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Der russische Spion

Als Buch hier erhältlich:

Gabriel Allon jagt das Vermächtnis des Jahrhundertspions Kim Philby

Eine Routineoperation endet im Chaos: Gabriel Allon und sein Team überwachen zusammen mit Agenten des MI6 einen russischen Überläufer in Wien. Er ist auf dem Weg in ein sicheres Haus der Briten. Doch kurz bevor er das Gebäude erreicht, wird der Mann von einem vermummten Motorradfahrer auf offener Straße hingerichtet. Tags darauf berichten Medien weltweit über den erschossenen Russen und zeigen ein Foto von Gabriel in der Nähe des Tatorts. Allon ist sich sicher: Es muss einen Verräter in den eigenen Reihen geben. Gabriel setzt nun alles daran, ihn zu enttarnen, auch wenn es ihn das Vertrauen seiner Verbündeten kosten sollte.

  • »Ein weiteres Juwel in der funkelnden Krone des Meisters der Spionage.« Booklist
  • »Auch das 18. Abenteuer der Allon-Reihe kann man nicht mehr aus der Hand legen, denn es ist maßlos spannend.« Hörzu
  • »Ein weiterer Zacken in der goldenen Krone des US-Thrillemeisters.« TV Star

  • Erscheinungstag: 14.10.2019
  • Aus der Serie: Gabriel Allon
  • Bandnummer: 18
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673211

Leseprobe

Ein weiteres Mal für meine Frau Jamie und
meine Kinder Nicholas und Lily

PROLOG

MOSKAU 1974

Der Wagen war eine ZIL-Limousine, lang und schwarz mit Plisseevorhängen im Heckfenster. Vom Flughafen Scheremetjewo kommend, raste er auf einer Mitgliedern des Politbüros und des Zentralkomitees vorbehaltenen Fahrspur nach Moskau hinein. Es war schon dunkel, als sie ihren Bestimmungsort erreichten: einen nach einem russischen Dichter benannten Platz an den Patriarchenteichen in einem Altstadtbezirk. Sie gingen durch Gassen im Mondschein weiter, das Kind und die beiden Männer in grauen Anzügen, bis sie zu einer Kapelle unter einheimischen Platanen kamen. Das Apartmentgebäude stand auf der gegenüberliegenden Seite einer Gasse. Sie betraten es durch eine hölzerne Haustür und quetschten sich in den Aufzug, der sie zu einem düsteren Vorraum hinaufbrachte. Dort begann eine Treppe. Das Kind zählte aus Gewohnheit die Stufen. Es waren fünfzehn. Auf dem Treppenabsatz standen sie vor einer weiteren Tür. Diese war mit abgestepptem Leder gepolstert. Dort stand ein gut gekleideter Mann mit einem Drink in der Hand. Etwas an seinem ruinierten Gesicht wirkte vertraut. Er sagte lächelnd ein einziges russisches Wort. Es sollte viele Jahre dauern, bis das Kind die Bedeutung dieses Worts verstand.

TEIL EINS

NACHTZUG NACH WIEN

1

BUDAPEST

Nichts von allem hätte sich ereignen müssen – nicht die verzweifelte Suche nach dem Verräter, nicht die widerwilligen Allianzen, nicht die unnötigen Tode –, wäre der arme Heathcliff nicht gewesen. Er war ihre tragische Gestalt, verkörperte ihr gebrochenes Versprechen. Letzten Endes würde er sich als weitere Kerbe in Gabriels Gewehrkolben erweisen. Trotzdem wäre es Gabriel lieber gewesen, Heathcliff weiter als Aktivposten zu haben. Agenten wie Heathcliff begegnete man nicht täglich, meist in einer Laufbahn nur einmal, selten zweimal. Das lag in der Natur des Spionagegeschäfts, klagte Gabriel manchmal. So war das Leben.

Heathcliff war nicht sein richtiger Name; er sei willkürlich von einem Computer erzeugt worden, behaupteten seine Agentenführer. Das Programm wählte bewusst einen Decknamen, der keine Rückschlüsse auf den wahren Namen, die Nationalität oder den Beruf des Agenten zuließ. In dieser Beziehung hatte es seinen Auftrag erfüllt. Der Mann, dem der Name Heathcliff übergestülpt worden war, war weder ein Findelkind noch ein hoffnungsloser Romantiker. Noch war er verbittert oder nachtragend oder von Natur aus gewalttätig. Tatsächlich hatte er mit Emily Brontës Heathcliff nichts gemeinsam außer seinem dunklen Teint, weil seine Mutter aus der SSR Georgien stammte. Aus derselben Republik, das betonte sie stolz, wie der Genosse Stalin, dessen Porträt noch immer im Wohnzimmer ihres Moskauer Apartments hing.

Heathcliff beherrschte Englisch jedoch in Wort und Schrift und liebte den viktorianischen Roman. Tatsächlich hatte er mit dem Gedanken gespielt, englische Literatur zu studieren, bevor er zur Besinnung gekommen war und sich an der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität eingeschrieben hatte, die unter den angesehensten russischen Universitäten den zweiten Platz belegte. Sein Studienberater war zugleich ein Talentscout des Auslandsnachrichtendiensts SWR, und Heathcliff wurde nach dem Diplom eingeladen, in die SWR-Akademie einzutreten. Seine überglückliche Mutter stellte vor dem Porträt des Genossen Stalin eine Vase mit Blumen auf. »Er wacht über dich«, sagte sie. »Eines Tages wirst du ein Mann, mit dem man rechnen muss. Ein Mann, den man fürchtet.« Seine Mutter fand, für einen Mann gebe es nichts Erstrebenswerteres.

Die meisten Anwärter wollten später in einer Residentura, einer SWR-Station im Ausland, Dienst tun, um dort Agenten anzuwerben und zu führen. Um dabei Erfolg zu haben, musste man ein bestimmter Offizierstyp sein: forsch, selbstbewusst, gesprächig, geistesgegenwärtig, ein geborener Verführer. Heathcliff besaß leider keine dieser Eigenschaften. Und ihm fehlten auch die körperlichen Voraussetzungen für einige der unappetitlichen SWR-Jobs. Seine Stärken waren seine Sprachbegabung – er sprach fließend Deutsch, Holländisch und Englisch – und sein Gedächtnis, das selbst nach den hohen SWR-Standards phänomenal war. Deshalb ließ man ihm die Wahl, was in dem hierarchischen SWR-Kosmos selten war: Er konnte als Übersetzer in der Moskauer Zentrale arbeiten oder als Kurier im Außendienst tätig sein. Er entschied sich für Letzteres, womit er sein Schicksal besiegelte.

Diese Arbeit war nicht glamourös, aber sehr wichtig. Mit seinen vier Sprachen und einem Aktenkoffer voller falscher Pässe bereiste er im Auftrag des Vaterlandes die Welt als heimlicher Botenjunge, als verdeckt arbeitender Postbote. Er leerte tote Briefkästen, stopfte Bargeld in Bankschließfächer und hatte gelegentlich sogar Kontakt mit echten Agenten im Sold der Moskauer Zentrale. Für ihn war es nicht ungewöhnlich, dreihundert Nächte im Jahr außerhalb Russlands zu verbringen, was ihn für eine Ehe oder auch nur eine ernsthafte Beziehung untauglich machte. In Moskau schickte die SWR ihm Gespielinnen – schöne junge Mädchen, die ihn unter normalen Umständen keines Blickes gewürdigt hätten –, aber auf Reisen litt er manchmal anfallsartig unter intensiver Einsamkeit.

Während einer dieser Episoden war er in einer Hamburger Hotelbar seiner Catherine begegnet. Sie trank Weißwein an einem Ecktisch: eine attraktive Mittdreißigerin mit hellbraunem Haar und sonnengebräunten Armen und Beinen. Heathcliff hatte Befehl, auf Dienstreisen solche Frauen zu meiden. Sie waren unweigerlich feindliche Agentinnen oder Prostituierte im Sold ausländischer Dienste. Aber Catherine sah nicht danach aus. Und als sie Heathcliff über ihr Handy hinweg ansah und ihm zulächelte, durchzuckte ihn ein Stromstoß, der von seinem Herzen direkt in seinen Unterleib ging.

»Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?«, fragte sie. »Ich trinke nicht gern allein.«

Sie hieß nicht Catherine, sondern Astrid. Zumindest war das der Name, den sie ihm ins Ohr flüsterte, während sie mit einem Fingernagel leicht über die Innenseite seines Oberschenkels fuhr. Sie war Niederländerin, was bedeutete, dass Heathcliff, der sich als russischer Geschäftsmann ausgab, sich in ihrer Muttersprache mit ihr unterhalten konnte. Nach mehreren gemeinsamen Drinks lud sie sich in Heathcliffs Zimmer ein, in dem er sich sicher fühlte. Am Morgen danach wachte er schwer verkatert auf, was für ihn ungewöhnlich war – und ohne sich an einen Liebesakt erinnern zu können. Astrid hatte inzwischen schon geduscht und war in einen Frotteebademantel gewickelt. Bei Tageslicht war ihre bemerkenswerte Schönheit noch augenfälliger.

»Bist du heute Abend frei?«, fragte sie.

»Ich sollte nicht.«

»Warum nicht?«

Er wusste keine Antwort.

»Aber du musst mich richtig ausführen. Zu einem schönen Dinner. Anschließend vielleicht in eine Disco.«

»Und dann?«

Sie öffnete ihren Bademantel, ließ zwei perfekt geformte Brüste sehen. Trotz aller Mühe konnte Heathcliff sich jedoch nicht daran erinnern, sie liebkost zu haben.

Sie tauschten ihre Handynummern aus, was ebenfalls verboten war, und trennten sich. An diesem Tag hatte Heathcliff in Hamburg zwei Aufträge zu erledigen, die mehrere Stunden »Reinemachen« erforderten, bis feststand, dass er nicht beschattet wurde. Als er den zweiten Auftrag beendete – die routinemäßige Leerung eines toten Briefkastens –, erhielt er eine SMS mit dem Namen eines schicken Restaurants an der Alster. Bei seiner Ankunft zur vereinbarten Zeit saß Astrid bereits strahlend an ihrem Tisch und hatte eine grässlich teure Flasche Montrachet geöffnet vor sich. Heathcliff runzelte die Stirn; diesen Wein würde er selbst bezahlen müssen. Die Moskauer Zentrale kontrollierte seine Abrechnungen sorgfältig und tadelte jede Überschreitung seines Spesensatzes.

