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Die Sehnsucht nach Licht

Als Buch hier erhältlich:

Luisas Arbeitsplatz befindet sich tief unter der Erde. Sie arbeitet in einem Besucherbergwerk im Schlematal im Erzgebirge, und obwohl sie manchen Tag ohne einen einzigen Sonnenstrahl verbringt, könnte sie sich keine schönere Tätigkeit vorstellen. So weit sie zurückdenken kann, haben ihre Vorfahren im Bergbau gearbeitet. Die Familiengeschichte ist durchzogen von Hoffnung und dem Bewusstsein, dass man jede gemeinsame Minute auskosten muss, denn so mancher ist nicht aus dem Berg zurückgekehrt. Als Luisa beschließt, Nachforschungen über den vor Jahrzehnten verschollenen Großonkel anzustellen, drängt einiges an die Oberfläche, was viel zu lange verborgen geblieben ist. Die Sehnsucht nach Licht ist es, die der Familie schließlich ihren Frieden wiedergibt.

»Es ist der Enthusiasmus der Autorin, der einen schließlich mitreißt.«MDR.de, über einen früheren Roman der Autorin.


  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905010
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Vor langer Zeit

Der Wald schien ein lebendiges Wesen zu sein. Überall strömte sein modriger Atem. Der Wind in den Zweigen klang wie ein Raunen, gewaltige Baumkronen schluckten das Licht, und Brombeerranken krallten sich in die Beine der Männer. Sie unterhielten sich flüsternd, als fürchteten sie, etwas zu wecken, was besser schlafen sollte.

Mit der letzten Siedlung auf der böhmischen Seite hatten sie die Menschenwelt verlassen und Miriquidi betreten, den Finsterwald mit seinen Berggeistern und wilden Tieren. Stundenlang ging es immer nur schroff bergan. Wer stürzte und nicht wieder hochkam, den fanden die Wölfe.

So lange es aufwärts ging, konnten sie den Bergkamm nicht verfehlen. Die kalte Luft stach in den Lungen, und aus dem Laub unter ihren Füßen stieg Nebel auf. An einer Stelle sickerte Wasser aus dem Boden, und sie tranken gierig.

Nach Stunden erreichten sie die Höhe. Dahinter begann ein sanfter Abstieg. Der undurchdringliche Wald schien endlos zu sein, und doch wussten sie instinktiv, wohin sie sich wenden mussten. Das große Berggeschrei lockte sie. Es war bis in ihr armseliges Dorf bei Litoměřice gegellt und hatte von einem sagenhaften Silberschatz unter der Erde berichtet.

Wer es bis nach dem Schneeberg im Meißnischen Erzgebirge schaffte, so hieß es, würde unermesslich reich werden.

1. Abwärts

August 2019

Der Boden unter ihnen bebte, dann zog es sie hinab in den dunklen Schlund. Sie waren zu viert. Mehr passten nicht in diesen engen Käfig aus Eisen.

Obwohl sommerliche Temperaturen herrschten, trug Luisa Thermowäsche unter ihrem Schutzanzug. An einem Wochenende wie diesem brauchte sie sich keine Gedanken um Sonntagskleider zu machen. Fünfzig Meter unter der Erde herrschten verlässliche zehn Grad Celsius, im Hochsommer genauso wie in den strengen Wintern des Erzgebirges. Auch an ihre Frisur hatte sie wenig Mühe verschwendet. Der Schutzhelm drückte ihr Haar innerhalb von Minuten platt. Die hohe Luftfeuchtigkeit hängte sich hinein und machte es strähnig. Wasser war hier schon immer ein Problem gewesen.

Sie standen so eng aneinandergedrängt, dass Luisa ahnte, was der Mann vor ihr zu Mittag gegessen hatte.

Die Fahrt dauerte nicht lang. Im Schacht 371 war es weiter hinabgegangen. Bis auf tausendachthundert Meter. Inzwischen waren die tieferen Hohlräume, in denen ihr Vater noch gearbeitet hatte, geflutet.

Der Förderkorb hielt mit einem Ruck. Nur noch eine Sicherheitsebene, dann kam der Wasserspiegel. Unter ihnen befand sich ein Labyrinth, mit Wasser gefüllt wie das versunkene Straßensystem von Vineta.

Luisa schob die Notleiter hoch und ließ die Besucher in den düsteren Stollen treten. Alles war klamm, und ein eisiger Luftstrom zog hindurch. Von der Felsendecke tropfte es, und am Boden sammelten sich Rinnsale in braunen Pfützen. Eine Frau zögerte beim Aussteigen. Vor Kurzem hatte jemand Panik in der dunklen Enge bekommen und verlangt, wieder nach oben gefahren zu werden. Aber wenn die Seilfahrt einmal begonnen hatte, gab es kein Zurück.

An den Schachtwänden hallten Rufe wider. Sie kamen vom Rest der Gruppe, der oben wartete. Immer wenn Luisa im Besucherbergwerk Schutzkleidung, Lampen, Helme und Gummistiefel verteilte, taxierte sie die Besucher. Sie hatte gleich gewusst, dass sie den zappeligen Jungen mit der Zahnspange auf keinen Fall allein mit seinem überfordert wirkenden Vater unten lassen durfte.

Während der zweiten Seilfahrt zupfte der Junge an allem herum. Er schien nur darauf zu warten, dass Luisa wegsah, um seine Hand durch eine Lücke im Förderkorb zu schieben.

»Unten im Wasser schwimmen schon ein paar Finger«, behauptete Luisa. »Abgerissen an der Schachtwand.«

Schnell versteckte der Junge seine Hände in den Taschen des Schutzanzugs. Sein Vater schenkte ihr einen Blick, den sie positiv deutete. Luisa ging immer vom Besten aus.

