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Die Meisterdiebin

Jordan Tavistock ist sich nicht sicher, ob er der Frau trauen soll: Clea Rice sagt, sie ermittelt in einem Versicherungsbetrug und ist daher auf der Suche nach dem "Auge von Kaschmir", einem legendären Dolch. Aber muss sie dafür nachts in ein fremdes Schlafzimmer eindringen? Als kurz darauf eine Bombe explodiert, die für sie bestimmt war, weiß er immerhin, dass Clea in Gefahr schwebt und er sie beschützen muss.

"Tess Gerritsen ist eine der Besten in ihrem Metier"

USA Today


  • Erscheinungstag: 12.09.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676021
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tess Gerritsen

Die Meisterdiebin

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Rainer Nolden

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Thief of Hearts

Copyright © 1995 by Terry Gerritsen
erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. / S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Sergey Klopotov, Jeffrey Hamilton, koosen / Thinkstock

ISBN eBook 978-3-95967-602-1

www.harpercollins.de

PROLOG

Simon Trott stand auf dem schwankenden Deck der Cosima, als er die Flammen bemerkte, die in der samtschwarzen Nacht loderten. Es war kein gleichmäßiges Feuer, das nur wenige Meilen vor der Küste entbrannt war, sondern eine Reihe von Explosionen, die in einem Funkenregen auf die Wellen niedergingen.

„Das ist sie, die Max Havelaar“, sagte der Kapitän zu Trott, als beide Männer über den Bug starrten. „Den Flammen nach zu urteilen wird sie bald untergehen.“ Er drehte sich zum Steuermann um. „Volle Kraft voraus!“, schrie er.

„Die Detonationen wird wohl niemand überlebt haben“, sagte Simon Trott.

„Sie haben einen Notruf abgesetzt. Einer muss also noch am Leben sein.“

„Oder er war am Leben.“

Während sie sich dem sinkenden Schiff näherten, schossen immer wieder unvermittelt Flammen in die Luft. Funken und auslaufender Treibstoff verwandelten die Wasseroberfläche in einen brennenden Teppich.

Der Kapitän versuchte das Motorendröhnen der Cosima zu übertönen: „Langsam! Auf dem Wasser schwimmt Diesel.“

„Ich drossele den Motor“, rief der Steuermann.

„Halt nach Überlebenden Ausschau!“

Trott hangelte sich an der Reling nach vorn und starrte über das Inferno. Das Heck der Max Havelaar versank, während sich der Bug zum mondlosen Himmel neigte. Nur noch wenige Minuten, dann würde das Schiff in den Wellen versinken. An dieser Stelle war das Wasser tief und eine Bergung praktisch unmöglich. Die Max Havelaar würde zwei Seemeilen vor der spanischen Küste ihre ewige Ruhe auf dem Meeresgrund finden.

Eine weitere Explosion donnerte durch die Nacht, ein neuer Funkenregen prasselte nieder und zeichnete goldene Flecken auf die Wellen. In den wenigen Sekunden, bevor das gleißende Licht erstarb, bemerkte Trott eine Bewegung in der Dunkelheit. Etwa hundert Meter von der Havelaar entfernt und in sicherem Abstand zum Feuer schaukelte ein länglicher, flacher Gegenstand auf dem Wasser. Schon hörte er die Männer rufen.

„Hier! Wir sind hier!“

„Das Rettungsboot.“ Der Kapitän lenkte den Suchscheinwerfer in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. „Da, auf zwei Uhr.“

„Ich sehe sie.“ Sofort änderte der Steuermann den Kurs und steuerte die Cosima vorsichtig durch die brennende Diesellache. Im Näherkommen hörte Trott die Jubelschreie der Überlebenden. Es war ein Gewirr italienischer Wortfetzen. Wie viele mögen in dem Boot wohl sein, fragte er sich, während er angestrengt ins Dunkel starrte. Fünf, vielleicht sechs. Der Kapitän richtete den Lichtstrahl auf sie. Trott sah, wie sie ihnen erleichtert zuwinkten. Sie waren froh, am Leben zu sein, und froh, dass die Rettung so nahe war.

„Sieht so aus, als hätte es die gesamte Mannschaft geschafft“, sagte der Kapitän.

„Wir brauchen jeden Mann an Deck.“

Der Kapitän drehte sich um und bellte einige Befehle. Sekunden später stand die komplette Mannschaft der Cosima an Deck versammelt. Schweigend starrten die Männer über die Reling auf das schaukelnde Rettungsboot.

Endlich erkannte Trott auch die Zahl der Überlebenden. Es waren sechs Männer. Die Havelaar hatte aber in Neapel mit acht Seeleuten an Bord abgelegt. Waren die beiden anderen noch im Wasser?

Er drehte sich um und schaute auf die Ufersilhouette in der Ferne. Mit etwas Glück und Kondition konnte ein Mann diese Distanz schwimmend zurücklegen.

Das Rettungsboot dümpelte steuerbord.

Trott rief: „Hier ist die Cosima. Geben Sie sich zu erkennen!“

„Max Havelaar“, schrie einer der Männer im Rettungsboot.

„Ist das Ihre gesamte Mannschaft?“

„Zwei sind tot.“

„Sind Sie sicher?“

„Motor explodiert. Ein Mann gefangen unter Deck.“

„Und der achte Mann?“

„In Wasser gefallen. Nicht schwimmen.“

Damit ist der achte Mann so gut wie tot, überlegte Trott. Er ließ seinen Blick über die Mannschaft der Cosima schweifen. Sie erwartete seine Befehle.

Jetzt schwamm das Rettungsboot fast parallel.

„Noch ein wenig näher“, rief Trott hinunter. „Damit wir die Rettungsleine werfen können.“

Einer der Männer im Rettungsboot stand auf, um die Leine zu fangen.

Trott drehte sich um und gab seinen Leuten das Signal.

Die erste Gewehrsalve traf einen Mann, der als Erster die Arme nach den vermeintlichen Rettern ausstreckte. Ihm blieb nicht einmal Zeit, aufzuschreien. Im Kugelhagel, der nun von der Cosima herüberzischte, stürzten die Männer heillos durcheinander. Das erbarmungslose Knattern der Automatikwaffen übertönte ihre Schreie und das dumpfe Geräusch fallender Körper.

Dann wurde es still, nur die Wellen schwappten leise gegen die Planken der Cosima. Im Rettungsboot lagen die Leichen kreuz und quer übereinander.

