×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Schwimmerin«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Schwimmerin« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Schwimmerin

Als Buch hier erhältlich:

Mitten im Wirtschaftswunder stellt sich eine starke Frau den Schatten ihrer Vergangenheit

Essen 1962: Betty heiratet ihren Martin und ist fest entschlossen, ihr lang ersehntes Glück mit aller Macht festzuhalten. Zu viele Entbehrungen hat sie schon hinnehmen müssen. Der Zweite Weltkrieg hat Betty nicht nur ihre Heimat, ihre Familie und ihre erste Liebe genommen, sondern ihr auch ein düsteres Geheimnis aufgebürdet. Seit jener Zeit ist das Schwimmen Bettys Halt und Trost. Eine Überlebensstrategie, den Kopf immer über Wasser zu halten, komme was wolle. Ausgerechnet beim Schwimmen trifft sie nun auf ein junges Mädchen, das ihr eigenartig vertraut erscheint. Und dieses Mädchen hat entschieden, sich ein Stück von Bettys Glück zu greifen. Es beginnt, sie zu verfolgen, zu erpressen. Betty erkennt, dass die Vergangenheit sie hinabzureißen droht, wenn sie sich ihr nicht endlich stellt.

»›Die Schwimmerin‹ ist ein eindrucksvoller Roman über das Leben als Frau in Deutschland vor dem historischen Hintergrund des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre.« Cathrin Brackmann, WDR 4 Zur Sache, 02.02.2021

»›Die Schwimmerin‹ ist ein historischer Roman fernab von jeder Romantik, die diesem Genre gerne anhaftet – und gerade deshalb umso lesenswerter.« Cathrin Brackmann, WDR 4 Zur Sache, 02.02.2021


  • Erscheinungstag: 24.11.2020
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675949
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Geschwister Ruth und Ansgar Mayer

Secrets are the stones

that sink the boat

Take them out and look at them

Throw them out and float

Lemn Sissay

Weilerbach, 1945

Sie ging immer bis zu der Stelle, an der der Grund plötzlich steil nach unten abfiel. Dahinter begann die Tiefe.

Dort atmete sie ein und ließ sich nach vorn fallen.

Wenn das braungrüne Wasser über ihr zusammenschlug, packte sie die Panik. Sie hatte alles vergessen, was Xaver ihr beigebracht hatte, sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie man schwamm. Ich werde ertrinken, dachte sie und stellte sich vor, wie sie in die Tiefe sinken und erst in einigen Tagen wieder auftauchen würde, wenn die Gase ihren Körper an die Wasseroberfläche trieben. Sie ist ins Wasser gegangen, würden die Leute sagen. Wer hätte das gedacht, dass sie so verzweifelt war.

Dann übernahm ihr Körper die Kontrolle. Ihre Arme streckten sich, ihre Hände teilten das Wasser, die Beine dehnten sich und traten aus, sie schnellte nach oben, nach vorn.

Sie schwamm in großen Zügen bis zur Mitte des Sees, dort legte sie sich auf den Rücken und trieb auf der Wasseroberfläche wie ein Blatt. Sie blickte in den Himmel, der manchmal wolkenlos war und manchmal verhangen.

Manchmal fiel Regen in ihr Gesicht. Sie ließ sich treiben. Das Wasser trug sie.

Sie hatte jetzt überhaupt keine Angst mehr.

1
Essen, 1962

Das glückliche Ende. Betty hatte so lange darauf gewartet, und jetzt war es da.

Martin schloss die Wohnungstür auf und trug sie über die Schwelle, durch die Diele und in die Küche. Dort setzte er sie wieder ab und lächelte sie an. Und Betty lächelte zurück.

Vor fünf Stunden hatte sie im Standesamt ihre Vergangenheit abgelegt, zusammen mit ihrem alten Namen. Es gab keine Elisabeth Sonne mehr. Sie war jetzt Frau Martin Strissel.

Ein neuer Name, ein neues Leben. Das alte konnte sie endlich vergessen.

»Es ist natürlich noch ein bisschen leer«, sagte Martin, der ihr Schweigen falsch deutete. »Aber das wird sich ändern.«

»Es ist alles wunderbar«, sagte Betty. Sie schloss die Augen und sog den Duft ein. Nach frischer Farbe, nach Tapetenleim, nach gebohnertem Linoleum. Hier gab es keinen Staub, keine Spinnweben, keine Erinnerungen. Denn auch die Küche, die Wohnung, das Haus, die ganze Siedlung waren neu. Die hellgelben Fliesen in der Küche und im Bad waren erst letzte Woche verlegt worden. Martin und Betty hatten keinen Finger gerührt, der Hauswirt hatte die Handwerker bestellt und die Arbeiten überwacht. Sie müssen einfach nur einziehen, hatte er gesagt.

Die Küche hatte Betty gemeinsam mit Martin ausgesucht. Die Unterschränke waren in einem zarten Orange, die Oberschränke hatten hellblaue Türen. Arbeitsflächen aus Resopal, genau wie die Platte des Küchentischs. Das reinigt sich praktisch von allein, hatte ihnen der Verkäufer versichert. Da werden Sie staunen.

Sie fuhr zusammen, weil Martin in die Hände klatschte.

»Wie es hier hallt!«, stellte er fest. »Wir brauchen einen Teppich.«

»Hier in der Küche?« Betty schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee. Wenn was runterfällt, gibt es nur Flecken. Außerdem sieht man dann den schönen Boden gar nicht mehr.«

Blaues Linoleum mit weißen Sprenkeln. Wie tiefes klares Wasser, in dem sich die Sonne spiegelt.

»Wie du meinst«, sagte Martin. »Du bist die Hausfrau.«

Du bist die Hausfrau. Die bestimmte, wie die Küche eingerichtet wurde, was eingekauft und gekocht wurde, wann man den Boden wischte und wann die Fenster geputzt wurden. Das ist alles meins, dachte Betty und spürte, wie das Glück in ihr aufwallte wie ein heftiger Schmerz. Wer hätte das je für möglich gehalten, dass sie es einmal so weit bringen würde.

Betty wartete auf eine spitze Bemerkung von Schwester Edeltraud. Aber es kam nichts. Sie meldete sich seltener in letzter Zeit.

Martin nahm Bettys Hand und zog sie zum Fenster. Zwei Stockwerke darunter lag der Garten. Drei Parzellen, eine für jede Partei im Haus. Alle drei lagen brach, vereinzelte Grashalme und Unkraut bohrten sich durch die lehmige Erde ans Licht.

»Im Sommer werden wir hier Bohnen ernten. Und Erdbeeren«, sagte Betty.

Martin nickte. »Mutter kann dir bestimmt dabei helfen. In Kreuzburg hatten wir einen großen Garten.«

»Das wäre schön«, sagte Betty. Sie stellte sich den Garten vor, rechteckige Beete mit Salat, Gurken, Karotten und Kohlrabi.

»Solange du bloß keinen Kohlrabi pflanzt. Von Kohlrabi wird mir schlecht.«

Betty lachte. »Dann verzichten wir auf den Kohlrabi. Wir pflanzen stattdessen Rotkohl. Und Wirsing.«

»Und Rosinen«, scherzte er. »Damit du Rosinenstuten backen kannst. Schließlich war es ein Rosinenstuten, der uns zusammengebracht hat.«

»Wie könnte ich das vergessen?«

Er zog sie an sich und küsste sie. Seine Zunge öffnete ihre Lippen und drang in sie ein, seine Hände wanderten über ihren Körper. Sie spürte seine Erregung durch seine Anzugshose, durch den Rock ihres Kleides und begann zu zittern. Vor Nervosität, vor Erwartung, vor Glück. Die Betten im Schlafzimmer waren noch nicht bezogen, und auf der Matratze lag noch die Schutzfolie aus Plastik. Aber das spielte keine Rolle, das konnte sie nicht aufhalten. Nichts konnte sie aufhalten, sie waren jetzt Mann und Frau.

Sie schmiegte sich an ihn und hatte das Gefühl, dass ihr Körper zu schmelzen begann. Sie hatte alles erreicht, wovon sie immer geträumt hatte.

»Betty«, flüsterte Martin und begann ihr Kleid aufzuknöpfen, die kleinen runden samtbezogenen Knöpfe, hinter denen sich das neue weiße Mieder verbarg, und darunter waren ihre Brüste, die er noch nie gesehen hatte.

Einem Mann kann man niemals trauen, sagte Schwester Edeltraud. Da war sie wieder! Dabei hatte sie Betty nichts mehr zu sagen. Betty war jetzt Frau Martin Strissel und erfüllte ihre eheliche Pflicht.

Schwester Edeltraud lachte sanft und verächtlich. Die eheliche Pflicht. Am helllichten Tag.