Als sie ihre Gruppe beisammenhatte, setzte sie sich mit ihnen in die Steigerstube und begrüßte alle: »Glückauf! Ich bin Luisa Steiner. Ich begleite euch in den kommenden zwei Stunden durch unser Besucherbergwerk. Die Seilfahrt im Schacht 15IIb hat uns bis auf die Marx-Semmler-Stolln-Sohle geführt. Unter Tage sind wir übrigens per Du. Das ist unter Bergleuten so üblich.«

»Passt«, sagte der Vater des hyperaktiven Jungen. »Ich bin auch Bergmann. Ich schürfe Bitcoins.« Unter seinem Schutzanzug zeichnete sich der Umschlag einer kurzen Hose ab. Er tat Luisa jetzt schon leid.

Sie führte ehrenamtlich durch das Schaubergwerk in Bad Schlema. Vor einigen Jahren war sie für ihren Vater eingesprungen und dabeigeblieben. An den Wochentagen arbeitete sie als Vermessungstechnikerin bei der Wismut GmbH. Als Kind war sie einmal mit ihrem Vater in die kurz zuvor stillgelegten Gruben der Wismut gefahren. Nie hatte sie einen geheimnisvolleren Ort gesehen, angefüllt von Dunkelheit und den Geräuschen des Wassers. Er ließ sie nie wieder los.

Hier unter der Erde begegnete Luisa all den alten Geschichten ihrer Familie. Ihr Urgroßvater Wilhelm hatte sie in einer Mappe gesammelt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sie erzählten von der St.-Georg-Fundgrube in Schneeberg, in der ein Silberblock gefunden worden war, so groß und schwer, dass Herzog Albrecht von Sachsen daran wie an einer Tafel speisen konnte. Die Sagen vom Berggeist, der schenkte und strafte, vom blauen Licht und den Geistern Kobold und Nickel waren die Märchen ihrer Kindheit gewesen. Immer wenn sie nicht in den Schlaf fand, hatte ihre Mutter das Album für Freunde des Bergbaus herausgeholt. Es war eine Sammlung loser Blätter mit prächtigen Bildern aus dem Leben der Bergleute. Luisas Urgroßvater hatte handgeschriebene Zettel mit Geschichten dazugelegt und darin Zeitungsausschnitte zu Bergbauunglücken gesammelt. Alles, was Luisa in diesem Moment ihrer Besuchergruppe erzählte, wusste sie aus Wilhelms Album. Er hatte Luisa noch kennengelernt. Es gab ein Foto, auf dem er sie im Arm hielt, ein brüllendes Bündel, ein Schreikind. Der Urgroßvater, taub vom Lärm im Berg, war der Einzige gewesen, der es mit ihr ausgehalten hatte. Als das Baby nach dem ersten Vierteljahr ruhiger wurde, schien Wilhelm seinen Zweck auf der Erde erfüllt zu haben. Luisa blieben das gemeinsame Foto und sein Album.

Während sie redete, führte sie ihre Gruppe in eine von der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut ausgebaute Gangstrecke. Die gewölbten Höhlungen wurden durch verrostete Eisenträger stabilisiert.

Eine Frau aus der Besuchergruppe warf einen besorgten Blick nach oben. Sie befanden sich irgendwo unter dem Park. Dort, wo einmal das Kurviertel gewesen war mit dem Radonbad und seinen von Palmen gesäumten Sonnenterrassen, bevor Oberschlema im Erdboden versunken war.

»Welches Gewicht hat das über uns?«, wollte die Frau wissen. »Kann das einstürzen?«

»Natürlich nicht«, versicherte Luisa. Sie erzählte von den verschiedenen Arten von Türstöcken und der Ingenieurskunst der alten Bergleute, die jede Last, die auf die übereinanderliegenden Sohlen drückte, genauestens berechnet hatten.

Und doch war in der Nachkriegszeit etwas anderes wichtiger gewesen als dieses Wissen, und es wurde planlos wilder Bergbau betrieben. Auf der Suche nach radioaktivem Uran hatten sich die Sowjets aus der Tiefe heraus fast bis in die Wohnhäuser hineingesprengt. Bad Schlema war unter der Oberfläche durchlöchert, überall lauerten die Spuren der Vergangenheit. Manchmal rumorte es in der Tiefe und drängte nach oben, sodass die Straße aufriss und sich gewaltige Krater in den Gärten auftaten.

Sie erreichten das Gangsystem des Altbergbaus. Aus der Dunkelheit ragte die gekappte Leitung der Radonquelle. In die Felswand war ein Lachterstein eingelassen, der das alte Längenmaß der Bergleute auswies. Luisa bat die Besucher, ihre Grubenlampen einzuschalten. Hier gab es kein elektrisches Licht mehr. Der Jung-König-David-Stolln war so eng und niedrig, dass ein kräftiger Mann nur mit eingezogenem Kopf und viel gutem Willen hindurchpasste. Überall im Gneis waren die Zeichen von Schlägel und Eisen zu sehen. Jedes Mal, wenn Luisa hier entlangging, tastete sie mit den Fingerspitzen kurz über die Rillen und Stufen an den Wänden. Hier hatten ihre Vorväter Spuren hinterlassen. Der erste von ihnen war aus Böhmen herübergekommen und hatte vergeblich gehofft, durch das Silber reich zu werden. Er lebte gerade lang genug, um ein Kind zu zeugen, und ertrank bei einem Wassereinbruch in der Grube. Vielleicht war er später, als der Stollen mit dem ausgeklügelten System der Wasserkunst trockengelegt wurde, durch das Mundloch hinaus in die Zwickauer Mulde gespült worden.

