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Die Eisfischerin vom Helgasjön

Als Buch hier erhältlich:

Neustart für die Seele im schwedischen Winter

Nach siebenjähriger Beziehung machen Rieke und Marco zum ersten Mal getrennt Urlaub. Während er mit Freunden in die Berge zum Skilaufen fährt, erfüllt Rieke sich einen Kindheitstraum und reist nach Lappland, um in der endlosen Weite auszuspannen. Ein unverhofftes Wiedersehen mit ihrem ehemaligen Studienkollegen Theo hinterlässt nicht nur tiefe Spuren im Schnee, sondern wirbelt auch ihre Gefühlswelt gewaltig durcheinander. Unter dem magischen Schein der Nordlichter beginnt Rieke, ihr bisheriges Leben zu hinterfragen. Was als Kurztrip geplant war, entwickelt sich zu einer emotionalen Reise durch das winterliche Schweden, die anders endet, als alle Beteiligten angenommen haben.


  • Erscheinungstag: 21.11.2023
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004326

Leseprobe

KAPITEL 1

Mit Ach und Krach

Das Geschäft meiner Eltern geriet zum ersten Mal in Schieflage, als ich noch Studentin an der Kunsthochschule war. Im digitalen Zeitalter von WhatsApp und Co. hatte niemand mehr Interesse an Postkarten und Briefpapier. Für Vater und mich kam es nicht infrage, einfach aufzugeben. Optimistisch modernisierten wir das traditionsreiche Familienunternehmen. Aus ›Schreibwaren Christian Kohler‹ wurde ›Die Papeterie‹. Das neue Sortiment umfasste keinen Schul- und Bürobedarf mehr, sondern erlesene Buntpapiere aus aller Welt und alles, was man daraus basteln kann. Mit feinem Gespür für hochwertige Materialien und kreativer Leidenschaft stellten wir individuelle Geschenkverpackungen, Tüten, Alben und Kartonagen für jeden Anlass her, die bei den Kunden zunächst großen Anklang fanden.

Dennoch war meine Mutter felsenfest davon überzeugt, dass der Einzelhandel keine Zukunft mehr habe. Nach dem plötzlichen Tod meines Vaters hat sie kurzerhand entschieden, das Geschäft endgültig zu schließen und sich in den wohlverdienten Ruhestand zu begeben.

Länger als ein Jahr steht der Laden am Alten Markt nun leer. Es ist nicht so, dass es keine Interessenten für die Räumlichkeiten in bester Lage gäbe. Das Gegenteil ist der Fall. Es liegt bereits ein lukratives Angebot einer Drogeriekette vor, das meine Mutter wohlwollend prüfen will.

Heute ist eine weitere Bewerberin gekommen, die sich die Räume ansehen möchte. Es handelt sich um Julia, die Mutter einer Hockeyspielerin meiner Jugendmannschaft, die ich einmal wöchentlich trainiere. Gern würde sie hier einen Bioladen eröffnen.

Ich führe sie herum, obwohl ich weiß, dass sie die Räumlichkeiten nicht bekommen wird. Mutter will keine Mieter aus der Lebensmittelbranche.

Julia ist hellauf begeistert. Allerdings nur so lange, bis sie die entscheidende Frage stellt. »Gibt es hier keine Toiletten?«

»Doch, aber die befinden sich im Privatbereich. Aber einer der hinteren Lagerräume bietet sich für ein stilles Örtchen an.«

»Und wer bezahlt den Einbau?«

»Das wäre Mietersache.«

Damit hat sich die Führung erledigt.

Kaum hat Julia den Laden verlassen, öffne ich die Verbindungstür und betrete die Wohnung meiner Mutter. Sie hat es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht. In eine Wolldecke gemummelt sitzt sie im Ohrensessel und sieht fern. Gerade läuft ihr geliebtes Boulevardmagazin, das sie nur ungern verpasst, weil sie über Klatsch und Tratsch der Promis und Königshäuser stets informiert sein will.

»Brr, ist es ungemütlich bei dir. Warum stellst du nicht die Heizung an?«

Sie schaut gar nicht auf. »Ich mache mir warme Gedanken, das spart Energie. Aber wenn dir kalt ist, dann koche ich uns einen Tee.«

»Dafür fehlt mir die Zeit. Ich muss dringend nach Hause. Bevor unsere Gäste eintrudeln, habe ich noch eine Menge zu tun. Der Tisch muss noch gedeckt werden, und das Dessert habe ich auch noch nicht zubereitet.«

»Du betreibst einen viel zu großen Aufwand. Wenn dein Vater früher seinen Männerabend hatte, gab es belegte Brote oder einen deftigen Eintopf aus der Dose.«

»Heute kommen nicht Marcos Jungs zum Kartenspielen, sondern Johanna und Paul zu Besuch. Ihnen kann ich keine Konserve vorsetzen.«

Johanna und Paul sind unsere engsten Freunde. Seit sie außerhalb der Stadt im Grünen gebaut haben und über einen großen Garten verfügen, waren wir im Sommer häufig bei ihnen zu Gast. Obwohl es uns bei ihnen gefällt, würde Marco niemals ins Umland ziehen. Für kein Geld der Welt würde er unsere Wohnung unter dem Dach aufgeben. Zwar verfügt die Mansarde weder über einen Lift noch über einen Balkon, den ich gelegentlich vermisse, doch haben wir vom Wohnzimmerfenster freien Blick auf den Isebekkanal. Ich mag unser Viertel im Herzen von Hamburg mit der wunderbar erhaltenen Altbausubstanz, den hervorragenden Einkaufs- und Ausgehmöglichkeiten und der idealen Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz.