Astrid schien sein Unbehagen zu spüren. »Keine Sorge, heute lade ich ein.«

»Ich dachte, ich sollte dich richtig ausführen.«

»Habe ich das wirklich gesagt?«

In diesem Augenblick wurde Heathcliff klar, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Sein Instinkt riet ihm zur Flucht, aber er wusste, dass ihm das nichts nützen würde; sein Schicksal war besiegelt. Also blieb er in dem Restaurant und dinierte mit der Frau, die ihn verraten hatte. Ihre Unterhaltung war stockend und gestelzt – der Stoff eines schlechten TV-Dramas –, und als die Rechnung kam, zahlte Astrid. Natürlich in bar.

Draußen wartete eine Limousine. Heathcliff erhob keine Einwände, als Astrid ihn ruhig aufforderte, mit ihr hinten einzusteigen. Er protestierte auch nicht, als die Fahrt von seinem Hotel wegführte. Der Fahrer war offensichtlich ein Profi; er sprach kein Wort, während er mit mehreren Tricks aus dem Lehrbuch sicherstellte, dass sie nicht verfolgt wurden. Astrid verbrachte die Zeit damit, Textnachrichten zu verschicken und zu empfangen. Mit Heathcliff wechselte sie kein Wort.

»Haben wir uns eigentlich …«

»Geliebt?«, fragte sie.

»Ja.«

Sie starrte aus dem Fenster.

»Gut«, sagte er. »So ist’s besser.«

Ihr Bestimmungsort war ein kleines Haus am Meer. Drinnen wartete ein Mann, der Heathcliff in deutsch gefärbtem Englisch ansprach. Er stellte sich als Marcus vor und sagte, er arbeite für einen westlichen Geheimdienst, dessen Namen er nicht nannte. Dann legte er Heathcliff mehrere streng geheime Schriftstücke vor, die Astrid letzte Nacht aus seinem abgeschlossenen Aktenkoffer kopiert habe, während er von ihren K.-o.-Tropfen bewusstlos gewesen sei. Heathcliff werde weitere Dokumente dieser Art liefern, sagte Marcus, und noch viel, viel mehr. Sonst würden Marcus und seine Kollegen dieses Material dazu benutzen, Heathcliff bei der Moskauer Zentrale als Spion zu denunzieren.

Anders als sein Namensvetter war Heathcliff weder verbittert noch nachtragend. Er kehrte eine halbe Million Dollar reicher nach Moskau zurück und wartete auf seinen nächsten Auftrag. Die SWR schickte ihm ein schönes junges Mädchen in sein Apartment auf den Sperlingsbergen. Als sie sich als Ekaterina vorstellte, wurde Heathcliff vor Angst fast ohnmächtig. Er machte ihr ein Omelett und schickte sie unberührt fort.

Die Lebenserwartung eines Mannes in Heathcliffs Position war nicht hoch. Auf Verrat stand die Todesstrafe. Aber ihn erwartete kein schneller, sondern ein qualvoller Tod. Wie alle SWR-Angehörigen hatte Heathcliff viele Geschichten gehört. Auch von erwachsenen Männern, die um eine Kugel gebettelt hatten, die ihre Leiden beenden würde. Irgendwann würde sie kommen – nach russischer Art als Genickschuss. Wysschaja mera, »Höchststrafe«, nannte die SWR diese Hinrichtungsart. Heathcliff war entschlossen, ihnen niemals in die Hände zu fallen. Von Marcus ließ er sich eine Zyankalikapsel besorgen. Ein kräftiger Biss würde genügen. Zehn Sekunden, dann war alles vorbei.

Von Marcus bekam Heathcliff auch einen Geheimsender, mit dem er Berichte via Satellit als verschlüsselte Microbursts absetzen konnte. Heathcliff benutzte ihn jedoch selten, weil er es vorzog, sich auf seinen Auslandsreisen mit Marcus zu treffen. Dabei ließ er Marcus den Inhalt seines Aktenkoffers fotografieren, aber vor allem redeten sie miteinander. Heathcliff war kein wichtiger Mann, aber er arbeitete für wichtige Männer und transportierte ihre Geheimnisse. Außerdem kannte er russische tote Briefkästen in aller Welt, deren Koordinaten sein Ausnahmegedächtnis bereithielt. Heathcliff hütete sich davor, zu viel zu schnell preiszugeben – um seiner selbst und seines rasch anwachsenden Bankkontos willen. Aus einer halben Million wurde binnen eines Jahres eine Million. Dann zwei. Und dann drei.

Heathcliffs Gewissen blieb rein – er war ein Mann ohne ideologische oder politische Überzeugungen –, aber er hatte Tag und Nacht Angst. Er fürchtete, die Moskauer Zentrale wisse von seinem Verrat und überwache ihn auf Schritt und Tritt. Er fürchtete, ein Geheimnis zu viel verraten zu haben oder in Gefahr zu sein, von einem der Spione des Zentrums im Westen verraten zu werden. Bei zahlreichen Gelegenheiten drängte er Marcus, ihn aus der Kälte heimzuholen. Marcus weigerte sich jedoch – manchmal mit etwas beruhigendem Balsam, manchmal mit Peitschenknallen. Heathcliff sollte weiterspionieren, bis sein Leben tatsächlich in Gefahr war. Erst dann würde er überlaufen dürfen. Er zweifelte zu Recht an Marcus’ Fähigkeit, den exakten Zeitpunkt vorherzusehen, an dem das Schwert herabstoßen würde, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Marcus hatte ihn durch Erpressung gefügig gemacht. Und Marcus würde ihm seine letzten Geheimnisse abpressen, bevor er ihn aus seiner Knechtschaft entließ.

Aber nicht alle Geheimnisse sind gleich wertvoll. Manche sind banal, alltäglich, und können ohne große Gefahr für den Überbringer weitergegeben werden. Andere sind jedoch viel zu gefährlich, um verraten werden zu können. Ein Geheimnis dieser Art fand Heathcliff letztlich in einem toten Briefkasten im fernen Montreal. In Wirklichkeit war der Briefkasten eine leer stehende Wohnung, die ein russischer Illegaler, der als Schläfer in den Vereinigten Staaten lebte, gemietet hatte. In dem Schrank unter dem Küchenspülbecken war ein USB-Stick versteckt. Heathcliff hatte den Auftrag, ihn quasi unter den Augen der mächtigen amerikanischen National Security Agency abzuholen und in die Moskauer Zentrale zurückzubringen. Bevor er die Wohnung verließ, steckte er den USB-Stick in sein Notebook und sah erstaunt, dass der Inhalt unverschlüsselt war. So konnte Heathcliff nach Belieben in den Schriftstücken blättern. Sie stammten von verschiedenen amerikanischen Geheimdiensten und waren ausnahmslos als Top Secret eingestuft.

Heathcliff wagte nicht, das Material zu kopieren. Stattdessen speicherte er alle Details in seinem phänomenalen Gedächtnis und kehrte in die Moskauer Zentrale zurück, in der er den USB-Stick seinem Führungsoffizier übergab, wobei er das Versäumnis des Illegalen, den Inhalt zu verschlüsseln, scharf rügte. Der Agentenführer, ein Mann namens Wolkow, versprach ihm, sich darum zu kümmern. Dann bot er Heathcliff als Belohnung einen stressarmen Ausflug nach Budapest an. »Sozusagen ein All-inclusive-Urlaub auf Kosten der Zentrale. Nimm’s mir nicht übel, Konstantin, aber du siehst aus, als hättest du etwas Erholung nötig.«

Am selben Abend benutzte Heathcliff den Geheimsender, um Marcus mitzuteilen, er habe ein so wichtiges Geheimnis entdeckt, dass ihm keine andere Wahl bleibe, als überzulaufen. Zu seiner großen Überraschung erhob Marcus keine Einwände. Er wies Heathcliff an, den Sender so zu entsorgen, dass er nie gefunden werden würde. Heathcliff zertrümmerte ihn und warf die Bruchstücke in einen Gully. Dort würden ihn selbst die Bluthunde der SWR-Hauptverwaltung mit Sicherheit nicht suchen, rechnete er sich aus.

Nach einem letzten Besuch bei seiner Mutter in ihrer winzigen Wohnung, die von dem finsteren Porträt des stets wachsamen Genossen Stalin beherrscht wurde, verließ Heathcliff Russland endgültig. Am Spätnachmittag traf er bei leichtem Schneefall in Budapest ein und nahm ein Taxi zum Hotel Intercontinental. Dort bekam er ein Zimmer mit Donaublick. Er schloss seine Tür zweimal ab und hakte die Sicherungskette ein, dann setzte er sich an den Schreibtisch und wartete darauf, dass sein Handy klingeln würde. Daneben lag Marcus’ Zyankalikapsel. Ein kräftiger Biss würde genügen. Zehn Sekunden. Dann würde alles vorbei sein.

2

WIEN

Zweihundertfünfzig Kilometer nordwestlich, weniger als drei Autostunden entfernt, näherte eine Ausstellung mit Werken von Peter Paul Rubens – Künstler, Gelehrter, Diplomat, Spion – sich allmählich ihrem melancholischen Ende. Die mit Bussen herangekarrten Horden waren wieder verschwunden, und an diesem Spätnachmittag waren nur mehr wenige Stammbesucher des alten Museums zögernd in seinen rosenfarbenen Sälen unterwegs. Einer von ihnen war ein Mann in späten mittleren Jahren. Er begutachtete die riesigen Leinwände mit üppigen Akten in ausschweifenden historischen Szenen unter dem Schirm einer flachen Mütze hervor, die er tief in die Stirn gezogen trug.