Luisas Glaube an die Fähigkeiten ihrer Vorfahren war unerschütterlich. Niemals verschwendete sie Gedanken an einen plötzlichen Wassereinbruch oder daran, dass ein Förderseil reißen könnte. Die alten Stützbalken aus Fichtenholz waren verlässlich. Außerdem kündigten sie es mit einem Knacken und Knistern an, bevor sie brachen.

Es gab überhaupt wenig, wovor sich Luisa fürchtete. Wenn das Wetter trocken blieb, würde sie wieder im Steinbachtal an den schroffen Wänden der Teufelssteine klettern. Im Winter segelte sie mit dem Gleitschirm über den verschneiten Pöhlberg. Sie vertraute allem, was sie selbst mit ihren Händen greifen konnte: Seilen, Felswänden, Motorradlenkern.

Dabei war Luisa nicht leichtfertig. Sie hatte zwar keine Angst vor dem Berg, aber Respekt. Besonders vor dem, was der Boden jeden Tag aussandte und was weder sichtbar noch spürbar war.

Luisas Krankenkasse lud sie, obwohl sie erst dreißig war, regelmäßig zur Untersuchung für Krebsfrüherkennung ein, weil sie familiär vorbelastet sei. Jeder wusste natürlich, dass es nicht an den Genen der Steiners gelegen hatte. Durch den zerlöcherten Boden im Untergrund stieg beständig Radon auf. Das Gas drang durch die Ritzen im Mauerwerk und sammelte sich an der tiefsten Stelle, in den Kellern. In Luisas Elternhaus knatterte der Geigerzähler selbst im Erdgeschoss in viel zu schneller Folge. Ihre Eltern schien das nicht sonderlich zu beunruhigen.

Luisa hatte für sich ganz pragmatisch nach einer Lösung gesucht. Sie hätte natürlich wegziehen können, aber sie liebte das Schlematal, auch als es noch eine graue Haldenwüste gewesen war. Sie hatte mitgeholfen, es in eine sanft gewellte grüne Hügellandschaft zu verwandeln. Die Weihnachtszeit musste sie ohnehin immer hier verbringen, weil sie die Marschtrommel bei der Parade ihrer Bergbrüderschaft spielte. Außerdem war sie jetzt schon zu den traditionellen Mettenschichten eingeteilt. Die wurden im Besucherbergwerk gefeiert. Nach dem Vorbild der letzten Bergmannsschicht vor Weihnachten. Wenn sie im Winter überall in den Fenstern die alten Kerzenleuchter sah, wollte sie an keinem anderen Ort der Welt sein.

Also hatte Luisa einfach eine Wohnung in der Bergstraße im Dachgeschoss eines Wohnblocks gemietet. In dieser Höhe hatte sich das Radon längst verflüchtigt. Und obwohl sie es bei Sommerhitze manchmal kaum aushielt, erschien ihr die Wohnung ideal. Von ihrem Küchenfenster aus konnte sie über das halbe Schlematal bis nach Schneeberg sehen.

Außer Luisa war niemand der jüngeren Steiners geblieben. Einmal in der Woche besuchte sie ihre Großtante Irma im Seniorenzentrum Alte Gleesbergschule. In ihrer Wohnung hatte die betagte Tante nicht mehr wohnen können, nachdem sie ein paarmal gestürzt war und Luisa ihr Büro verlassen und zu ihr hineilen musste. Irma hatte kein großes Theater bei der Umquartierung gemacht. So lief es im Leben nun einmal. Wer die Produktion aufhielt, kam in die Wochenkrippe oder ins Altenheim. Dort vertrieb sich die fast Neunzigjährige die Zeit mit Holzhacken, Fernsehen und Schimpfen.

»Wenn ich im Kopf dusselig werd, musst du mich erschießen, Luisa«, sagte Tante Irma immer. Wohl wissend, dass die Enkelin ihres Bruders Hans Pazifistin war.

Luisa besaß noch zahlreiche andere ältere Verwandte in der Umgebung. Die Männer der Steiners waren wie der Berg, in dem sie früher geschuftet hatten. Verschlossen, hart und grundsolide. Luisa hatte bei ihrem Vater Wolfgang nur ein einziges Mal Tränen gesehen, aber das zählte nicht. Er weinte nie. Nicht einmal, wenn jemand starb. »Der Tod gehört zum Leben«, hieß es bei ihm dann immer. Ein unbeholfenes Schultertätscheln war sein höchster Ausdruck von Emotion. Und doch bewegte Luisa eine solche Berührung mehr als wortreiche Beteuerungen. Wenn sie mit ihrem Vater aneinandergeriet, weil er immer noch die Kartoffeln im verstrahlten Keller lagerte, bestand ihre Mutter Susanne jedes Mal auf Versöhnung beim Abschied. Man könne nie wissen, ob sie sich wiedersehen würden.

Luisa gab nicht allzu viel darauf. Seit sie auf der Welt war, wurde in ihrer Familie nicht mehr so häufig vor der Zeit gestorben.

Der Junge mit der Zahnspange riss Luisa aus ihren Gedanken. »Ich hab gehört, dass manchmal Leute im Berg verschwinden, ist da was dran?«, wollte er gespannt wissen.

Sein Vater trampelte fröstelnd auf der Stelle und schien verärgert über die Frage zu sein. Sie verzögerte die Rückkehr ins Warme. »Das sind alles nur Märchen«, behauptete er kurz angebunden.

