×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Goldschmiede im Sternenweg«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Goldschmiede im Sternenweg« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Goldschmiede im Sternenweg

Als Buch hier erhältlich:

Zusammen ist alles besser als allein

Im Sternenweg entdeckt Paula die alte Schmiede und ist sofort verzaubert. Doch die Nachbarschaft fordert Paulas Nervenkostüm heraus. Die Kinder von nebenan stellen ihr gefüllte Wassereimer vor die Tür, der ehemalige Bergarbeiter hört nicht auf zu plaudern, und die Lebkuchenbäckerin will ihr immer mehr Gebäck in die Tasche stapeln. Es scheint, dass Paula zur rechten Zeit am falschen Ort ist. Aber als das ganze Dorf einschneit und ihr altes Funkgerät die einzige Verbindung zur Außenwelt ist, merkt sie, dass sie gern gebraucht wird und hinter der manchmal gewöhnungsbedürftigen Fassade der Nachbarn sehr liebenswerte Seelen wohnen.


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003930

Leseprobe

Kapitel 1

Der Bahnhof von Lautenbach war deutlich kleiner, als Paula ihn in Erinnerung hatte. Das alte Bahnhofsgebäude mit dem Schieferdach duckte sich neben dem ersten von zwei Gleisen, und Absperrband verschloss seine Tür. Früher hatte es hier einen Warteraum gegeben. Als Paula weggezogen war, um zu studieren, hatte sie von Plänen gehört, dass ein Fast-Food-Restaurant in das Gebäude einziehen solle. Offensichtlich war daraus nie etwas geworden.

Sie zerrte am Griff ihres Koffers, bis er ausfuhr und sie das Gepäckstück hinter sich herziehen konnte. Während sie den Bahnsteig hinunterging, blickte sie sich suchend um. Ihre Eltern hatten versprochen, sie abzuholen. Sie würden das doch nicht etwa vergessen haben?

Der Bahnhof lag am Rand des Tals, in dem Lautenbach sich erstreckte, und so klein er Paula nach den Jahren, die sie in der Stadt verbracht hatte, auch vorkam, die Berge ringsum schienen gewachsen zu sein. Kluftig und bedeckt von dunklen Tannenwäldern ragten sie in den klaren Winterhimmel.

Der Harz war natürlich nicht das beeindruckendste Gebirge, das Paula je gesehen hatte, es fehlten die verschneiten, jungen Gipfel, die sie von ihren Skiurlauben in den Alpen kannte. Aber nach ihrer Zeit in Frankfurt strahlte er für sie dennoch eine raue Wildheit aus, die sie nicht mehr gewohnt war.

Auch die Kälte kam ihr beißender vor. Die Finger, die den Griff des Koffers hielten, schmerzten nach kurzer Zeit. Paula wünschte, sie hätte Handschuhe eingepackt.

Sie erreichte den Weg, der am Bahnhofsgebäude zur Straße führte. Der Koffer sprang und holperte über Kopfsteinpflaster, und Paula fluchte, als er umkippte. Immerhin trug sie flache Schuhe und musste nicht auch noch mit Absätzen auf dem unebenen Boden kämpfen.

Endlich erreichte sie den kleinen Parkplatz vor dem Bahnhof. Zwischen Grünstreifen mit kahlem Gestrüpp darauf stand dort ein einziges Auto. Als Paula sich näherte, öffnete sich die Fahrertür.

»Da bist du ja! Komm, beeil dich! Du musst doch frieren!«

Paula beschleunigte ihre Schritte. »Du hättest mir sagen können, dass du auf dem Parkplatz wartest!«

Ihre Mutter war sichtlich gealtert. Die Frau, die Paula damals eröffnet hatte, dass sie ihr nicht die Meisterprüfung zur Goldschmiedin bezahlen würde und darauf bestehe, dass Paula etwas Anständiges lernte, hatte ihre Falten noch unter deutlich weniger Make-up zu verstecken versucht. Die Hände, die Paulas Mutter zur Begrüßung nach ihr ausstreckte, waren knotiger geworden, darüber konnten auch die perfekt manikürten Fingernägel nicht hinwegtäuschen.

Doch auch die Wut, die zwischen ihnen stand und die Paula seit Jahren von Lautenbach ferngehalten hatte, war ein wenig abgekühlt. Also ergriff sie die Hände und ließ sich zwei dicke Schmatzer auf die Wangen drücken. Der vertraute Geruch nach dem bevorzugten Parfüm ihrer Mutter hüllte sie ein.

Zufrieden schob Marion ihre Tochter ein Stück von sich. »Gut siehst du aus! Du hast was aus dir gemacht.«

Paula hatte es nicht geschafft, den Hosenanzug für den Geschäftstermin morgen so in den Koffer zu bekommen, dass er nicht knitterte, und ihn kurzerhand auf der Fahrt getragen. Der Kunde war wichtig, das hatte ihr Chef ihr mehrfach eingeschärft. Er besaß mehrere Touristenattraktionen in ganz Deutschland, und auch wenn diese hier nur ein altes Bergwerk war, versprach der Kontakt weitere Aufträge.