»Dann viel Spaß«, wünscht meine Mutter, wickelt sich fester in die Decke und stellt den Fernseher lauter.

Als ich zu Hause eintreffe, ist Marco noch nicht da. Ich hoffe, dass er am Freitagabend nicht wie üblich im Stau steckt und es noch rechtzeitig geschafft hat, zum Getränkemarkt zu fahren. Andernfalls werden wir auf dem Trockenen sitzen.

Nachdem ich den vorbereiteten Auflauf ins Rohr geschoben habe, kümmere ich mich ums Geschirr und nehme die Gläser aus der Spülmaschine, auf denen sich unansehnliche Wasserflecken befinden.

Die Tür klappt. Laut schnaubend schleppt Marco die Getränkekisten in die Küche.

»Hey, Schatz«, begrüßt er mich und drückt mir einen Kuss in den Nacken.

»Unser Geschirrspüler hat ausgedient. Wenn ich jedes Mal nachpolieren muss, kann ich gleich alles per Hand abwaschen und abtrocknen.«

»Bestelle einen neuen, aber bitte nicht vor dem Urlaub«, erwidert er, nimmt eine Flasche Wasser aus der Kiste und löscht seinen Durst direkt aus der Pulle. »Schaffe ich es noch zu duschen, bevor die beiden eintreffen?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, marschiert er ins Bad.

»Rieke!«, tönt es gleich darauf. »Wo ist mein Shampoo?«

»Im Schrank, wo es immer steht.«

»Die Tube ist leer.«

Ich verdrehe die Augen. »Dann benutze meins!«

»Von deinem laden sich meine Haare statisch auf.«

»Sei froh, dass du überhaupt welche hast«, antworte ich in Anspielung auf Paul, der sich bereits mit Anfang dreißig mit einer Vollglatze abfinden musste. Seither trägt er eine Kopfbedeckung. Im Sommer ein Baseball Cap, von Herbst bis Frühjahr eine Mütze.

Der Wein, den Marco für Johanna und mich mitgebracht hat, muss dringend kaltgestellt werden. Mir fällt sogleich das befremdliche Etikett auf. »Wieso hast du dir lieblichen Wein aufschwatzen lassen?«, rufe ich verärgert.

»Der ist nicht lieblich, sondern halbtrocken.«

»Nicht trocken genug!«

Er kommt in ein Handtuch gehüllt zu mir in die Küche und bietet an, noch einmal loszugehen, um den richtigen in der Vinothek zu kaufen.

»Besser, du ziehst dich schnell an. Ich erledige das selbst.«

Ich nehme mein Portemonnaie und mache mich auf den Weg ums Eck.

Im Treppenhaus kommen mir bereits Johanna und Paul entgegen. Wir begrüßen uns mit Bussi auf die Wange. »Sind wir zu früh?«, fragt meine Freundin. Das sind sie, aber das behalte ich für mich.

»Auf gar keinen Fall. Marco ist oben. Macht es euch schon mal gemütlich. Ich muss nur noch rasch etwas besorgen.«

Paul hält mich zurück. »Es hat geklappt. Wir bekommen die Skihütte doch.«

»Das ist toll«, quietsche ich. »Wie hast du das bloß geschafft? Auf meine Nachfrage hieß es, dass alle Lodges ausgebucht seien.«

»Das Zauberwort heißt: Connections.«

»Ich weiß zwar nicht, über welche Beziehungen du verfügst, aber ich freue mich wie verrückt. Du bist der Größte.«

Ich verspreche, mich zu beeilen, und nehme die Beine in die Hand.

Auf dem Weg zum Laden stellt sich vor meinem inneren Auge das schneebedeckte Tiroler Bergpanorama auf. Bei klirrender Kälte, aber unter strahlend blauem Himmel sehe ich mich die Pisten hinunterbrettern. Die Vorstellung ist so real, dass ich den kalten Fahrtwind auf meinen Wangen spüren kann. Ich träume von Glühwein und Kaiserschmarrn und rufe mir das urige Blockhaus in Erinnerung, in dem wir im letzten Jahr zu viert einen wunderschönen Winterurlaub verbracht haben. In weniger als zwei Monaten werden Johanna und ich wieder auf der massiven Eckbank sitzen und einen Birnenbrand schnasseln. Derweil wird Paul in der Sauna schwitzen, während Marco den Kamin entzündet und wie Tom Hanks im Film ›The Cast‹ die lodernden Flammen feiert. »Seht her! Ich habe Feuer gemacht«, imitiert er den Schauspieler und breitet stolz seine Arme aus.

»Vorsicht!«, höre ich eine Männerstimme brüllen. Marco ist es nicht. Ich befinde mich auch nicht in Tirol, sondern liege mit unvorstellbaren Schmerzen auf dem Bürgersteig.

»Hiergeblieben, junger Mann!«, befiehlt die fremde Stimme, indes ich mich krümme.

Ein älterer Herr beugt sich über mich. »Können Sie aufstehen?«

»Mein Bein«, jaule ich und begreife noch immer nicht, was mir gerade widerfahren ist.

»Jemand muss einen Krankenwagen rufen!«

»Und die Polizei!«, wirft einer der umstehenden Passanten ein.

»Was ist passiert?«, krächze ich und wische mir mit dem Handrücken über das blutende Gesicht.