»Nein«, widersprach Luisa. »Auch aus meiner Familie sind schon Männer im Berg geblieben.«

Der Junge guckte sensationsgierig am Förderkorb vorbei, hinab in den wassergefüllten Schacht. »Sind die noch da unten?«

Luisa schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht hier.«

Sie hatten ihren Platz gefunden in den Geschichten der Familie Steiner.

2. Alles kommt vom Bergwerk her

November 1908

Wilhelm Steiner angelte mit einem langen Kienspan Feuer aus dem Eisenofen der kleinen Küche. Bisher war das nur seinen Geschwistern erlaubt gewesen. Endlich hatte er seine Mutter davon überzeugt, alt genug zu sein, um die Paraffinkerzen anzuzünden.

Sie steckten in den geschnitzten Händen großer, bunt bemalter Holzfiguren auf dem Fensterbrett. Eine von ihnen war ein Engel mit goldlackierten Flügeln. Wie einen Kelch streckte er Wilhelm die Messingtülle mit der Kerze entgegen. Die anderen beiden Gestalten waren bärtige Bergmänner in Paradeuniform mit goldgesäumtem Schulterkragen und Schachthut. In der rechten Hand trugen sie die Kerze und in der linken das Grubenbeil. Die Figuren standen für jedes Kind der Steiners, zwei Jungen und ein Mädchen.

Wilhelm balancierte den glimmenden Span durch die enge Küche. Um ans Fenster zu gelangen, musste er hinter den Geschwistern vorbei. Sein Bruder Christian wickelte für die Mutter Garn auf kleine Holzspindeln. Seine Schwester Clara beugte sich über ihr Klöppelkissen. Mit geschickten Fingern kreuzte und drehte sie die Leinenfäden, sodass ein filigranes Spitzenband wuchs. Unvermutet richtete sich das Mädchen auf und schleuderte seinen geflochtenen Zopf zurück, direkt gegen den brennenden Kienspan. Wie an einer Zündschnur schmorte sich das Flämmchen an ihrem Haar hinauf. Hastig schlug ihre Mutter Alma mit dem Geschirrtuch darauf ein. Schwefelgestank breitete sich aus. Als Clara begriff, dass sie zur Mettenschicht ihre versengten Haare unter einem Kopftuch verstecken musste, brach sie in Tränen aus. »Ich werd aussehen wie eins von den alten Weibern!«

Verlegen zog Alma ihr Tuch ab, das sie zum Schutz vor den Küchendämpfen aufgesetzt hatte.

»Da sei froh, dass du ein Mädchen bist«, versuchte Wilhelm seine große Schwester zu trösten. »Wenn du ein Junge wärst, müsstest du in der Kirche den Hut abnehmen.«

»Wenn ich ein Junge wär, hätt ich kurze Haare«, gab Clara spitz zurück und betrachtete betrübt ihren ruinierten Zopf.

»Da könnt ihr später drüber vernünfteln«, entschied Alma.

Sie holte einen neuen Kienspan und entzündete die Kerzen selbst. Nun war Wilhelm ebenfalls zum Heulen zumute, aber er ließ es sich nicht anmerken. Ein Bergmann jammerte nicht rum, auch wenn er erst neun Jahre alt war.

»Sonst findet der Vater den Heimweg nicht«, erklärte Alma mit einem Blick in die Dunkelheit. Ihr Mann Johann verspätete sich. Sie musste an den Abend denken, an dem sie vergeblich auf ihren Vater gewartet hatte. Damals war sie nicht viel älter gewesen als Wilhelm.

Sie trat ans Fenster und presste die Stirn gegen das eiskalte Glas. Mit den Händen schirmte sie die Reflexionen aus dem Inneren der Stube ab. Sie konnte nicht weiter als bis zum Apfelbaum sehen, dahinter war alles schwarz. Die Zweige bogen sich im Wind. Ein Sturm zog auf.

»Brennt!«, rief Johann Steiner. Seine Stimme hallte durch die Dunkelheit.

Eine Flamme fraß sich gemächlich an der Zündschnur entlang. Das blaue Licht bewegte sich über eine Biegung in die Gangstrecke hinein. Nachdem es Schwierigkeiten mit dem Bohrloch gegeben hatte, musste es nun schnell gehen. Hektik konnten sich die Bergmänner dennoch nicht erlauben. Sie durften weder in den dunklen Gängen stolpern, noch auf den bemoosten Sprossen der Fahrtenleiter abrutschen. Die Länge der Zündschnur war genau berechnet, damit Johann und der zweite Mann der Vortriebstruppe sicher die Grube verlassen konnten.

Sie stiegen im Schein ihrer Karbidlampen einen Blindschacht empor. Der Parabolspiegel verstärkte die Flamme, und doch schien das Licht in der Finsternis zu versickern. Johann hatte am Morgen sein Haus in der Dunkelheit verlassen. Inzwischen musste es draußen längst wieder dunkel sein, als hätte es keinen Tag dazwischen gegeben. Er dachte an Alma und die drei Lichter in ihrem Fenster. Zu hören waren nur die Geräusche seiner Schritte und das eintönige Klingeln des Bergglöckchens. Solange die Glocke in beruhigender Regelmäßigkeit erklang, arbeitete die Wasserkunst und schützte sie vor dem eindringenden Grubenwasser.

Je höher sie stiegen, umso kälter wurde es. Im selben Moment, in dem Johann den unteren Schacht verließ und die Marx-Semmler-Sohle erreichte, spürte er die Druckwelle der Explosion. Sie löschte die Karbidlampen aus und klebte schwarzen Staub auf die schweißnasse Haut.

Für einen Moment war es still.

Dann ertönte Johanns Stimme in der Dunkelheit: »Da waren wir zu knauserig mit der Schnur.«

Ein Lachen antwortete ihm. Es war doch gut gegangen.