Martin hatte sich inzwischen zu ihrem Mieder vorgearbeitet, er keuchte leise, und Betty keuchte auch. Aber nicht aus Verlangen. Sie bekam plötzlich keine Luft mehr. Es war, als ob ihr jemand die Hände um den Hals legte und langsam zudrückte.

»Was ist mit dir?«, fragte Martin, als sie sich aus seiner Umarmung löste. »Du bist ja ganz bleich!«

Sie wandte sich ab, stützte ihre Arme aufs Fensterbrett und spürte, wie sich der Griff um ihren Hals lockerte. Sie nahm einen tiefen Atemzug.

»Entschuldige.« Martin streichelte ihren Rücken. »Ich war zu stürmisch.«

»Nicht doch. Ich … mir wurde plötzlich schwindlig.«

Sie wollte sich ihm wieder zuwenden, aber im selben Moment bemerkte sie die Frau. Eine junge hochgewachsene Dunkelhaarige in Männerhosen. Sie stand unten im Garten, in dem Streifen neben der Parzelle von Martin und Betty, rauchte und blickte zu ihnen empor. Und starrte auf Bettys offene Bluse, auf ihre weißen Brüste, die aus dem Mieder quollen.

Mit einem erschrockenen Aufschrei sprang Betty zurück und bedeckte ihren Busen mit den Armen.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte Martin irritiert.

»Man beobachtet uns.« Sie wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Garten.

Nun blickte auch er nach unten, sah die Frau und lachte. Er hob die Hand und grüßte hinunter, halb spöttisch, halb amüsiert. Betty konnte nicht sehen, ob die Frau zurückgrüßte.

»Kennst du sie?«, fragte sie.

»Bis jetzt noch nicht.« Auch Martin zog jetzt seine Zigaretten aus der Hemdtasche und steckte sich eine zwischen die Lippen. »Vermutlich ist sie unsere Nachbarin.« Sein Feuerzeug flammte auf. Er nahm einen tiefen Zug. »Ganz schön neugierig, die Gute.«

»Wir brauchen Vorhänge«, sagte Betty.

Er hatte fast zu Ende geraucht, als es klingelte.

Das ist die Frau aus dem Garten, dachte Betty und spürte, wie ihr Herz schneller pochte, nervös, aber auch neugierig. Sie eilte zur Tür und öffnete.

»Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit!«, klang es ihr entgegen. Im Treppenhaus standen Martins Schulfreunde Klaus und Hartmut und Hartmuts Frau Annemarie und Klaus’ Verlobte, deren Namen Betty vergessen hatte, obwohl sie ihr schon zweimal vorgestellt worden war.

Klaus hatte zwei Flaschen Schnaps dabei, eine in jeder Hand. »Hab leider keine Hand frei«, erklärte er und hob die Flaschen zum Beweis.

»Aber ich.« Hartmut reichte Betty seine Rechte. »Alles Gute zur Vermählung. Und mein Beileid zu diesem Mann. Aber eine musste ihn ja nehmen.«

»Nun lass doch diesen Blödsinn«, sagte Annemarie, die ihr dunkles Haar mit einer Menge Spray und Festiger zu einem riesigen Windbeutel geformt hatte. Sie überreichte Betty ein Tablett mit belegten Broten. »Die herzlichsten Glückwünsche für euch beide. Die Männer haben darauf bestanden, dass wir euch überfallen. Hoffentlich kommen wir nicht gar zu ungelegen.«

»Natürlich nicht.« Betty blickte sich nervös nach Martin um, der jetzt aus der Küche kam.

»Na, das ist ja wohl eine Überraschung.« Martin nahm Klaus die Flaschen ab und zog ihn gleichzeitig in den Flur. »Immer nur rein in die gute Stube. Was für eine Freude!«

»Ich glaub dir kein Wort. Ihr hattet bestimmt etwas Besseres vor.« Klaus’ Verlobte zwinkerte Betty zu und kicherte.

»Das ist also das neue Domizil.« Annemarie blickte sich neugierig um. »Ist ja nicht von schlechten Eltern.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Hartmut. »Du hast doch noch gar nichts gesehen.«

»Das lässt sich ändern.« Martin führte die vier durch die Wohnung, zeigte ihnen die Küche, das Bad und das Wohnzimmer mit dem neuen Kanapee und den Sesseln.

»Ein Traum!« Annemarie war begeistert. »Ihr seid wirklich zu beneiden.« Sie sah ihren Mann vorwurfsvoll an. »Und wir hausen immer noch in dem ollen Loch bei deinen Eltern.«

»Wenn du nicht ein Blag nach dem anderen bekommen würdest, könnten wir uns so was vielleicht auch leisten«, sagte Hartmut. »Aber du kannst ja nicht genug kriegen.«

»Ich mach mir die Kinder nicht selbst«, erklärte seine Frau.

»Kannst doch die Pille nehmen, wie andere Frauen auch.«

»Davon werde ich fett«, sagte Annemarie. »Und krieg schlechte Laune.«

»Ich krieg von dem ständigen Kindergeplärre schlechte Laune.«

»Jetzt hört aber mal auf«, sagte Klaus’ Verlobte. Sieglinde hieß sie, nun fiel es Betty wieder ein. »Kinder sind doch etwas Wunderbares. Klaus und ich wollen auch zwei, nicht wahr, Klaus?« Sie hakte sich bei ihrem Verlobten ein und strahlte ihn an.

Hartmut schnaubte verächtlich. »Zwei wären schon in Ordnung. Aber dabei bleibt es ja nicht.«

»Sag bloß!« Sieglinde riss ihre großen blauen Augen auf. Genau wie Annemarie hatte auch sie ihre Haare in schwindelerregende Höhen toupiert. »Ist bei euch etwa wieder was unterwegs?«

Hartmut schnaubte noch einmal, Annemarie senkte den Blick und lächelte verschämt.

»Da wird’s aber eng in der Bude«, stellte Klaus fest.

»Hier ist noch eine Wohnung im Erdgeschoss frei«, sagte Martin. »Die ist sogar noch größer als unsere. Wär das nichts für euch?«

»Und wie soll ich das bezahlen, kannst du mir das auch verraten?« Hartmut rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Ich bin kein Bürohengst wie du, dem sie das Geld hinten reinstecken.«

»Die alte Leier wieder.« Klaus klatschte in die Hände und rieb die Handflächen gegeneinander. »Was ist jetzt? Wollen wir mal anstoßen oder was?«

Betty holte Gläser und Teller aus der Küche, die Männer bekamen Schnaps, die Frauen Likör, zur Feier des Tages trank sogar Annemarie ein Gläschen mit. Dazu gab es die belegten Brote und einen Kuchen, den Sieglinde aus ihrem Korb holte. Betty hatte jedoch keinen Hunger, sie war noch satt vom Mittagessen.

Außerdem schlugen ihr Martins Freunde auf den Magen. Sie waren so laut und derb, ganz anders als Martin. Klaus und Hartmut hatten auch nicht studiert, sondern direkt nach der Schule in der Zeche Zollverein angefangen. Inzwischen hatte sich Klaus zum Steiger hochgearbeitet, während Hartmut immer noch als Hauer arbeitete und viel weniger Geld verdiente als seine beiden Schulkameraden.

Wenn die drei Männer zusammenkamen, wurde immer eine Menge getrunken und gelacht. Annemarie und Sieglinde störte das nicht, sie tranken mit und lachten über die anzüglichen Witze und Zoten.

»Du darfst sie bloß nicht ernst nehmen«, hatte Martin Betty gewarnt, bevor er ihr seine Freunde vorgestellt hatte.

Sie versuchte es, aber es gelang ihr nicht. Sie fragte sich, ob sie gekränkt waren, weil sie sie nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen hatten. Bestimmt gaben sie Betty die Schuld daran, und damit hatten sie recht. Es war ihr Wunsch gewesen, die Feier auf den kleinsten Kreis zu beschränken. Nur das Brautpaar, Martins Mutter Hedwig, ihre Schwester Erika, deren Mann Albert und ihr gemeinsamer Sohn, der ebenfalls Albert hieß und ihr Trauzeuge war. Und Bettys Kollegin Karin, die zweite Trauzeugin.

Sie waren am frühen Morgen aufs Standesamt gegangen und von dort direkt zur Kirche. Martin im schwarzen Anzug, Betty ganz in Weiß, aber nicht in einem langen Kleid, der Rock endete eine Handbreit über dem Knie.

»Flott«, hatte Hedwig gesagt, als sie das Kleid gesehen hatte.