Nach einer letzten Explosion spie noch ein gleißender Funkenregen in die tiefschwarze Nacht. Die Reste des Bugs der Max Havelaar schossen nach oben und sanken dann wie in Zeitlupe in der Tiefe hinab.

Das von Schüssen durchsiebte Rettungsboot lag schon halb unter Wasser. Einer der Männer auf der Cosima wuchtete einen Anker über die Reling und ließ ihn auf die Leichen fallen. Das Rettungsboot kippte zur Seite, und die leblosen Körper versanken im Meer.

„Wir haben unseren Auftrag erledigt, Captain“, sagte Trott kalt und drehte sich zum Steuerruder. „Ich schlage vor, wir fahren zurück …“

Er erstarrte. In etwa fünfzig Meter Entfernung hatte sich etwas auf dem Wasser bewegt. Etwas silbern Schimmerndes tanzte kurz auf den Wellen, und da, da war es wieder. Eine glitzernde Silhouette tauchte kurz aus dem Wasser auf und verschwand sofort wieder unter der Oberfläche.

„Da drüben!“, rief Trott. „Schießt.“

Seine Männer sahen ihn verwundert an.

„Was ist?“, fragte der Kapitän.

„Dort, auf vier Uhr, da bewegt sich etwas im Wasser.“

„Ich sehe nichts.“

„Schießt trotzdem.“

Einer der Männer gehorchte und drückte ab. Ein tödlicher Kugelhagel peitschte über die Wellen und brachte das Meer zum Schäumen.

Einen Moment lang starrten sie schweigend auf die dunkle Oberfläche, doch da war nichts zu sehen. Das Wasser beruhigte sich wieder.

„Ich weiß, was ich gesehen habe“, beharrte Trott.

Der Kapitän zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls ist es jetzt nicht mehr da. Zurück zum Hafen“, befahl er dem Steuermann.

Die Cosima wendete und zog Wellen hinter sich her, die sich rasch ausbreiteten.

Trott ging zum Heck, den Blick immer noch auf die verdächtige Stelle im Wasser geheftet. Während sie sich immer schneller entfernten, glaubte er, wieder einen silbernen Fleck auf der Oberfläche zu sehen. Er war nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, ehe er wieder verschwand.

Ein Fisch, dachte er. Zufrieden drehte er sich um.

Ja, das musste es gewesen sein. Ein Fisch.

1. KAPITEL

„Es ist doch nur ein kleiner Einbruch, um mehr bitte ich doch gar nicht.“ Flehend blinzelte Veronica Cairncross zu ihm auf. In ihren saphirblauen Augen schimmerten Tränen. Sie trug ein bezauberndes schulterfreies Seidenkleid, dessen Falten sich vor dem Zweiersofa im Queen-Anne-Stil bauschten. Veronica hatte ihr üppiges rotbraunes Haar mit einer Perlenkette zu einer Hochfrisur getürmt, die ihre fein geschnittenen Gesichtszüge unterstrich. Mit ihren dreiunddreißig Jahren sah sie weitaus atemberaubender und eleganter aus als damals mit fünfundzwanzig, als er sie kennengelernt hatte. Dank ihres Titels hatte sie im Laufe der Jahre nicht nur ein untrügliches Stilempfinden entwickelt, sondern sich auch eine bemerkenswerte Schlagfertigkeit angeeignet, die sie zu einem gern gesehenen Gast auf allen glamourösen Gesellschaften Londons machte. Aber etwas hatte sich nicht geändert und würde sich wohl auch niemals ändern.

Veronica Cairncross war immer noch ein vollkommener Dummkopf.

Sonst hätte sie sich wohl kaum in diesen Schlamassel hineingeritten.

Und aus dem soll sie wieder einmal der gute alte Jordan Tavistock befreien, dachte er resigniert. Veronica musste ständig aus irgendeinem Dilemma gerettet werden. Nicht, dass er ihr nicht helfen wollte, nein, aber ihre Bitte war so abwegig und gefährlich, dass ihm sein erster Impuls riet, ihr einen Korb zu geben.

Und das tat er dann auch. „Kommt gar nicht infrage, Veronica. Das mache ich nicht.“

„Tu es für mich, Jordan“, flehte sie. „Denk doch nur mal daran, was passieren wird, wenn er Oliver die Briefe schickt …“

„Der arme Ollie wird einen Tobsuchtsanfall erleiden. Anschließend streitet ihr ein paar Tage und dann verzeiht er dir. Mehr wird nicht geschehen.“

„Und wenn Ollie mir nicht verzeiht? Was, wenn er … wenn er …“ Sie schluckte und schlug die Augen nieder. „Wenn er die Scheidung will?“, flüsterte sie.

„Ich bitte dich, Veronica.“ Jordan seufzte. „Daran solltest du denken, bevor du eine Affäre beginnst.“

Bekümmert betrachtete sie die Falten ihres Seidenkleids. „Das ist ja das Problem, das habe ich nicht.“

„Offensichtlich.“

„Ich hatte doch keine Ahnung, dass Guy so schwierig sein wird. Man könnte glauben, ich hätte ihm das Herz gebrochen. Wir waren überhaupt nicht ineinander verliebt, und jetzt macht er so ein Theater. Er droht, es allen zu erzählen. Welcher Gentleman ist so primitiv?“

„Keiner.“

„Wenn da nicht diese Briefe von mir wären, könnte ich alles abstreiten. Dann stünde mein Wort gegen das von Guy. Ich bin überzeugt, dass mir Ollie in dem Fall eher glauben würde.“

„Und was genau steht in diesen Briefen?“

Verlegen senkte Veronica den Kopf. „Dinge, die ich besser nicht geschrieben hätte.“

„Liebeserklärungen? Süße Nichtigkeiten?“

Sie seufzte. „Viel schlimmer.“

„Du meinst, viel … deutlicher?“

„Sehr viel deutlicher.“

Jordan betrachte die Perlen in Veronicas rotbraunem Haar, die im Licht der Lampe schimmerten. Kaum zu glauben, dass ich diese Frau einmal attraktiv gefunden habe, dachte er. Auch wenn das schon lang zurücklag. Damals war er erst zweiundzwanzig und ziemlich naiv gewesen, ein Zustand, der hoffentlich der Vergangenheit angehörte.