Als Johann eine Stunde später nach strammem Fußmarsch das Schlematal erreichte, pfiff der Wind scharf über das freie Feld, und Schneeregen setzte ein. Längst war der dichte Wald im Tal verschwunden, das Holz wurde für den Bergbau gebraucht. In Schneeberg hatte er kurz zur alles überragenden Kirche St. Wolfgang aufgeschaut und sich von den unzähligen Lichtern leiten lassen, die wie an einer Schnur aufgefädelt in den Fenstern leuchteten. Bergleute müssen viele Kinder haben, hieß es. Damit am Ende genug übrig blieben und der Bestand gesichert war.

An den Feldern vor Oberschlema herrschte stockfinstere Nacht. Endlich entdeckte Johann in der Dunkelheit einen blassen Lichtschein. Entlang des Dorfbachs standen kleine Bergmannskaten, und seine war die erste. Er lief darauf zu und zählte beim Näherkommen die leuchtenden Punkte. Alle seine Kinder waren wohlauf!

Alma holte aus der Schlafkammer einen Topf mit Essen, den sie unter der Federdecke im Ehebett warm gehalten hatte. Sie klopfte die Kissen auf dem Küchensofa zurecht und füllte ihrem Mann zwei Fingerbreit Kräutergeist in einen Becher. »Das spült den Arsenstaub weg«, versicherte sie.

Johann stürzte den scharfen Schnaps hinunter.

Sein Vater war an der Schneeberger Krankheit gestorben. Alma vertrat die feste Überzeugung, das mit dem Schnaps zu verhindern. Behandlungen wie diese ließ Johann gern über sich ergehen und erbat sich ein zweites Gläschen Medizin.

Clara brachte die Teller, und Alma drehte die Petroleumlampe auf. »Meinst du, wir kriegen hier draußen auch irgendwann Elektrizität?«, wollte sie von ihrem Mann wissen.

»Niemals«, sagte er überzeugt. »Dafür sind wir zu unbedeutend.«

In den Tagesgebäuden seiner Grube hatte die Gewerkschaft der Schneeberger Kobaltfelder vor einiger Zeit elektrisches Licht verlegt. Das war günstiger als Gasölbeleuchtung. Sie mussten die Kosten eindämmen.

Alma schöpfte Hirsebrei auf Johanns Teller. Sie bemerkte seinen Blick und entschuldigte sich: »Wir müssen halt sparen.«

»Daran sind bloß die Franzosen schuld«, polterte ihr Mann und schaufelte die dicke Suppe in sich hinein. »Kein Mensch wäre ohne die Franzosen auf so eine dummdaamische Idee gekommen.«

Seit in Paris ein billiger synthetischer Farbstoff erfunden worden war, hatte Kobaltblau, mit dem das weltberühmte Meissener Porzellan bemalt wurde, rasant an Bedeutung verloren.

»Unsere Kuxe sind keinen Pfifferling mehr wert«, klagte er. Die Kuxe waren ihre Anteile an der Grube, die sie von ihren Vätern geerbt hatten.

»Nicht dass sie auch noch unsere Kobaltfelder schließen«, fürchtete Christian. Er war Grubenjunge im ersten Jahr. Obwohl er noch keine vollen Schichten arbeiten durfte, räumte er vor Ort schon die abgesprengten Gesteinsbrocken weg.

Das Grubenfeld von Wolfgangmaßen breitete sich auf der Suche nach neuen Lagerstätten immer weiter aus, es kroch unter Neustädtel entlang bis Schneeberg und Oberschlema. Fast überall stießen sie auf taubes Gestein oder Pechblende. Immer tiefer drangen die Bergleute vor, und der Abbau wurde mit jedem Tag gefährlicher.

Wilhelm guckte seine Eltern verständnislos an. »Aber die können nicht dichtmachen. Hier kommt doch alles vom Bergbau her. Dann würd ja nichts mehr bleiben.«

Alma beruhigte ihn. »Hier war immer Bergbau, und hier wird immer welcher sein.«

Johann schob seinen leeren Teller zur Seite. »Das Erz ist ein lebendiges Wesen«, sinnierte er. »Vielleicht haben wir es vertrieben?«

Alma verteilte den Rest der Suppe. Zuerst bekam Christian seinen Anteil, dann die Geschwister und für sie selbst blieb nur eine kleine Pfütze. »Früher haben sie auch plötzlich gediegen Silber gefunden. Ohne Ankündigung«, versicherte sie. »Neuer Tag bringt neue Hoffnung.«

»Du hast recht, Mädchen«, knurrte Johann. »Wir haben zum Schichtende geschossen. Und am Montag werden wir sehen, ob es sich gelohnt hat.«

In der Nacht zum Sonntag ließ der Sturm nach. Bei Tagesanbruch hörten die Holzschindeln über ihnen auf zu klappern. Johann erwachte von der Stille, streckte sich und stand auf, um die Fensterläden zu öffnen. Die Helligkeit blendete ihn, und er kniff die Augen zusammen. Zwischen Klosterberg und Schafberg stieg die Sonne auf und tauchte die Landschaft in ein mildes Licht. Die sanft ansteigenden Hügelketten liefen ineinander über, und aus den mattgelben Wiesen der Ebene dampfte Nebel. Das kleine Bergmannshaus der Familie Steiner lag an einem Feldrand. Sie betrieben nebenher ein wenig Landwirtschaft und besaßen eine Kuh.

Johann lehnte sich ans Fenster. Hinter dem Haus wuchs ein dorniger Schlehenbusch. Seine dunkelblauen Früchte leuchteten aus dem Raureif heraus. Es war Zeit, sie zu ernten.