»Dieser Rüpel hat Sie frontal mit seinem E-Scooter erwischt. Ich habe es kommen sehen. Aber es ging so schnell, dass ich Sie nicht mehr rechtzeitig warnen konnte.« Der Mann wird lauter. »Das ist ein Bürgersteig! Mal davon abgesehen, dass du hier gar nicht fahren darfst, warst du außerdem in falscher Richtung unterwegs. Das hat ein Nachspiel!«

Das Nächste, das ich wahrnehme, ist eine Streifenpolizistin, die mich nach meinem Namen fragt.

»Bleiben Sie ganz ruhig liegen, Frau Kohler. Der Rettungswagen ist unterwegs.«

Ich beiße die Zähne zusammen. Als ich kurz darauf auf die Trage gelegt werde, würde ich am liebsten laut schreien. »Mein Knie«, wimmere ich, aber zuerst wird meine Wunde am Kopf versorgt.

»Können Sie das Bein strecken?«

»Keine Chance. Wo ist mein Handy? Ich muss dringend zu Hause Bescheid geben.«

»Darum kümmern wir uns später.«

»Ich habe Gäste, die mich erwarten.«

»Die werden heute ohne Sie feiern müssen.«

»Bitte, lassen Sie mich nur kurz telefonieren.«

»Womit? Bis auf eine Geldbörse hatten Sie nichts dabei.«

Verdammt. Der Sanitäter hat recht. Mein Handy liegt in der Küche auf der Arbeitsplatte.

Im Krankenhaus angekommen, geht alles ganz schnell.

»MRT«, höre ich, während ich durch den langen Gang geschoben werde. Bisher war ich noch nie in der Röhre, aber ich ahne, dass es kein Vergnügen werden wird. Es soll extrem laut und eng sein. Gut, dass ich nicht unter Platzangst leide.

»Bitte legen Sie Ihren Schmuck ab, Frau Kohler.«

Das gelingt mir ohne Hilfe. Aber als ich aufgefordert werde, die hautenge Jeans auszuziehen, sehe ich mich dazu außerstande.

»Das schaffe ich nicht. Mein Knie schmerzt zu sehr.«

Die Schwester rückt mit einer Schere an und schneidet das Hosenbein auf.

»Haben Sie Piercings?«

»Keine Piercings.«

»Tragen Sie einen Bügel-BH

»Nein.«

»Fein, dann geht es gleich los.«

Ich schließe die Augen und denke an Marco und an unsere Freunde, die sich bestimmt schon fragen, wo ich bleibe. Hätte ich nicht darauf bestanden, trockenen Wein zu trinken, wäre das alles nicht passiert. Ich würde jetzt gemütlich am Tisch sitzen, Moussaka essen und Urlaubspläne schmieden. Ich ärgere mich dermaßen über mich selbst, dass mir das dröhnende Hämmern gar nichts ausmacht.

Gleich habe ich es überstanden, rede ich mir ein. Ich bekomme ein Schmerzmittel und darf nach Hause.

»Ihr vorderes Kreuzband ist gerissen«, teilt mir der Kittelträger in ernster Tonlage mit. »Treiben Sie viel Sport?«

»Nicht mehr. Früher habe ich aktiv Hockey gespielt, aber vor zwei Jahren habe ich damit aufgehört.«

»Schauen Sie her«, fordert er mich auf und deutet mit einem Stift über den Monitor, auf dem die Aufnahmen meines Knies zu sehen sind. »Ich werde gleich mal schauen, wann ich einen OP-Termin für Sie finde.«

»Sie wollen mich hierbehalten?«

Die Panik in meiner Stimme ist ihm nicht entgangen.

»Ich kann Sie nicht zwingen, aber ich rate Ihnen, sich schnellstens dem Eingriff zu unterziehen. Innerhalb der ersten Tage nach der Verletzung sind die Heilungschancen am besten.«

»Muss ich unbedingt stationär aufgenommen werden? Ich denke, das könnte doch ebenso gut ambulant erfolgen, oder?«

Nun lächelt er. »Gefällt es Ihnen nicht bei uns?«

Der Doc telefoniert, während ein Pfleger mir eine Orthese anlegt und mir Anweisungen gibt. »Sie müssen das Knie hochlegen, ruhigstellen und kühlen. Auf gar keinen Fall dürfen Sie es belasten. Schaffen Sie das?«

»Ich wohne im vierten Stock ohne Fahrstuhl.«

»Damit sollte entschieden sein, dass Sie bei uns bleiben«, meint der Doc und verlässt den Raum.

»Was passiert denn nun mit mir?«, frage ich den jungen Mann in hellblauer Kluft.

»Ich besorge einen Rollstuhl und bringe Sie auf Station acht.«

»Vorher muss ich dringend telefonieren.«

Ohne zu zögern, reicht er mir sein Handy.

Ich bedanke mich und wähle die Nummer von unserem Festnetzanschluss.

Sobald Marco meine Stimme hört, blubbert er los. »Verdammt, Rieke. Wo steckst du? Holst du den Chardonnay direkt aus Frankreich? Dein Auflauf ist mittlerweile verkohlt. Den können wir nicht mehr essen.«

Als er endlich eine Pause einlegt, komme ich dazu, ihm zu sagen, wo ich bin.