Veronica Dooley war am Arm eines alten Kumpels aus Cambridge in sein Leben getreten. Nachdem sich der Kumpel alsbald verdrückt hatte, zeigte sich das Mädchen an Jordan interessiert, und ein paar schwindelerregende Wochen hatte er geglaubt, er sei womöglich verliebt. Doch zum Glück siegte bald sein der gesunder Menschenverstand. Sie trennten sich und blieben gute Freunde. Bald darauf heiratete Veronica Sir Oliver Cairncross, der gut zwanzig Jahre älter war als seine Braut. Es war die klassische Verbindung von Geld auf seiner und Schönheit auf ihrer Seite. Jordan hatte sie stets für ein glückliches Paar gehalten.

Wie man sich doch täuschen konnte!

„Wenn du meinen Rat hören willst“, sagte er, „mach reinen Tisch. Beichte Ollie die Affäre. Er wird dir bestimmt verzeihen.“

„Selbst wenn, dann hat Guy immer noch die Briefe. Er ist wütend genug, um sie den falschen Leuten auszuhändigen. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie in einer Zeitungsredaktion landen. Das würde Ollie öffentlich demütigen.“

„Glaubst du wirklich, dass Guy so tief sinken könnte?“

„Ich zweifle nicht eine Sekunde daran. Ich würde ihm ja gerne Geld bieten, wenn sich die Angelegenheit damit ein für alle Mal beenden ließe, aber nach den Summen, die ich in Monte Carlo verspielt habe, hält mich Ollie finanziell an der kurzen Leine. Und von dir könnte ich es mir auch nicht borgen. Es gibt einfach Dinge, um die man seine Freunde nun wirklich nicht bitten kann.“

„Ein Diebstahl gehört meiner Meinung nach dazu“, bemerkte Jordan trocken.

„Aber es ist kein Diebstahl. Ich habe diese Briefe geschrieben, also sind sie mein Eigentum. Ich hole mir nur zurück, was mir gehört.“ Sie beugte sich vor. Plötzlich blitzten ihre Augen wie blaue Diamanten. „Es wäre gar nicht so schwer, Jordan. Ich weiß genau, in welcher Schublade er sie aufbewahrt. Am Samstag ist die Verlobungsfeier deiner Schwester. Wenn du ihn dazu einladen könntest …“

„Beryl verabscheut Guy Delancey.“

„Lade ihn trotzdem ein. Und während er hier auf Chetwynd Champagner schlürft“, sie stockte.

„Breche ich in sein Haus ein?“, beendete Jordan ihren Satz. Er schüttelte den Kopf. „Und wenn ich erwischt werde?“

„Guys Personal hat samstags abends immer frei. Sein Haus steht leer. Selbst wenn man dich erwischt, kannst du immer noch sagen, es handele sich um einen Streich. Nimm zur Sicherheit eine aufblasbare Puppe mit. Sag ihnen, du wolltest sie in sein Bett legen. Man wird dir glauben. Wer würde am Wort eines Tavistock zweifeln?“

Er runzelte die Stirn. „Ist das der Grund, weshalb du mich darum bittest? Weil ich ein Tavistock bin?“

„Nein. Ich bitte dich, weil du der geschickteste Mann bist, den ich kenne. Und weil du noch nie eines meiner Geheimnisse verraten hast.“ Sie sah Jordan an. In ihren Augen lag grenzenloses Vertrauen. „Und weil du der einzige Mensch auf der Welt bist, auf den ich zählen kann.“

Verflucht! Natürlich musste sie das jetzt sagen.

„Wirst du es für mich tun, Jordan?“, flehte sie leise. „Sag mir, dass du es tun wirst.“

Müde fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht. „Ich werde darüber nachdenken“, erwiderte er schließlich. Dann ließ er sich in seinen Sessel zurücksinken und blickte resigniert auf die Wand, an der die Porträts seiner Vorfahren hingen. Jeder von ihnen war ein Gentleman von makellosem Ruf, dachte er. Und keiner je ein Dieb.

Bis jetzt.

Um Punkt dreiundzwanzig Uhr fünf erloschen die Lichter in den Dienstbotenräumen. Der alte Whitmore hatte wie immer seinen Zeitplan penibel eingehalten. Um einundzwanzig Uhr drehte er seine Runde durchs Haus, um sich zu vergewissern, dass Fenster und Türen geschlossen waren. Um einundzwanzig Uhr dreißig sah er im Erdgeschoss nach dem Rechten, räumte ein wenig die Küche auf und machte sich vermutlich einen Tee. Um zweiundzwanzig Uhr zog er sich in die obere Etage zurück, um in seinem Zimmer fernzusehen. Und um dreiundzwanzig Uhr knipste er das Licht aus.

So war Whitmore die ganze Woche über vorgegangen, und Clea Rice, die Guy Delanceys Haus seit dem vergangenen Samstag observierte, nahm an, dass er diese Angewohnheiten bis zu seinem Lebensende beibehalten würde. Schließlich war es allen Butlern wichtig, eine gewisse Ordnung in das Leben ihrer Arbeitgeber zu bringen. Kaum verwunderlich also, dass sie auch Ordnung in ihr eigenes Leben brachten.

Die Frage war nur, wie lange es dauerte, bis der Butler einschlief?

Clea stand sicher verdeckt von einer Eibenhecke. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und wippte von einem Fuß auf den anderen, um den Blutkreislauf anzukurbeln. Da das Gras feucht war, klebte die Steghose nass an Cleas Schenkeln. Obwohl die Nacht mild war, fröstelte sie. Daran war nicht allein die klamme Hose schuld, sondern auch die freudige Erwartung und, ja, auch die Angst, die Clea verspürte. Groß war die zwar nicht, Clea vertraute auf ihre Fähigkeiten. Sie befürchtete nicht, erwischt zu werden, auch wenn die Gefahr immer bestand.

Sie hüpfte auf und ab und spürte, wie das Adrenalin durch ihren Körper schoss. Sie würde dem Butler zwanzig Minuten zum Einschlafen geben, und keine Sekunde länger. Möglicherweise kam Guy Delancey früher von der Party zurück, und sie wollte längst über alle Berge sein, sobald er durch die Haustür trat.

Bestimmt schlief der Butler längst.

