Eine sehr gute Idee!«, warf Femke ein.

»Ja, eine sehr gute Idee«, meinte Anne nickend. »Hier wird viel gekocht und gebacken. Nicht nur für uns selbst, sondern auch für unsere Gäste. Ich hatte ja vorhin schon gesagt, dass wir Veranstaltungen ausrichten, jetzt im Sommer vornehmlich Hochzeiten. Meine Mutter hat sich auf Hochzeitstorten spezialisiert, aber wir bieten auch Fingerfood an, falls das gewünscht wird.«

»Und dafür nutzt ihr den Ofen im Ferienhaus?«

Femke lachte. »Nein, normalerweise reichen uns die Herde hier im Haus. Vom Großhändler gab es ein besonderes Angebot, wenn man gleich zwei Öfen kaufte. Und da Anne gern einen Ofen mit Dampfgarer haben wollte, um selbst Brot zu backen, hat mein Sohn gemeint, wir müssen zuschlagen, und deswegen das Ferienhaus damit ausgestattet.«

»Ich liebe den Duft von frisch gebackenem Brot, von daher kann ich es kaum abwarten, den Herd auszuprobieren«, sagte Ella.

»Kochst du gern?«, wollte Femke von ihr wissen.

»Ja, auch wenn das in den Monaten im Wohnwagen natürlich eher einfache Gerichte sind. Wobei ihr sicher erstaunt wärt, wenn ihr wüsstet, was man alles für leckere Gerichte aus einem Topf zaubern kann. Aber noch lieber als zu kochen, backe ich. Apropos, was sind das für Kekse?«, fragte sie und deutete auf die kugelförmigen Kekse auf dem bunten Teller vor ihnen.

»Das sind Muskatnüsschen«, erklärte Femke. »Eigentlich besonders gut für die dunkle Jahreszeit, doch ich mag sie das ganze Jahr. Hildegard von Bingen hat sie empfohlen gegen die Bitterkeit der Seele und für einen fröhlichen Geist.«

Ella steckte sich einen der Kekse in den Mund und schloss verzückt die Augen. Die würzige Muskatnuss und der samtig-süße Teig schenkten ihr eine völlig neue Geschmackserfahrung.

»Ich bin immer wieder erstaunt«, nuschelte sie mit vollem Mund, »mit welchen Themen sich die Menschen schon vor Hunderten von Jahren beschäftigt haben. Und wie sie mithilfe der Natur Leiden lindern konnten. Und das noch auf so leckere Art und Weise. Die habe ich noch nie gegessen. Kann ich das Rezept haben?«

»Sicher«, antwortete Femke. »Wenn du Lust hast, können wir in den nächsten Wochen auch gern einmal zusammen backen. Vielleicht hast du ja auch Rezepte, die ich noch nicht kenne.«

Begeistert nickte Ella. »Ich komme die nächsten Tage mal vorbei und bringe mein Rezeptbuch mit. Das stammt aus meiner Grundschulzeit, als ich die Rezepte noch mit Zeichnungen und Glanzbildchen verziert habe.« Ella musste lächeln, als sie an ihre ungelenke Schrift aus ihrer Kindheit dachte.

»Also hat die Backleidenschaft dich schon recht früh überfallen«, neckte Anne sie.

»Ja, sobald ich alt genug war, den ersten Teig zu rühren. Und zu probieren«, entgegnete Ella lachend.

»Es geht nichts über rohen Teig«, stimmte Anne ihr zu. »Den nasche ich immer noch gern, wenn wir backen.«

»Ich will ja nicht ungemütlich sein«, meinte Ella, »aber es zieht mich einfach nach draußen. Ich habe vorhin schon eine Runde um den Gutshof gedreht, aber wenn es euch recht ist, würde ich mich noch gern weiter umschauen.«

»Sieh dir einfach alles an«, sagte Anne. »Die Scheune ist jetzt leider abgeschlossen, doch wenn du Lust hast, kannst du gerne zu den Pferden gehen.«

»Ihr habt Pferde?«, fragte Ella.

»Ja, drei Stück und drei Shettys für die Kinder.« Anne schaute auf die Küchenuhr. »Mein Bruder hat sie sicher schon von der Weide geholt und wird sie gleich füttern, der kann dir dann alles zeigen. Ich würde dich auch selbst begleiten, aber ich muss meinen Sohn vom Schwimmen abholen. Neben Leon wird dir übrigens demnächst auch noch Clara über den Weg laufen, das ist meine Tochter, und natürlich mein Mann Stefan. Er ist das schwarze Schaf in der Familie und hat mit dem Hof nicht viel zu tun«, erklärte sie süffisant grinsend.