»Wieso im Krankenhaus?«

»Ich hatte einen Unfall, ein E-Scooter hat mich angefahren. Kannst du herkommen und mir ein paar Sachen bringen? Ich muss bis zur OP hierbleiben.«

»Was brauchst du denn?«

Bitte? Er fragt nicht, ob ich schwer verletzt bin, sondern will nur wissen, was er einpacken soll.

»Was man halt so braucht. Nachthemd, Bademantel, Unterwäsche, Zahnputzzeug, Bürste und insbesondere mein Handy und das Ladekabel.«

»Wo finde ich dich denn?«

»Irgendwo auf Station acht.«

Ich lege auf und bitte darum, noch einen zweiten Anruf tätigen zu dürfen. Der freundliche Pfleger nickt, und ich informiere auch meine Mutter.

Sie reagiert, wie man es von einem Menschen erwartet, der einem nahesteht.

»Oh, mein Gott, Rieke-Mäuschen. Was ist denn passiert? – Diese verdammten Elektroroller! Die sollten in der Stadt verboten werden. Hast du starke Schmerzen? Wann wirst du operiert?«

»Das steht noch nicht fest. Ich melde mich später noch einmal bei dir. Mach dir keine Sorgen.«

»Dafür ist es zu spät.«

Ich lege auf und greife zu meinem Portemonnaie. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Nichts. Ich habe eine Flatrate.«

Nachdem er mein Geld abgelehnt hat, gebe ich ihm das Telefon zurück und werfe einen Blick auf sein Namensschild. Seinen Namen muss ich mir unbedingt einprägen, denn ich beabsichtige, mich auf jeden Fall für seine Hilfsbereitschaft erkenntlich zu zeigen.

Obwohl ich nicht privat versichert bin, bekomme ich ein Einzelzimmer. Er schiebt mich ans Fenster und kündigt an, mir gleich zwei Krücken zu bringen. Ich blicke in den dunklen Abendhimmel und kämpfe mit den Tränen.

Gefühlte zwanzig Minuten später öffnet sich die Tür. Aber nicht der Pfleger betritt das Krankenzimmer, sondern die Nachtschwester. Sie reicht mir die versprochenen Gehhilfen und lässt mich wissen, dass meine OP am Montagvormittag stattfinden wird.

»Möchten Sie zur Nacht etwas gegen die Schmerzen einnehmen?«

Ich nicke und frage mich, wo Marco bleibt. Er lässt sich recht lange Zeit, wenn man bedenkt, dass er lediglich zwei Kilometer von mir entfernt ist.

Als er endlich eintrifft, riecht er, als hätte er in Desinfektionsmittel gebadet.

Ich möchte gern von ihm umarmt werden, aber ich bekomme nur ein flüchtiges Küsschen auf die Wange. »Ich hoffe, Johanna hat an alles gedacht«, erklärt er und öffnet die Tasche. »Soll ich deine Sachen in den Schrank räumen oder auf dem Tisch ausbreiten?«

»Lass doch jetzt die blöde Tasche und setz dich zu mir.«

Er schaut mich an, als hätte ich etwas Unzumutbares von ihm verlangt.

»Rieke, du weißt, wie sehr ich Krankenhäuser verabscheue. Dieser penetrante Geruch verursacht mir Übelkeit. Nun hast du alles, was du brauchst. Ich gehe jetzt. Wenn du magst, können wir später telefonieren.« Er deutet einen Luftkuss an und entfernt sich rückwärts von mir.

Kurz bevor er die Tür erreicht, kommt die Nachtschwester herein.

»Sie dürfen gern noch bleiben«, sagt sie, doch Marco winkt entschieden ab.

»Mein Freund hat eine Krankenhaus-Phobie«, verteidige ich seinen überstürzten Abgang und nehme das Schmerzmittel entgegen. Die Tablette wandert sofort in meinen Mund. Mit einem Schluck Wasser würge ich sie hinunter. »Können Sie mir sagen, was auf mich zukommt?«

»Je nach Schwere der Verletzung dauert die OP eine bis zwei Stunden. Ob Sie eine Voll- oder eine Teilnarkose erhalten, werden die Ärzte mit Ihnen besprechen.«

»Und danach?«

»Erfahrungsgemäß bleiben Sie bis zur Entlassung noch zwei, drei Tage bei uns.«

»Das meine ich nicht. Wann bin ich vollständig wiederhergestellt?«

Ihr Gesichtsausdruck lässt nichts Gutes vermuten. »Nun«, beginnt sie zögerlich, »die ersten Wochen werden Sie eine Schiene tragen und auf die Krücken angewiesen sein.«

»Wann kann ich wieder Sport machen? Wir wollen nämlich zum Skilaufen nach Tirol.«

»In diesem Winter?« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, Frau Kohler, das wird gewiss nichts. – Nun schauen Sie doch nicht so traurig. Sie sollten dankbar sein, dass Ihr Unfall so glimpflich verlaufen ist. Auf dieser Station befinden sich Patienten, die es weitaus schlimmer getroffen haben.«

Ich schäme mich augenblicklich. »Sie haben vollkommen recht. Bitte vergessen Sie meine Frage.«

»Wenn Sie noch etwas brauchen, dann klingeln Sie.«

»Mach ich. Danke.«

Ich rufe weder meine Mutter noch Marco an. Ihr schreibe ich allerdings eine Kurznachricht, weil ich weiß, wie gespannt sie auf meine Rückmeldung wartet.

OP am Montag. Mach dir keinen Kopf. Man kümmert sich hier rührend um mich. Ich habe gerade ein Schmerzmittel bekommen und werde nun schlafen. Bussi, Rieke.