Clea schlich um die Hecke und setzte zu einem Sprint an. Erst als sie das schützende Gebüsch erreichte, drosselte sie ihr Tempo. Sie holte tief Luft und sondierte ihre Lage. Im Haus war alles ruhig und dunkel. Zu ihrem Glück hasste Guy Delancey Hunde, denn das Letzte, das sie jetzt gebrauchen konnte, wäre ein kläffender Köter an ihren Fersen.

Sie schlich um das Haus herum, überquerte die Steinterrasse und blieb vor der verglasten Doppeltür stehen. Die Tür war, wie erwartet, verschlossen, aber damit hatte Clea gerechnet. Im Licht ihrer kleinen Taschenlampe erkannte sie, dass es sich um ein einfaches rostiges Schloss handelte, das wahrscheinlich ebenso alt war wie das Haus. Was Alarmanlagen betraf, hatten die Engländer noch eine Menge Nachholbedarf. Sie fischte fünf Dietriche aus ihrer Gürteltasche und steckte einen nach dem anderen ins Schloss. Die ersten drei waren zu groß; gespannt schob Clea den vierten in das Schlüsselloch, drehte ihn langsam herum und spürte, wie die Bolzen einrasteten.

Ein Kinderspiel!

Sie huschte durch die Tür und betrat die Bibliothek. Die Buchrücken in den Regalen glänzten matt im Mondlicht, das durch die Fenster fiel. Jetzt begannen die Schwierigkeiten. Wo war das Auge von Kaschmir? Bestimmt nicht in diesem Raum, dachte sie, während der Strahl ihrer Taschenlampe an den Wänden entlanghuschte. Das Zimmer war zu leicht für Besucher zugänglich und nicht gegen Diebe gesichert. Trotzdem beschloss sie, es rasch zu durchsuchen.

Doch Clea fand das Gesuchte nicht.

Sie schlich aus der Bibliothek in die Halle. Der Lichtstrahl zitterte über polierte Holzwände und antike Vasen. Sie durchquerte das Wohnzimmer im Erdgeschoss und warf einen Blick in das Solarium, doch noch immer fand sie keine Spur von dem Auge von Kaschmir. Küche und Esszimmer ließ sie gleich außen vor, Guy Delancey würde niemals ein Versteck wählen, zu dem seine Dienstboten ständig Zugang hatten.

Blieben nur die Räume im ersten Stock.

Leise wie eine Katze schlich Clea die geschwungene Treppe hinauf. Auf dem Absatz hielt sie inne und lauschte in die Stille, doch es war nichts zu hören. Sie wusste, dass sich links die Räume der Dienstboten befanden. Rechts lag Delanceys Schlafzimmer. Also wandte sich Clea nach rechts und lief zu dem Zimmer am Ende des Korridors.

Die Tür war nicht zugeschlossen, also zwängte sich Clea durch einen Spalt und zog die Tür leise hinter sich zu.

Durch das Fenster zum Balkon fiel mattes Mondlicht und erhellte das geräumige Schlafgemach schwach. Clea entdeckte zahlreiche Gemälde an den drei Meter siebzig hohen Wänden. Und die Matratze des Himmelbetts war breit genug für einen ganzen Harem. Eine wuchtige Kommode, ein riesiger Kleiderschrank, Nachttische und ein Schreibtisch vervollständigten die Einrichtung. Neben der Balkontür, auf einem persischen Teppich, stand eine Sitzgruppe, bestehend aus zwei Stühlen und einem Teetisch, vermutlich antik.

Clea stöhnte. Es würde Stunden dauern, bis sie dieses Zimmer durchsucht hatte.

Da ihr nicht ewig Zeit blieb, begann sie unverzüglich, im Schreibtisch nachzusehen. Sie schaute in die Schubladen und tastete sie nach Geheimfächern ab, doch sie fand keine Spur vom Auge von Kaschmir. Anschließend nahm sie sich die Kommode vor, wühlte sich durch Unterwäsche und Taschentücher, aber auch hier war das Auge von Kaschmir nicht versteckt. Als Nächstes widmete sie sich dem Kleiderschrank, der wie ein gigantischer Monolith an der Wand stand. Gerade wollte sie die Tür öffnen, als ein Geräusch sie erstarren ließ.

Draußen raschelte etwas, und da war es schon wieder, dieses Mal lauter.

Sie fuhr herum und blickte fragend zu den Balkonfenstern. Irgendetwas Seltsames geschah dort. Die Ranken der Glyzinie, die sich um das Gitter wanden, ächzten. Plötzlich tauchte eine Silhouette über dem Blätterdickicht auf. Clea erkannte den Kopf eines Mannes, dessen blondes Haar schimmerte. Blitzschnell duckte sie sich neben den Kleiderschrank.

Na prima! Demnächst würden sie noch Nummern ziehen müssen, um die Reihenfolge der Einbrüche festzulegen. Die Begegnung mit einem konkurrierenden Dieb war ihr absolut nicht in den Sinn gekommen. Und einem ziemlich unfähigen noch dazu, dachte sie verächtlich, als sie das Klappern von Tontöpfen auf dem Balkon vernahm, das sofort wieder verstummte. Eine Weile herrschte Stille. Der Einbrecher lauschte offenbar auf Geräusche, die ihm verrieten, dass seine Anwesenheit bemerkt worden war. Der alte Whitmore musste stocktaub sein, wenn er diesen Lärm überhörte.

Quietschend wurde die Balkontür geöffnet.

Clea duckte sich noch tiefer neben den Kleiderschrank. Was, wenn der Einbrecher sie jetzt entdeckte? Würde er sie angreifen? Sie hatte nichts dabei, womit sie sich verteidigen konnte.

Sie zuckte zusammen, als sie einen dumpfen Schlag und ein gereiztes Verdammt noch mal! hörte.

Himmel! Dieser Kerl war ein größeres Risiko für sich selbst als für andere.

Der Fußboden knarrte unter näher kommenden Schritten.

Clea machte sich ganz klein und presste sich gegen die Wand. Die Tür des Kleiderschranks schwang auf und wäre ihr um ein Haar ins Gesicht geflogen. Metallbügel klapperten, als der Mann Kleidungsstücke beiseiteschob, dann hörte Clea, wie er eine Schublade rumpelnd aufzog. Plötzlich zuckte der Lichtstrahl einer Taschenlampe durch den schmalen Spalt zwischen dem Schrank und der Tür hindurch. Der Mann murmelte etwas in makellosem Oxford-Englisch, während er die Schublade durchsuchte.