»Und vor allem praktisch«, meinte Betty. »Ich will das Kleid nämlich später färben lassen, dann kann ich es weiter tragen.«

»Das ist sehr vernünftig«, fand Martins Mutter und lächelte tapfer. Auch wenn sie es zu verbergen versuchte – Betty wusste, dass sie enttäuscht war. Martins Vater und sein älterer Bruder waren im Krieg gefallen, seine Schwester war auf der Flucht ums Leben gekommen. Nur ihren Jüngsten, ihren Martin, hatte sie behalten dürfen, er war ihr Ein und Alles, und nun heiratete er, und anstatt ein rauschendes Fest zu geben, mit einer Blaskapelle und Tanz und Hunderten von Gästen, ging es nach der Kirche zum Essen in eine Gaststätte, und das war’s.

Als die Getränke serviert wurden, hob Hedwig mit einem traurigen Lächeln ihr Glas. »Trinken wir auf das Hochzeitspaar. Und auf alles, was wir verloren haben.«

»Auf Schlesien.« Tante Erika bekam sofort glänzende Augen, weil sie wohl an ihr schönes Haus in Kreuzburg dachte, in dem jetzt Weißrussen wohnten, die ihre Heimat genauso vermissten wie Hedwig und Erika. »Und auf unsere Lieben, die nicht mehr unter uns sind.«

»Wenn Hermann das bloß noch hätte erleben dürfen.« Hedwig seufzte.

»Die Besten gehen immer zuerst.« Onkel Albert nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Auch seine Augen glänzten, aber das lag wahrscheinlich eher daran, dass er schon das dritte Bier trank.

»Deine lieben Eltern sind ja auch schon von uns gegangen«, sagte Tante Erika zu Betty. »Sie wären bestimmt unendlich stolz auf dich. Ihr seid so ein schönes Paar.«

Betty nickte und schwieg. Ihre lieben Eltern. Ihre Mutter wohnte in Düsseldorf, keine fünfzig Kilometer entfernt, und trauerte um Ohlenforst, der vor zwei Monaten an einer Lungenembolie verschieden war. Seit er tot war, dachte sie wieder sehnsüchtig an ihre verlorene Tochter. Aber davon wusste Betty nichts, davon würde sie auch nie erfahren. Und Tante Erika natürlich auch nicht.

»Und sonst gab es keinen, den du an diesem Freudentag hättest einladen können?«, bohrte Tante Erika weiter. »Keine Großeltern, keine Tante, noch nicht einmal eine Cousine?«

Betty machte ein bedauerndes Gesicht, schüttelte den Kopf, trank einen Schluck Wein und genoss die fruchtige Süße auf ihrer Zunge.

»So ein Jammer«, klagte Tante Erika. Onkel Albert winkte der Kellnerin, weil er noch ein Bier bestellen wollte, und fuhr erschrocken zusammen, als Martin mit der Faust auf den Tisch schlug.

»Nun reicht es aber!«, rief er laut. »Wollt ihr etwa den ganzen Tag über die Toten reden und über den Krieg und über Schlesien? Das ist unsere Hochzeit und kein Begräbnis, verflucht noch eins.«

»Martin!« Tante Erika war empört, aber bevor sie Martin zurechtweisen konnte, mischte sich Hedwig ein.

»Lass nur, Erika«, sagte sie. »Der Junge hat ja recht. Was vorbei ist, ist vorbei. Schauen wir lieber nach vorn und freuen uns, dass es uns so gut geht. Und dass mir mein Martin so eine liebe Tochter ins Haus gebracht hat.« Sie tätschelte Bettys Hand und lächelte sie an, und Betty merkte, wie sich eine wohlige Wärme in ihr ausbreitete.

Nachdem die zweite Flasche Schnaps leer war, wurden Annemarie und Sieglinde unruhig und wären gerne nach Hause gegangen, aber nun kamen die Männer erst so richtig in Fahrt. Martin brachte noch ein paar Flaschen Bier ins Wohnzimmer, und während er einschenkte, drehte Hartmut das Radio lauter.

»Jetzt wird getanzt«, verkündete er und zog seine Annemarie vom Sofa, die keine rechte Lust hatte, aber das interessierte ihn nicht.

»Halt!«, rief Sieglinde, als sie den Teppich zur Seite geschoben hatten und gerade loslegen wollten. »Zuerst ist das Brautpaar dran.«

Betty erhob sich ein bisschen schwankend, weil sie zu viel von dem Eierlikör getrunken hatte. Martin legte den Arm um sie und führte sie zur Zimmermitte. Im Radio lief Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut. Martin versuchte, Walzer darauf zu tanzen, das war der einzige Tanz, den er beherrschte, aber die Musik passte nicht zu seinen Schritten, und Betty war ihm im Weg, er trat ihr ständig auf die Füße. Dennoch hielt er eisern durch, bis das Lied zu Ende war.

Danach tanzten auch die anderen, bis der Babysitter-Boogie kam und Annemarie daran erinnerte, dass sie den Schwiegereltern versprochen hatten, bis Mitternacht zurück zu sein. Es war aber schon halb eins.

Sie brachen überstürzt auf.

Martin und Klaus schenkten sich noch ein letztes Bier ein, während Betty und Sieglinde die leeren Gläser und Teller in die Küche trugen.

»Was für ein schöner Abend«, sagte Betty. »Ich bin froh, dass ihr gekommen seid.«

Sieglinde band sich eine Küchenschürze um und ließ Wasser in die Spüle.

»Lass das doch«, sagte Betty. »Ich mach den Abwasch morgen in aller Ruhe.«

»Nichts da«, sagte Sieglinde. »Zusammen sind wir doch ruckzuck fertig.« Sie zog die grünen Gummihandschuhe an, die auf der Spüle lagen, und ließ Wasser ins Becken. Während Betty die Gläser abtrocknete, dachte sie an ihr schönes neues Bett, das immer noch nicht bezogen war, wie ihr in diesem Moment einfiel.

»Nun seid ihr also verheiratet.« Sieglindes grüne Finger verschwanden in dem weißen Schaumberg, der auf dem Spülwasser schwebte wie Sahne auf einer Torte. »Bist du glücklich?«

»Sehr.«

»Wir werden im März heiraten«, sagte Sieglinde, deren Blick auf dem Schaumberg ruhte. »Ihr seid natürlich eingeladen.«

»Wunderbar. Ich freue mich schon darauf.«

»Wollt ihr Kinder?«, fragte Sieglinde, immer noch ohne sie anzusehen.

»Natürlich«, sagte Betty. »So schnell wie möglich.« Zuerst einen Jungen und dann ein Mädchen. So wünschten sie es sich, aber wenn es anders käme, würden sie sich genauso freuen.

Sieglinde schwieg einen Moment, dann lachte sie kurz auf, als wäre ihr etwas Lustiges eingefallen. »Wer hätte das gedacht. Dass Martin so schnell unter die Haube kommt. Ich hab immer geglaubt, der heiratet nie.«

Betty musste daran denken, wie überrascht ihre Chefin gewesen war, als Betty ihr erzählt hatte, dass sie und Martin heiraten würden. »Sie und Herr Strissel?«, hatte Frau Storz gefragt. »Wirklich?«

Ihre Verwunderung hatte Betty zuerst gekränkt, aber dann erfüllte sie sie mit Stolz. Es war ja auch erstaunlich. Martin sah gut aus, war charmant und witzig, und als Buchhalter bei Krupp verdiente er eine Menge Geld. Und Betty war schon zweiunddreißig, drei Jahre älter als er, und hatte kein Geld, keine Familie und eine Vergangenheit, die keiner kannte.

Ich hab immer geglaubt, der heiratet nie. Sieglinde erwartete jetzt sicher, dass Betty nachfragte. Aber den Gefallen tat Betty ihr nicht. Sie wollte gar nicht wissen, warum Sieglinde was dachte. Sie wollte ihr Bett beziehen und mit Martin schlafen gehen.

»Wie wollt ihr denn feiern? Habt ihr schon Pläne?«, fragte sie, während sie einen tropfenden Teller von der Ablage neben dem Spülbecken nahm.

Aber so leicht ließ Sieglinde sich nicht ablenken. »Er hat nichts anbrennen lassen.« Sie betrachtete nachdenklich ihre nassen grünen Gummihände. »Dein Martin.«

Betty polierte den Teller mit einem solchen Nachdruck, dass es quietschte. »Ja nun«, sagte sie und wunderte sich, wie ruhig ihre Stimme klang. »Das ist Vergangenheit.«

Sieglinde schien das zu akzeptieren, jedenfalls spülte sie schweigend weiter. Unter dem Schaumberg klapperte das Besteck. Betty schwieg ebenfalls. Sie mochte Sieglinde nicht, sie hatte sie nie gemocht. Sie wollte sie loswerden, so schnell wie möglich. Nur wie? Auch ihr Kopf war auf einmal voll knisterndem Seifenschaum, in dem ihre Gedanken ertranken.