»Danke«, sagte sie, obwohl ihr ganz andere Worte auf der Zunge lagen. Ihr Traum war es gewesen, ihren eigenen Schmuck herzustellen und zu verkaufen. Stattdessen entwarf sie jetzt die Marketingkampagnen anderer Leute.

Ihr Koffer landete im Kofferraum, und wenig später saß Paula auf dem Beifahrersitz und wärmte sich die Hände an der Autoheizung.

»Ich hatte ganz vergessen, wie kalt die Winter hier sind«, sagte sie.

Ihre Mutter lächelte. »Keine Sorge, die nächsten Tage sollen ein bisschen wärmer werden. Um die null Grad. Dann kriegen wir vielleicht endlich auch Schnee. Die letzte Zeit war zu kalt dafür. Aber kein Schnee an Weihnachten, das wäre traurig.«

Paula nickte. Eine Woche Geschäftstermine, dann Weihnachten. Danach ging es wieder nach Hause. Das konnte sie schaffen. Sie hatte ihre Eltern so lange nicht gesehen, inzwischen konnten sie den alten Groll sicher begraben. Vielleicht würde sogar eine Entschuldigung von ihrer Mutter herausspringen dafür, dass sie ihr ihren Lebenstraum ruiniert hatte.

Die besten Voraussetzungen für ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest in der Familie.

»Wir haben so lange nichts mehr von dir gehört. Erzähl doch mal, wie ist es in der großen Stadt?«

»Groß«, antwortete Paula knapp. Doch wenn sie eine Versöhnung wollte, dann musste sie ihrer Mutter wohl oder übel entgegenkommen. Ihre Ankunft hier war der erste Schritt gewesen, es war klar, dass sie würde weitergehen müssen. »Ich bin letztes Jahr noch mal umgezogen«, fügte sie hinzu. »Jetzt habe ich eine nette Altbauwohnung ganz in der Nähe der Arbeit.«

»Oh, du musst uns mal einladen!«

Ja, vielleicht würde Paula das sogar tun. Vorausgesetzt, der Besuch in Lautenbach lief gut.

Als wäre der Gedanke ein Stichwort gewesen, nahm Marion den Blick kurz von der Straße, um ihre Tochter anzulächeln. »Ich wette, du bist inzwischen froh, nicht hier in diesem verschlafenen Nest Goldschmiedin geworden zu sein.«

Paula nahm die Hände von der Heizung. Mit einem Mal war ihr warm genug. Wie es aussah, war ihr Groll doch noch nicht weit genug abgekühlt. Es hatte nur einen Funken gebraucht, um ihn wieder aufflammen zu lassen, und die Tatsache, dass ihre Mutter noch immer nicht bereute oder zumindest verstand, was sie ihrer Tochter damals verwehrt hatte, reichte aus.

»Du hattest nicht das Recht, das für mich zu entscheiden!«

Paulas Mutter lächelte weiter. »Es ist mein Geld, Liebes. Ich entscheide, wofür ich es ausgebe.«

Oh, wie sehr Paula diese Art der Argumentation hasste. »Es ist mein Leben!«

»Und? Du hast eine schöne Altbauwohnung in Frankfurt und einen Job bei einer angesehenen Marketingagentur, der dich in interessante Gegenden verschlägt. Was willst du mehr?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Paula eisig. »Vielleicht das tun, was ich eigentlich tun wollte.«

»Ach Liebes, jetzt sei doch nicht so. Du bist gerade erst angekommen. Wir wollen jetzt nicht direkt streiten.«

Paula verbiss sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Stattdessen lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und schwieg. Sie hatte nicht vorgehabt, gleich am ersten Abend das kritische Thema anzusprechen. Aber ihre Mutter hatte es ja mal wieder nicht lassen können. Vielleicht hätte sie doch ein Hotelzimmer nehmen sollen. Vielleicht hätte sie zwischendurch öfter herkommen sollen, nur um nicht zu vergessen, wie frustrierend Gespräche mit ihrer Mutter sein konnten.

»Dein Vater macht Lasagne«, plapperte Marion unbeeindruckt weiter. »Lass uns den Abend genießen. Ich freue mich so sehr, dass du wieder hier bist. Und ich bin stolz auf dich. Du hast wirklich etwas aus dir gemacht.«

Paula antwortete nicht mehr. Es war nur eine Woche. Sie konnte vor Weihnachten wieder heimfahren, wenn sie wollte. Anstatt auf ihre Mutter konzentrierte sie sich auf das, was jenseits des Autofensters lag.

Lautenbach war ein malerisches kleines Städtchen. Schmale Gassen, durch die das Auto gerade so hindurchpasste, und Fachwerkhäuser, deren obere Stockwerke sich einander entgegenneigten. Auch die Fassaden der etwas moderneren Häuser waren mit Schiefer vertäfelt. Man schaute durch hölzerne Fensterkreuze in die Welt hinaus.