„Ich muss verrückt sein. Total übergeschnappt. Wie hat sie es bloß geschafft, mich dazu zu überreden?“

Clea konnte ihre Neugier nicht länger beherrschen. Sie trat einen Schritt vor und blinzelte zwischen den Türangeln hindurch. Sie sah, wie der Mann die geöffnete Schublade stirnrunzelnd betrachtete. Er hatte ein scharf geschnittenes, sehr aristokratisches Profil. Sein weizenblondes Haar war vom Kampf mit den Glyzinienranken noch ein wenig zerzaust, und in seinem Smoking sowie der schwarzen Fliege zum weißen Hemd sah er alles andere als wie ein Einbrecher aus, sondern eher wie jemand, der soeben von einer Party geflüchtet war.

Er beugte sich tiefer in den Schrank hinein, und plötzlich hörte sie ein zufriedenes Murmeln. Clea konnte nicht sehen, was er aus der Schublade holte. Bitte lass es nicht das Auge von Kaschmir sein, flehte sie. So nahe am Ziel durfte nicht alles umsonst gewesen sein …

Sie trat noch näher an den Spalt und versuchte, über die Schultern des Mannes zu sehen. Was schob er da in die Tasche seines Jacketts? Sie beobachtete ihn so konzentriert, dass ihr keine Zeit blieb, zurückzuweichen, als er unvermittelt die Schranktür zuwarf. Sie schnellte zurück in den Schatten und prallte mit der Schulter gegen die Wand.

Es wurde still, ganz still.

Schließlich tanzte der Lichtstrahl der Taschenlampe um die Ecke des Kleiderschranks. Clea erkannte die Umrisse eines Kopfes.

Sie musste blinzeln, als der Lichtstrahl ihr Gesicht traf. Sie war so geblendet, dass sie den Mann nicht mehr erkennen konnte. Eine kleine Ewigkeit bewegte sich keiner von ihnen.

Endlich fragte er: „Wer zum Teufel sind Sie?“ Die Gestalt, die sich gegen den Kleiderschrank presste, antwortete nicht. Langsam ließ Jordan den Strahl seiner Taschenlampe am Körper des Eindringlings hinunterwandern. Der Mann hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen und Wangen und Kinn mit Tarnfarbe beschmiert. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze Hosen.

„Ich frage Sie zum letzten Mal“, sagte Jordan. „Wer sind Sie?“

Zu seiner Überraschung erhielt er als Antwort nur ein geheimnisvolles Lächeln. Im selben Moment sprang die Gestalt auf ihn zu wie eine Katze. Der Aufprall ließ Jordan nach hinten taumeln und gegen den Bettpfosten krachen. Sofort sprintete die Gestalt zum Balkon. Jordan machte einen Satz vorwärts und bekam ein Stück von der Hose des Fremden zu fassen. Beide Männer stürzten zu Boden und prallten dabei gegen den Schreibtisch. Unzählige Bleistifte und Kugelschreiber prasselten zu Boden. Jordans Gegner krümmte sich unter ihm und rammte ihm das Knie in die Weichteile. Von Schmerz und Übelkeit wie betäubt war er drauf und dran, den Eindringling loszulassen, doch dann bemerkte er, wie sein Gegner mit der freien Hand hektisch über den Boden tastete. Erst im letzten Moment sah Jordan die Spitze des Brieföffners, die auf ihn gerichtet war.

Er packte das Handgelenk seines Gegners und schüttelte ihm den Brieföffner aus den Fingern. Der andere Mann schlug wild mit den Armen um sich und wand seinen Körper unter Jordan wie ein Aal. Während Jordan noch versuchte, den Faustschlägen auszuweichen, bekam er die Mütze seines Widersachers zu fassen.

Ein üppiger Schwall blonder Haare breitete sich auf dem Fußboden aus. Sie glänzten im Mondlicht wie Gold. Jordan erstarrte verdattert.

Eine Frau.

Ihre Gegenwehr erstarb. Die Fremde atmete schnell und hart, und ihr Herz pochte heftig gegen seinen Brustkorb.

Eine Frau!

Sein Körper reagierte prompt und ohne Vorwarnung auf diese Erkenntnis. Es war fast automatisch, er konnte es nicht verhindern. Diese Frau war ihm zu nahe, sie war zu warm und zu weiblich. Selbst durch ihre Tarnkleidung hindurch konnte er ihre Kurven nicht mehr übersehen. Ebenso wenig konnte ihr seine Erregung verborgen bleiben.

„Lassen Sie mich los“, wisperte sie.

„Erst sagen Sie mir, wer Sie sind.“

„Sonst …?“

„Sonst werde ich … ich werde …“

Sie lächelte ihn an. Ihr Mund war dem seinen so nah und eine so große Versuchung, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

Das Geräusch nahender Schritte brachte ihn wieder zu Verstand. Unter dem Spalt zwischen Tür und Fußboden wurde es hell, und eine Männerstimme rief: „Was ist da los? Wer ist da drin?“

Sofort waren Jordan und die Frau auf den Beinen und hasteten zum Balkon. Die Frau schaffte es als Erste, sich über das Geländer zu schwingen. Wie ein Äffchen hangelte sie sich an den Ranken der Glyzinie hinunter. Als Jordan festen Boden unter den Füßen spürte, rannte sie bereits über den Rasen.

An der Eibenhecke holte er sie schließlich ein und hielt sie fest. „Was haben Sie da drinnen gemacht?“, fragte er.

„Was haben Sie da drinnen gemacht?“, konterte sie.

In Guy Delanceys Schlafgemach gingen derweil die Lichter an. Eine Stimme erklang vom Balkon: „Einbrecher! Kommen Sie ja nicht zurück. Ich habe die Polizei verständigt.“

„Ich bleibe keine Sekunde länger“, beschloss die Frau und rannte schnurstracks auf den Wald zu.

„Keine schlechte Idee“, seufzte Jordan und folgte ihr.

Schweigend liefen sie eine Zeit lang hintereinander her und wichen Gestrüpp und tief hängenden Ästen aus. Das Gelände war unwegsam, dennoch lief die Fremde routiniert. Sie verfügte offenbar über eine gute Kondition, denn sie hielt ihr Tempo. Erst am anderen Ende des Waldes bemerkte Jordan, dass sein Gegenüber außer Atem war.

Auch er hätte sich am liebsten auf den Boden fallen lassen.