Schräg hinter ihm stand ein jüngerer Mann, der ungeduldig auf seine Armbanduhr sah. »Wie lange noch, Boss?«, fragte er sotto voce auf Hebräisch. Der Angesprochene antwortete jedoch auf Deutsch – und laut genug, damit der gelangweilte Aufseher in einer Ecke ihn hören konnte. »Danke, ich möchte mir nur noch ein Gemälde ansehen, bevor ich gehe.«

Er ging in den nächsten Saal weiter und blieb vor einer Madonna mit Kind, Öl auf Leinwand, 137 x 111 cm, stehen. Dieses Gemälde kannte er sehr gut: Er hatte es in West Cornwall in einem Cottage am Meer restauriert. Jetzt ging er leicht in die Knie, um die Oberfläche bei schräg einfallendem Licht zu begutachten. Seine Arbeit hatte sich gut gehalten. Wenn ich das nur auch von mir sagen könnte, dachte er, indem er sich die feurig schmerzende Stelle in seinem Kreuz rieb. Die beiden gebrochenen Rückenwirbel waren seine neueste Verwundung. In seiner langen, ruhmreichen Laufbahn als Agent des israelischen Geheimdiensts war Gabriel zweimal in die Brust geschossen, von einem wachsamen Schäferhund angefallen und in der Moskauer Lubjanka mehrere Treppen hinuntergestoßen worden. Nicht einmal Ari Schamron, sein legendärer Mentor, konnte mit so vielen Verwundungen konkurrieren.

Sein jüngerer Begleiter, der Gabriel durch die Säle des Museums folgte, hieß Oren. Er befehligte Gabriels Personenschützer – eine unerwünschte Folge einer kürzlichen Beförderung. Sie waren seit sechsunddreißig Stunden auf Reisen: erst mit dem Flugzeug von Tel Aviv nach Paris, dann mit dem Auto von Paris nach Wien. Jetzt gingen sie durch die leeren Bildersäle zum Ausgang des Museums. Draußen hatte es zu schneien begonnen, große, lockere Flocken, die in der windstillen Nacht senkrecht herabschwebten. Ein gewöhnlicher Tourist hätte das Bild, wie die Trambahnen auf überzuckerten Straßen an leeren Kirchen und Palästen vorbeiglitten, malerisch finden können. Nicht jedoch Gabriel. Wien deprimierte ihn jedes Mal, vor allem bei Schneefall.

Am Randstein stand ihre Limousine mit dem Fahrer am Steuer. Gabriel klappte den Kragen seiner alten Barbour-Jacke hoch und erklärte Oren, er wolle zu Fuß zu der sicheren Wohnung zurückgehen.

»Allein«, fügte er hinzu.

»Ich darf Sie nicht unbegleitet in Wien herumlaufen lassen, Boss.«

»Warum nicht?«

»Weil Sie jetzt der Direktor sind. Und wenn Ihnen irgendwas zustößt …«

»Dann sagen Sie, dass Sie nur einen Befehl ausgeführt haben.«

»Genau wie die Österreicher.« In der Dunkelheit hielt der Bodyguard Gabriel eine 9-mm-Jericho hin. »Nehmen Sie wenigstens die hier mit.«

Gabriel steckte die Pistole in seinen Hosenbund. »In einer halben Stunde bin ich in der sicheren Wohnung. Wenn ich dort bin, benachrichtige ich den King Saul Boulevard.«

Am King Saul Boulevard residierte der israelische Geheimdienst unter einem langen, bewusst irreführenden Namen, der nichts mit der wahren Natur seiner Arbeit zu tun hatte. Sogar der Direktor nannte ihn nie anders als den Dienst.

»Dreißig Minuten«, sagte Oren nachdrücklich.

»Keine Minute länger«, versprach Gabriel.

»Und wenn Sie sich verspäten?«

»Dann bin ich vom IS, den Russen, der Hisbollah, den Iranern oder sonst jemandem, den ich gegen mich aufgebracht habe, entführt oder ermordet worden. Meine Überlebenschancen würde ich als ziemlich gering einschätzen.«

»Was ist mit uns?«

»Sie kommen schon zurecht, Oren.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Lassen Sie sich nicht in der Nähe der sicheren Wohnung blicken«, sagte Gabriel. »Bleiben Sie in Bewegung, bis Sie von mir hören. Und versuchen Sie nicht, mir zu folgen! Das ist ein Befehl, verstanden?«

Der Bodyguard starrte Gabriel schweigend, aber sichtlich besorgt an.

»Was haben Sie, Oren?«

»Wissen Sie bestimmt, dass Sie keinen Begleiter wollen, Boss?«

Gabriel wandte sich wortlos ab und verschwand in der Nacht.

Er überquerte den Burgring und ging auf einem der Wege durch den Volksgarten weiter. Er war leicht unterdurchschnittlich groß – nur knapp einen Meter siebzig, nicht mehr – und hatte den hageren Körper eines Radrennfahrers. An seinem langen Gesicht waren die hohen Wangenknochen, eine wie aus Holz geschnitzte schmale Nase und das schmale Kinn bemerkenswert. Er hatte fast unnatürlich grüne Augen und schwarzes, an den Schläfen grau meliertes Haar. Sein Gesicht passte zu vielen Nationalitäten, und Gabriel besaß die linguistischen Talente, um es gut nutzen zu können. Er beherrschte fünf Sprachen fließend – auch Italienisch, das er gelernt hatte, bevor er Mitte der siebziger Jahre nach Venedig gegangen war, um sich zum Restaurator ausbilden zu lassen. Danach hatte er als der schweigsame, aber begabte Restaurator Mario Delvecchio gelebt, während er gleichzeitig als Agent und Profikiller für den Dienst gearbeitet hatte. Einige seiner größten Erfolge waren mit Wien verknüpft. Leider auch einige seiner größten Misserfolge.

Am Burgtheater, der berühmtesten Sprechbühne im deutschsprachigen Raum, vorbeigehend erreichte er die Bankgasse und folgte ihr bis zum Café Central, einem der bekanntesten Kaffeehäuser Wiens. Dort warf er einen Blick durch die beschlagenen Scheiben und glaubte, an einem der Tische Erich Radek – ein Kollege Adolf Eichmanns, der Gabriels Mutter gequält hatte – allein bei einem Einspänner sitzen zu sehen. Der Mörder Radek wirkte undeutlich und verschwommen wie eine Gestalt auf einem Gemälde, das dringend restauriert werden musste.

»Wissen Sie bestimmt, dass wir uns nicht kennen? Ihr Gesicht kommt mir sehr bekannt vor.«

»Das bezweifle ich ernstlich.«

»Vielleicht sehen wir uns mal wieder.«

»Vielleicht.«

Das Bild löste sich auf. Gabriel wandte sich ab und ging ins alte Judenviertel weiter. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte es eine der dynamischsten jüdischen Gemeinden der Welt beherbergt. Jetzt existierte diese Gemeinde fast nur noch in der Erinnerung. Er beobachtete, wie ein paar alte Männer aus dem unauffälligen Eingang des Stadttempels, der Wiener Hauptsynagoge, geschlurft kamen, dann ging er zu einem von Restaurants gesäumten Platz weiter. Eines davon war das italienische Restaurant, in dem er sein letztes Mahl mit seiner ersten Frau Leah und Daniel, ihrem einzigen Kind, eingenommen hatte.

In einer Seitenstraße sah er die Stelle, an der ihr Wagen geparkt gewesen war. Von Erinnerungen fast gelähmt ging Gabriel unwillkürlich langsamer. Er erinnerte sich daran, wie er mit den Kindersitzgurten seines Sohns gekämpft hatte – und dass Leahs Lippen bei ihrem flüchtigen Abschiedskuss nach Wein geschmeckt hatten. Und er wusste noch, wie der Motor nicht gleich angesprungen war, weil der Zünder der Autobombe viel Batteriestrom verbrauchte. Er hatte Leah zu spät zugerufen, keinen zweiten Startversuch zu machen. Dann hatte er sie und den Jungen in einem weißen Lichtblitz für immer verloren.

Gabriels Herz hämmerte gegen seine Rippen. Nicht jetzt, ermahnte er sich, während seine Tränen die Straße verschwimmen ließen, du hast Arbeit zu tun! Er hob sein Gesicht dem Himmel entgegen.

Sieh nur den Schnee, Gabriel. Ist er nicht schön? Auf Wien fällt Schnee, während es auf Tel Aviv Raketen regnet …

Er sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass er in zehn Minuten in der sicheren Wohnung sein musste. Als er auf fast menschenleeren Straßen weiterhastete, bedrückte ihn das überwältigende Gefühl einer kommenden Katastrophe. Das liegt nur am Wetter, redete er sich ein. Wien deprimierte ihn immer. Niemals mehr als bei Schneefall.

3

WIEN

Die sichere Wohnung lag jenseits des Donaukanals in einem schönen Biedermeierhaus im 2. Bezirk. Dies war ein lebhafteres Viertel, ein richtiger Wohnbezirk statt eines Museums. Hier gab es einen kleinen Spar-Markt, eine Apotheke, mehrere asiatische Restaurants, sogar einen buddhistischen Tempel. Auf den Straßen verkehrten Autos und Motorräder, auf den Gehsteigen waren Fußgänger unterwegs. In dieser Umgebung würde kein Mensch den Direktor des israelischen Geheimdiensts beachten. Oder einen russischen Überläufer, dachte Gabriel.

Er benutzte einen Durchgang, überquerte einen Innenhof und betrat den Eingangsbereich des Hinterhauses. Die Treppe war nur schwach beleuchtet, und im dritten Stock stand eine Wohnungstür einen Spalt weit offen. Gabriel schlüpfte hindurch, schloss die Tür hinter sich und ging leise ins Wohnzimmer weiter, in dem Eli Lavon vor einer Reihe aufgeklappter Notebooks saß. Lavon hob den Kopf, sah den Schnee auf Gabriels Mütze und Schultern und runzelte die Stirn.

»Erzähl mir bitte, dass du nicht zu Fuß gegangen bist.«

»Der Wagen hatte eine Panne. Ich konnte nicht anders.«

»Dein Bodyguard erzählt die Geschichte anders. Am besten meldest du dich gleich beim King Saul Boulevard zurück. Sonst wird aus unserem Unternehmen eine Such- und Rettungsaktion.«

Gabriel beugte sich über einen der Computer, tippte eine kurze Mitteilung und übermittelte sie sicher verschlüsselt nach Tel Aviv.

»Krise abgewendet«, sagte Lavon.