»Jetzt bist du aber unfair«, mischte Femke sich ein. »Schließlich unterstützt er uns bei den Events, so gut er kann.«

Beschwichtigend hob Anne die Hände. »Schon gut, schon gut, ich habe doch nur ein wenig gefrotzelt. Natürlich weiß ich Stefans Einsatz zu schätzen, und inzwischen kann er immerhin so gut ein Tablett balancieren, dass wir kaum noch neue Gläser brauchen.«

»Was bist du für ein Schofel?« Femke schlug Anne spielerisch gegen den Hinterkopf. »Du hast einen guten Fang mit deinem Mann gemacht. Ganz anders als Clemens bei seiner Frau.« Sie schnaubte verächtlich, sprach aber nicht weiter.

Da Ella nicht nachfragen wollte, wie sie das meinte, stand sie auf. »Dann werde ich mich mal ein wenig umschauen, vielen Dank für den Tee.«

Sie wollte schon gehen, als ihr noch etwas einfiel. »Ach, was ich noch fragen wollte, ich habe bei meiner Nachbarin erst einmal eure Adresse angegeben, weil ich keine andere wusste. Ist das so in Ordnung?«

»Das Altenteilerhäuschen hat noch ein A hinter der Sieben, das kannst du deiner Nachbarin ja mitteilen. Sollte bis dahin etwas bei uns ankommen, ist das kein Problem, das bringen wir dir dann rüber«, erklärte Femke.

Ella verabschiedete sich von den beiden Frauen und freute sich wieder einmal darüber, wie unkompliziert hier der Umgang miteinander schien.

Die herrliche Luft hier oben an der Küste war wirklich etwas, was sie vermisste, wenn sie irgendwo im südlichen Niedersachsen eingesetzt war. Obwohl noch eine frische Brise wehte, zeigten sich am Himmel inzwischen deutliche Wolkenlücken. Ella schlenderte über den Hof, lugte durch die kleinen Scheiben der breiten französischen Flügeltüren in die Scheune und staunte über die Ausmaße, die der Festsaal einnahm. Irgendwann innerhalb der nächsten Tage fand sich sicher einmal die Gelegenheit, das Scheuneninnere näher zu betrachten.

Sie ging um den ausladenden Bau herum und sah hinter einem gepflegten Rasenstück den Pferdestall liegen. Vor der breiten Flügeltür entdeckte sie einen Jungen. Es war noch ein Knirps, vielleicht vier oder fünf Jahre alt.

»Hallo«, rief sie ihm beim Näherkommen zu.

»Hallo.« Mit skeptischem Blick beäugte er sie. »Wer bist du?«

»Ich bin Ella, ich bin heute in euer Ferienhaus gezogen. Und du?«

»Mats. Ich wohne da.« Er zeigte mit dem Finger in Richtung Haupthaus.

Noch ein Familienmitglied?

Ella überlegte, dass Anne von Leon, den sie abholen musste, und Clara als ihren Kindern gesprochen hatte, zu ihr gehörte er demnach nicht. Da fiel ihr ein, dass es ja noch Annes Bruder Clemens gab, der sich um die Pferde kümmerte und laut Femke kein glückliches Händchen bei Frauen hatte. Ob Mats sein Sohn war?

»Gehst du jetzt in den Stall?«, wollte er von ihr wissen.

»Gerne. Willst du ihn mir zeigen?«

»Mmh.« Er nickte schüchtern und folgte ihr.

Der Stall wirkte sehr gepflegt. Auch wenn er nicht neu war, waren die Boxen doch groß, und oben im Dach waren Oberlichter eingelassen, die tagsüber natürliches Licht hereinließen.

Direkt in der ersten Box stand ein wunderschöner Haflinger mit rotbraunem Fell und einer ebensolchen Mähne.

»Das ist Dagobert«, erklärte Mats mit leiser Stimme. »Er gehört Levke.«

Noch ein neuer Name. Nun, mit der Zeit würde sie wohl alle kennenlernen, die hier zur Familie gehörten.

»Reitest du auch schon?«, fragte Ella den Knirps.

Mats zuckte mit den Schultern. »Schon lange, ich bin doch schon vier«, sagte er, wobei er die Hand hob und ihr zum Beweis vier Finger an seiner linken Hand zeigte.

Ella verkniff sich ein Lachen. Da war der kleine Kerl doch tatsächlich für einen Moment über sich selbst hinausgewachsen und hatte seine Schüchternheit überwunden. Wahrscheinlich fühlte er sich zu sehr in seiner Ehre verletzt, sollte sie annehmen, dass er noch nicht reiten konnte.