Sie ließen die Stadtmitte hinter sich und fuhren auf der anderen Seite des Ortes wieder den Hang hinauf. Paulas Eltern wohnten in einer Sackgasse. Hinter dem Haus erhob sich direkt der Wald.

Als sie in den Sternenweg abbogen, schaute Paula sich neugierig um. Da war die Lebkuchenbäckerei, die sie in ihrer Kindheit schon geliebt hatte. Der alte Volker führte sie bestimmt nicht mehr, aber offensichtlich hatte sich ein Nachfolger gefunden.

Paulas Mutter bemerkte den Blick. »Irgend so ein Schwuler hat die Bäckerei übernommen.«

Paula schnappte nach Luft. »Mama, du kannst nicht einfach rumlaufen und Leute schwul nennen!«

»Der ist aber einer«, behauptete Paulas Mutter stur. »Die Rosi hat ihn auf dem Weihnachtsmarkt mit einem aus dem Nachbarsdorf gesehen. Das war sehr unanständig, hat sie gesagt.«

»Oh Gott, Mama, wir leben im 21. Jahrhundert.« Das war etwas, das Paula ganz sicher nicht vermisst hatte: der Dorfklatsch. Sie erinnerte sich noch gut an die Gespräche im Supermarkt. Ich hab gehört, du willst in die Stadt ziehen? Das freut mich aber für dich.

Teilweise hatte Paula noch nicht einmal die Namen der Leute gekannt, die sie angesprochen hatten. Alles wahrscheinlich Freunde ihrer Mutter oder Freunde dieser Freunde.

Einige Häuser weiter führte Paulas Mutter ihren Kommentar fort. »Die Margarete ist letztens gestorben. Erinnerst du dich? Margarete Künzel. Der Lothar wohnt jetzt ganz allein in dem maroden Haus. Das tut ihm nicht gut, muss ich sagen. Es wird Zeit, dass der ins Heim zieht.«

Mit dem Ehepaar Künzel hatte Paula sich immer gut verstanden, als sie jünger gewesen war. Sie hatten einen süßen kleinen Yorkshireterrier gehabt, und hin und wieder hatte Paula ihn ausführen dürfen. »War die Beerdigung schon?«

»Ja, ist schon zwei Monate her. Ich hätte es dir ja erzählt, aber du rufst so selten an.«

Paula ignorierte den unterschwelligen Vorwurf. »Es tut mir sehr leid für den Lothar.«

»Ja«, stimmte ihre Mutter sofort zu. »Schrecklich, das. Aber sie hatte ein langes erfülltes Leben, würde ich sagen. Die ist über achtzig geworden!«

Am nächsten Haus blieb Paulas Blick lange hängen. Im Vorbeifahren drehte sie sich in ihrem Sitz, um sich noch nicht davon lösen zu müssen. Die Farbe der Fachwerkfassade blätterte ab, der kleine Vorgarten war verwildert, das alte Schaufenster staubig und stumpf. Doch im oberen Teil des Hauses brannte Licht.

»Jemand hat die Goldschmiede übernommen?«

Karl-Heinz Jansen, ihr alter Lehrmeister, war eine Woche vor Paulas Meisterprüfung mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus gekommen und kurz darauf verstorben. Die Erinnerung an die Sirene des Krankenwagens mitten in der Nacht, der nur ein paar Häuser von ihrem Elternhaus entfernt hielt, kam mit Wucht zurück. Paula hatte damals schnell Schuhe und Jacke übergestreift, war in den kalten Januar hinausgelaufen und hatte versucht zu erfahren, was passiert war. Man bringe den älteren Herrn ins Krankenhaus, hatten die Sanitäter ihr gesagt. Nicht mehr, da sie ja nicht zur Familie gehörte. Hilflos hatte sie auf der dunklen Straße gestanden und dem blauen Blinken hinterhergesehen.

Mit Karl-Heinz Jansen waren auch ihre Träume gestorben.

Die Meisterprüfung anderswo zu machen, das wäre teuer geworden. Ein guter Vorwand für Paulas Mutter zu unterbinden, was sie sowieso nie gutgeheißen hatte.

»Ach ja«, drang Marions Stimme durch den Nebel der Erinnerung. »Das ist irgendeine Fremde, ich glaube, aus der Pfalz, oder so. Sie redet nicht viel mit den Nachbarn, aber hin und wieder kommen Handwerker, die irgendwas renovieren.«

Eine Mischung aus Neid und Erleichterung durchzuckte Paula. Das hätte sie sein können, sie hätte dieses Geschäft übernehmen können. Gleichzeitig war sie froh, dass die alte Schmiede nicht einfach so verfiel. Hier hatte sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht. Hoffentlich kümmerte sich die neue Besitzerin gut darum.