Die Tablette, die ich von der Nachtschwester bekommen habe, muss mit einem starken Schlafmittel versetzt gewesen sein, denn ich habe so fest geschlafen, dass ich gar nicht mitbekommen habe, dass in der Nacht eine weitere Patientin ins Zimmer gebracht wurde.

»Guten Morgen«, rufe ich meiner Bettnachbarin zu. Die Frau, die ich auf Anfang fünfzig schätze, fragt mich, ob ich auch verunfallt sei.

»Zusammenstoß mit einem Elektroscooter.«

»Treppensturz. Doppelter Schienbeinbruch.«

»Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich vor Ihnen das Bad aufsuche?«

Meine Leidensgenossin lässt mir den Vortritt.

Auf Krücken humple ich in die Nasszelle und schaue in den Spiegel. Mir wird ein Bild des Grauens geboten. Auf meiner linken Gesichtshälfte befindet sich eine dicke Schorfkruste. Meine Haare sind von getrocknetem Blut verklebt. Kein Wunder, dass Marco bei meinem Anblick sofort das Weite gesucht hat. Ich halte mich am Waschtisch fest und versuche, mich zu säubern.

Durch die geschlossene Tür nehme ich die Stimme meiner Mutter wahr.

»Ich bin hier, Mama«, rufe ich und recke mich, um die Klinke zu erreichen. Es gelingt mir, die Tür einen Spalt zu öffnen. »Komm rein.«

»Ich habe dir Frühstück mitgebracht.«

»Das ist lieb von dir. Würdest du mir helfen, meine Haare zu waschen?«

Sie zögert nicht, legt ihren Mantel ab, krempelt die Ärmel ihrer Bluse hoch und befiehlt mir, mich über das Becken zu beugen.

Gleich darauf spüre ich lauwarmes Wasser auf meiner Kopfhaut.

»Bitte, beeile dich. Ich schaffe es nicht, lange auf einem Bein zu stehen«, quengle ich.

Sie dreht sofort den Hahn zu und legt mir ein Handtuch um.

»Die Nachtschwester hat mir gestern Abend gesagt, dass ich mir den Skiurlaub abschminken kann.«

»Das sollte dein geringstes Problem sein. Sag mir lieber, wie es die nächsten Wochen weitergehen soll? Du kannst unmöglich in deiner Wohnung bleiben. Denk nur an die Treppe.«

»Du machst dir viel zu viele Gedanken. Ich muss es nur ein Mal hinaufschaffen. Sobald ich oben angekommen bin, wird Marco sich um mich kümmern.«

»So, meinst du?«

»Ja sicher!«

Leise murmelt meine Mutter vor sich hin. Dennoch habe ich ihre Worte deutlich verstanden. »Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.«

»Mama, was soll das?«

»Ich will dir nur sagen, dass du bei mir besser aufgehoben wärst. Anders als Marco habe ich den ganzen Tag Zeit und kann mich um dich kümmern. Ich würde dich zur Krankengymnastik fahren und …«

Ich falle ihr ins Wort. »Wie kommst du auf die Idee, ich bräuchte Physiotherapie?«

»Die wirst du hundertprozentig brauchen. Ich habe mich ausführlich informiert.«

»Hast du Doktor Google konsultiert?«, amüsiere ich mich. »Sei mir bitte nicht böse, Mama, aber ich verlasse mich lieber auf die Aussagen richtiger Mediziner.«

»Wie gesagt, mein Angebot steht.«

KAPITEL 2

Zartbitter

Dem Drängen meiner Mutter habe ich nicht nachgegeben und darauf bestanden, mich zu Hause zu kurieren. Zwar könnte ich warten, bis Marco mich nach Feierabend abholt, aber es kann mir nicht schnell genug gehen, die Klinik zu verlassen. Direkt vor dem Haupteingang besteige ich ein Taxi. Der Fahrer zieht sofort eine Flappe, als ich ihm das Ziel nenne. Für ihn lohnt sich die kurze Fahrt nicht. Ich hingegen bin auf seine Hilfe angewiesen. Erst als ich ihm ein gutes Trinkgeld verspreche, wenn er mir das Gepäck hinaufträgt, entspannen sich seine Gesichtszüge.

Bereits im zweiten Stock muss ich eine Pause einlegen. »Du schaffst das«, sporne ich mich an und halte mich am Geländer fest.

Der Fahrer wird zusehend ungeduldiger.

»Stellen Sie die Tasche einfach vor meine Wohnungstür. Ab hier komme ich ohne Sie klar.«

»Das kommt gar nicht infrage. Ich lasse Sie doch nicht auf halber Strecke allein.«

Beharrlich begleitet er mich bis zur letzten Stufe und reicht mir seine Karte. »Sollten Sie mal wieder ein Taxi benötigen, dann rufen Sie mich an.«

Ich zeige Daumen hoch und schließe auf.

Es waren nur sechs Nächte, die ich in der Klinik verbracht habe, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit.

Verwundert nehme ich ein blumiges Aroma wahr, das mir schon im Flur in die Nase kriecht. Auf dem Wohnzimmertisch entdecke ich einen üppigen Strauß mit Herbstastern. Ich stecke meine Nase in das Bouquet und sauge den Duft tief ein. Dass Marco Blumen für mich besorgt hat, rührt mich und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.