In der nächsten Box stand ein dunkelbrauner Haflinger mit einer schwarzen Mähne.

Mats streckte die Hand über die Boxentür und streichelte über dessen Nasenrücken. »Das ist Annes Pferd. Er heißt Alvar.«

Bevor Ella in die Verlegenheit kam, etwas Sinnvolles darauf erwidern zu müssen, zog Mats bereits weiter zur nächsten Box. Sie selbst blieb noch einen Augenblick bei Alvar stehen, gönnte sich einen tiefen Blick in seine braunen Augen und streichelte ihm ebenfalls sanft über die Nüstern.

»Shorty, bleib hier!«, hörte sie Mats plötzlich schreien.

Erschrocken wandte sie sich um, als auch schon ein dunkelbraunes Shetlandpony an ihr vorbei und zur Stalltür hinausgaloppierte. Wie paralysiert versuchte sie noch zu verarbeiten, was da gerade geschehen war, da rannte Mats auch schon los. Sie setzte hinterher und sah das Pony gerade noch hinter der Veranstaltungsscheune verschwinden, als sie die Stalltür erreichte.

Das hatte ihr noch gefehlt. Kaum war sie auf dem Gutshof angekommen, brach hier das heillose Chaos aus. Sie ließ Mats hinter sich und spurtete, so schnell sie konnte, um die Scheune herum, wo sie unsanft mit jemandem zusammenprallte und auf ihrem Hintern landete.

Der Schmerz schoss ihre Wirbelsäule hinauf, und einen Moment lang sah sie Sternchen. Autsch, das würde eine fiese Prellung geben.

Das Gesicht schmerzverzerrt schaute sie auf und fand sich einem Mann gegenüber, der das Pony fest im Griff hatte und beruhigend auf es einredete.

»Wolltest du einen kleinen Ausflug machen, meine Kleine?«, sprach er dem Shetty leise ins Ohr. »Hat dir der Weidegang heute noch nicht gereicht?«

Sanft strich er ihm mit einer Hand über den Rücken, während er es mit der anderen am Halfter hielt.

Anstatt mit ihm zu schimpfen, dass er sie zu Fall gebracht hatte, schmolz Ella dahin. Nicht nur, dass die kleine Shettydame den Mann aus verliebten Augen anzuhimmeln schien, sie selbst schien auch nicht ganz unempfänglich für dessen Ausstrahlung zu sein. Er war groß und schlank und hatte doch Muskeln an den richtigen Stellen. Sein haselnussbraunes Haar stand verwuschelt in alle Richtungen ab, als wäre er sich kurz zuvor noch mit beiden Händen hindurchgefahren. Besonders allerdings hatte es ihr sein gepflegter Dreitagebart angetan, der seine markanten Gesichtszüge in einem kräftigen Rot unterstrich.

Mühsam rappelte Ella sich hoch und wollte sich ihm gerade vorstellen, als er seinen Blick auf sie richtete. In Sekundenbruchteilen wechselte der Ausdruck seiner blauen Augen von liebevoll zu zornig.

»Sind Sie eigentlich noch bei Verstand?«, schnauzte er sie an. »Wissen Sie nicht, dass man in fremdem Eigentum nichts zu suchen hat? Wie kommen Sie dazu, einfach in den Stall zu gehen und Boxentüren zu öffnen?«

Ella fühlte sich, als habe ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Völlig perplex suchte sie nach Worten und machte sicherheitshalber einen Schritt zurück.

Bevor sie jedoch zu einer Verteidigungsrede ansetzen konnte, stand Mats neben ihr und ergriff ihre Hand.

Verdattert, dass das Kind, das sie ja kaum kannte, ganz offenbar Schutz bei ihr suchte, hielt sie den Mund. Was war das bloß für ein Mann, der liebevoll mit Pferden umging, aber einen kleinen Jungen ängstigte?

»Warst du im Stall?«, fragte er Mats, und Ella hatte den Eindruck, als würden sich seine Zornesfalten ein wenig glätten.

Mats nickte.

»Wie oft habe dir schon gesagt, dass du nicht allein in den Stall gehen sollst?«, fragte der Mann dennoch mit bestimmter Stimme.

»Ich war ja nicht allein, Papa«, erklärte Mats. »Ella war doch dabei.«

»Und wir haben gesehen, was dabei herausgekommen ist«, erwiderte der Mann brummend, der offensichtlich Mats’ Vater war – und entweder ein Angestellter oder Annes Bruder, der laut ihr bei den Pferden sein sollte.