Er trug eine Strickjacke unter seinem verknitterten Tweedsakko und einen Krawattenschal um den Hals. Sein schütteres Haar wirkte ungekämmt; seine Gesichtszüge waren nichtssagend und leicht zu vergessen. Das war eine seiner Stärken. Eli Lavon sah wie jemand aus, dem das Leben übel mitgespielt hatte. In Wirklichkeit war er ein geborenes Raubtier, das einen gut ausgebildeten Geheimagenten oder fanatischen Terroristen auf jeder Straße der Welt beschatten konnte, ohne das geringste Aufsehen zu erwecken. Er leitete eine Newiot genannte Abteilung des Diensts. Dort unterstanden ihm Überwachungskünstler, Diebe, Taschendiebe und Agenten, deren Spezialität es war, versteckte Kameras und Wanzen hinter abgesperrten Türen anzubringen. An diesem Abend waren seine Teams in Budapest sehr fleißig gewesen.

Lavon nickte zu einem der Notebooks hinüber. Auf dem Bildschirm saß ein Mann in einem luxuriösen Hotelzimmer am Schreibtisch. Am Fußende des Betts lag ein ungeöffneter Koffer. Vor sich hatte er sein Handy und eine kleine Glaskapsel.

»Ist das ein Foto?«, fragte Gabriel.

»Video.«

Gabriel tippte auf den Bildschirm.

»Sorry, aber er kann dich nicht hören.«

»Weißt du bestimmt, dass er lebt?«

»Er schwebt in Todesangst. Er hat seit fünf Minuten keinen Muskel mehr bewegt.«

»Wovor hat er solche Angst?«

»Er ist Russe«, sagte Lavon, als sei das Erklärung genug.

Gabriel studierte Heathcliff wie eine Gestalt auf einem Gemälde. Er hieß in Wirklichkeit Konstantin Kirow und gehörte zu den wertvollsten Informanten des Diensts. Nur ein kleiner Teil von Kirows Material betraf Israels Sicherheit direkt, aber der gewaltige Überschuss hatte attraktive Dividenden in London und Langley gebracht, wo die Direktoren von MI6 und CIA sich gierig auf alle Geheimnisse aus dem Aktenkoffer des Russen gestürzt hatten. Die Angloamerikaner hatten jedoch nichts umsonst bekommen. Beide Dienste hatten sich an den Kosten dieses Unternehmens beteiligt, und die Briten hatten sich nach intensiver Überzeugungsarbeit bereit erklärt, Kirow in Großbritannien Zuflucht zu gewähren.

Das erste Gesicht, das der Russe jedoch als Überläufer sehen würde, würde Gabriel Allons Gesicht sein. Gabriels Erfahrungen mit dem russischen Geheimdienst und den Männern im Kreml waren lang und blutgetränkt. Deshalb wollte er Kirow jetzt als Erster befragen. Vor allem interessierte ihn, was der Russe angeblich entdeckt hatte und wieso er plötzlich überlaufen zu müssen glaubte. Danach würde Gabriel ihn dem MI6-Stationsleiter in Wien überlassen. Die Briten konnten ihn gern haben. Enttarnte Agenten, vor allem enttarnte russische Agenten, machten unweigerlich nur Scherereien.

Endlich bewegte Kirow sich.

»Gott sei Dank«, sagte Gabriel.

Das Bild auf dem Monitor löste sich sekundenlang in Pixel auf, bevor es wieder normal wurde.

»So geht’s schon den ganzen Abend«, erklärte Lavon Gabriel. »Das Team muss den Sender auf irgendeiner Störungsquelle angebracht haben.«

»Wann war es in seinem Zimmer?«

»Ungefähr eine Stunde vor Heathcliffs Ankunft. Als wir das Überwachungssystem des Hotels gehackt haben, haben wir einen Umweg über die Reservierungen gemacht und uns seine Zimmernummer besorgt. Dort reinzukommen war kein Problem.«

Die Tüftler der Technikabteilung des Diensts hatten eine universal verwendbare Schlüsselkarte entwickelt, mit der sich jede Hotelzimmertür der Welt öffnen ließ. Bei der ersten Berührung wurde der Code entschlüsselt. Die zweite öffnete das Schloss.

»Wann haben die Störungen angefangen?«

»Als er das Zimmer betreten hat.«

»Ist ihm jemand vom Flughafen zum Hotel gefolgt?«

Lavon schüttelte den Kopf.

»Irgendwelche verdächtigen Namen in der Gästeliste?«

»Die meisten Gäste sind wegen einer Konferenz der Vereinigung osteuropäischer Bauingenieure angereist«, sagte Lavon. »Eine Horde von Fachidioten. Massenhaft Kerle mit Taschenschonern.«

»Du warst auch mal einer dieser Kerle, Eli.«

»Bin’s noch immer.« Das Bild wurde wieder zu einem Mosaik. »Verdammt!«, sagte Lavon halblaut.

»Hat das Team die Verbindung kontrolliert?«

»Zweimal.«

»Und?«

»Niemand hört mit. Und selbst wenn jemand die Leitung anzapfen würde, ist das Signal so verschlüsselt, dass ein paar Supercomputer monatelang rechnen müssten, um das Puzzle zusammenzusetzen.« Das Bild stabilisierte sich wieder. »Schon besser!«

»Lass mich die Hotelhalle sehen.«

Lavon tippte auf die Enter-Taste eines anderen Notebooks, das daraufhin die Hotelhalle zeigte. Mit einem Meer aus schlecht sitzenden Anzügen, Namensschildern und zurückweichenden Haaransätzen. Gabriel suchte die Gesichter ab, hielt nach einem Ausschau, das nicht zu den übrigen zu passen schien. Er entdeckte vier – zwei Männer und zwei Frauen. Lavon fotografierte sie mit den in der Hotelhalle angebrachten Kameras und schickte die Bilder nach Tel Aviv. Auf dem Bildschirm des danebenstehenden Notebooks sah Konstantin Kirow auf sein Smartphone.

»Wie lange willst du ihn noch warten lassen?«, fragte Lavon.

»Bis der King Saul Boulevard diese Gesichter mit unserer Datenbank abgeglichen hat.«

»Fährt er nicht bald los, verpasst er seinen Zug.«

»Lieber einen Zug verpassen, als in der Halle des Intercontinental von Killern aus Moskau umgelegt zu werden.« Das Bild löste sich erneut in Pixel auf. Gabriel klopfte irritiert auf den Bildschirm.

»Spar dir die Mühe«, sagte Lavon. »Das hab ich schon probiert.«

Zehn Minuten verstrichen, bevor der Wachhabende am King Saul Boulevard meldete, keines der vier Gesichter sei im digitalen Verbrecheralbum des Diensts mit feindlichen Geheimagenten, bekannten oder mutmaßlichen Terroristen oder privaten Söldnern enthalten. Erst dann schrieb Gabriel auf seinem BlackBerry eine kurze verschlüsselte Nachricht und drückte die Sendetaste. Im nächsten Augenblick war zu sehen, wie Konstantin Kirow nach seinem Smartphone griff. Nachdem der Russe Gabriels Nachricht gelesen hatte, stand er abrupt auf, zog den Mantel an und band sich seinen Schal um. Er steckte das Handy ein, behielt aber die Zyankalikapsel in der Hand. Den Koffer ließ er stehen.

Als Kirow seine Zimmertür öffnete und auf den Korridor hinaustrat, gab Eli Lavon einen kurzen Tastenbefehl ein. Die Überwachungskameras des Hotels folgten ihm auf seinem kurzen Weg zu den Aufzügen. Auf dem Flur waren weder Gäste noch Hotelangestellte unterwegs, und die Kabine, die der Russe betrat, war leer. In der Hotelhalle herrschte jedoch lärmender Betrieb. Niemand schien auf Kirow zu achten, als er das Hotel verließ – auch die beiden bulligen Sicherheitsleute in Lederjacken nicht, die nur Augen für die Straße vor dem Hotel hatten.

Es war kurz vor 20 Uhr. Genügend Zeit für Kirow, den Nachtzug nach Wien zu erreichen, aber er musste in Bewegung bleiben. Zwei von Eli Lavons Leuten beschatteten ihn, als er auf der Apaczai Csere Janos utca nach Süden hastete, um dann auf die Kossuth Lajos utca, eine der großen Geschäftsstraßen Budapests, abzubiegen.

»Meine Jungs sagen, dass er clean ist«, meldete Lavon. »Keine Russen, keine Ungarn.«

Gabriel schickte Konstantin Kirow eine zweite Nachricht, die ihn anwies, wie geplant in den EuroNight Kálmán Imre einzusteigen. Das tat er wie seine Bewacher nur vier Minuten vor Abfahrt des Zuges. Für Gabriel und Lavon gab es jetzt nichts mehr zu tun. Während sie sich stumm anstarrten, dachten beide das Gleiche. Das Warten. Immer das Warten.

4

WIEN HAUPTBAHNHOF

Eli Lavon und Gabriel warteten jedoch nicht allein, denn in dieser Nacht hatten sie einen operativen Partner: Her Majesty’s Secret Intelligence Service, der älteste und großartigste Geheimdienst der zivilisierten Welt. Sechs Agenten seiner sagenumwobenen Wiener Station – über ihre genaue Anzahl würde bald gestritten werden – hielten in einem abhörsicheren Raum der britischen Botschaft nervös Wache, während ein weiteres Dutzend Kollegen im Vauxhall Cross, der Londoner MI6-Zentrale an der Themse, vor Computern und blinkenden Telefonen saßen.

Ein weiterer MI6-Offizier, ein Mann namens Christopher Keller, wartete vor dem Wiener Hauptbahnhof am Steuer eines unauffälligen Volkswagens Passat sitzend. Er hatte leuchtend blaue Augen, sonnengebleichtes Haar, hohe Wangenknochen und ein energisches Kinn mit einem Grübchen. Seine Lippen schienen zu einem ironischen Dauerlächeln verzogen zu sein.