Am Rande eines Feldes blieben sie stehen, um Luft zu schnappen. Der Mond schien immer noch matt, und ein warmer Wind wehte ihnen den Geruch fallenden Laubs entgegen.

„Sagen Sie“, keuchte er, „verdienen Sie so Ihren Lebensunterhalt?“

„Ich bin keine Einbrecherin, falls Sie das meinen.“

„Sie benehmen sich aber so, und Sie sind so angezogen.“

„Trotzdem bin ich es nicht.“ Sie lehnte sich erschöpft gegen einen Baumstamm. „Und Sie?“

„Natürlich nicht“, antwortete er empört.

„Was meinen Sie mit natürlich nicht? Ist es vielleicht unter Ihrer Würde?“

„Ganz und gar nicht. Das heißt, ich wollte sagen …“ Er unterbrach sich und schüttelte verwirrt den Kopf. „Ja, was wollte ich eigentlich sagen?“

„Ich habe nicht die geringste Idee“, entgegnete sie mit Unschuldsmiene.

„Ich bin kein Dieb.“ Er klang jetzt selbstbewusster. „Ich habe … Das alles sollte nur ein Streich sein. Mehr nicht.“

„Verstehe.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und musterte ihn skeptisch. Jordan bemerkte, wie zierlich sie war und wie weiblich. Er erinnerte sich an die Rundungen ihres Körpers, die sich gerade oben im Haus nahtlos an seinen geschmiegt hatten. Unvermittelt verspürte er ein beinahe schmerzhaftes Begehren. Er musste dieser Frau nur einen Schritt zu nahe kommen, und seine Hormone spielten verrückt.

Sicherheitshalber wich er etwas zurück und zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen, doch dank der Tarnfarbe konnte er so gut wie nichts erkennen. Aber an ihre Stimme würde er sich erinnern. Sie war tief und rau. Diese Frau ist ganz bestimmt keine Engländerin, dachte er. Vielleicht eine Amerikanerin?

Sie musterte ihn immer noch skeptisch. „Was haben Sie aus dem Kleiderschrank genommen?“, fragte sie. „Gehörte das zu dem Streich?“

„Sie haben es … gesehen?“

„Aber sicher.“ Herausfordernd hob sie ihr Kinn. „Überzeugen Sie mich, dass es wirklich nur ein Streich war.“

Seufzend griff er unter sein Jackett. Sofort drehte sich die Fremde um. Sie wollte fliehen. „Nein, nein, ist in Ordnung“, beruhigte er sie. „Ich habe keine Waffe, nur einen Brustbeutel. Eine Art versteckter Rucksack.“ Er öffnete den Reißverschluss des Beutels. Sie beäugte ihn noch immer misstrauisch und aus sicherer Entfernung. „Es ist eigentlich ein bisschen pubertär“, gestand er, während er an dem Beutel zerrte. „Aber immer gut für einen Lacher.“ Plötzlich kam der Inhalt zum Vorschein, die Frau schrie entsetzt auf. „Sehen Sie? Es ist keine Waffe.“ Er reichte ihr das Ding. „Es ist eine Gummipuppe. Wenn Sie sie aufblasen, sieht sie aus wie eine Frau.“

Vorsichtig trat sie einen Schritt vor und betrachtete die schlaffe Gummihülle. „Anatomisch korrekt?“, fragte sie ironisch.

„Ich bin mir nicht sicher. Ich meine …“ Er begann zu stottern, weil er plötzlich an ihre Anatomie denken musste, während er sie ansah. Er räusperte sich. „Ich habe nicht nachgesehen.“

Sie musterte ihn weiterhin skeptisch.

„Aber es ist ein Beweis dafür, dass es wirklich nur ein Streich war“, sagte er, während er die schlaffe Puppe in den Beutel zurückstopfte.

„Es beweist nur, dass Sie so schlau waren, eine Ausrede vorzubereiten, falls Sie erwischt werden“, stellte sie nüchtern fest. „Was in Ihrem Fall durchaus möglich war.“

„Und welche Entschuldigung haben Sie parat für den Fall, dass Sie erwischt worden wären?“

„Ich hatte nicht vor, mich erwischen zu lassen“, antwortete sie. Sie ging wieder los. „Alles lief reibungslos, bis Sie auftauchten.“

„Was lief reibungslos? Der Einbruch?“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich keine Diebin bin.“

Er folgte ihr. „Und warum sind Sie dann bei Guy Delancey eingestiegen?“

„Um etwas zu beweisen.“

„Was denn?“

„Dass es möglich ist. Ich habe Mr. Delancey soeben bewiesen, dass er eine Alarmanlage braucht, und meine Firma wird sie ihm liefern.“

„Sie arbeiten für eine Sicherheitsfirma?“ Er lachte ungläubig. „Welche ist es?“

„Warum fragen Sie?“

„Mein künftiger Schwager arbeitet in der Branche. Vielleicht kennt er Ihre Firma.“

Sie lächelte ihn an. Ihre Lippen forderten ihn geradezu dazu auf, die zu küssen. Ihre Zähne strahlten weiß im Mondlicht. „Ich arbeite für Nimrod“, antwortete sie. Damit drehte sie sich um und ging.

„Warten Sie, Miss …“

Sie winkte ihm zum Abschied mit der behandschuhten Hand zu, ohne sich umzudrehen.

„Ich habe Ihren Namen nicht verstanden“, rief er hinter ihr her.

„Und ich den Ihren nicht“, antwortete sie über ihre Schulter. „Belassen wir’s dabei.“

Ihr blondes Haar glänzte noch kurz in der Dunkelheit, dann war die Fremde verschwunden. Jordan kam es so vor, als sei die Nacht plötzlich kälter und die Dunkelheit noch schwärzer geworden. Der einzige Hinweis darauf, dass diese Frau gerade noch vor ihm gestanden hatte, war seine Begierde, die er nach wie vor schmerzhaft spürte.

Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, dachte er. Ich weiß doch, dass sie eine Diebin ist. Aber was hätte er tun können? Sie zur Polizei bringen und den Beamten erklären, dass er sie in Guy Delanceys Schlafzimmer geschnappt hatte, wo keiner von ihnen etwas zu suchen hatte?

Frustriert schüttelte er den Kopf und machte sich dann auf den langen Weg zu seinem Wagen, den er eine halbe Meile von hier geparkt hatte. Er musste schleunigst zurück nach Chetwynd. Es war schon spät, vermutlich wurde er bereits auf der Party vermisst.