Bisher hatte er sie nicht wieder angesehen. Im Gegenteil. Ohne ein weiteres Wort an sie zu richten, führte er das Pony zurück in den Stall.

So langsam löste sich Ella aus ihrer Erstarrung und spürte, wie nun Ärger in ihr hochstieg. Was für ein ungehobelter Flegel! Mit keinem Wort hatte er sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt. Sie hätte sich bei dem Sturz sonst was getan haben können!

Zornig stapfte sie mit Mats an ihrer Hand hinterher zurück in den Stall. Dem würde sie jetzt erst einmal kräftig ihre Meinung sagen.

Doch dazu kam sie gar nicht, da Mats sich von ihr löste. »Ella kann nichts dafür, Papa. Ich habe die Box aufgemacht.«

Der Mann schloss die Boxentür hinter dem Shetty und wandte sich an seinen Sohn. »Dann hast du ja jetzt gesehen, wie gefährlich das ist. Vielleicht wirst du ja jetzt endlich auf das hören, was ich dir sage.«

Seine Stimme klang tadelnd, aber Ella sah, dass seine Gesichtszüge weicher wurden. Vielleicht war er doch gar nicht so verkehrt.

Nun richtete er seinen Blick auf Ella, und sie erwartete eine freundliche Entschuldigung.

»Sind Sie ein Gast?«, fragte er stattdessen knapp.

Mit sich kämpfend, dass er immer noch keinerlei Anzeichen machte, sich bei ihr entschuldigen zu wollen, starrte sie ihn an. In Henleyshirt, Jeans und Boots machte er einen zupackenden Eindruck, und unter anderen Umständen hätte sie gesagt, er sei attraktiv, aber leider schien er erhebliche Charakterdefizite zu haben.

»Ja, ich habe das Altenteilerhäuschen gemietet. Ich bin Ella Vanbrecht«, presste sie hervor.

»Clemens Niehus.«

Demnach war er kein Angestellter, sondern Annes Bruder. Das strahlende Blau seiner Augen irritierte sie dermaßen, dass sie sich bemühen musste, ihr Gegenüber nicht weiterhin anzustarren. Auch wenn er nach wie vor kein Quäntchen Freundlichkeit ihr gegenüber bewies, schien ihrem Körper sein Charakter völlig egal zu sein. Im dämmrigen Stalllicht, das die markanten Züge seines Gesichts ein wenig verwischte, wirkte er überaus anziehend. Natürlich verbot sie sich jegliches Interesse an ihm, da Anne und Femke vorhin seine Frau erwähnt hatten und er offensichtlich auch Vater eines kleinen Sohnes war. Zudem war er bisher nicht gerade höflich zu ihr gewesen. Doch sie war Frau genug, um körperlich auf seine männliche Ausstrahlung zu reagieren. Auch wenn er schroff wie ein Reibeisen war, strahlte er dennoch Kraft, Kompetenz und Selbstbewusstsein aus.

Ganz in ihren Gedanken versunken, hatte sie gar nicht mitbekommen, dass er etwas gesagt hatte.

»Wie bitte?« Ella hob den Kopf und schaute ihn wieder an.

»Reiten Sie?«

»Ein bisschen, leider nicht besonders häufig. Ich wohne nicht lange genug an einem Ort, um einem festen Hobby nachzugehen, geschweige denn ein Pferd zu haben.«

»Warum?«

Dass er so wortkarg war, machte das Gespräch nicht gerade einfach, von Freundlichkeit war nach wie vor nichts zu erkennen. Bisher hatte er ihr gegenüber nicht einmal die Andeutung eines Lächelns gezeigt. Im Gegenteil, sein Gesicht wirkte ernst und verschlossen.

»Ich bin Försterin, mache aber bisher nur Vertretungen«, begann sie ihm ihre Situation zu erklären. »Also, ich wechsele alle paar Monate das Revier und ziehe kreuz und quer durch Niedersachsen. Doch ich freue mich immer, wenn sich mal die Möglichkeit zum Reiten ergibt.«

»Der Haflinger-Mix dort vorn gehört Levke, Annes Freundin, und daneben steht Alvar, Annes Wallach«, meinte er zu ihr, ohne auf das Gesagte einzugehen. Dann machte er ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging weiter in den Stall hinein. Vor einem Rotfuchs mit lebhaften, freundlichen Augen blieb er stehen. Es war eine Stute. Ihren Kopf, den sie neugierig über das Gatter streckte, schmückte eine breite Blesse.

»Das ist Hazel. Sie gehört mir.«

»Sie ist wunderschön«, erwiderte Ella und streckte die Hand aus, damit Hazel daran schnuppern konnte. Die Stute pustete ihr warme Luft über die Haut, und Ella strich ihr über das samtene weiche Fell über ihren Nüstern.