»Bleibt es eine Goldschmiede?«, fragte sie.

»Die Rosi behauptet, ja. Die Cousine von der Rosi hat beim Bäcker letzte Woche ein bisschen mit der Neuen reden können.« Paulas Mutter steuerte das Auto in die Einfahrt ihres eigenen Hauses, und die Schmiede verschwand hinter der Hecke rund um das Grundstück. Paula wandte sich wieder nach vorne. Eine neue Goldschmiedin direkt neben ihrem Elternhaus. Wenn das nur sechs Jahre früher passiert wäre.

Das Brummen des Motors erstarb, und Paula stieg aus, holte ihren Koffer aus dem Kofferraum.

»Dein altes Zimmer ist jetzt mein Büro«, sagte ihre Mutter. »Aber das Bett steht noch drin. Ich hab’s dir hergerichtet.« Sie eilte über den Kiesweg von der Garage zur Eingangstür. Diesmal beschloss Paula, den Koffer einfach zu tragen.

Direkt an der Eingangstür schlug ihr der Duft von Lasagne entgegen. Paula atmete tief ein. Wenn ihr Vater kochte, war es immer lecker.

»Thomas!«, rief ihre Mutter. »Rate mal, wer da ist!«

Paulas Vater erschien mit einem Lächeln in der Küchentür.

Sie ließ ihren Koffer stehen und lief ihm entgegen. Ihn hatte sie tatsächlich vermisst. Während er sie in eine feste Umarmung schloss, lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Er hatte ein wenig zugenommen in den letzten Jahren, war wie ein Kissen, in das sie hineinsinken konnte. Als Kind hatte sie sich immer gerne bei ihm angekuschelt, während er ihr Geschichten erzählt hatte.

»Hallo, Liebes«, brummte er. »Willkommen zurück im Sternenweg.«

Kapitel 2

Der nächste Morgen empfing Paula mit Sonnenschein, der sie an der Nase kitzelte. Sie kniff die Augen fester zu und drehte sich zur Wand. Wo kam die blöde Sonne denn her? Ihr Apartment lag im Schatten der Frankfurter Wolkenkratzer.

Und Moment, wenn die Sonne schon schien, kam sie dann nicht viel zu spät zur Arbeit?

Schlagartig saß Paula aufrecht im Bett.

Im nächsten Moment atmete sie lang aus.

Sie war nicht in Frankfurt. Sie war gestern zu ihren Eltern gefahren, und nun lag sie auf der Klappcouch, die ihre Mutter anstelle des Bettes in Paulas altes Zimmer gestellt hatte. Sie musste heute nicht ins Büro.

Während sich Paulas Herzschlag langsam wieder beruhigte, ließ sie den Blick durch ihr ehemaliges Zimmer schweifen. Daran, dass diesmal ihr Kinderzimmer gewesen war, erinnerte praktisch gar nichts mehr. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Schreibtisch, daneben ein paar Regale mit Ordnern. Sie waren mit »Steuererklärung« beschriftet oder mit »Krankenkasse«.

Die Wand gegenüber der Tür bestand aus einer Dachschräge mit etwa fünfzig Zentimeter hohem Kniestock, nur durchbrochen von einem Dachflächenfenster. Davor hing immer noch der lila Vorhang, den Paula sich als Teenager selbst ausgesucht hatte. Immerhin etwas Vertrautes.

Sie tastete nach ihrem Handy auf dem kleinen Beistelltisch neben der Couch. Es war bereits kurz vor zehn. Offensichtlich hatte die Fahrt gestern sie mehr geschlaucht als gedacht.

Es bedeutete außerdem, dass sie noch ein paar Minuten hatte, bis ihr Wecker klingelte, der sie daran erinnern sollte, sich auf den Kundentermin vorzubereiten. Dass sie so lange schlafen würde, war nicht geplant gewesen. Sie war zum Mittagessen mit den Kunden verabredet. Ein Frühstück lohnte sich jetzt wohl nicht mehr, aber ein Kaffee klang nach einer guten Idee.

In der Küche war niemand, als Paula dort noch im Schlafanzug hineinlugte. Die Stimme ihrer Mutter erklang aus dem Wohnzimmer, offensichtlich sprach sie mit irgendwem am Telefon. Gut, vielleicht bedeutete das, dass Paula ihre Ruhe hatte, bis sie losmusste.

Untermalt vom Gurgeln der Kaffeemaschine checkte Paula ihre E-Mails. Ihr Chef wollte wissen, wo die Unterlagen für ein Plakat-Werbeprojekt waren, das nächste Woche in den Druck gehen sollte. Geduldig beschrieb Paula ihm erneut, wo sie sie abgelegt hatte. Eine Info, die sie in ihrer Übergabe besprochen hatten, bevor Paula sich auf die Reise gemacht hatte. Einem Mailaustausch zwischen ihren Kollegen konnte sie entnehmen, dass einer krank war und keiner der anderen den wichtigen Anruf bei einem Kunden übernehmen konnte, der für heute geplant war. Paula seufzte und tippte auch hier eine Antwort: Hat sich da inhaltlich seit Montag etwas getan? Wenn nicht, bin ich auf dem neusten Stand und kann den Anruf nach meinem Mittagstermin übernehmen.