Wenigstens hatte er seinen Auftrag erfüllt und Veronicas Briefe für sie gestohlen. Er würde sie ihr zurückgeben und ihren Dank dafür, dass er ihre Haut gerettet hatte, huldvoll entgegennehmen. Seit Jahren schon holte er für sie die Kohlen aus dem Feuer, und das würde er ihr so auch in aller Deutlichkeit sagen.

Und anschließend wollte er sie erwürgen.

2. KAPITEL

Die Party auf Chetwynd war noch in vollem Gange. Durch die Fenster des Ballsaals drangen Gelächter, Geigenmusik und das Klingen von Champagnergläsern. Jordan stand auf der Einfahrt und überlegte, wie er sich am unauffälligsten wieder unter die Gäste mischen konnte. Sollte er die Hintertreppe wählen? Nein, dann musste er durch die Küche gehen und würde den Verdacht der Dienstboten erregen. Über die Rankhilfe in Onkel Hughs Schlafzimmer zu klettern, war auch keine Alternative, denn er hatte in dieser Nacht schon genug mit Kletterpflanzen gerungen. Er würde einfach durch die Vordertür hineingehen und hoffen, dass die anderen schon so vom Champagner berauscht waren, dass sie seinen derangierten Zustand nicht bemerkten.

Er richtete seine Fliege und bürstete die Spuren seines Ausflugs vom Jackett. Dann betrat er das Haus durch den Haupteingang.

Zu seiner Erleichterung war die Empfangshalle verwaist. Auf Zehenspitzen ging er an der Tür zum Ballsaal vorbei und stieg die geschwungene Treppe hinauf. Kaum hatte er den ersten Absatz erreicht, als ihn eine Stimme zusammenfahren ließ.

„Wo um alles in der Welt bist du gewesen?“

Er unterdrückte einen Seufzer und drehte sich um. Am Fuß der Treppe stand seine Schwester Beryl. Mit ihren geröteten Wangen sah sie noch entzückender aus als sonst. Sie hatte ihr schwarzes Haar zu einer eleganten Frisur getürmt und um den Kopf geschlungen, und das grüne Samtkleid betonte den schimmernden Glanz ihrer Schultern. Es tat ihr so gut, verliebt zu sein. Seit ihrer Verlobung mit Richard Wolf vor einem Monat hatte Jordan sie kaum ohne ein Lächeln im Gesicht gesehen.

In diesem Moment lächelte sie allerdings nicht.

Verwundert betrachtete sie sein zerknittertes Jackett, seine verschmutzten Hosenbeine und seine schlammverkrusteten Schuhe. Sie schüttelte den Kopf. „Ich wage nicht zu fragen.“

„Dann tu es auch nicht.“

„Ich frage dich trotzdem, was passiert ist?“

Er drehte sich um und nahm die nächsten Stufen. „Ich bin spazieren gegangen.“

„Mehr nicht?“ Der Stoff ihres Kleides raschelte vernehmlich, als sie hinter ihm die Treppe hinaufeilte. „Erst willst du, dass ich diesen entsetzlichen Guy Delancey einlade, der, nebenbei bemerkt, den Champagner nur so in sich hineinschüttet und allen Damen an den Hintern greift. Und dann verschwindest du und tauchst in diesem Zustand wieder auf.“

Er ging in sein Schlafzimmer.

Sie folgte ihm.

„Es war ein langer Spaziergang“, erklärte er.

„Es war eine lange Party.“

„Beryl.“ Seufzend drehte er sich zu ihr um. „Das mit Guy Delancey tut mir wirklich leid, aber ich kann im Moment nicht darüber reden. Ich würde einen Vertrauensbruch begehen.“

„Ich verstehe.“ Sie ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal zu ihm um. „Du weißt, dass ich ein Geheimnis für mich behalten kann.“

„Ich kann es auch.“ Jordan lächelte. „Deshalb sage ich kein Sterbenswörtchen.“

„Du solltest dich besser umziehen. Sonst fragt dich nachher noch jemand, warum du an Glyzinienranken herumgeklettert bist.“ Damit schloss sie die Tür hinter sich.

Jordan blickte an sich hinunter. Jetzt erst merkte er, dass er noch ein verräterisches Blatt übersehen hatte. Es steckte wie eine kleine Flagge in seinem Knopfloch.

Er zog einen sauberen Smoking an, kämmte sich die Zweige aus den Haaren und ging hinunter zu den Gästen.

Obwohl es bereits nach Mitternacht war, floss der Champagner weiterhin reichlich. Die Stimmung war immer noch so ausgelassen wie vor anderthalb Stunden, als er sich davongeschlichen hatte. Er schnappte sich ein Glas von einem Tablett, das herumgereicht wurde, und mischte sich unauffällig unter die Feiernden. Niemand kommentierte seine Abwesenheit, wahrscheinlich war sie keinem aufgefallen. Er schlenderte quer durch den Saal zum Büffet, das unter der Last der köstlichen Hors d’œuvres fast zusammenbrach, und wählte ein Stück schottischen Lachs. Einbrechen war anstrengend und machte ziemlich hungrig.

Als er ein Parfüm roch und eine Hand auf seinem Arm spürte, fuhr er herum und blickte in Veronica Cairncross’ fragende Augen. „Und? Wie ist es gelaufen?“

„Nicht ganz so reibungslos, wie geplant. Du hast dich im freien Abend des Butlers geirrt. Er war im Haus. Beinahe hätte er mich erwischt.“

„Oh nein“, stöhnte sie leise. „Dann hast du sie also nicht …“

„Doch. Sie sind oben.“

„Wirklich?“ Plötzlich strahlte sie übers ganze Gesicht. „Oh, Jordan!“ Sie beugte sich vor und umarmte ihn. Dabei schob sie sein Lachskanapee gefährlich nahe an seinen Smoking. „Du hast mir das Leben gerettet.“

„Ich weiß, ich weiß“, seufzte er. Dann sah er, wie Veronicas Mann Oliver auf sie zusteuerte, und löste sich schnell aus ihrer Umarmung. „Ollie kommt“, flüsterte er.

„Wirklich?“ Veronica drehte sich um. Als sie ihn sah, knipste sie ihr 1000-Watt-Lächeln für ihren Ehemann an.