»Was machst du?«, fragte Alma verwundert, die von seinem Geklapper erwacht war.

Johann drehte sich zu ihr um und sagte: »So viel Licht! So prächtige Farben!«

Sie musste lächeln. »Das sagst du an jedem Sonntag.«

Johanns Haut war fahl und schien ihm zu groß geworden zu sein. Das Gesicht wurde von einem Netz aus Falten durchzogen. Alma trat neben ihn und legte ihre Hand in seine. Die Finger ihres Mannes waren schwarz und rissig. Da half kein Waschen mehr, obwohl sie ihm jeden Abend die Haut mit der Wurzelbürste schrubbte.

Als die Kuh brüllte, warf sich Alma schnell ein Tuch über und ging hinaus. Das Tier musste vor dem Kirchgang gefüttert, getränkt und gemolken werden. Sie stellte den Eimer unter einen Überlauf im Hof, der Wasser vom Gleesberg herunterleitete. Im Schlemabach konnte sie nicht einmal waschen, weil dort die Abwässer der Buntpapierfabrik hineinflossen.

Als die neue Woche begann, standen sie wieder in der Dunkelheit auf. Alma schürte das Feuer im Küchenofen, die Kälte ließ ihren Atem dampfen. Obwohl die jüngeren Kinder erst später zur Schule laufen mussten, bestand Alma immer darauf, dass sie mit ihrem Vater und dem großen Bruder frühstückten.

»Ich hätt noch schlafen können«, maulte Wilhelm.

»Wir sagen einander immer Auf Wiedersehen«, stellte seine Mutter mit einem Blick fest, der keine Widerrede zuließ.

Als sie fertig mit dem Frühstück waren, fragte Christian seinen Vater: »Wer geht zuerst?« Von ihm hatte er gelernt, dass ein Bergmann nur in einem Zustand in den Berg einfahren durfte: »Ausgeschlafen, vollgefressen, ausgeschissen.«

Die ersten beiden Punkte hatte Christian erledigt, nun musste er sich nur noch dem Plumpsklo widmen, das sich in einem zugigen Verschlag hinter dem Haus befand.

Nach seiner Rückkehr zog er den schwarzen Bergmannskittel über. Voller Neid beobachtete Wilhelm, wie sein Bruder den großen Schulterkragen glatt strich. Christian schnallte sich das Arschleder um, das den Hosenboden schützte. Mit dem Ärmel polierte er die neunundzwanzig Messingknöpfe seines Grubenkittels. Sie mussten wie das Sonnenlicht glänzen und standen für die Lebensjahre der Schutzheiligen aller Bergleute. Christian bemerkte den sehnsüchtigen Blick des kleinen Bruders. »Die obersten drei Knöpfe bleiben immer offen«, erklärte er ihm.

»Warum denn?«, wollte Wilhelm wissen.

Christian zog ein vielsagendes Gesicht. Er senkte seine Stimme und raunte: »Weil es sonst Unglück bringt.«

Wilhelm kam die Bergbrüderschaft wie ein Geheimbund vor mit ihren seltsamen Redewendungen, den vertrauten Bräuchen, den Gesängen und den prächtigen Bergparaden, die aufmarschierten, wenn fürstlicher Besuch in die Stadt kam. Es war eine Verbindung, die über den Tod hinausreichte und Ehefrauen und Kinder einschloss. Die Bergleute hielten zusammen, daran änderten selbst die derbsten Nachbarschaftsstreitereien nichts. Wilhelm fühlte sich beschützt in dieser Gemeinschaft, in die er hineingeboren worden war. Die anderen Kinder aus der neuen Niederschlemaer Schule, deren Eltern in der Papierfabrik oder im Blaufarbenwerk arbeiteten, konnten ihm nur leidtun.

Beim Abschied wünschte Wilhelm seinem Vater Glück. »Ganz sicher machst du heut einen reichen Fund.«

Johann legte ihm die Hände auf die Schultern und nickte. »An mir soll’s nicht liegen.« Jeden Morgen nahm er diese Hoffnung mit in den Berg. Und bis die sich erfüllte, zahlte die Knappschaft das Schulgeld für seine Kinder.

Nach dem Unterricht lief Wilhelm den weiten Weg zur Scheidebank der Fundgrube Wolfgangmaßen. Dort sortierte er zusammen mit gut drei Dutzend anderen Söhnen von Bergleuten stundenlang Steine.

Die Scheidebank war ein großer Raum, angefüllt mit Steinhaufen, Erzstaub und Lärm. Hier schied sich die Spreu vom Weizen. Wilhelm setzte sich neben einen Scheidejungen, den er kannte. Der ging schon zur Bergschule und musste mit einem Fäustel die Steine zerschlagen. Wilhelm stand noch auf der alleruntersten Stufe der Ausbildung.

Neben ihm krachte das schwere Werkzeug auf einen schmutzig grauen Brocken und zertrümmerte ihn. Staub und Splitter spritzten umher und enthüllten im Inneren Quarz. Rotviolette Kristalle wuchsen darauf, angeordnet wie ein Fächer. Wilhelm klaubte das Stück aus dem Steinhaufen und drehte es. In den spitz zulaufenden Prismen spiegelte sich Licht, das durch die großen Fenster über dem Holztisch hereinfiel. Der Junge zögerte, dann flog das Gestein in den Sortierkorb für das Pochwerk. Eine Kobaltblüte war gleichermaßen schön wie nutzlos. Sie musste zerstoßen werden, damit noch der letzte Rest des Erzes herausgelöst werden konnte.