Sieglinde legte den letzten Teller auf die Ablage, trocknete sich die Hände an der Schürze ab und lächelte sanft. Da begriff Betty, dass sie nicht eher gehen würde, bevor sie nicht gesagt hatte, was sie sagen wollte. Und dass das der einzige Grund gewesen war, warum sie überhaupt mit in die Küche gekommen war.

»Martin ist der geborene Schürzenjäger«, sagte Sieglinde. »So einer ändert sich nie. Glaub mir, ich kenn mich da aus.«

Betty wischte den letzten Teller trocken und stellte sich vor, wie sie ihn zu Boden schleudern würde, direkt vor Sieglindes Füße. Und wie sie die Gläser, die bereits sauber und trocken auf dem Tisch standen, mit einer schnellen Handbewegung von der Platte wischte. Das laute Klirren, die Scherben auf dem wasserblauen Linoleum und Sieglindes verstörtes Gesicht.

»Na ja, vielleicht irre ich mich auch. Ich will dir ja deine Illusionen nicht nehmen«, erklärte Sieglinde, während Betty den Teller behutsam auf den Stapel der anderen stellte. Dann zog sie die Gummihandschuhe aus, nahm die Schürze ab, hängte sie an den Haken neben der Tür und ging zurück ins Wohnzimmer.

2
Weilerbach, 1942

»Nicht weinen, Mutti«, sagte Elisabeth mit fester Stimme, obwohl sie selbst kurz vor den Tränen stand. »Es ist doch eigentlich ganz gut hier.« Sie nahm die Hand ihrer Mutter, die Elisabeths Finger so fest umklammerte, dass es wehtat.

»Wie es hier riecht.« Frau Sonne sog die Luft ein und verzog das Gesicht. Die Luft war warm und abgestanden, staubig, trocken.

»Das stimmt.« Elisabeth löste sich aus der Hand ihrer Mutter. Sie ging zu dem Dachfenster, das zwischen den schwarzen Holzbalken eingelassen war, und zog es weit auf. Von draußen drang Mistlachengestank herein.

»Das ist ja noch schlimmer.« Die Stimme ihrer Mutter klang, als drücke jemand ihren Kopf unter Wasser. »So ein Kaff. Ein Glück, dass dein Vater das nicht erleben muss.« Und nun brach ihre Stimme. Die Schultern begannen zu zucken. Dann liefen Tränen über ihre Wangen. Sie wischte sie weg, blickte mit starrem Gesicht in den blauen Himmel hinter dem Fenster und versuchte sich zu beruhigen.

Elisabeth schloss das Fenster wieder. Der Himmel verfärbte sich prompt gräulich, so dreckig war die Scheibe. Sie drehte sich um und musterte den schmalen dunklen Raum mit der schrägen Holzdecke, unter der sich vier Feldbetten aufreihten. Es gab zwei Türen, eine führte ins Treppenhaus, die andere in einen winzigen Verschlag, in dem ein uralter Herd stand und daneben ein Waschbecken mit fließendem Wasser. Immerhin.

»Welches Bett willst du haben?«, fragte sie ihre Mutter.

Frau Sonne rieb sich mit dem Zeigefingerknöchel eine Träne aus dem Auge und antwortete nicht.

Elisabeth trug ihren Pappkoffer zu dem eisernen Bettgestell am Fenster. Sie hievte ihn auf die dünne Matratze und klappte ihn auf.

Die Dinge, die sie gerettet hatte: Das karierte Wollkleid mit dem Matrosenkragen, das sie nie gemocht hatte. Das Kreuz, das ihr ihre Großmutter zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Zwei Röcke, drei Blusen, ein paar Leibchen, Mieder, Strumpfhalter. Unterwäsche, die ziemlich grau war. Wollstrümpfe, die meisten davon oft geflickt.

Die Dinge, die sie geliebt hatte, waren verbrannt. Ihr schöner roter Rock mit den Rüschen, ihre geblümte Bluse, der lila Regenschirm mit Sonne, Mond und Sternen. Der Koffer, den Elisabeth für den Notfall gepackt und mit in den Luftschutzkeller genommen hatte, enthielt nur Kleider, die sie wochenlang nicht getragen hatte.

Als es losging, hatten sie keine Zeit, irgendwas zu suchen. Elisabeth nahm den Alarm auch gar nicht ernst. Sie waren vorher schon zweimal mitten in der Nacht in den Keller gerannt, und dann war nichts passiert.

Aber dieses Mal passierte etwas.

Draußen heulten die Stabbrandbomben, und im Keller heulte die alte Witwe Trossinger aus dem Vorderhaus. Nach jedem Einschlag begann sie einen Rosenkranz zu beten. Gegrüßet seist du Maria, Mutter Gottes, begann sie, danach fielen Frau Kreuz, Frau Nagel und die Wandlers aus dem Hinterhaus ein. Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesu …, weiter kamen sie nie, denn nun jaulte und krachte es draußen wieder, durch die Lüftungsrohre drang Ruß in den Keller und brachte alle zum Husten und die Kinder zum Schreien und Witwe Trossinger zum Heulen, bis sie erneut mit dem Rosenkranz loslegte.

Elisabeth hockte neben ihrer Mutter, sie hielten sich eng umschlungen. »Wenn es zu Ende geht, gehen wir zum Vater«, flüsterte Frau Sonne ihr zu, und Elisabeth wusste, dass sie damit nicht den himmlischen Vater meinte, zu dem die anderen beteten.

Auf der Pritsche neben ihr hielten sich Fräulein Bosch und Fräulein Hüllekremer bei den Händen. Sie waren beide Verkäuferinnen und wohnten in zwei möblierten Zimmern im Hinterhaus. Fräulein Bosch weinte, Fräulein Hüllekremer streichelte das weiche hellblonde ondulierte Haar ihrer Freundin und flüsterte: »Wird alles wieder gut, wird alles wieder gut.«

Elisabeth hatte das Gefühl, dass sie den zarten Rosenduft riechen konnte, den Fräulein Boschs Puder verströmte, aber vermutlich täuschte sie sich. Der Keller war voller Staub und Ruß, dagegen hatte der Rosenpuder keine Chance.

Fräulein Hüllekremer täuschte sich auf jeden Fall. Als am frühen Morgen wieder die Sirenen losheulten und Entwarnung meldeten und Herr Schneck zur Tür ging, musste er feststellen, dass sie nicht aufging. Irgendetwas Schweres drückte von außen dagegen.

»Wir müssen hier raus«, stöhnte Frau Sieverding, die die ganze Nacht keinen Ton von sich gegeben hatte. Ihre beiden Zwillingstöchter begannen laut zu weinen.

»Ruhe«, sagte Herr Schneck. »Wir müssen unter allen Umständen die Ruhe bewahren.« Mit Hilfe von dem alten Herrn Wandler schaffte er es nach einer Weile doch, die Tür einen Spaltbreit aufzustemmen.

Der Kellerzugang lag voller Trümmer. Das Vorderhaus war völlig zerstört, das Dachgeschoss war eingestürzt, die Fassade schwarz verkohlt, die Rückwand sah aus wie ein verfaultes Gebiss. Das Hinterhaus brannte noch, aus dem Dachstuhl loderten Flammen. Auch aus den umstehenden Gebäuden schlug Feuer, schwarze Rauchschwaden bedeckten den Himmel.

Fräulein Hüllekremer wurde vor Schreck ohnmächtig, dabei hatte sie doch nur ein Zimmer verloren, und die Möbel waren nicht einmal ihre eigenen gewesen.

»Na, unser Klosett ist immerhin noch da«, sagte Herr Schneck. »Und eine schöne Aussicht haben wir jetzt auch.« Und damit hatte er recht. Durch die zerstörte Fassade des Vorderhauses konnte man direkt auf die Klosettschüssel auf der halben Treppe zum vierten Stock blicken, die unversehrt schien, zumindest von hier unten.

Elisabeth und ihre Mutter hatten im fünften Stock gewohnt, eine Etage unter dem Dachgeschoss. Von ihrer Wohnung waren noch ein paar Zimmerwände erhalten, der Rest war zerstört. Der rote Rüschenrock, die geblümte Bluse und der Regenschirm, Elisabeths Bücher, Frau Sonnes Geranien, das gute Porzellan, die Kristallleuchter und die Kerzenständer, die noch von Frau Sonnes Urgroßmutter stammten, waren zu einem großen schwarzen Klumpen geschmolzen.

In einem Jahr würden die Engländer die halbe Stadt in einen großen schwarzen Klumpen verwandelt haben. Bei den Pfingstangriffen würden sie ihr Bombardement auf die Altstadt konzentrieren, denn hier gab es besonders viele Holzhäuser. Sie deckten die Dächer mit Luftminen ab und warfen Stabbrandbomben hinein, die einen Feuersturm entfachten, der sich wie ein Ungeheuer durch die Gassen von Düsseldorf wälzte und alles auffraß, was sich ihm in den Weg stellte. Der sich überfraß, bis ihm schlecht wurde und er Klumpen von Schwarzgeschmolzenem und Asche erbrach.