Da Keller an diesem Abend nicht viel mehr zu tun hatte, als auf vorbeikommende russische Agenten zu achten, hatte er über den verschlungenen Weg nachgedacht, der ihn zu diesem Ort geführt hatte. Das vergeudete Jahr in Cambridge, sein verdeckter Einsatz in Nordirland, dann im ersten Golfkrieg der Angriff durch eigene Flugzeuge, der zu seinem selbst gewählten Exil auf Korsika geführt hatte. Dort hatte er fließend Französisch gelernt, das er allerdings mit korsischem Akzent sprach. Und er hatte für einen bekannten korsischen Clanführer Aufträge ausgeführt, die man als Auftragsmorde hätte bezeichnen können. Aber das alles lag hinter ihm. Dank Gabriel Allon war Christopher Keller jetzt ein ehrbarer MI6-Offizier. Er war restauriert.

Keller sah zu dem Israeli auf dem Beifahrersitz hinüber. Er war groß und schlaksig, mit auffällig blassem Teint und Augen wie Gletschereis. Aus seinem Gesichtsausdruck sprach profunde Langeweile. Aber seine nervös auf der Mittelkonsole trommelnden Finger verrieten, wie innerlich angespannt er war.

Keller zündete sich eine Zigarette an, die vierte in zwanzig Minuten, und blies eine Rauchfahne an die Frontscheibe.

»Musst du?«, protestierte der Israeli.

»Ich höre mit dem Rauchen auf, wenn du mit dem verdammten Getrommel aufhörst.« Keller sprach mit einem Oberschichtenakzent aus West London, einem Überbleibsel aus seiner privilegierten Kindheit. »Davon kriege ich Kopfschmerzen.«

Der Israeli hörte zu trommeln auf. Er hieß Michail Abramow. Wie Keller war er ein Veteran einer militärischen Eliteeinheit – in Michails Fall der Sajeret Matkal der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Die beiden hatten schon mehrmals zusammengearbeitet, zuletzt in Marokko, wo sie Saladin, den Kommandeur der IS-Kräfte für Auslandseinsätze, in seinem Versteck im Mittleren Atlas aufgespürt hatten. Keiner von ihnen hatte jedoch den Schuss abgegeben, der Saladins Terrorherrschaft beendet hatte. Gabriel war den beiden Männern zuvorgekommen.

»Warum bist du überhaupt so nervös?«, fragte Keller. »Wir sind mitten im tristen, langweiligen Wien.«

»Ja«, sagte Michail distanziert. »Hier passiert nie etwas.«

Michail, der in Moskau aufgewachsen war, sprach Englisch mit schwachem russischen Akzent. Mit seiner Sprachbegabung und seiner slawischen Erscheinung hatte er sich bei mehreren Operationen als Russe ausgeben können.

»Warst du hier schon mal im Einsatz?«, fragte Keller.

»Erst ein Mal.« Michail kontrollierte seine Waffe, eine 9-mm-Jericho. »Du erinnerst dich an die vier Hisbollah-Kämpfer, die den Stadttempel in die Luft jagen wollten?«

»Ich dachte, den Anschlag hätte das EKO Cobra verhindert.« Das Einsatzkommando Cobra war eine österreichische Spezialeinheit. »Ich erinnere mich sogar, etwas darüber in der Zeitung gelesen zu haben.«

Michail starrte Keller ausdruckslos an.

»Das warst du?«

»Ich hatte natürlich Hilfe.«

»Von jemandem, den ich kenne?«

Michail gab keine Antwort.

»Ah, ich verstehe.«

Es war kurz vor 23.30 Uhr. Der Südtiroler Platz vor der modernen Glasfassade war fast menschenleer, aber ein paar Taxis warteten noch auf letzte Fahrgäste. Eins würde einen russischen Überläufer aufnehmen und zum Best Western Hotel am Stubenring bringen. Von dort aus würde er die letzte Etappe zu der sicheren Wohnung zu Fuß zurücklegen. Ob er tatsächlich eingelassen wurde, würde Michail entscheiden, der ihn zu Fuß beschatten würde. Die Lage der sicheren Wohnung war vermutlich das am besten gehütete Geheimnis dieses Unternehmens.

War Kirow clean, würde Michail ihn im Eingangsbereich durchsuchen, bevor er ihn zu Gabriel hinaufbrachte. Keller sollte im Passat bleiben und den Eingang bewachen – womit, wusste er allerdings nicht. Alistair Hughes, der MI6-Stationsleiter in Wien, hatte ihm ausdrücklich verboten, eine Waffe zu tragen. Keller war als gewalttätig bekannt, Hughes als vorsichtig. Er führte in Wien ein schönes Leben – ein produktives Netzwerk, lange Mittagspausen, gute Beziehungen zu den hiesigen Diensten. Da konnte er kein Problem brauchen, das dazu führen konnte, dass er nach Vauxhall Cross zurückgerufen wurde.

Im nächsten Augenblick vibrierte Michails BlackBerry, als eine Nachricht einging. Der Widerschein des Displays erhellte sein blasses Gesicht. »Der Zug ist eingefahren. Kirow steigt gerade aus.«

»Heathcliff«, sagte Keller tadelnd. »Er heißt Heathcliff, bis er in der sicheren Wohnung ist.«

»Da kommt er schon!«

Michail steckte sein BlackBerry wieder ein, als Kirow aus dem Bahnhofsgebäude kam. Einer von Eli Lavons Bewachern ging vor ihm her, der andere folgte ihm mit einigem Abstand.

»Er sieht nervös aus«, sagte Keller.

»Er ist nervös.« Michails Finger trommelten wieder. »Er ist Russe.«

Die Bewacher gingen zu Fuß davon; Konstantin Kirow nahm ein Taxi. Keller folgte ihm auf fast leeren Straßen in diskretem Abstand durch die Innenstadt nach Norden. Er konnte keinen Hinweis darauf entdecken, dass der russische Kurier beschattet wurde. Michail stimmte ihm zu.

Wenige Minuten nach Mitternacht hielt das Taxi vor dem Best Western. Kirow stieg aus, verschwand aber nicht in dem Hotel, sondern schritt aus und überquerte den Donaukanal auf der Schwedenbrücke – jetzt von Michail zu Fuß verfolgt. Über die Brücke gelangten die beiden Männer auf die Taborstraße, von der Kirow dann auf den Karmeliterplatz, den hübschen Platz vor der Karmeliterkirche, abbog. Dort verringerte Michail den Abstand zu dem Russen auf wenige Schritte.

Gemeinsam überquerten sie die Kleine Sperlgasse und gingen an dunklen Cafés und Geschäften vorbei auf das Biedermeierhaus am Ende des Straßenblocks zu. Hinter einem Fenster im dritten Stock brannte Licht, das hell genug war, um Michail Gabriels Silhouette zu zeigen – mit leicht schief gelegtem Kopf und einer Hand, die sein Kinn umfasste. Michail schickte ihm eine letzte Textnachricht. Kirow war clean.

Dann hörte er das Röhren eines heranrasenden Motorrads. Sein erster Gedanke war, dies sei keine gute Nacht für Zweiradfahrer. Die Bestätigung kam einige Sekunden später, als er das Motorrad um die Ecke vor ihnen schlittern sah.

Der Biker trug schwarzes Leder und einen schwarzen Helm mit heruntergeklapptem Visier. Er kam einige Meter vor Kirow zum Stehen, stellte einen Fuß auf den Asphalt und zog eine Pistole aus seiner Jacke. Auf die Waffe war ein langer zylindrischer Schalldämpfer aufgeschraubt. Michail konnte sie nicht gleich identifizieren, tippte aber auf eine Glock oder Heckler & Koch. Jedenfalls zielte sie mitten in Kirows Gesicht.

Michail ließ das Handy fallen und griff nach seiner Jericho, aber bevor er die Pistole ziehen konnte, spuckte die Waffe des Bikers zwei Flammenzungen. Beide Schüsse trafen. Michail hörte das grässliche Knacken, mit dem die Geschosse Kirows Schädel durchschlugen, und sah eine Wolke aus Blut und Gehirnmasse austreten, als der Russe zusammenbrach.

Der Mann auf der Maschine schwenkte seine Pistole etwas nach links, zielte jetzt auf Michail. Zwei weitere Schüsse, beide gingen fehl, zwangen ihn dazu, sich zu Boden zu werfen, und zwei weitere brachten ihn dazu, kriechend hinter einem geparkten Wagen Schutz zu suchen. Seine rechte Hand umfasste jetzt den Griff der Jericho. Als er sie zog, gab der Motorradfahrer schon wieder Gas.

Er war dreißig Meter von Michail entfernt, nicht mehr, und hatte das Erdgeschoss des Wohngebäudes hinter sich. Michail hielt seine Pistole in beiden Händen, hatte die Ellbogen auf den Kofferraumdeckel des geparkten Wagens gestützt. Trotzdem drückte er nicht ab. Der Dienst gestattete seinen Agenten viele Freiheiten, wenn es um die Verteidigung ihres eigenen Lebens ging. Aber dazu gehörte nicht, dass ein Agent mitten in einer europäischen Großstadt, wo ein Fehlschuss leicht einen Unbeteiligten tödlich treffen konnte, auf einen flüchtenden Täter schoss.

Das Bike raste davon, und das Röhren seines Motors hallte von den Fassaden der Häuserschlucht wider. Michail beobachtete es über Kimme und Korn seiner Jericho hinweg, bis es verschwunden war. Dann hastete er zu dem zusammengebrochenen Kirow hinüber. Der Russe war sofort tot gewesen. Die beiden Treffer hatten sein Gesicht fast völlig zerstört.

Michail sah zu der Gestalt im Fenster im dritten Stock auf. Dann hörte er hinter sich den Motor eines heranrasenden Autos. Er fürchtete, die übrigen Killer kämen, um auch ihn zu erledigen, aber das war nur Keller mit dem Passat. Er hob sein BlackBerry auf und stieg hastig ein. »Hab ich’s nicht gesagt?«, sagte er, als der Wagen vorwärtsschoss. »Hier passiert nie was!«

Gabriel blieb länger am Fenster, als ratsam war, und beobachtete die schwächer werdende Schlussleuchte des Motorrads, das jetzt von dem schwarzen Passat verfolgt wurde. Als die beiden Fahrzeuge verschwunden waren, konzentrierte er sich wieder auf den auf der Straße liegenden Mann. Den bereits eine dünne Schneeschicht bedeckte. Konstantin Kirow war so tot, wie man nur sein konnte. Er war bereits tot, dachte Gabriel, bevor er in Wien angekommen war. Tot, bevor er Moskau verlassen hatte.