Wilhelm hatte schon die prächtigsten Fundstücke in seinen staubrissigen Händen gehalten. Kristalle in Würfelform aus grünlich schimmerndem Flussspat, Amethyste mit dunkellila Zacken oder Zinnstein, auf dem Bergkristalle wuchsen. Obwohl es ihn jedes Mal verlockte, waren sie alle ins Pochwerk gewandert. Das lag nicht nur an den strengen Blicken des Steigers, dem die Wasserkunst seinen rechten Arm zerquetscht hatte. Der Invalide besaß die Oberaufsicht über die Scheidestube, denn mit der Linken konnte er immer noch den Vogelbolzen schwingen, eine mehrschwänzige Peitsche, deren Enden verknotet waren, damit es die Übermütigen auch ordentlich spürten.

Wilhelm war selten übermütig. Und egal wie bunt und glitzernd ein Mineral auch war, er steckte nie etwas ein. Ein Bergmann ist ehrlich, lautete die eiserne Grundregel seines Vaters. Und ein Bergmann wollte Wilhelm werden. Aber noch war er ein kleiner Gungel, der taubes Gestein von reichem Nickelerz trennte.

Links und rechts neben ihm krachten wieder die Fäustel herunter. Einer der halbwüchsigen Jungen geriet aus dem Takt, und ein Gewirr von ohrenbetäubendem Lärm entstand.

Auf dem Heimweg lief Wilhelm zwei Hausierern über den Weg, die schwere Koffer, Säcke und Kisten mit sich schleppten. Vor ihnen lag eine große Wegstrecke, denn sie wollten auf den Zwickauer Markt, um dort Geschäfte zu machen, wie sie Wilhelm erklärten. Die beiden waren in der Gegend unter den Namen Tobak und Buckel bekannt und hatten früher als Bergleute gearbeitet. Nun war Tobak, dem immer eine Zigarre aus dem zerknitterten Mundwinkel hing, Invalide und verkaufte Erzeugnisse der Hausindustriellen. Und Buckel hatte nicht etwa einen krummen Rücken, sondern eine Staublunge und schleppte ein sogenanntes Buckelbergwerk mit sich herum.

Als sie zum Haus der Steiners kamen, beschlossen Tobak und Buckel, Einkehr zu halten. Wilhelm riss die Tür auf und rief: »Die Kastenleut sind da!«

Sofort eilten Alma und Clara herbei. Das Mädchen schenkte den beiden Männern gleich einen Schnaps gegen die Kälte, die draußen herrschte, ein. Tobak öffnete seinen Warenkasten und zeigte der Hausfrau Bürsten und Löffel. Weil er mitunter Abnehmer von Almas akkuraten Klöppelspitzen war, begannen die beiden zu verhandeln.

Clara und Wilhelm schlichen um das Buckelbergwerk herum und bettelten, einen Blick hineinwerfen zu dürfen. Obwohl Buckel normalerweise keine Einzelvorstellungen gab, ließ er sich gegen einen weiteren Schnaps erweichen. Er schnallte den riesigen Schrankkoffer ab und öffnete dessen Türen. Im Inneren kam ein detailgetreues Miniaturbergwerk zum Vorschein mit Schacht und Gang, mit Hauern vor Ort und mit erzbeladenen Hunten auf Schienen. An den Wänden glitzerten Bergkristall und Eisenblüte. Buckel drehte an einer Kurbel und setzte damit die Apparatur in Bewegung. Der Förderkorb wurde hinaufgezogen, die Bergleute klopften mit Hammer und Schlägel, und ein Glöckchen erklang.

Die Kinder waren so gebannt von dem mechanischen Spielzeug, dass Alma in Ruhe ihre Einkäufe erledigen konnte. Sie hatte unter dem Kram von Tobak etwas entdeckt, das sie unbedingt haben wollte, und gab all ihre Klöppelspitzen der letzten Monate dafür her.

Je mehr sich das Jahr dem Ende zuneigte, umso eifriger putzte Alma. Obwohl das mit Holzschindeln gedeckte Blockhaus winzig war, gab es darin unzählige Winkel, und in jedem stand etwas herum. Eine Nähmaschine, ein Spinnrad, die beiden Holzgestelle mit den runden Klöppelkissen, ein Brotkasten, ein Stiefelknecht, Krüge und Pfannen. Und alles musste gescheuert und poliert werden.

Wenn Clara von der Schule heimkehrte, half sie ihrer Mutter. Sie putzten zusammen die beschlagenen Fenster, wienerten sämtliche Gefäße und verteilten zum Schluss Streu auf den Holzdielen. Die musste liegen bleiben, bis die zwölf Rauhnächte vorüber waren, die letzten Tage im alten und die ersten im neuen Jahr. Bald zog ein Duft nach Stroh und Honig durch die Bergmannshütte, und Mutter und Tochter war ganz feierlich zumute.

Die Vorfreude steigerte sich ins Unermessliche, als Alma die Speisekammer aufschloss. Seit Wochen hortete sie darin Lebensmittel, und ein unvergleichlicher Wohlgeruch nach Schinken und Sauerkraut quoll heraus. In einem Tontöpfchen sammelte sie zudem Rahm, um genug Butter für einen Kuchen zu haben.

Immer wieder hatte Alma Pfennige für das Weihnachtsfest zur Seite gelegt. So genügsam sie das ganze Jahr über lebten, an diesem höchsten Festtag musste es neunerlei Speisen geben. So verlangte es die Tradition.