Aber so weit war es noch nicht. Noch standen die meisten Gebäude, und Elisabeth und Frau Sonne fanden sofort Platz in einer Notunterkunft, die in der Turnhalle von Elisabeths ehemaliger Schule untergebracht war. Es war unerträglich. Siebzig Leute teilten sich zwei Toiletten und drei Waschbecken, und das Wasser musste von einem Brunnen auf der Hindenburgallee geholt werden.

Wer Verwandtschaft auf dem Land hatte, floh aus der Stadt. Elisabeths Großeltern wohnten in Dortmund und Bochum, da sah es genauso schlimm aus. Aber drei Tage später fuhr ein Polizeiwagen an der Schule vorbei, eine blecherne Lautsprecherstimme forderte die ausgebombten Bürger auf, sich auf den Rheinwiesen einzufinden.

»Was passiert denn dort mit uns?«, fragte Frau Sonne.

»Wir werden evakuiert«, sagte Elisabeth. »Endlich.« Sie nahm ihren Koffer in die eine Hand und ihre Mutter an die andere, und dann marschierten sie in großen Schritten durch die malträtierte Stadt. Leider waren sie nicht die Einzigen, die ihre Wohnung verloren und die Botschaft gehört hatten, auf den Wiesen vor dem Rhein drängten sich die Wohnungslosen dicht an dicht.

»Sie verschicken erst mal nur Frauen mit Kindern«, teilte ihnen Frau Sieverding mit, die mit ihren Zwillingen schon in der Schlange vor der improvisierten Meldestelle stand. »Die Übrigen müssen warten.«

»Na, das ist ja auch recht und billig, dass die Frauen und die Kinder Vorrang haben«, sagte Frau Sonne.

»Es geht aber nur um die kleinen Kinder«, sagte Frau Sieverding. »Elisabeth ist ja schon groß.«

»Sie ist erst zwölf«, erklärte Frau Sonne.

»Ach so«, sagte Frau Sieverding. »Na, dann haben Sie vielleicht doch noch Glück.«

Als sie nach zwei Stunden endlich vorne an der Anmeldung angekommen waren, zog Elisabeth unwillkürlich den Kopf ein. Sie duckte sich, wie sie es immer tat, wenn sie irgendwohin kam, wo man sie nicht kannte. Ihre Größe hatte ihr ihr Leben lang nichts als Nachteile gebracht. In der Schule erwarteten die Lehrer von ihr, dass sie vernünftiger, verantwortungsvoller und gewissenhafter war als ihre Klassenkameraden. Ein großes Mädchen wie du, sagten sie.

Natürlich ließ sich die Frau hinter dem Holztisch von Elisabeths krummer Haltung nicht täuschen. »Wie alt ist das Mädchen denn?«, erkundigte sie sich skeptisch. »Ab vierzehn kommen die Kinder …«

»Elisabeth ist zwölf«, sagte Frau Sonne und gab ihr Elisabeths Geburtsurkunde. Das Familienstammbuch war glücklicherweise in ihrem Koffer gewesen, als sie den Alarm gehört hatten.

Die Frau musterte die Urkunde mit gerunzelter Stirn, dann bohrte sich ihr Blick in Elisabeths Stirn. »Bist du wirklich Elisabeth?«, fragte sie streng.

Elisabeth nickte und nahm unwillkürlich Haltung an, wodurch sie wieder größer wurde. Die Frau kniff die Augen zusammen.

»Meinetwegen.« Sie gab Frau Sonne die Geburtsurkunde zurück, drückte zwei Stempel auf zwei Formulare und reichte sie ebenfalls über den Tisch. »Bitte schön.«

»Und jetzt?«, fragte Frau Sonne schüchtern.

»Sind Sie reiseberechtigt«, erklärte die Frau.

»Wo geht der Transport denn ab? Am Bahnhof?«

»Am Bahnhof.« Die Frau zog die Mundwinkel nach unten. »Da läuft erst mal gar nichts. Der Transport beginnt hier. Lastwagen oder Fuhrwerk, je nachdem.«

»Und wann?«

»Warten Sie einfach ab, dann wissen Sie es.« Sie nickte ihr noch einmal aufmunternd zu, danach blickte sie zur nächsten Frau, die hastig nach vorn trat.

Sie warteten bis abends um sechs, dann schafften sie es auf das letzte Fuhrwerk, das die Rheinwiesen an diesem Tag verließ. Zusammen mit zwölf Frauen, einer Handvoll Kinder und einem uralten Mann quetschten sie sich auf die Ladefläche, auf der sonst Getreide transportiert wurde, das sah man an den Spelzen und Halmen, die überall lagen. Elisabeth hatte fast den ganzen Tag gestanden und dämmerte sofort ein, als sich der Wagen rumpelnd in Bewegung setzte.

Einige Stunden später kam das Fuhrwerk vor einem Bahnhofsgebäude zu stehen.

»Alles aussteigen!«, schrie der Kutscher.

»Wat sollen wir denn hier?«, rief eine der Frauen zurück, eine robuste, stämmige Person mit roten Wangen und leicht hervorquellenden Augen.

»Na, dreimal dürfen Se raten.«

»Es geht mit dem Zug weiter«, sagte Elisabeths Mutter leise.

»Heute Nacht geht doch kein Zug mehr.« Die rotbäckige Frau schüttelte den Kopf. »Wie stellen Se sich dat vor, Meister?«, schrie sie wieder nach vorn zum Fahrer. »Solle mer vielleicht auf’m Bahnsteig übernachten?«

Genau so war es. Der Kutscher versuchte zwar eine Weile lang vergeblich, einen Bahnhofsvorsteher aufzutreiben, der ihnen das Bahnhofsgebäude aufschloss, aber es fand sich keiner. Also kletterte er wieder auf seinen Bock, schnalzte mit der Zunge, knallte mit der Peitsche und fuhr davon.

Die Frauen schimpften und weinten, dann ergaben sie sich in ihr Schicksal. Man breitete Decken, Röcke, Tücher auf dem nackten Boden aus, darauf ließ man sich nieder. Keiner rechnete damit, dass sie auch nur ein Auge zutun würden, aber nach einer halben Stunde schliefen sie alle, auch Elisabeth.

In ein paar Tagen würde ein englischer Jagdflieger drei Brandbomben auf den Bahnhof werfen, und das Gebäude und der hölzerne Bahnsteig, auf dem sie lagen, würden komplett ausbrennen. Aber in dieser Nacht blieb alles ruhig. Nur ein streunender Hund kam vorbei, angezogen vom Duft des Proviants in ihren Taschen, stand er eine Weile lang auf einem Perron und starrte voll Verlangen zu ihnen herüber. Dann verschwand er wieder, und keiner der Schlafenden wusste, dass er da gewesen war.

Um sechs Uhr morgens fuhr zischend und schnaufend ein Zug ein. Trotz der frühen Stunde waren die Abteile bereits voll, auch auf den Gängen drängten sich die Menschen. Man quetschte sich dennoch hinein. Als der Bahnsteig leer war, setzte sich der Zug mit einem Ruck wieder in Bewegung. Alle gerieten ins Schwanken, aber keiner fiel um, dafür war der Zug viel zu voll.

Nach drei Tagen landeten sie in einem Auffanglager in Schwäbisch Gmünd. Von dort schickte man sie wieder eine Woche später nach Weilerbach. Auf dem Dachboden des Schulhauses war eine Notunterkunft für sie eingerichtet.

Und hier waren sie nun.

»S’isch halt, wie’s isch«, sagte die Frau, die ihnen die Tür aufschloss, und erklärte ihnen noch so einiges andere, das sie aber nicht verstanden, weil ihr Schwäbisch so breit war.

Als Elisabeth nachts aufwachte, hörte sie das Getrippel von Vogelfüßen auf den Dachschindeln. Ein leises Gurren. Tauben.

Vor ihrem Kinderzimmer in der Sternstraße hatten auch Tauben genistet. Direkt unter einem Dachbalken, zum großen Missfallen des Hauswarts, der immer wieder versuchte, das Nest zu vernichten, aber er konnte es einfach nicht erreichen.

Dann hatten die Engländer die Sache für ihn erledigt und hatten nicht nur die Tauben vertrieben, sondern auch Elisabeth und ihre Mutter.

Das Gescharre und Getrappel auf dem Dach klang so beruhigend. Elisabeth drehte sich auf die andere Seite und wollte gerade wieder einschlafen, als sie das Schniefen hörte. Dann ein Schluchzen. Auch das war wie früher.

Ihre Mutter schlief nicht. Seit der Brief mit der Todesnachricht gekommen war, weinte sie jede Nacht.