Eli Lavon stand jetzt neben Gabriel. Weitere lange Sekunden verstrichen, und Kirow blieb allein auf der Straße liegen, ohne dass sich jemand um ihn kümmerte. Zuletzt rollte ein Mini heran und hielt vor ihm. Die Fahrerin, eine junge Frau, stieg aus. Sie schlug erschrocken eine Hand vor den Mund und sah weg.

Lavon zog den Vorhang zu. »Zeit zu verschwinden.«

»Wir können nicht einfach …«

»Hast du etwas angefasst?«

Gabriel überlegte kurz. »Die Notebooks.«

»Sonst nichts?«

»Und die Türklinke.«

»Die wischen wir beim Hinausgehen ab.«

Von der Straße drang blaues Blinklicht bis in den dritten Stock. Gabriel wusste, dass es von einem Streifenwagen der Bundespolizei kam. Er rief Oren, den Chef seiner Personenschützer, auf dem Handy an.

»Kommen Sie zum Ausgang Hollandstraße. Aber ruhig und unauffällig.«

Gabriel steckte sein BlackBerry ein und half Lavon, die Notebooks und Telefone einzupacken. An der Wohnungstür wischten sie beide die Klinke gründlich ab: erst Gabriel, dann Lavon sicherheitshalber noch mal. Als sie über den Innenhof hasteten, kam Sirenengeheul näher, aber auf der Hollandstraße war es ruhig bis auf das Motorengeräusch ihres bereitstehenden Wagens. Gabriel und Lavon stiegen hinten ein. Wenig später überquerten sie den Donaukanal, wechselten damit vom 2. in den 1. Gemeindebezirk.

»Er war clean, stimmt’s, Eli?«

»Absolut.«

»Woher wusste der Attentäter dann, wohin er wollte?«

»Vielleicht sollten wir das ihn fragen.«

Gabriel zog sein Handy heraus und rief Michail an.

5

FLORIDSDORF, WIEN

Unter dem Blechkleid des Passats steckte der neueste Allradantrieb von Volkswagen. Eine scharfe Rechtskurve bei hundert Stundenkilometern auf frisch gefallenem Schnee überstieg jedoch auch seine Fähigkeiten. Das Heck brach aus, sodass Michail sekundenlang fürchtete, der Wagen könnte außer Kontrolle geraten. Aber dann packten die vier Breitreifen doch wieder zu, und der Passat schoss nach einem letzten Schlenker vorwärts.

Michail umklammerte seine Armstütze etwas weniger fest. »Du hast viel Erfahrung auf schneebedeckten Straßen?«

»Sehr viel«, bestätigte Keller gelassen. »Du?«

»Ich bin in Moskau aufgewachsen.«

»Und als Kind fortgezogen.«

»Tatsächlich mit sechzehn.«

»Hatte deine Familie ein Auto?«

»In Moskau? Natürlich nicht. Wir sind wie alle mit der Metro gefahren.«

»Also bist du nie ein Auto im russischen Winter gefahren.«

Michail widersprach Kellers Feststellung nicht. Unterdessen hatten sie den Donaukanal erneut überquert, waren sie wieder auf der Taborstraße, rasten ungefähr hundert Meter hinter dem Motorrad an einem Gewerbegebiet und einem Lagerhauskomplex vorbei. Michail, der den Wiener Stadtplan einigermaßen im Kopf hatte, vermutete richtig, dass sie ziemlich genau nach Norden fuhren.

Die Bremsleuchte der Maschine glühte rot.

»Er biegt ab«, sagte Michail.

»Das sehe ich.«

Die Maschine bog links ab und geriet außer Sicht. Keller nahm die Kurve, fast ohne zu bremsen. Das triste Wiener Straßenbild flitzte sekundenlang vor der Frontscheibe vorbei, bevor er den Wagen wieder unter Kontrolle brachte. Inzwischen hatte der Biker seinen Vorsprung auf fast zweihundert Meter erhöht.

»Der Kerl ist gut«, sagte Keller.

»Du solltest sehen, wie er schießt!«

»Ich hab’s gesehen.«

»Danke für deine Hilfe.«

»Was hätte ich tun sollen? Ihn ablenken?«

Dann ragte vor ihnen der Millennium Tower auf, ein 50-stöckiger Büroturm am Handelskai westlich der Donau. Als sie den Fluss überquerten, war Keller fast hundertfünfzig Stundenkilometer schnell, aber das Motorrad baute seinen Vorsprung stetig weiter aus. Michail fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Bundespolizei auf sie aufmerksam wurde. Ungefähr so lange, rechnete er sich aus, wie man brauchte, um einem ermordeten russischen Kurier den Pass aus der Tasche zu ziehen.

Das Motorrad bog erneut ab. Als Keller dieselbe Kurve bewältigte, war das Schlusslicht der Maschine nur noch ein roter Punkt in der Nacht.

»Er hängt uns ab!«

Keller trat das Gaspedal durch. Im nächsten Augenblick vibrierte Michails Handy. Er ließ den Lichtpunkt lange genug aus den Augen, um die Nachricht zu lesen.

»Was gibt’s?«, fragte Keller.

»Gabriel will ein Update.« Michail schrieb eine kurze Antwort, dann sah er wieder auf. »Scheiße«, murmelte er enttäuscht.

Das Schlusslicht war verschwunden.

Es war Alois Graf, ein Pensionär und heimlicher Anhänger einer rechtsradikalen österreichischen Partei – auch wenn das nichts mit den bevorstehenden Ereignissen zu tun hatte –, der letztlich an allem schuld war. Graf, seit Kurzem verwitwet, schlief in letzter Zeit schlecht. Tatsächlich konnte er sich an keine Nacht seit dem Tod seiner geliebten Trudi erinnern, in der er mehr als zwei bis drei Stunden geschlafen hatte. Das galt auch für Schulzie, seinen neun Jahre alten Rauhaardackel. Eigentlich gehörte der Kleine nicht ihm, sondern war Trudis Hund gewesen. Schulzie hatte sich nie viel aus Graf gemacht – und Graf nicht viel aus Schulzie. Und nun waren sie Zellengenossen, deprimiert und schlaflos, im Kummer vereint.

Der Dackel war natürlich stubenrein und nahm einigermaßen Rücksicht auf die Bedürfnisse seines Besitzers. Aber in letzter Zeit wollte er zu den unmöglichsten Zeiten Gassi gehen. Auch Graf war rücksichtsvoll und protestierte nie, wenn Schulzie mitten in der Nacht winselnd und mit Verzweiflung in seinem scheelen Blick zu ihm kam.

In dieser Nacht stand er um 12.25 Uhr vor dem Bett, wie Graf mit einem Blick auf seinen Wecker feststellte. Schulzies Lieblingsplatz war die kleine Rasenfläche vor einem amerikanischen Schnellrestaurant in der Brünner Straße. Das gefiel Graf. Er hielt das Restaurant, wenn es diese Bezeichnung überhaupt verdiente, für einen Schandfleck. Andererseits hatte Graf sich nie viel aus den Amis gemacht. Er war alt genug, um sich an das Nachkriegswien erinnern zu können, das eine viergeteilte Stadt voller Elend und Spionen gewesen war. Die Briten waren ihm lieber gewesen als die Amis. Die Briten hatten sich wenigstens durch eine gewisse Cleverness ausgezeichnet.

Um Schulzies kleines Paradies zu erreichen, mussten sie die Brünner Straße überqueren. Graf, ein ehemaliger Lehrer, sah nach links und rechts, bevor er auf die Fahrbahn trat. Dann wurde er auf den einzelnen Scheinwerfer eines Motorrads aufmerksam, das aus Richtung Innenstadt herankam. Er blieb unschlüssig stehen. Die Maschine war noch so weit entfernt, dass kein Motorengeräusch zu hören war. Bestimmt konnte er die Straße vor ihr überqueren, ohne sich sonderlich beeilen zu müssen. Trotzdem ruckte er an Schulzies Leine, damit der Dackel nicht mitten auf der Fahrbahn trödelte, was er sonst gern tat.

Auf halber Strecke sah Graf sich erneut nach dem Motorrad um. In diesen vier bis fünf Sekunden hatte es eine weite Strecke zurückgelegt. Es war außergewöhnlich schnell unterwegs, wie sein lautes, hohes Motorengeräusch zeigte, das Graf jetzt deutlich hören konnte. Auch Schulzie hörte es natürlich. Der Dackel stand stocksteif da und stemmte sich sogar gegen die Leine, als Graf daran zog.

»Komm, Schulzie! Beeil dich!«

Nichts. Der Hund blieb wie festgenagelt stehen.

Das Motorrad war noch etwa hundert Meter entfernt, was ungefähr der Länge des Sportplatzes von Grafs alter Schule entsprach. Er bückte sich und hob den Dackel auf, aber das kam zu spät, denn die Maschine war schon heran. Sie machte einen plötzlichen Schlenker und raste so dicht hinter Graf vorbei, dass sie seinen Mantel zu streifen schien. Im nächsten Augenblick hörte er den Knall und das metallische Krachen des Zusammenstoßes und sah eine Gestalt in Schwarz durch die Luft wirbeln. Man hätte glauben können, der Mann könne fliegen, so weit segelte er. Aber das folgende Geräusch, der dumpfe Aufprall seines Körpers auf dem Asphalt, zerstörte diese Illusion.

Auf einer Strecke von wenigen Metern überschlug der Biker sich mehrmals, bis er endlich liegen blieb. Ein grausiger Anblick! Graf überlegte, ob er nach ihm sehen sollte, um eine Bestätigung für das Offensichtliche zu bekommen, aber jetzt kam aus derselben Richtung ein Auto herangerast. Mit Schulzie in den Armen machte Graf rasch die Straße frei. Der Fahrer des Passats bremste scharf, damit die beiden Insassen das zertrümmerte Motorrad begutachten konnten, bevor er neben der reglos auf der Fahrbahn liegenden Gestalt in Schwarz hielt.

Der Beifahrer stieg aus. Er war groß und schlaksig, und sein blasses Gesicht schien im Halbdunkel zu leuchten. Er betrachtete den vor ihm Liegenden – eher zornig als mitleidig, fand Graf – und zog ihm den eingedrückten Helm vom Kopf. Dann tat er etwas höchst Ungewöhnliches, das Graf keiner Menschenseele erzählen würde: Er fotografierte das Gesicht des Toten mit seinem Smartphone.