Bevor eine Antwort eintrudeln konnte, legte sie ihr Handy beiseite und starrte einen Moment lang aus dem Küchenfenster. Auch hier verdeckte die Gartenhecke die Sicht auf die Goldschmiede ein paar Häuser weiter, aber Paula glaubte, ihre Präsenz zu spüren. Sie hatte sich dort tagelang auf eine einzelne Aufgabe konzentrieren können. Morgens hatte sie ein Schmuckstück angefangen, hatte sich immer weiter in Details verloren, bis sich ihre Gedanken um nichts anderes mehr drehten. Irgendwann abends hatte ihr Meister sie sanft darauf hingewiesen, dass es Zeit wurde, nach Hause zu gehen. Keine Termine, keine Meetings, nur die Arbeit, in der sie versinken konnte.

Ihr Handy piepte, aber Paula ignorierte es und ging zur Kaffeemaschine hinüber. Was war nur los mit ihr? Lag es an den Worten ihrer Mutter und an dem Ort, der sie daran erinnerte, was sie hätte haben können? Sie war doch eigentlich ganz zufrieden mit dem Leben, das sie hatte. Ja, es war nicht das, was sie sich als Teenager erträumt hatte, aber wer hatte das schon? Ihre Freundinnen aus der Schule waren doch auch nicht Model oder Schauspielerin geworden.

Wenn sie das Goldschmieden so sehr vermisste, sollte sie vielleicht in ihrer Freizeit wieder damit anfangen. Abends, oder … Gut, wahrscheinlich nicht abends. Da war sie meistens zu erschöpft von der Arbeit. Aber am Wochenende? Vielleicht wurde es Zeit, ein bisschen weniger Arbeit mit nach Hause zu nehmen, jetzt, wo sie keine Berufsanfängerin mehr war und die Probezeit hinter sich hatte. Ob sie das schaffen konnte? Oder würde es am Ende darauf hinauslaufen, dass sie ihre wenige Freizeit auf mehr Dinge aufteilen musste? Frankfurt hatte einiges zu bieten, das sie hin und wieder gerne genoss. Indie-Konzerte, Kulturfeste, Ausstellungen. Irgendwann musste sie zwischendurch immerhin auch mal aus dem Haus kommen.

Als Paula sich gerade eine Tasse Kaffee eingeschenkt hatte, hörte sie den Schlüssel in der Haustür klicken. Kurze Zeit später kam ihr Vater in die Küche gestapft, voll mit Einkäufen beladen. Als er Paula sah, lächelte er.

»Ich habe dir Mousse au Chocolat mitgebracht. Isst du das immer noch so gerne?«

Paula strahlte. Die fluffige Schokoladenmousse war definitiv eine ihrer Lieblingsspeisen. »Danke.«

Das Lächeln ihres Vaters wurde breiter. Paula ließ ihren Kaffee zum Abkühlen stehen und half ihm, die Einkäufe einzuräumen.

»Wie gefällt es dir in Frankfurt?«, fragte er. Beim Abendessen am vergangenen Tag hatte Paulas Mutter zu viel geredet, als dass ein echtes Gespräch mit ihrem Vater möglich gewesen war.

»Gut«, sagte Paula wahrheitsgemäß. Sie erzählte von dem letzten Konzert, das sie besucht hatte, von einer kleinen Band, die israelischen Folk Rock spielte.

Ihr Vater lachte. »Was es alles gibt.«

»Seit ich wieder hier bin, merke ich aber, wie sehr ich das Schmieden vermisse«, fuhr Paula fort. Ihr Vater würde das eher verstehen als ihre Mutter.

Er wandte den Blick ab, plötzlich ernst. Für eine Weile herrschte Schweigen in der Küche, während er das restliche Gemüse in den Kühlschrank sowie Nudeln, Reis und einige Dosen in die kleine Vorratskammer zwischen der Spüle und dem Fenster räumte.

Paula wartete. Er hatte nie viel zu dem Streit zwischen ihr und ihrer Mutter gesagt, aber da waren immer diese kleinen Gesten gewesen, die sie trösten sollten. Sicher tat es ihm leid, dass er nicht mehr für sie eingestanden war. Vielleicht konnten sie nach all den Jahren richtig darüber reden?

»Musst du heute irgendwohin gefahren werden?«, fragte er stattdessen. »Du weißt ja, wie das mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hier ist. Und es muss ja nicht sein, dass du ein Taxi nimmst.«

So ging er also damit um, dass er es damals nicht geschafft hatte, seiner Frau zu widersprechen. Paula merkte, wie ihre Kiefermuskeln sich spannten. Er versuchte, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem er Dinge für sie tat. Aber das bedeutete wohl, dass sie eine Entschuldigung auch hier nicht bekommen würde.