Elisabeth lauschte auf das Seufzen und Schluchzen. Und dachte an ihren Vater, der auf dem Heldenfriedhof von Wolodylow lag. Grab 36, Reihe 8. Werner Sonne.

Sie versuchte, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Das dichte Haar, die dunklen Augen. Es gelang ihr nicht. Sie erinnerte sich aber plötzlich an sein Lachen, laut und fröhlich.

Das Lachen ihres Vaters. Das Weinen ihrer Mutter. Mit diesen Geräuschen im Kopf schlief sie wieder ein.

In Düsseldorf war Elisabeth aufs Auguste-Viktoria-Lyzeum gegangen, doch in Weilerbach gab es nur die Volksschule. Dafür musste sie morgens aber auch nicht in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus, um elf Stationen mit der Straßenbahn zu fahren, sondern brauchte nur zwei Treppen nach unten zu gehen, dann war sie schon da. Im Erdgeschoss wurden die Klassen eins bis vier unterrichtet, im ersten Stock fand der Unterricht für alle weiteren Klassen statt. Und zwar in einem Raum.

Als Elisabeth das Schulzimmer betrat, waren schon ein paar Jugendliche da. Ein hochgewachsener Junge mit dunklen Haaren versetzte einem anderen eine Kopfnuss. Drei Mädchen schauten zu, die Münder und Augen weit aufgerissen, als gäbe es etwas besonders Schönes zu sehen. Dann bemerkten sie Elisabeth und richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie. Die mittlere und größte der drei gab sich schließlich einen Ruck und kam auf sie zu.

»Bischdudrflichtleng?«

»Wie bitte?«

Das Mädchen wiederholte seine Frage, langsamer, deutlicher. »Bisch du der Flichtleng?«

Elisabeth nickte.

»I hoiß Rosel«, stellte sich das Mädchen vor. »Du hasch scheene Hoor.«

Es dauerte eine Weile, bis Elisabeth auch diese Worte entschlüsselt hatte. Nervös fuhr sie sich durch ihren kinnlangen Pagenkopf. Rosel und die beiden kleineren Mädchen trugen lange Zöpfe. Dunkle Schürzen über den weiten Röcken.

»Ich heiße Elisabeth«, sagte sie. »Ich komme aus Düsseldorf.«

Nun standen alle um sie herum, auch die Jungen, die sich gerade noch gestritten hatten.

Düsseldorf, davon hatte keiner der fünf bisher gehört. Sie lachten, als Elisabeth erklärte, dass es eine Großstadt war, mit hohen Häusern und Kinos und Warenhäusern. Jedenfalls hatte es früher hohe Häuser, Kinos und Warenhäuser gegeben, jetzt war ja alles zerstört.

Inzwischen hatte sich der Raum gefüllt, zum Schluss kam der Lehrer ins Zimmer, ein großer dicker Mann, dem der rechte Arm fehlte. Er hieß Herr Häufele, das teilte er Elisabeth mit, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Er sprach ebenfalls Schwäbisch, aber nicht so schlimm wie die Kinder. Er wies ihr einen Platz in der letzten Reihe zu, ganz in der Nähe des großen Jungen, der die Kopfnuss verteilt hatte.

Sie wollte sich gerade setzen, als Herr Häufele seinen linken Arm nach oben riss. »Heil Hitler«, brüllte er, als könne er durch die Lautstärke wieder wettmachen, dass er den Hitlergruß aufgrund seiner Behinderung nicht richtig ausführen konnte.

Die Schüler hoben die rechten Arme und erwiderten den Gruß mit lautstarker Begeisterung.

Man sang ein Morgenlied, das Elisabeth nicht kannte, und dann durften sich alle setzen.

Es wurde gerechnet. Herr Häufele stand stramm neben seinem Pult, brüllte Rechenaufgaben in den Raum und danach den Namen des Schülers, der aufstehen und die Aufgabe lösen sollte. War die Antwort richtig, kam der nächste dran. Aber wenn sich einer verrechnete oder zu lange brauchte, marschierte Herr Häufele mit knarzenden Schuhen durch den Raum und trat vor den Schüler hin, so dicht, dass das Kind zu ihm aufblicken musste, denn Herr Häufele war sehr groß. Nun stellte er die nächste Aufgabe, die noch schwerer war. Einige Mädchen brachen gleich nach der ersten Frage in Tränen aus, dann schnaubte Herr Häufele verächtlich und ließ sie in Ruhe.

»Sieben mal sieben«, brüllte Herr Häufele. »Xaver!«

Am Tisch neben Elisabeth erhob sich der Kopfnuss-Junge. Er stand aber nicht stramm, sondern lehnte lässig an seiner Stuhllehne.

»Woiß net.«

Die knirschenden Schuhe machten sich auf den Weg. Aber als Herr Häufele ihn erreicht hatte, blickte Xaver nicht zu ihm auf, weil sie beide genau gleich groß waren.

»Fünf plus fünfzehn«, sagte Herr Häufele.

Xaver zuckte mit den Schultern und unterdrückte ein Gähnen.

Zwölf durch vier konnte er ebenfalls nicht lösen.

Elisabeth hielt den Atem an. Xaver war älter als sie, bestimmt schon vierzehn oder fünfzehn. War er wirklich so vernagelt, oder wollte er einfach nicht?

Herrn Häufeles Miene wurde immer finsterer. Nach dem dritten Scheitern schnippte er mit den Fingern. Ein Mädchen, das ganz vorne saß, sprang auf und holte die Rute, die neben der Tafel hing.

Xaver verdrehte die Augen und streckte die Hände aus, die Handflächen waren zur Decke gedreht. Als Herr Häufele ihm mit der Linken drei Tatzen verpasste, verzog er keine Miene. Herrn Häufeles Gesicht zuckte dagegen bei jedem Hieb, als versetzte man ihm einen Stromschlag.

»Lernen«, sagte er, als er fertig war. »Wenn’d ned lernsch, bleibsch so blöd, wie’d bisch.« Und drehte sich um und marschierte zurück zum Pult. Xaver lächelte kalt.

»Achtzehn mal drei«, brüllte Herr Häufele. »Elisabeth.«

»Vierundfünfzig!« Elisabeth hatte die Antwort gerufen, noch bevor sie aufgesprungen war. Sie war gut im Rechnen, auf jede Aufgabe, die Herr Häufele bisher gestellt hatte, hatte sie die Antwort gewusst. Dennoch hämmerte ihr Herz jetzt zum Zerspringen.

Er stellte ihr neunzehn Fragen, eine schwerer als die andere. Sie beantwortete sie alle richtig.

Danach war das Kopfrechnen beendet. Herr Häufele setzte sich hinter sein Pult und rauchte eine Pfeife, die ihm ein Junge in der ersten Reihe gestopft hatte. Die Schüler mussten einen Aufsatz schreiben.

»Heimat«, war das Thema.

Elisabeth kaute eine Weile auf ihrem Bleistift herum. Dann beschrieb sie einen Zoobesuch mit ihrem Vater, der nie stattgefunden hatte, ihr Vater hatte sich nichts aus Tieren gemacht und aus Elisabeth auch nicht viel.

Aber das konnte Herr Häufele nicht wissen. Er kannte auch den Düsseldorfer Zoo nicht und hatte keine Ahnung, dass es hier nur eine altersschwache Hyäne gab, aber keine Löwen, Tiger und Leoparden, die mit lautem Gebrüll um ihre verlorene Heimat trauerten, wie Elisabeth schrieb. Auch den gelehrigen Braunbären, der sich auf die Hinterbeine stellen und Polka tanzen konnte, suchte man in Düsseldorf vergeblich. Elisabeth erfand Menschenaffen, die sich auf die Brust trommelten, trompetende Elefanten und bunte Papageien, die den Hitlergruß kreischten.

Und weil sie schon einmal dabei war, erfand sie auch gleich einen neuen Vater, der Elisabeth die Tierwelt erklärte, der ihr Süßigkeiten und einen roten Luftballon kaufte. Einen Vater, der seine Tochter vergötterte und der für sie alles war.

Genau wie die Tiere habe auch ich meine Heimat verloren, schrieb Elisabeth. Mein Vater war meine Heimat für mich. Er starb am 9. Januar den Heldentod für unser Vaterland.

Zumindest der letzte Satz war nicht gelogen.

Am nächsten Tag las Herr Häufele ihren Aufsatz der ganzen Klasse vor, und als er ihn ihr zurückgab, hatte er Tränen in den Augen. Sie kam nach vorn in die erste Reihe und durfte ab sofort die Pfeife stopfen.

Das immerhin lernte sie, aber ansonsten verschwendete sie im Klassenzimmer ihre Zeit. Im Lyzeum in Düsseldorf hatten sie Bruchrechnen und Wurzelziehen geübt, hier beschäftigte man sich noch mit den Grundrechenarten. Und statt Englisch- und Französischvokabeln zu pauken, verbrachte sie Stunden damit, eine Tischdecke im Kreuzstichmuster zu besticken.