Der Blitz erschreckte Schulzie, der aufgeregt zu kläffen begann. Der Mann starrte Graf kalt an, bevor er sich wieder auf den Beifahrersitz sinken ließ. Im nächsten Augenblick raste der schwarze Passat davon.

Sofort erfüllte Sirenengeheul die Nacht. Alois Graf hätte bleiben und sich der Bundespolizei als Zeuge zur Verfügung stellen sollen. Stattdessen hastete er mit Schulzie, der in seinen Armen zappelte, nach Hause. Graf erinnerte sich an Wien nach dem Krieg. Manchmal, sagte er sich, ist’s besser, nichts gesehen zu haben.

6

WIEN – TEL AVIV

Zwei etwa sechs Kilometer voneinander entfernt aufgefundene Tote. Einer war von zwei Schüssen aus nächster Nähe getroffen worden. Der andere war bei hoher Geschwindigkeit mit seinem Motorrad verunglückt und hatte eine großkalibrige Pistole, eine HK45 Tactical mit Schalldämpfer, in der Jacke gehabt. Für beide Tode gab es keine Augenzeugen, auch keine Aufnahmen von Überwachungskameras. Aber das war kein großer Nachteil, denn Reifenspuren und Fußabdrücke im Schnee sowie Patronenhülsen und Blut sprachen eine deutliche Sprache. Die Österreicher ermittelten mit Hochdruck, denn ein vorhergesagter Wetterumschwung sollte ungewöhnliche Wärme und Regen bringen. Die Klimaerwärmung arbeitete gegen sie.

Bei dem Erschossenen wurden ein Smartphone, eine Geldbörse und ein auf den Namen Oleg Gurkowski ausgestellter russischer Reisepass gefunden. Weitere Dokumente in seiner Geldbörse ließen darauf schließen, dass er in Moskau gewohnt und bei einer Firma für Kommunikationstechnik gearbeitet hatte. Der letzte Tag seines Lebens ließ sich leicht rekonstruieren. Der Flug Moskau-Budapest mit Aeroflot. Das Zimmer im Hotel Intercontinental, in dem er seltsamerweise seinen Koffer zurückgelassen hatte. Der Nachtzug nach Wien. Überwachungskameras auf dem Hauptbahnhof zeigten, wie er in ein Taxi stieg, dessen Fahrer sich daran erinnerte, ihn vor dem Best Western am Stubenring abgesetzt zu haben. Von dort aus hatte er von einem Mann zu Fuß verfolgt den Donaukanal auf der Schwedenbrücke überquert. Die Polizei fand mehrere kurze Aufnahmen von Kameras zur Verkehrsüberwachung und zum Schutz von Geschäften, auf denen das Gesicht des Beschatters teilweise sichtbar war. Vor allem auf dem Karmeliterplatz hatte er auch Spuren im Schnee hinterlassen. Von Schuhen in Größe 46 mit Ledersohlen ohne Profil. Mehrere dieser Abdrücke fanden die Spurensicherer direkt neben der Leiche.

Außerdem fanden sie sechs Patronenhülsen Kaliber .45 und einen Abdruck eines Motorradreifens Metzeler Lasertec. Die genaue Untersuchung des Profils führte schlüssig zu der in der Brünner Straße verunglückten BMW, und die Ballistiker stellten fest, dass die Patronenhülsen aus der HK45 Tactical stammten, die der Biker in seiner Jacke gehabt hatte, als er gegen ein geparktes Auto geprallt war. Sonst wurde bei ihm nichts gefunden: weder Ausweis noch Führerschein, weder Bargeld noch Kreditkarten. Der Verunglückte schien Mitte dreißig zu sein, aber das ließ sich nicht sicher feststellen, weil sein Gesicht durch plastische Chirurgie stark verändert worden war. Die Ermittler hielten ihn jedenfalls für einen Profi.

Aber wieso hatte ein ansonsten professionell agierender Killer auf der Brünner Straße die Kontrolle über seine Maschine verloren? Und wer war der Mann, der dem Russen vom Best Western Hotel zu der Straße im 2. Bezirk gefolgt war, auf der er aus nächster Nähe mit zwei Schüssen liquidiert worden war? Und wozu war der Russe überhaupt aus Budapest nach Wien gekommen? War er hergelockt worden? War er auf Befehl hergekommen? Und auf wessen Anweisung? Trotz dieser offenen Fragen deutete alles auf einen professionellen Mord durch einen höchst kompetenten Geheimdienst hin.

In der Anfangsphase ihrer Ermittlungen behielt die Bundespolizei solche Überlegungen für sich, aber die Medien konnten nach Herzenslust spekulieren. Obwohl sein Name in Kreisen der russischen Opposition unbekannt zu sein schien, gelangten sie vormittags zu der Überzeugung, Oleg Gurkowski sei ein Dissident gewesen. In Russland gab es jedoch Leute, darunter ein Anwalt, der angeblich mit dem Zaren befreundet war, die ihn gut zu kennen behaupteten. Aber nicht unter dem Namen Oleg Gurkowski. Sie sagten, er habe in Wirklichkeit Konstantin Kirow geheißen und beim russischen Geheimdienst SWR gearbeitet.

Ungefähr zur Mittagszeit in Wien begann ein stetiger kleiner Strom von Storys, Tweets, Chirps, Burps, Postings und anderen Formen moderner Kommunikation auf Nachrichtenseiten und in den sozialen Medien zu erscheinen. Anfangs schien es sich um zufällige Beiträge zu handeln, aber diese Illusion verflog rasch. Fast alles Material stammte aus Russland oder ehemaligen Sowjetrepubliken oder Satellitenstaaten. Keine der angeblichen Quellen hatte einen Namen – oder zumindest keinen, der sich verifizieren ließ. Alle Beiträge waren Teile eines gewaltigen Puzzles, das zusammengesetzt eine sonnenklare Botschaft übermittelte: Der israelische Geheimdienst hatte Konstantin Kirow, einen bewährten SWR-Offizier, auf direkten Befehl seines Direktors, des bekannten Russenhassers Gabriel Allon, eiskalt ermordet.

Das behauptete gegen 15 Uhr auch der Kreml, und um 16 Uhr veröffentlichte die russische Presseagentur Sputnik ein Foto, das angeblich Allon beim Verlassen eines Hauses ganz in der Nähe des Tatorts zeigte. Begleitet wurde er von einem kleinen Mann, dessen Gesicht unkenntlich gemacht war. Woher das Foto stammte, wurde nie geklärt. Sputnik behauptete, es von der Bundespolizei erhalten zu haben, die das jedoch dementierte. Trotzdem war der Schaden angerichtet. Angeheuerte Fernsehexperten in London und New York, darunter einige, die sich brüsten konnten, Allon persönlich zu kennen, mussten eingestehen, dass der Abgebildete ihm sehr ähnlich sah. Das fand auch der österreichische Innenminister.

Öffentlich sagte die israelische Regierung nichts dazu, was ihrer langjährigen Übung entsprach, Geheimdienstdinge nicht zu kommentieren. Aber als der Druck zunahm, entschloss der Premierminister sich zu dem ungewöhnlichen Schritt, jegliche Verwicklung Israels in Kirows Tod zu bestreiten. Sein Dementi wurde – vielleicht zu Recht – skeptisch aufgenommen. Außerdem wurde vielfach bemängelt, dass der Premierminister, nicht Allon selbst diese Erklärung abgegeben hatte. Sein Schweigen, sagte ein ehemaliger US-Geheimdienstler, spreche Bände.

Tatsächlich hatte Gabriel gerade keine Zeit für Fernsehauftritte: Er saß in einem abhörsicheren Raum tief im Inneren der israelischen Botschaft in Berlin und koordinierte die Ausreisebemühungen seines Teams. Um 20 Uhr an diesem Abend waren alle wieder sicher in Tel Aviv angelangt, und Christopher Keller war in London in Sicherheit. Gabriel verließ die Botschaft unerkannt und ging an Bord einer El-Al-Maschine nach Tel Aviv. Nicht einmal das Kabinenpersonal kannte seine wahre Identität. Dies war die zweite Nacht, in der er keinen Schlaf fand. Die Erinnerung an den tot auf der Straße liegenden Konstantin Kirow ließ ihm keine Ruhe.

Es war noch dunkel, als die Maschine auf dem Ben Gurion International aufsetzte. Am Fuß des Jetways warteten zwei Personenschützer. Sie eskortierten ihn durchs Terminal zu einer nicht gekennzeichneten Tür links neben der Passkontrolle. Der anschließende Raum war für Angehörige des Diensts reserviert, die von Auslandseinsätzen zurückkehrten – daher der ständige Geruch nach Schweiß, Zigaretten und bitterem altem Kaffee. Die Wände waren mit nachgemachtem Jerusalemer Kalkstein verkleidet, die klobigen quadratischen Sessel waren mit Kunstleder bezogen, das in dem unvorteilhaften Licht glänzte. In einem davon saß Uzi Navot. Sein grauer Anzug sah aus, als habe er darin geschlafen. Die Augen hinter seiner modischen randlosen Schubertbrille waren vor Müdigkeit gerötet.

Als Navot jetzt aufstand, warf er einen Blick auf die große silberne Armbanduhr, die seine Frau Bella ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Navots großer, kräftiger Leib war mit nichts bekleidet oder geschmückt, was sie nicht gekauft oder ausgesucht hatte. Dazu gehörten auch seine neuen zweifarbigen Oxfords, die nach Gabriels Meinung für einen Mann in Navots Alter und Position viel zu auffällig waren.