Ich begebe mich in die Küche, werfe einen Blick in den Kühlschrank und entdecke einen Rest Penne vom Vortag. Vermutlich wurden hier während meiner Abwesenheit täglich Nudeln gekocht, denn nur die kann mein Schatz zubereiten. Marco hat viele Talente, aber Kochen gehört nicht dazu. Er ist musikalisch. Als wir uns kennenlernten, spielte er in seiner Freizeit mit drei anderen Jungs in einer Band. Doch kurz darauf machte er sich mit einem Dentallabor selbstständig und hängte seine Bassgitarre an den Nagel. Marco hätte es gern gesehen, dass ich kündige und ihm den lästigen Schriftkram abnehme. Aber ich mag meinen Job, und wir sind auf mein Gehalt angewiesen. Das Fitnessstudio, in dem ich mir während des Studiums lediglich etwas dazuverdient habe, hat mir ausgezeichnete Aufstiegsmöglichkeiten geboten. Binnen kurzer Zeit wurde ich von der Aushilfe am Empfang zur Assistentin der Geschäftsleitung befördert.

Mit den Fingern fische ich eine kalte Rigatoni aus der Schüssel und probiere. »Oh, Arrabiata«, nuschle ich, als ich höre, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wird.

»Du bist schon da? Ich wollte noch aufräumen, bevor du kommst.«

Endlich bekomme ich eine warme Umarmung, die ich seit Tagen entbehren musste.

»Danke für die schönen Blumen.«

Er lässt von mir ab. »Die sind nicht von mir, sondern von deiner Firma. Der Strauß wurde gestern Abend geliefert. Warte! Es lag noch eine Karte dabei.«

Marco reicht mir den Umschlag, den er bereits geöffnet hat. Ich lese die Zeilen, die mein Chef persönlich geschrieben hat.

Gute Besserung, Rieke. Komm schnell wieder auf die Beine. Wir brauchen dich hier. Liebe Grüße von der ganzen Crew.

»Weiß dein Boss schon, dass du für Monate ausfällst?«, fragt Marco erheitert.

»Wie kommst du darauf, dass ich so lange krankgeschrieben werde? Sobald ich die Schiene ablegen darf, werde ich wieder arbeiten.«

Er verschwindet im Schlafzimmer und ruft mich. »Komm mal her. Ich will dir was zeigen.«

Ich nehme die Krücken und humple zu ihm.

»Na, was sagst du? Wie findest du den?«

Mir klappt das Visier runter, als ich erkenne, was er aus dem Schrank nimmt. »Du hast dir einen neuen Skianzug gekauft?«

»Der ist doch der Hammer, oder?«

Mir wird augenblicklich klar, dass er nicht vorhat, unseren Urlaub abzusagen.

»Du willst die Reise tatsächlich antreten, obwohl ich nicht laufen kann?«

»Keiner von uns kann etwas dafür, dass du dir das Knie verletzt hast. Erwartest du etwa, dass wir deinetwegen alle auf unseren Spaß verzichten?«

Ich bin zu keiner Regung fähig.

»Zieh kein Gesicht. Die Sache hat doch auch etwas Gutes. Für das Geld, das wir für deinen Skipass sparen, kannst du dir früher einen neuen Geschirrspüler bestellen.«

»Ich mir?«, empöre ich mich.

Er korrigiert sofort. »Ich meine, du kannst uns einen neuen bestellen.«

»Das ist ja ein toller Deal«, erwidere ich und kann meine Enttäuschung kaum verbergen.

Die Luft ist zum Schneiden dick.

Wir haben uns bereits eine Stunde angeschwiegen, als es unerwartet klingelt. Statt ihn zu bitten, gehe ich in den Flur. Gerade will ich den Summer betätigen, als ich Stimmen im Treppenhaus wahrnehme. Neugierig blinzle ich durch den Spion und erkenne eine mir fremde Frau. Neben ihr steht ein Junge, der stur auf den Boden starrt. Ich öffne die Tür.

»Guten Abend, Frau Kohler. Mein Name ist Beatrice Behrens. Ich bin Louis’ Mutter. Wir waren schon im Krankenhaus, um Ihnen unsere Aufwartung zu machen. Aber dort hieß es, dass Sie bereits entlassen wurden. Gut, dass Louis sich Ihre Adresse gemerkt hat, als Sie die der Polizei gegeben haben.«

Langsam fällt bei mir der Groschen. »Dann bist du der Held, dem ich mein kaputtes Knie zu verdanken habe«, fasse ich treffend zusammen. Der Bengel schafft es noch immer nicht, mich anzusehen.

Einen Wimpernschlag später erhält er von seiner Mutter einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Louis ist gekommen, um sich bei Ihnen zu entschuldigen.«

Ach was? Den Eindruck macht er nicht. Noch immer meidet er Augenkontakt und kaut nervös auf seiner Unterlippe.

»Wir haben Ihnen etwas Süßes mitgebracht«, verkündet seine Mutter und öffnet ihre Handtasche.

»Tut mir leid«, stammelt Louis wenig überzeugend.

»Ja, mir auch«, grummle ich und frage, ob sie eintreten möchten.

»Was gibt es denn?«, höre ich Marco hinter mir fragen.