Ihre Klassenkameraden blieben ihr fremd, sie freundete sich mit keinem der Mädchen an. Nach ein paar Wochen verstand sie den Dialekt, aber natürlich konnte sie ihn nicht sprechen und blieb somit immer außen vor.

Sie hatte auch kaum Gelegenheit, die anderen Mädchen kennenzulernen. Wenn sie sich am Nachmittag trafen, um gemeinsam am Bach Gänse zu hüten oder auf dem Feld zu arbeiten oder zu spielen, dann hockte Elisabeth auf dem Dachboden der Schule. Frau Sonne wollte nicht, dass sie wegging, sie bekam schon Zustände, wenn Elisabeth die beiden Treppen hinunter ins Klassenzimmer lief.

»Pass auf dich auf«, sagte sie immer. Aber was sie eigentlich meinte, war: Pass auf mich auf.

3

Die Langeweile tropfte von den dunklen Holzbalken, sie strömte unter den Feldbetten empor und füllte den ganzen Raum, füllte auch Elisabeth selbst mit grauer Leere.

Um ihr zu entkommen, durchsuchte sie das Schulhaus. Im zweiten Stock gab es einen kleinen Raum, in dem alte Karten, Lehrmaterialien und Bücher lagerten. Ausgestopfte Wiesel, Eulen und Marder verstaubten in einem Regal, darunter lagen bunte Vogeleier und ein halb verschimmeltes Nest. An der Wand stand ein menschliches Skelett, das sie lange betrachtete, obwohl es sie gruselte.

Sie fand einen Atlas von 1885, den sie mit nach oben auf den Dachboden nahm. Stundenlang vertiefte sie sich in die Karten der Erdteile und Länder. Namen wie aus einem Märchenbuch: Rio de Oro, Abessinien, Osmanisches Reich.

Afrika war bunt, die englischen Kolonien waren gelb eingefärbt, die französischen violett, Holland war grün, Spanien orange und Portugal rot. Madagaskar war zu einer Hälfte orange und zur anderen gelb. Deutschland war blau und hatte keine Kolonien.

Das alles war Vergangenheit, die Grenzen, die in dem alten Atlas verzeichnet waren, galten längst nicht mehr. Sie veränderten sich täglich. Das blaue Deutschland dehnte sich aus wie ein überkochender Brei, der aus einem zu kleinen Topf strömt. Man hatte bereits Böhmen und Mähren überschwemmt, Österreich, Polen, die Niederlande und Frankreich. Und nun galt es, Russland zu erobern.

Elisabeth starrte auf die Weltkarte. Das russische Reich war rosa, es bedeckte den halben asiatischen Kontinent. Eine Fläche, in der Deutschland auch in seiner neuen Größe zwanzigmal Platz gefunden hätte. Wenn Deutschland Russland besiegte, dann war es wirklich nicht mehr weit zur Weltherrschaft, von der der Führer träumte.

Irgendwo in diesem Riesenreich lag Wolodylow, wo ihr Vater begraben war. Elisabeth beugte sich dicht über die Karte, kniff die Augen zusammen, suchte den Ort und fand ihn nicht. Er war viel zu klein.

Durch die schmutzigen Scheiben drangen helle Kinderstimmen in den Raum. Elisabeth erhob sich und öffnete das Fenster. Auf dem Schulhof spielten die kleine Agnes und ihre Schwester Mari Hickelkasten. Sehnsüchtig blickte Elisabeth zu ihnen hinunter. Dann sah sie Xaver über den Platz schlendern. Er hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und kaute auf einem Strohhalm, der ihm schief aus dem Mundwinkel ragte. Die Mädchen unterbrachen ihr Spiel und riefen ihm etwas zu, das Elisabeth nicht verstand. Er lachte und erwiderte etwas, das ebenfalls nicht zu ihr hochdrang.

Dann ging er weiter, und die Langeweile griff wieder nach Elisabeth und zog sie zurück in den Raum.

Xaver machte sie neugierig.

Er war der älteste Sohn vom Wengert, dem größten und reichsten Bauern im Dorf, das erfuhr Elisabeth von Rosel.

Xaver war nicht dumm, das wurde ihr schnell klar. Die Antworten auf Herrn Häufeles Rechenaufgaben hätte er einfach aus dem Ärmel schütteln können, und die Aufsätze hätten ihm auch keine Mühe bereitet.

»Eigentlich könnt er älles«, erklärte ihr Rosel. »Aber er mag net. Weil er da Häufele net leida ka.«

Das war eine gewaltige Untertreibung. Xaver hasste Häufele aus tiefstem Herzen, aber warum das so war, das konnte auch Rosel nicht sagen.

Häufele erwiderte Xavers Abneigung, es verging kaum ein Schultag, an dem er nicht einen Grund fand, ihm ein paar Tatzen zu verabreichen. Allerdings wagte er es nicht, Xaver übers Knie zu legen und mit dem Stock zu verprügeln wie die anderen Jungen.

»Isch halt a Wengert«, sagte Rosel. »Und an Wengert verhaut mer net.«

Xaver gab in der Schule den Ton an, weil er einer der ältesten Schüler war und der größte von allen. Und weil er nicht den geringsten Zweifel an seiner Vorherrschaft aufkommen ließ. Sobald es einer wagte, ihm zu widersprechen, oder sich gar über ihn lustig machte, passte er ihn nach der Schule ab und verprügelte ihn, bis er zu Kreuze kroch.

»Ekelhaft«, sagte Elisabeth, als Rosel ihr erzählte, dass Xaver den Müllers Franz am Vortag fast im Dorfweiher ertränkt hätte, nur weil dieser sich über ihn lustig gemacht hatte. »So ein hirnloser Grobian.«

Noch während sie die Worte aussprach, sah sie, wie Rosel bleich vor Entsetzen wurde. Und als Elisabeth sich umdrehte, stand Xaver hinter ihr.

Seine Brauen zogen sich zusammen, aber er wirkte weniger wütend als vielmehr verwundert.

»A hirnloser Grobian«, wiederholte er halblaut, als müsste er die Worte noch einmal hören, um sie zu begreifen.

Rosel lachte nervös, als habe Elisabeth nur einen Scherz gemacht, aber Elisabeth verzog keine Miene und Xaver auch nicht.

»Wer zuschlägt, weil ihm die Argumente fehlen, ist hirnlos«, sagte Elisabeth und wunderte sich, dass ihre Stimme so fest und furchtlos klang. Ob Xaver auch Mädchen schlug? Bislang hatte sie nicht mitbekommen, dass er sich an einer vergriffen hätte. Aber bislang hatte es auch keine gewagt, ihn zu kritisieren.

Xaver lächelte. »Pass bloß auf, dass du net plötzlich in da Weiher fliagsch«, sagte er, dann drehte er sich um und verschwand.

»Obacht«, warnte Rosel Elisabeth, als er weg war. »Der moint des fei net luschdig.«

Elisabeth winkte verächtlich ab, obwohl ihr Herz bis zum Hals schlug. Doch es war keine Angst, die sie spürte, es war etwas anderes.

An diesem Nachmittag ertrug sie die Langeweile noch schlechter als sonst. Draußen schien die Sonne, drinnen klebten die Minuten aneinander und wollten nicht vergehen. Als die Kirchenglocken sechs schlugen, hielt Elisabeth es nicht mehr aus.

»Darf ich noch mal raus?«, fragte sie.

»Jetzt noch?«, sagte Frau Sonne. »Es ist schon so spät.«

»Ich muss der Rosel aus meiner Klasse noch was bringen«, log Elisabeth. »Ein Heft. Sie braucht es bis morgen.«

Frau Sonne runzelte die Stirn. »Wieso hast du das denn nicht schon vorher erledigt?«

»Ich hab’s vergessen. Bitte, Mutti!«

»Es wird doch bald dunkel.« Ihre Mutter blickte besorgt aus dem Fenster, hinter dem die Sonne hell leuchtete. Es würde noch Stunden dauern, bis sie unterging. Sie seufzte schwer. »Aber danach kommst du gleich wieder, versprochen?«

Elisabeth rannte nach unten. Natürlich ging sie nicht zu Rosel, die schwer gestaunt hätte, wenn sie bei ihr geklingelt hätte.

Sie lief zum Dorfweiher, lehnte sich an den Stamm einer Trauerweide und malte mit den Schuhspitzen Hakenkreuze in den Dreck zu ihren Füßen.

Sie wartete auf Xaver, auch wenn sie sich das damals noch nicht eingestand. Er kam aber nicht.

Nach ein paar Wochen rief Herr Häufele Elisabeth in der Pause zu sich.

»Du sollsch zum Pfarrer«, teilte er ihr ohne Umschweife mit.