»Meine Firma bezahlt das Taxi«, wehrte sie ab. »Ich bin inzwischen erwachsen, weißt du.« Die Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen. »Ich brauche eure Hilfe nicht mehr.«

Und inzwischen wollte sie sie auch nicht mehr.

Das Taxi brachte Paula aus Lautenbach heraus und bog dann auf eine Landstraße ab, die zwischen dunklen Tannen hindurchführte. Der Himmel zog zu, und die Schatten zwischen den Bäumen wurden tiefer. Vom morgendlichen Sonnenschein war nichts mehr zu merken. Als das Taxi schließlich auf einem Schotterparkplatz hielt und Paula ausstieg, bildete ihr Atem Wölkchen vor ihrem Gesicht.

Der Parkplatz gehörte zu einer Gaststätte namens Zum fröhlichen Wanderer. Das schien der Ort zu sein, an dem sie verabredet war. Trotzdem blickte sie dem Taxi nervös hinterher, als es davonfuhr. Hoffentlich hatte sie hier Empfang, um sich später eines zu rufen, das sie wieder zurückbrachte. Ein bisschen bereute sie es nun, nicht das Angebot ihres Vaters angenommen zu haben.

Als Paula sich gerade dem Gasthof zuwandte, fuhr ein weiteres Auto vor. Dieses hier war definitiv nicht für Schotterwege und Landstraßen gemacht. Der metallicrote Camaro hätte eher auf eine Rennstrecke gehört. Doch der Mann, der ausstieg, kam ihr bekannt vor. Sie hatte sein Gesicht schon in Videokonferenzen gesehen.

»Ah, Frau Schäfer«, begrüßte er sie, als Paula ihm entgegenging.

»Herr Dittmaier, da sind wir wohl fast gleichzeitig angekommen.« Sie schüttelte ihm die Hand und lächelte.

»Gut, ich hatte schon befürchtet, Sie würden hier bereits länger stehen. Ist Herr Ottmar schon da?«

»Ich war noch nicht drinnen, um nachzusehen.«

Sie tauschten Höflichkeiten aus, während sie die Gaststätte betraten. Dittmaier hatte sie kurz persönlich treffen wollen, sagte er, würde sich aber gleich wieder verabschieden müssen und den Rest Herrn Ottmar überlassen, dem Leiter des stillgelegten Bergwerks. Dittmaier selbst war der Besitzer.

Ottmar saß schon an einem Tisch in der urigen Gaststätte und studierte die Karte durch eine Brille mit eckigen Gläsern. Als sie näher kamen, blickte er auf. Er war ein Mann mittleren Alters mit sich zurückziehendem Haaransatz und passte deutlich besser in diese Gegend als sein Vorgesetzter. Er schüttelte Paula über den Tisch hinweg die Hand. »Es freut mich, dass Sie hier sind und sich die Silbermine selbst ansehen wollen.«

»Die Silbermine?«, fragte Paula. Davon hörte sie gerade zum ersten Mal.

»Das Bergwerk«, erklärte Dittmaier. »Wussten Sie noch nicht, dass hier Silber abgebaut wurde?«

Das war peinlich. Eigentlich hätte sie das wissen müssen, schließlich war sie hier aufgewachsen und wusste, dass die Gegend für ihre Silbervorkommen bekannt war. Außerdem hätte sie in ihrer Recherche zur Kampagne darauf stoßen müssen.

Paula räusperte sich und nahm auf einem leeren Stuhl Platz, um etwas Zeit zu gewinnen.

»Oh, natürlich«, versicherte sie. »Bisher haben wir nur immer von einem Bergwerk gesprochen.« Etwas unbeholfen versuchte sie, ihren Fehler zu überspielen. »Aber Silbermine klingt deutlich besser, finden Sie nicht? Mehr nach Spannung und Abenteuer. Wir sollten das im Hinterkopf behalten, wenn wir die Marketingkampagne konkretisieren.«

Dittmaier nickte zufrieden. Also alles noch mal gut gegangen.

Ottmar schob ihr währenddessen eine Speisekarte zu. »Ich würde Ihnen nach dem Essen gern eine Führung geben. Damit Sie ein Gefühl für den Ort bekommen.«

»Sehr gerne«, sagte Paula, obwohl sie eigentlich viel lieber abgelehnt hätte. Die Goldschmiede neben ihrem Elternhaus war wieder in Betrieb, nun ein Silberbergwerk, das sie sich ansehen sollte. Wollte ihr das Schicksal mit Macht unter die Nase reiben, was sie verpasst hatte, als sie nach Frankfurt gezogen war?

Etwas lustlos suchte Paula sich ein Gericht aus der gutbürgerlichen Küche aus. Vielleicht hätte sie doch schnell noch bei ihren Eltern etwas frühstücken sollen. Aber nun musste sie wohl mit einer Harzer Brotlaibsuppe vorliebnehmen.