Frau Behrens grüßt freundlich und stellt sich erneut vor. »Wir sind gekommen, um Frau Kohler …«

Er fällt ihr sofort ins Wort. »Hören Sie auf, uns etwas vorzumachen! Sie sind lediglich hier, weil Ihr Anwalt Ihnen dazu geraten hat. Wenn es Ihnen wirklich leidgetan hätte, wären Sie unverzüglich aufgetaucht, um sich nach dem Befinden meiner Freundin zu erkundigen. Nehmen Sie Ihre Schokolade wieder mit. So billig kommen Sie nicht davon. Wir werden Sie auf Schmerzensgeld verklagen!«

Mir ist Marcos Auftritt unfassbar unangenehm.

»Es ist nicht nötig, dass du für mich sprichst«, stelle ich klar, bevor ich mich wieder Frau Behrens widme. »Ich weiß Ihre Geste zu schätzen. Vielen Dank, dass Sie sich herbemüht haben.«

»Es tut mir wirklich aufrichtig leid«, versichert sie und wünscht mir baldige Genesung.

Ich harre noch einen Moment im Flur aus und warte, bis Mutter und Sohn sich nicht mehr in Hörweite befinden. Danach lege ich wutentbrannt los. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, die Frau derartig runterzuputzen?«

»Wie sollte ich nach dieser Unverschämtheit die Ruhe bewahren? Sie wollte dich mit einer Tafel Zartbitterschokolade abspeisen. Das werde ich nicht zulassen. Für das, was ihr Filius uns angetan hat, wird die Behrens blechen!«

»Uns angetan? Ich bin die Geschädigte. Du hast damit doch gar nichts zu tun.«

»Das siehst du falsch! Johanna, Paul und ich sind auch betroffen. Oder glaubst du, wir könnten den Winterurlaub genießen, wenn wir ständig auf dich Rücksicht nehmen müssen?«

Wow! Ich kann nicht fassen, was Marco mir gerade unverblümt vor den Latz geknallt hat. Obgleich mich seine unverschämte Reaktion erzürnt, komme ich zu dem Schluss, dass er recht hat und ich eine Last für ihn und unsere Freunde wäre. Das möchte ich auf keinen Fall riskieren.

»Besser, ihr fahrt ohne mich.«

KAPITEL 3

Allein zu Haus

Ohne zu murren, habe ich mich die letzten Wochen tapfer geschlagen. Mittlerweile schaffe ich es, mich ohne Krücken fortzubewegen. Heute steht hoffentlich die letzte Kontrolluntersuchung an.

Bei Windstärke fünf warte ich auf meinen Taxifahrer, der inzwischen zu meinem Privatchauffeur geworden ist. Er staunt nicht schlecht, als er erkennt, dass ich bereits vor dem Haus auf ihn warte. Bibbernd steige ich in seinen Wagen.

»Sagen Sie bloß, Sie sind ganz allein die Treppe heruntergestiegen?«

»So ist es. Aber fragen Sie nicht, wie lange ich gebraucht habe.«

Nachdem ich mich angeschnallt habe, bitte ich ihn, mir die Daumen zu drücken. »Ich hoffe inständig, dass ich heute gesundgeschrieben werde und ab Montag wieder arbeiten darf. Mir fällt nämlich langsam die Decke auf den Kopf.«

In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so viel ferngesehen wie in den letzten Wochen. Gleich nach dem Erwachen stellte Marco für mich die Kiste an. Ab sechs folgte ich dem Morgenmagazin, das sich halbstündig in Wort und Bild wiederholte. Ich kam mir vor wie in einer Dauerschleife, die erst unterbrochen wurde, wenn er die Wohnung verließ. »Ich muss jetzt los. Mach dir einen schönen Tag.«

Sein Wunsch klang wie Hohn. Einen schönen Tag hatte ich schon lange nicht mehr. Schön wäre es, einen Plausch mit meinen Kollegen zu halten. Wie es wohl in der Firma läuft? Ob meine Hockey-Mädchen mich vermissen? Weder das eine noch das andere scheint der Fall zu sein. Offensichtlich kommen alle wunderbar ohne mich zurecht, denn seit meiner Unfallmeldung hat sich niemand mehr bei mir gemeldet.

»Soll ich für unseren letzten gemeinsamen Abend Kasspatzln zubereiten?«, hatte ich Marco vorgeschlagen. »Die isst du doch so gerne.«

»Wieso denn das? Die kann ich mir ab morgen täglich bestellen. Besser, du ruhst dich aus.«

»Ich bin ausgeruht.«

Er belegte mich mit einem Blick, den ich zunächst nicht deuten konnte. »Was soll das, Rieke? Willst du mir auf dem letzten Meter doch noch ein schlechtes Gewissen einreden? Du hast dich entschieden, hierzubleiben. Also sag jetzt nicht, du hättest deine Meinung geändert.«

»Unsinn! Es bleibt dabei. Ihr reist ohne mich«, beteuerte ich.

»Dann ist es ja gut.«

Ich musste schlucken, denn insgeheim hatte ich gehofft, dass er mich bittet, doch mitzukommen.

›Schatz, bitte überlege es dir. Auch wenn du nicht mit zum Skilaufen kannst, ist es doch die Hauptsache, dass wir zusammen sind. Ich würde dich viel zu sehr vermissen, um die Zeit genießen zu können‹.

Ja, diese Worte hatte ich mir von ihm erhofft. Aber die erwiderte er nicht. Stattdessen wirkte er erleichtert.