»Also gut. Ich muss die Pferde jetzt füttern. Man sieht sich.« Clemens wandte sich um und eilte in Richtung Futterkammer davon.

Komischer Kauz, dachte Ella, während sie ihm nachsah.

Erneut wandte sie ihre Aufmerksamkeit der jungen Stute zu, die sie freundlich mit der Nase anstupste und zum Streicheln aufforderte. Sanft strich Ella ihr über den Kopf. Sie liebte Tiere, doch bei ihrem Lebensstil erschien es ihr sinnlos, sich zu sehr an sie zu binden. Außer Paula gab es wenige Konstanten in Ellas Leben, was menschliche oder tierische Begleiter betraf. Das trainierte man automatisch, wenn man sich alle paar Monate von Liebgewonnenem trennen musste.

Rasch wandte sie sich ab und verließ den Stall. Sosehr sie ihr Vagabundendasein auch genoss, es gab leider auch einige Dinge, auf die sie verzichten musste.

Kapitel 2

Auch der Montag brachte keine Wetterbesserung. Es schien, als wolle der April noch nicht loslassen, und so hatten sie einen Mix aus Sonne, Wind und Nieselregen. Selbst wenn die Touristen auf die Sonne warteten, freute sie sich als Försterin über jeden Tropfen Regen, denn der Boden in den tieferen Regionen war durch die Dürre der letzten Jahre noch komplett ausgetrocknet.

Sie wusste schon seit einigen Wochen, dass sie hier die Vertretung übernehmen würde, da der Kollege, für den sie einsprang, bereits seit Längerem erkrankt war und nun noch eine Reha antreten würde. Befürchtend, dass Connie sie sofort bei sich einquartieren würde, sobald sie von ihrem bevorstehenden Aufenthalt in Ostfriesland wüsste, hatte sie sich bei ihren vorbereitenden Besuchen ausschließlich auf das Revier konzentriert und sich nur mit dem Revierförster und seinen Mitarbeitern über die laufenden Aufgaben ausgetauscht. Von daher war sie gut informiert und konnte heute ohne Verzögerung einsteigen. Vorhin hatte sie im Kollrunger Forst begonnen und mit einem Holzrücker den Abtransport von Jungholz besprochen. Danach war sie hierher in den Schafhauser Wald gefahren, um nach den Arbeiten der Forstwirte zu sehen, die damit beschäftigt waren, Brombeerhecken zu entfernen, die auf einer Schonung junger Douglasien wucherten und die jungen Bäume in der Entwicklung behinderten.

Alltägliche Aufgaben, doch im Moment kam für sie erschwerend hinzu, dass ihr die Wälder noch nicht so richtig vertraut waren und sie die Forstwirte und Rücker kaum kannte. Von daher war sie durchweg angespannt und konzentriert, sodass ihr inzwischen der Kopf brummte.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Geländewagen zwang sie sich dazu, langsam zu laufen und ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen, um den Kopf ein wenig freizukriegen. Die unterschiedlichen Grüntöne des frischen Laubs, das dunkle Grün der Nadelbäume, dazu das hervorblitzende Blau des Himmels, als eine dunkle Regenwolke weiterzog. Sie atmete tief ein und genoss den würzigen Duft des frischen Harzes, der sich mit dem Aroma des feuchten Bodens mischte. Sofort spürte sie, wie die Anspannung nachließ. Für sie ging nichts über einen Gang mit Paula durch den Wald.

Ella bückte sich, griff nach einem abgefallenen Buchenblatt und hielt es in die Sonne. Ähnlich wie in einem Kaleidoskop – durch das Blattskelett in viele kleine Mosaiksteinchen aufgeteilt – präsentierte sich das helle Grün wie ein Kunstwerk von Gerhard Richter. Die Natur brachte eine unglaubliche Schönheit hervor, wenn man sich die Zeit nahm, genau hinzuschauen.

Als sie sich ihrem Wagen und einem Stapel gefällter Baumstämme näherte, die auf der kleinen Lichtung am Waldweg zwischengelagert wurden, sah sie einen Wanderer, der die Stämme nachdenklich betrachtete.

»Guten Tag«, begrüßte sie ihn.

»Hallo«, antwortete er freundlich. »Ist das alles wegen der Borkenkäfer gefällt worden?«

Ella schüttelte den Kopf. »Nein, das ist Durchforstungsholz, das anderen Bäumen das Licht nimmt.«

»Aber in den Medien hört man doch immer von der Borkenkäferplage. Haben Sie die hier nicht auch?«

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