Immerhin stellte Dittmaier sich als jemand heraus, der genau wusste, was er wollte, eine sehr positive Eigenschaft bei Kunden. »Das Bergwerk ist nur ein Teil von dem, was ich hier schaffen möchte«, erklärte er. »Was ich letztendlich will, ist ein ganzes Dorf voll mit Kunsthandwerkern und Bäckern und allem, was für die Gegend typisch ist. Ein Erlebnispark, wenn man es so will, aber ohne kitschige Kommerzialität. Es soll wie ein natürlich gewachsenes Dorf wirken, und ich möchte in der Vermarktung auf Wissensvermittlung setzen, ohne trocken zu sein. Machen Sie es spannend!«

Paula musste zugeben, dass sie die Idee mochte. Eine erfreuliche Abwechslung, wenn man bedachte, dass sich die letzte Marketingkampagne, für die sie zuständig gewesen war, um Handyverträge gedreht hatte.

Paula holte ihr Notizbuch heraus und schrieb sich Stichworte auf. »Wo sehen Sie sich denn auf dem Markt?«, fragte sie. »Welche Zielgruppe wollen Sie ansprechen?«

»Wissen Sie«, Dittmaiers Augen leuchteten, »ich nehme die Familien mit Kindern immer gerne mit, aber es gibt ein Publikum, das deutlich mehr Geld hat: die Leute, die auf Mittelaltermärkte gehen. Wir müssen gut genug sein, um deren Ansprüchen zu genügen. Authentisch und nicht zu klamaukig. Ernsthaft, hochwertig und einzigartig. Die Familien mit Kindern kommen dann von selbst.«

Er wusste wirklich sehr genau, was er wollte, und die Aufgabe würde nicht einfach werden. Aber vielleicht würde es von Vorteil sein, dass Paula sich mit der Gegend, mit Silber und dem Handwerk auskannte.

»Sie werden mindestens einen Goldschmied brauchen, der authentischen Schmuck herstellt«, sagte sie.

Dittmaier strahlte. »Ja, wir haben da eine talentierte Frau, die vor Kurzem erst aus Idar-Oberstein hergekommen ist. Kennen Sie den Ort? Liegt in der Pfalz. Große ehemalige Edelstein-Hochburg. Die verstehen was von Schmuck.«

Eine Goldschmiedin, die neu in der Stadt war – das konnte kein Zufall sein. »Diese Goldschmiedin hat nicht zufällig eine Werkstatt im Sternenweg übernommen?«

Dittmaier runzelte die Stirn. Offensichtlich kannte er sich in Lautenbach nicht aus.

»Ja, doch, im Sternenweg«, sagte Ottmar. »Woher wussten Sie das?«

Paula beschränkte sich auf ein geheimnisvolles Lächeln. »Ich mache eben meine Hausaufgaben.«

Das brachte ihr einen zufriedenen Blick von Dittmaier ein. Der Fauxpas von eben war offensichtlich vollständig vergessen.

»Gibt es eine Möglichkeit, mit ihr zu sprechen?«, fuhr Paula fort. Danach zu fragen fühlte sich beinahe an wie schummeln. Sie wollte mit dieser Frau sprechen, aber nicht unbedingt wegen der Marketingkampagne. Sie musste sicherstellten, dass das Erbe ihres alten Meisters in guten Händen war. Mit einem Mal war dieses Bedürfnis größer als alles andere. »Vielleicht würden sich ein paar ihrer Schmuckstücke auf Werbeplakaten gut machen«, log sie.

»Da haben Sie Glück«, Ottmar lächelte. »Sie ist heute Abend mit unter Tage, wie der Bergmann sagt. Sie wollte die Mine auch mal sehen. Wenn Sie nichts dagegen haben, führe ich Sie beide gleichzeitig herum?«

Paula merkte kaum, wie sie nickte. Plötzlich hielt die Nervosität sie fest in ihrem Griff. Sie würde noch heute die Frau treffen, die ihren Platz eingenommen hatte. Und sie hatte nicht die geringste Idee, was sie erwarten würde.

Der Eingang zum Bergwerk war moderner, als Paula erwartet hatte. Ottmar führte sie durch eine Stahltür in einen gefliesten Raum, der überraschende Ähnlichkeit mit einem der Umkleideräume hatte, die Paula aus dem Sportunterricht kannte.

Der Leiter des stillgelegten Bergwerks hatte sie freundlicherweise von der Gaststätte aus mitgenommen. Nun blickte sie sich skeptisch um. Wie sollte sie das hier denn als große Erlebnis-Tour verkaufen?