„Offenbar fehle ich dir nicht besonders“, brummte Sir Oliver. Stirnrunzelnd betrachtete er Jordan, als wollte er seine wahren Absichten erraten.

Armer Kerl, dachte Jordan. Jeder Mann, der mit Veronica verheiratet war, verdiente Mitleid. Sir Oliver war ein anständiger Kerl und Abkömmling der ehrbaren Cairncross-Familie, die seit Generationen erfolgreich Teegebäck produzierte. Obwohl er zwanzig Jahre älter war als seine Frau und kahlköpfig wie eine Billardkugel, hatte Veronica sein Werben erhört. Seitdem beglückte er sie mit Schmuck und Diamanten.

„Es ist schon spät, Veronica“, sagte er. „Sollten wir nicht langsam nach Hause fahren?“

„Schon? Es ist doch erst kurz nach Mitternacht.“

„Ich habe morgen früh eine Besprechung. Und ich bin ziemlich müde.“

„Dann werden wir wohl gehen müssen“, seufzte Veronica. Sie lächelte Jordan verschmitzt an. „Ich glaube, ich werde heute Nacht sehr gut schlafen.“

Hoffentlich mit deinem Mann, dachte Jordan.

Nachdem sich die Cairncross verabschiedet hatten, blickte Jordan an sich hinunter und entdeckte ein Stückchen Lachs an seinem Revers. Mist! Noch ein versauter Smoking. Er versuchte den Fleck so gut wie möglich zu beseitigen, dann schnappte er sich sein Champagnerglas und tauchte wieder in der Menge unter.

Er entdeckte seinen zukünftigen Schwager und ging auf ihn zu. Richard Wolf stand neben der Band und sah so glücklich und beschwipst aus, wie es sich für einen baldigen Bräutigam gehörte.

„Und? Wie macht sich unser Ehrengast?“, fragte Jordan.

Richard grinste. „Zurzeit legt er eine Pause ein, was das Händeschütteln angeht.“

„Gute Idee. Man sollte mit seinen Kräften haushalten.“ Hinter Jordans Rücken erklang ein keckerndes Lachen, und er drehte sich um, um zu sehen, wer sich so amüsierte. Natürlich! Es war Guy Delancey, der schon einiges intus hatte und sich einer jungen vollbusigen Schönheit bis auf wenige Millimeter genähert hatte. „Leider ist nicht jeder hier der Ansicht, dass er mit seinen Kräften haushalten sollte“, stellte Jordan fest.

Auch Wolf beobachtete Guy Delancey. „Der Kerl hat tatsächlich versucht, Beryl anzubaggern, und das vor meinen Augen.“

„Hast du ihre Ehre verteidigt?“

Richard lachte. „Das brauchte ich nicht. Sie kann ihre Ehre sehr gut selbst verteidigen.“

Guy Delancey hatte seine Hand inzwischen auf den Rücken der drallen Schönheit gelegt und begann, sich langsam in tiefere, riskantere Regionen vorzuarbeiten.

„Was finden die Frauen nur an so einem Typen?“, fragte Richard.

„Vielleicht Sex-Appeal?“ Immerhin sah Delancey sehr südländisch und leicht verwegen aus. „Wer kann schon sagen, was Frauen zu gewissen Männern zieht?“ Weiß der Himmel, was Veronica Cairncross so an Guy faszinierte! Aber jetzt war sie ihn los, und wenn sie klug war, würde sie den Pfad der Tugend von nun an nicht mehr verlassen. Oder sich zumindest sehr gut überlegen, mit wem sie auf den Seitenpfaden flanieren wollte.

Jordan sah Richard an. „Sag mal, hast du jemals etwas von einer Sicherheitsfirma namens Nimrod gehört?“

„Ist das ein heimisches oder ein ausländisches Unternehmen?“

„Keine Ahnung. Ich nehme an, die haben hier irgendwo ihren Sitz.“

„Ich kenne sie nicht, aber ich kann mich gern für dich erkundigen.“

„Würdest du das tun? Das wäre sehr nett.“

„Warum interessiert dich diese Firma?“

„Ach …“ Jordan zuckte beiläufig mit den Schultern. „Der Name wurde heute Abend mal erwähnt.“

Richard musterte ihn nachdenklich. Verdammt, Richard fuhr seine Antennen aus. Das lag an seiner Vergangenheit als Geheimagent und war eine Eigenschaft, die je nach Perspektive entweder hilfreich oder nervig war. Man konnte praktisch sehen, welche Fragen ihm durch den Kopf schossen. Jordan musste auf der Hut sein.

Glücklicherweise trat Beryl just in diesem Moment zu ihnen und küsste ihren Zukünftigen, worauf der alles um sich herum vergaß. Noch ein Kuss und eine Umarmung, und der arme Richard würde in seiner Fantasie versinken.

Ach, junge Liebende und ihre Hormone, die rund um die Uhr Achterbahn fahren, dachte Jordan und leerte sein Glas. Dank des prickelnden Champagners spürte er in dieser Nacht auch seine eigenen Hormone.

Seine Gedanken waren bei dieser Frau.

Er konnte sie sich einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Ihre Stimme nicht und nicht ihr Lachen und schon gar nicht die katzenhafte Geschmeidigkeit, mit der sich ihr Körper unter ihm bewegt hatte …

Schnell stellte er sein Glas ab. Kein Champagner mehr heute Nacht! Die Erinnerung allein war berauschend genug. Er blickte sich nach dem Tablett mit Mineralwasser um und entdeckte seinen Onkel Hugh, der soeben den Ballsaal betrat.

Den ganzen Abend über hatte Hugh den charmanten Gastgeber und stolzen Onkel der künftigen Braut gespielt. Er hatte Champagner geschlürft und mit jungen Damen geflirtet, die seine Enkelinnen hätten sein können. Doch in diesem Moment wirkte er besorgt.

Schnurstracks steuerte er auf Guy Delancey zu und wechselte ein paar Worte mit ihm. Guy Delanceys Blick versteinerte sich, dann schob der Beau sein Kinn vor und verließ aufgebracht den Saal. Durch die Tür hörte man ihn laut nach seinem Wagen rufen.

„Was ist denn da los?“, wunderte sich Jordan.

Beryl, deren Wangen nach Richards Kuss auf entzückende Weise gerötet waren, drehte sich um, als Onkel Hugh auf sie zusteuerte.

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