Doch dann überraschte er mich. »Für unseren letzten Abend habe ich mir etwas ganz Besonderes überlegt. Ich werde dich ganz groß ausführen. Wir schlemmen bei Franco. Schon vor Wochen habe ich uns einen Tisch reserviert. Wir schmeißen uns schick in Schale und lassen uns kulinarisch verwöhnen. Fünf Gänge sind Minimum.«

Ich war davon ausgegangen, dass er die Zeche aus unserer Gemeinschaftskasse begleicht. Aber mein knauseriger Marco hat die Rechnung tatsächlich aus eigener Tasche gezahlt.

»Das machen wir viel zu selten. Sobald ich wieder zurück bin und du vollständig wiederhergestellt bist, werden wir uns dieses Vergnügen häufiger gönnen«, versprach er hoch und heilig, beugte sich über den Tisch und küsste mich.

Mein Taxifahrer holt mich ins Hier und Jetzt zurück. »Soll ich auf Sie warten?«

»Ich fürchte, das lohnt sich nicht für Sie.«

Er grinst. »Taxifahren lohnt sich schon lange nicht mehr. Aber für einen toughen Fahrgast warte ich gern.«

»Sie halten mich für tough?«

»Absolut. Ich hole ständig Leute vom Krankenhaus ab. Meist jammern sie und bemitleiden sich. Aber Sie habe ich noch kein einziges Mal klagen hören.«

»Augen zu und durch, lautet mein Motto.«

Wenig später verlasse ich erfreut die Praxis. Noch bevor ich wieder ins Taxi steige, rufe ich in der Firma an. Überglücklich verkünde ich meinem Chef, dass er in der kommenden Woche mit mir rechnen könne.

»In der nächsten Woche?«

»Ja, Montag werde ich wieder an Bord kommen. Zwar bin ich noch nicht zu hundert Prozent leistungsfähig, aber ich kann es kaum erwarten, endlich wieder anzupacken.«

»Ab Montag hast du Urlaub, Rieke.«

»Ich brauche keine weitere Schonzeit.«

»Es freut mich zu hören, dass es dir besser geht, aber hier wirst du nicht gebraucht. Ich war gezwungen, Ersatz für dich einzustellen. Deine Vertretung hat noch einen Vertrag für die nächsten drei Wochen. Werde erst wieder topfit. Wir sehen uns im März in alter Frische.«

Dass er mir, ohne mit der Wimper zu zucken, erklärt, ich würde nicht gebraucht werden, fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht.

»Alles klar«, stammle ich und beende das Gespräch.

Meine Euphorie ist abrupt verflogen. Das entgeht auch meinem Fahrer nicht. Ich bin froh, dass er nicht fragt, wer oder was mir die Laune verhagelt hat, sondern sich lediglich erkundigt, ob er mich nach Hause fahren soll.

Ich nicke, obwohl mir davor graut, weitere vierzehn Tage in Einzelhaft verbringen zu müssen.

Gerade schließe ich auf, als das Telefon im Wohnzimmer klingelt. So schnell, wie es mir möglich ist, nehme ich den Anruf entgegen.

»Ist er noch gar nicht weg?«, höre ich meine Mutter fragen.

Ich mag es gar nicht, wenn sie Marco nicht beim Namen nennt.

»Schon längst. Wieso fragst du?«

»Weil sein Wagen auf dem Parkplatz steht.«

»Er ist bei Paul und Johanna mitgefahren.«

Ich überlege, woher sie das wissen kann, als es klingelt. Kurzum betätige ich den Summer und warte, bis sie mit ihrer Weekendtasche unter dem Arm die vierte Etage erreicht.

»Was hast du denn alles mitgebracht?«

»Vorspeise, Hauptgericht, Dessert und mein Nachthemd.«

Sie stellt diverse Töpfe auf die Herdplatten und deckt den Tisch. Weil ich ihr nicht zur Hand gehen darf, schaue ich gedankenversunken aus dem Fenster und betrachte die Regentropfen, die an die Scheibe prasseln. Laut Vorhersage soll das Wetter die nächsten Tage wechselhaft bleiben. Eine nette Umschreibung für trübes Grau in Grau. In Tirol hat es geschneit. Die Gegend gleicht einem weißen Winterwunderland, wie Marco mir gerade per SMS mitteilt.

Mutter bittet zu Tisch. Wortlos stelle ich mein Handy aus und lege es auf die Anrichte.

Wir beginnen mit einer klaren Suppe, die sie meisterlich zubereiten kann. In der kräftigen Brühe schwimmen Eierstich, Möhren, Lauch und Spargelspitzen.

»Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Hühnersuppe medizinische Wirkung besitzt und als bestes Heilmittel für Körper, Herz und Seele gilt.«

»Übertreibe nicht, Mama. Erwiesen ist lediglich, dass Hühnersuppe bei Erkältung hilft.«

Mit ihrem gefürchteten Röntgenblick schaut sie mich an. »Wenn du nicht verschnupft bist, was ist denn mit dir los?«

»Nichts. Alles ist gut.«

Wir essen, ohne ein Wort zu wechseln.

»Sehr gesprächig bist du nicht«, beschwert sie sich.

»Was soll ich dir erzählen? Ich erlebe doch nichts.«

»Wenn das der einzige Grund für deine Verschwiegenheit ist, dann weiß ich was für dich«, erklärt sie, erhebt sich vom Stuhl und verschwindet im Flur. Mit ihrer Handtasche kehrt sie an den Tisch zurück und überreicht mir einen Umschlag. »Mach mal auf!«, befiehlt sie in einer Tonlage, die keinen Widerspruch zulässt.

Während ich einen Reisegutschein aus dem Kuvert ziehe, räumt sie das Geschirr ab.

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