Mal sehen, was sie noch erwartete. Vielleicht wurde es ja hinter der nächsten Tür ansehnlicher und spannender. Auf dem Vorhof des Bergwerks hatte sie immerhin bereits die Loren bewundern können, kleine Wägelchen auf Schienen, mit denen man früher das Erz aus der Mine befördert hatte. Die vermittelten genau das Flair, das Dittmaier offensichtlich vorschwebte. Allerdings gab es dort auch große Laufbänder, die wohl in moderneren Zeiten die Loren ersetzt hatten. Hier würde man wohl auf die Weiterentwicklung der Technik und die Arbeitserleichterung für die Bergmänner hinweisen müssen.

»Es ist noch nicht so lange her, dass das Bergwerk stillgelegt wurde«, erklärte Ottmar, während er zu einem metallenen Spind hinüberging und einen Grubenhelm herauszog. »Hier, setzen Sie das auf. Frau Lehmann sollte auch bald da sein, denke ich.«

Paula drehte den Helm in den Händen. Das gelbe Plastik, aus dem er gemacht war, wirkte genauso modern wie der Rest dieses Raumes. Natürlich wusste sie, dass Grubenhelme in Bergwerken unumgänglich waren. Aber wenn sie in allem Marketingmaterial, das sie für das Bergwerk konzipierte, einen altertümlichen Flair herüberbringen wollte, dann würde sie keine Fotos von Besuchergruppen mit quietschgelben Helmen verwenden können.

Bevor sie jedoch etwas dazu sagen konnte, öffnete sich die Tür. Eine Frau trat ein, die ihr grau meliertes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte.

»Oh, bin ich zu spät?«

Ottmar wandte sich zu ihr um. »Nein, gar nicht.« Er drückte ihr ebenfalls einen Helm in die Hände. »Ich habe noch nicht mit meinen Erklärungen begonnen. Dann können wir ja jetzt loslegen.«

Während sich Ottmar über die Geschichte des Silberbergwerks bei Lautenbach erging, musterte Paula die Goldschmiedin. Sie war vielleicht zehn oder fünfzehn Jahre älter als Paula, hatte wahrscheinlich bereits einiges an Berufserfahrung vorzuweisen.

Nach einem Moment streckte sie Paula die Hand entgegen – sie musste ihren Blick bemerkt haben.

»Susanne«, stellte sie sich selbst leise vor in dem Versuch, Herrn Ottmar nicht in seinem Redefluss zu unterbrechen. Paula ergriff die Hand. Sie war an genau denselben Stellen schwielig wie die ihres alten Meisters.

»Oh, es tut mir so leid«, unterbrach ihr Grubenführer sich selbst in seinem Vortrag. »Ich habe vergessen, Sie vorzustellen. Das ist Frau Schäfer.« Er deutete auf Paula. »Sie ist für unsere neue Marketingkampagne zuständig. Und natürlich Frau Lehmann, unsere Goldschmiedin.«

Zu gerne hätte Paula sich anders vorgestellt, hätte von ihrer eigenen Schmiedeerfahrung erzählt. Stattdessen lächelte sie nur. »Paula«, ergänzte sie die Vorstellung von Herrn Ottmar, schließlich hatte sich die ältere Frau auch mit dem Vornamen vorgestellt. »Ich glaube, ich bin gestern an Ihrer Schmiede vorbeigekommen. Leben Sie sich gut ein?«

»Ach, es wird.« Susanne Lehmann erwiderte ihr Lächeln. »Ich wünschte, ich wäre nicht im Winter hergezogen. Es ist viel zu kalt!« Sie lachte. »Aber sobald die Wasserrohre im Haus neu isoliert sind und nicht mehr ständig einfrieren, wird mich das wahrscheinlich auch weniger stören.«

»War die Schmiede in so einem schlechten Zustand?« Das erschreckte Paula. Ihr alter Meister hatte darüber nie etwas gesagt.

Susanne Lehmann hob die Schultern. »Ein paar Jahre Leerstand richten immer viel Schaden an. Und der Vorbesitzer hat, glaube ich, sehr lange nichts mehr modernisiert.«

Leerstand, der nicht hätte passieren müssen. Paula presste die Lippen aufeinander. Sie hätte bleiben sollen. Vielleicht hätte sie einen Kredit aufnehmen können, um ihre Meisterprüfung zu beenden. Dann hätte sie die Schmiede übernehmen können und vielleicht irgendwann auch genug Geld gehabt, um sie wieder instand zu setzen.

»Es ist wirklich eine Schande, dass es keine Nachfolge für diesen Betrieb gab«, fuhr die Goldschmiedin fort. »Ich habe gehört, der Vorbesitzer hatte einen Lehrling, der dann aber lieber in irgendeine große Stadt gezogen ist, anstatt das Handwerk am Leben zu erhalten.«

Das traf. Paula öffnete den Mund, um zu protestieren, um sich selbst zu verteidigen, aber Ottmar kam ihr zuvor.

»Umso besser, dass wir nun Frau Lehmann haben«, verkündete er fröhlich. »Nun, wer hat Lust auf eine Führung?«

»Wir!«, erwiderte Susanne Lehmann genauso fröhlich. Offensichtlich verstanden sich die beiden gut.

Autor