»Zum Pfarrer? Warum das denn?« Elisabeth spürte, wie sie errötete. Sie war evangelisch getauft, und als sie klein gewesen war, waren sie und ihre Mutter auch öfter in der Kirche gewesen. Ihr Vater war niemals mitgekommen, er mochte den Pfaffen nicht, und die Lieder und Gebete gingen ihm auf die Nerven. Seine Totenandacht hatten sie dennoch in der Kirche gefeiert, aber danach wollte Frau Sonne von Gott nichts mehr wissen. Er hatte ihr ihren Mann genommen, warum sollte sie ihn dafür auch noch anbeten?

In Düsseldorf gab es viele, die sonntags lieber ausschliefen, anstatt in den Gottesdienst zu gehen. Aber in Weilerbach sah die Sache anders aus. Hier waren alle evangelisch, und am Sonntagmorgen war man in der Kirche, es sei denn, man war schwer krank oder tot.

In der ersten Woche waren Frau Sonne und Elisabeth ebenfalls hingegangen. Frau Sonne saß mit einem angespannten Gesicht in der Bank und knetete nervös ihre Hände. Sie schien die ganze Zeit damit zu rechnen, dass sie gleich jemand aufrufen würde, um sie im Katechismus zu prüfen. Und am nächsten Sonntag blieb sie zu Hause.

»Die Leute gucken einen immer so an«, sagte sie.

»Das bildest du dir nur ein«, erwiderte Elisabeth, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter recht hatte. Sie waren anders, sie gehörten nicht dazu.

Und genau das teilte ihr jetzt auch Herr Häufele mit. »I hab dem Pfarrer von dir erzählt«, fuhr er fort. »Dass du so a b’sonders Mädle bisch und wie schöne Aufsätz’ du schreibsch.« Er unterbrach sich und musterte sie nachdenklich.

Elisabeth schluckte. Sie hatte keine Ahnung, worauf der Lehrer hinauswollte.

»Am liebschten tät ich dich behalten.« Herr Häufele rieb sich den Unterkiefer und machte ein Gesicht, als habe er Zahnschmerzen. »Aber du gehörsch net hierher. Du brauchsch ebbes anders.«

»Ich kann aber doch nicht …«, begann Elisabeth.

»Geh zom Pfarrer«, unterbrach sie Herr Häufele. »Glei’ nach der Schul.«

Es war ein heißer Sommertag, vor den Bauernhöfen dampften die Misthäufen, und hinter den Gartenzäunen blühten die Rosen. Elisabeth lief die Dorfstraße hinunter, in einem Slalom um die Kuhfladen herum, die den Weg bedeckten.

Am glasblauen Himmel tauchte ein Jagdflieger auf, silbern glitzernd in der Sonne. Elisabeth ging in einem Hauseingang in Deckung, zog den Kopf ein und schloss die Augen. Das Flugzeug zog weiter, nach Stuttgart, Ulm oder Nürnberg. Weilerbach war uninteressant, es lohnte sich nicht, Bomben auf die Handvoll Häuser zu verschwenden.

Elisabeth dachte an Düsseldorf. Die zertrümmerten Häuser, die aufgerissenen Straßen, die nächtlichen Fliegerangriffe, die überfüllten Luftschutzkeller. All das kam ihr seltsam unwirklich vor, als ob sie nur davon gelesen und es nicht selbst erlebt hätte.

Als sie die Augen wieder öffnete, stand Xaver vor ihr. Er hatte sich vollkommen lautlos genähert. Jetzt starrte er sie an, herausfordernd und spöttisch zugleich.

»Was ist?«, fragte sie unwirsch.

»Am Samschdig isch Kirchweih in Auberg«, sagte er. »Gehsch mit mir na?«

»Mit dir?« Auberg, das war bestimmt zehn Kilometer entfernt. Niemals würde ihre Mutter sie dahin lassen.

»Hasch koi Luschd?«, fragte er. »Oder magsch es net?«

Vielleicht war ihm ja gar nicht klar, dass sie erst zwölf war. Die meisten hielten sie für älter. Oder er machte sich über sie lustig.

»Nicht mit dir.« Sie schnaubte verächtlich.

Das Lächeln, mit dem er sie betrachtete, wurde noch breiter, noch herablassender. Auf seiner Nase tanzten winzige Sommersprossen. Sie passten nicht zu seinem Gesicht, in dem auch sonst nichts zueinander passte. Xaver hatte dicke Brauen, die über der Nase fast zusammenwuchsen, schmale braune Augen, einen breiten Mund, auf dessen Oberlippe ein dunkler Bartflaum spross.

»Brauchsch koi Angscht habe«, sagte er.

Elisabeth zog die Augenbrauen hoch. »Wovor sollte ich denn Angst haben?«

Er lächelte. Schwieg.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Zeit für so einen Quatsch. Ich muss weiter«, erklärte sie und rannte weg.

Als sie die Glocke am Pfarrhaus zog, war sie nass geschwitzt, und daran war nicht die Sonne schuld. Xaver brachte alles in ihr durcheinander. Wie er wohl reagiert hätte, wenn sie auf sein Angebot eingegangen wäre? Ob er sie wirklich mit nach Auberg genommen hätte? Wahrscheinlich hätte er sie ausgelacht.

»I mach auf!« Eine helle Mädchenstimme gellte im Inneren des Hauses. Elisabeth fuhr sich mit beiden Händen durch die kurzen Haare, atmete tief durch und versuchte sich zu sammeln.

Ein kleines Mädchen öffnete die Tür, Elisabeth kannte sie von der Schule. Eins der Pfarrkinder, hatte Rosel ihr gesagt, aber Elisabeth erinnerte sich nicht an den Namen.

»Grüß Gott.« Elisabeths Stimme klang kratzig und fremd. »Ich bin Elisabeth.«

Das Mädchen legte den Kopf schief und starrte sie neugierig an, sie machte jedoch keine Anstalten, Elisabeth einzulassen.

»Ich soll mich hier melden«, sagte Elisabeth. Das klang, als ob sie etwas ausgefressen hätte. Aber genauso fühlte sie sich ja auch.

»Wer isch do, Hanne?« Eine Frauenstimme drang aus der Tiefe des Hauses.

»Elisabeth«, schrie Hanne zurück, ohne den Kopf zu wenden.

»Elisabeth?« Jetzt näherten sich Schritte, eine Frau erschien im Flur. Sie war klein und rundlich, mit roten Apfelbäckchen und dunklen Rosinenaugen. Das Lächeln, mit dem sie Elisabeth ansah, war so warm und liebevoll, dass diese ihre Angst vergaß und zurücklächelte.

»Ich bin …«

»Elisabeth«, sagte die Frau. »I weiß. Du willsch bestimmt zu meinem Mann. Komm rein.« Ihr weiches Schwäbisch überzog ihre Worte wie ein durchsichtiger Kuchenguss. Sie schob ihre Tochter zur Seite, die Elisabeth unverwandt anstarrte. »Ich bin die Frau Nolting, die Paschtorin. Du wohnsch mit deiner Mutter oba im Schulhaus, gell? Ich hab euch besucht, aber du warsch grad ned do. I freu mich, dass mir ons jetzt kennelernet.«

Elisabeths Lächeln begann zu flackern. Sie schwitzte noch stärker. Bestimmt war Frau Nolting zu ihnen ins Schulhaus gekommen, um sie zum Gottesdienst einzuladen. Frau Sonne hatte Elisabeth nichts davon erzählt. Wahrscheinlich war ihr der Besuch unangenehm gewesen.

Fremde Menschen hatten ihr immer schon Angst gemacht. Obwohl sie vor dem Krieg oft Gäste gehabt hatten. Kollegen ihres Vaters mit ihren Frauen. Parteifreunde. Frau Sonne hatte für alle gekocht, aufwendige Gerichte, mehrere Gänge. Deftige Küche, der Vater liebte Wild und Mehlspeisen. Die Gäste blieben bis tief in die Nacht, Elisabeth hörte in ihrem Zimmer die lauten Stimmen, das Gläserklirren, das Lachen. Und roch den Zigarrenrauch, der unter der Tür zu ihr hereinkroch. Die Stimme ihrer Mutter hatte sie nie gehört an diesen Abenden. Frau Sonne legte Essen nach und füllte die Gläser, wenn sie ausgetrunken waren. Und lächelte und schwieg. Nachdem der Vater eingezogen worden war, hatten sie keinen Besuch mehr bekommen. Frau Sonne wollte niemanden sehen, sie war gelähmt vor Angst. Sie war neunzehn gewesen, als sie sich verheiratet hatte. Davor hatten ihre Eltern alles für sie entschieden, danach ihr Mann. Aber jetzt stand sie plötzlich allein da. Noch dazu mit einem Kind.

Autor

Video