»Was machst du hier, Uzi? Es ist drei Uhr morgens.«

»Ich brauchte eine Pause.«

»Wovon?«

Navot lächelte trübselig und führte Gabriel durch einen von Neonröhren grell beleuchteten langen Korridor. An seinem Ende öffnete sich eine gesicherte Tür zu einer abgesperrten Fläche gleich neben dem Verkehrskreisel vor dem Terminal. Im gelben Licht der Natriumdampflampen stand dort eine Wagenkolonne mit laufenden Motoren. Navot war zur hinteren rechten Tür von Gabriels SUV unterwegs, als er plötzlich haltmachte, ums Wagenheck herumging und hinter dem Fahrer einstieg. Navot war Gabriels Vorgänger als Direktor des Diensts gewesen. Entgegen allen Traditionen des Diensts hatte er sich bereit erklärt, als Gabriels Stellvertreter zu bleiben, statt einen gut bezahlten Job bei einem Rüstungskonzern in Kalifornien anzunehmen, worauf Bella gehofft hatte. Zweifellos bereute er diese Entscheidung bereits.

»Um deine Frage gleich zu beantworten«, sagte Gabriel, als der Wagen anfuhr. »Ich habe ihn nicht erschossen.«

»Keine Sorge, ich glaube dir.«

»Du scheinst der Einzige zu sein.« Gabriel griff nach der zwischen ihnen liegenden Ausgabe der Tageszeitung Haaretz und las missmutig die Schlagzeile. »Wie schlecht es steht, weiß man, wenn die eigene Zeitung einen für schuldig hält.«

»Wir haben die Medien vertraulich darüber informiert, dass wir absolut nichts mit Kirows Tod zu tun hatten.«

»Offenbar«, sagte Gabriel, während er in weiteren Zeitungen blätterte, »haben sie dir nicht geglaubt.«

Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung hatten alle großen Zeitungen die Ereignisse in Wien für ein verpatztes Unternehmen des Diensts erklärt und forderten eine offizielle Untersuchung. Die zum linken Spektrum gehörende Haaretz fragte sich sogar, ob Gabriel Allon, ein hochbegabter Agent, als Direktor des Diensts geeignet war. Wie schnell sich der Wind gedreht hat!, dachte er. Vor wenigen Monaten war er noch als der Mann gefeiert worden, der den IS-Terrorplaner Saladin liquidiert und einen Anschlag mit einer schmutzigen Atombombe in der Nähe der Londoner Downing Street vereitelt hatte. Und nun dies.

»Ich muss zugeben«, sagte Navot, »dass es dir ziemlich ähnlich sieht.« Er begutachtete Gabriels Foto auf der Titelseite der Haaretz. »Und dieser kleine Kerl neben dir erinnert mich an jemanden, den ich kenne.

»Im Haus gegenüber muss ein SWR-Team gewesen sein. Vermutlich im zweiten Stock, wenn man den Aufnahmewinkel berücksichtigt.«

»Die Analysten sagen, dass es eher der dritte war.«

»Tatsächlich?«

»Wahrscheinlich«, fuhr Navot fort, »hatten die Russen einen weiteren Mann vor dem Gebäude postiert, vielleicht in einem Auto oder im Haus selbst.«

»Also wussten sie, wohin Kirow unterwegs war.«

Navot nickte langsam. »Du kannst vermutlich von Glück sagen, dass sie diese Gelegenheit, dich umzulegen, nicht genutzt haben.«

»Schade, dass sie’s nicht getan haben. Das Medienecho wäre vielleicht besser gewesen.«

Sie waren kurz vor der Ausfahrt des Flughafens. Links lagen Jerusalem und Gabriels Frau und Kinder. Rechts lag Tel Aviv mit dem King Saul Boulevard. Gabriel wies den Fahrer an, sie zum King Saul Boulevard zu bringen.

»Im Ernst?«, fragte Navot. »Du siehst aus, als könntest du ein paar Stunden Schlaf brauchen.«

»Und was würden sie dann über mich schreiben?«

Navot öffnete das Zahlenschloss eines Aktenkoffers aus Edelstahl. Er nahm ein Foto heraus, das er Gabriel gab: das Handyfoto, das Michail von Konstantin Kirows Mörder gemacht hatte. Seine Augen wirkten noch nicht ganz tot; irgendwo schien noch ein schwacher Lebensfunken zu glimmen. Das übrige Gesicht sah schlimm aus, aber das war keine Folge des Unfalls. Es war gestrafft und unterspritzt und genäht worden, bis es kaum noch menschenähnlich war.

»Er sieht wie eine Millionärin aus, die ich mal bei einer Kunstauktion gesehen habe«, sagte Gabriel. »Habt ihr ihn mit der Datenbank abgeglichen?«

»Mehrmals.«

»Und?«

»Nichts.«

Gabriel gab Navot die Aufnahme zurück. »Man fragt sich, weshalb ein offensichtlich gut ausgebildeter Agent die einzige Gefahr für sein Leben nicht beseitigt hat.«

»Michail?«

Gabriel nickte langsam.

»Er hat vier Schüsse auf ihn abgegeben.«

»Und alle sind danebengegangen. Sogar du hättest ihn aus dieser Nähe getroffen, Uzi.«

»Du glaubst, dass er Befehl hatte, nicht zu treffen?«

»Unbedingt.«

»Aber wieso?«

»Vielleicht haben sie gefürchtet, ein toter Israeli würde ihre Story weniger glaubhaft machen. Oder vielleicht hatten sie einen anderen Grund«, sagte Gabriel. »Sie sind Russen. Die haben meistens einen.«

»Wieso haben die Kirow überhaupt in Wien ermordet? Warum haben sie ihn nicht in Moskau ausgequetscht und mit einem Genickschuss erledigt?«

Gabriel tippte auf den Zeitungsstapel. »Vielleicht wollten sie die Gelegenheit nutzen, mich zu diskreditieren.«

»Es gibt eine einfache Lösung«, sagte Navot langsam. »Wir können bekannt geben, dass Konstantin Kirow für uns gearbeitet hat.«

»Das würde wie nachträglich erfunden klingen. Und es würde potenziellen Informanten signalisieren, dass wir nicht imstande sind, unsere Leute zu beschützen. Das wäre ein zu hoher Preis.«

»Was machen wir also?«

»Als Erstes will ich rausbekommen, wer den Russen die Adresse unserer sicheren Wohnung in Wien verraten hat.«

»Nur für den Fall, dass du dich fragst«, sagte Navot. »Ich war’s nicht.«

»Keine Sorge, Uzi. Ich glaube dir.«

7

KING SAUL BOULEVARD, TEL AVIV

Im letzten Jahr seiner Amtszeit als Direktor hatte Uzi Navot die Zentrale des Diensts vom King Saul Boulevard in einen modernen neuen Komplex in Ramat haScharon knapp nördlich von Tel Aviv verlegen wollen. Angeblich war Bella die treibende Kraft hinter diesem Umzug gewesen. Sie hatte das alte Gebäude, in dem sie früher als Syrien-Analystin gearbeitet hatte, nie gemocht und fand es unpassend für einen weltweit operierenden Geheimdienst. Sie wollte eine israelische Version von Langley oder Vauxhall Cross, ein modernes Monument der nachrichtendienstlichen Fähigkeiten Israels. Sie kümmerte sich persönlich um die Planung, leistete Lobbyarbeit beim Premierminister und in der Knesset, um die Finanzierung sicherzustellen, und suchte sogar das Baugrundstück aus: eine unbebaute Fläche an einem Hightech-Korridor in der Nähe des Verkehrsknotenpunkts Glilot neben einem Einkaufszentrum und dem Multiplexkino Cinema City.

In einer seiner ersten Amtshandlungen hatte Gabriel jedoch mit einem eleganten Federstrich die gesamte Planung verworfen. Was Kunst und Geheimdienste betraf, war er ein Traditionalist, nach dessen Überzeugung die alten Methoden besser waren als die neuen. Und er würde unter keinen Umständen zulassen, dass der Dienst an einen Ort zog, der in Israel umgangssprachlich als Glilot Junction bekannt war. »Wie sollen wir uns um Himmels willen nennen?«, hatte er Eli Lavon gefragt. »Damit machen wir uns lächerlich!«

Das alte Dienstgebäude hatte einen gewissen Charme und – vielleicht noch wichtiger – historische Bedeutung. Ja, es war eintönig nüchtern, aber es besaß wie Eli Lavon den Vorzug, anonym zu sein. Über seinem Eingang prangte kein Emblem, kein poliertes Messingschild verkündete, wer hier residierte. Tatsächlich wies nichts darauf hin, dass dies die Zentrale eines der angesehensten und gefürchtetsten Geheimdienste der Welt war.

Gabriels Dienstzimmer mit Meerblick lag im obersten Stock. An den Wänden hingen Gemälde – einige wenige von ihm, unsigniert, und mehrere von seiner Mutter –, und in einer Ecke des Raums stand eine alte italienische Staffelei, auf die Analysten ihre Fotos und Grafiken stellten, wenn sie ihm einen Vortrag hielten. Navot hatte seinen großen Glasschreibtisch in sein neues Büro auf der anderen Seite des Vorzimmers mitgenommen, aber er hatte seine moderne Videowand mit ihrer Collage aus Nachrichtenkanälen in aller Welt zurückgelassen. Als Gabriel den Raum betrat, flimmerten auf mehreren Monitoren Bilder aus Wien, und auf dem Bildschirm des BBC World Service sah er sein eigenes Gesicht. Er drehte den Ton auf und hörte, der britische Premierminister Jonathan Lancaster, der seine Karriere ihm verdankte, habe sich »bestürzt« über eine mögliche Verwicklung Israels in die Ermordung Konstantin Kirows geäußert.

Gabriel stellte den Ton leiser und ging in sein Bad nebenan, um zu duschen, sich zu rasieren und frische Sachen anzuziehen. Als er wieder herauskam, wartete Jaakov Rossman, Leiter der Abteilung Special Ops, auf ihn. Jaakov hatte Haar wie Stahlwolle und ein hartes, pockennarbiges Gesicht. Er hielt einen Briefumschlag in der Hand und starrte den BBC-Monitor mit zusammengekniffenen Augen an.

»Ist dieser Lancaster nicht unglaublich?«

»Er hat seine Gründe.«

»Zum Beispiel?«

»Er will den eigenen Geheimdienst schützen.«

»Verdammte Heuchler«, knurrte Jaakov. »Sie hätten niemals Zugang zu Kirows Material bekommen dürfen.« Er ließ den Umschlag auf Gabriels Schreibtisch fallen.

»Was ist das?«

»Meine Kündigung.«

»Wieso hast du die geschrieben?«

»Weil wir Kirow verloren haben.«

»War das deine Schuld?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

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