Am Weihnachtstag arbeiteten die Männer nur die Hälfte der Zeit. Glockenschläge beendeten die Mettenschicht und riefen alle zum Bergsegen nach oben ans Tageslicht. Sie kamen im Huthaus zusammen, dem Verwaltungsgebäude der Grube. Der Steiger verlas den Grubenbericht, der nicht besonders erfreulich war, und dankte dem Bergfürsten für die Ausbeute. Es war Christians erste Mettenschicht, aber schon als kleiner Junge hatte er vom Vater sämtliche Bergmannslieder gelernt und konnte daher nun textsicher mitsingen. Die Stimmen der Bergleute verschmolzen zu einem rauen Chor, und Christian wurde ein Teil davon. Sie verließen sich aufeinander, beim Singen und bei der Arbeit.

Zum Schluss gab es Kräuterschnaps und Zigarren, die sie gelbes Geleucht nannten. Es war Christians erster Schnaps, und es sollte nicht sein letzter sein. Das gelbe Geleucht reichte er nach einer kurzen Kostprobe hustend an seinen Vater weiter.

An diesem Tag gingen Johann und sein Ältester gemeinsam an den erleuchteten Fenstern vorbei nach Hause und übertrafen einander mit Wunschvorstellungen für das Weihnachtsessen.

Zu Hause erwartete sie das Neunerlei. Fleisch für das Glück, grüne Klöße brachten Wohlstand, Hirse sollte Kleingeld bringen, Sauerkraut stand für Gesundheit, Sellerie würde besonders fruchtbar machen, Backpflaumen gaben Kraft, sauer eingelegte Pilze symbolisierten Freude, ein Hefekuchen stand für die Süße des Lebens, und natürlich gab es dazu Brot und Salz. Denn wer das beim Neunerlei vergaß, dem würde es im ganzen Jahr fehlen. Das Brot durfte lediglich gekostet und keinesfalls aufgegessen werden.

Nach dem Festmahl stand Johann auf und brach ein Stück davon ab. »Das bring ich der Kuh«, erklärte er. »Die soll auch merken, dass Weihnachten ist.«

Wilhelm und Clara vertrieben sich die Zeit bis zur Christmette mit Schuhwerfen. Der Junge war froh, dass es seiner großen Schwester nicht gelang, den Schuh so zur Tür zu werfen, dass die Spitze zum Ausgang zeigte. »Ach, was hab ich ein Glück!«, rief er. »Nun wirst du im nächsten Jahr das Haus noch nicht verlassen!«

Um Mitternacht dröhnten alle Kirchenglocken. Clara band sich schnell das Kopftuch ihrer Mutter um und versteckte die ruinierten Haare. Alma drückte jedem ein Mettenlicht in die Hände, das sie in kleine Laternen stellten. »Gebt fei gut auf euer Licht acht«, warnte Alma die Kinder. »Wem der Wind die Kerze löscht, dem wird der Tod begegnen.«

Fröstelnd zog Clara das Tuch fester, und Wilhelm tastete nach der Hand seiner Schwester.

Draußen vor der Tür warteten schon die Nachbarn mit ihren Lichtern. Johann und Christian entzündeten lange Harzfackeln. Aus allen Himmelsrichtungen strömten Feuer auf die Oberschlemaer Kirche zu und erhellten die schwarze, sternenlose Nacht.

Seit dem großen Kirchenbrand in Schneeberg durften die Fackeln nicht mehr mit ins Innere genommen werden, daher spießten die Männer sie vor dem Tor in einen Schneehaufen. Dort loderten sie und sprühten Funken, bis die Orgel verklang und alle wieder ins Freie drängten.

Erst zu Hause durften die Steiners das Mettenlicht löschen. Alma sammelte die Kerzenstümpfe ein und bewahrte sie sicher auf. Sie waren kostbar, denn sie schützten vor Unheil. Immer wenn ein Gewitter heranzog, zündete Alma einen von ihnen an, damit der Blitz nicht in ihr Haus einschlug.

Sie drängten sich um den grünen Kachelofen in der Stube, der sanfte Wärme verbreitete. Ein vielarmiger Leuchter erhellte den Raum. Im Kerzenschein strahlte ein geschnitzter Paradiesgarten mit Bergleuten und Jägern, mit Hirschen, Hasen, Engeln und einem großen Stern, der flatternde Schatten an die Wände warf.

Es gab für jeden einen Apfel und eine mit Goldbronze bemalte Nuss, und für Wilhelm und Clara lagen Geschenke bereit. Weil Christian schon unter Tage arbeitete, zählte er bei der Bescherung nicht mehr als Kind, obwohl er erst fünfzehn Jahre alt war. Clara fand ein Spitzentuch, das sie gleich über ihre bedauernswerten Haare legte. Wilhelms Geschenk übertraf das seiner Schwester bei Weitem. Es war ein Album mit prächtigen Bildern aus dem Leben der Bergleute. Alma hatte es in der Ramschkiste des Hausierers entdeckt. Es war nicht neu und ein wenig abgegriffen, aber das minderte Wilhelms Freude kein bisschen. Wer konnte sich schon ein neues Buch leisten, noch dazu mit solch wunderbaren Lithografien?

Wilhelm verkroch sich mit dem Album in eine Zimmerecke und breitete die losen Blätter vor sich aus. Das Papier war dick, und die Druckplatten hatten einen tiefen Rand hineingeprägt. Zu seinem Erstaunen fand er auf den Bildern die Geschichten seiner Familie wieder. Er begriff gar nicht, wie der Künstler das alles so genau hatte wissen können. Nur in der Scheidebank, fand Wilhelm, ging es in Wahrheit schmutziger zu. Sogar die Verunfallung seines Großvaters entdeckte er in dem Album. Mit wohligem Schauer betrachtete er das Motiv und konnte sich kaum davon losreißen, als die Mutter ihn ins Bett schickte.

Alma erinnerte die Kinder daran, dass dies die erste der zwölf Rauhnächte war. »Ihr müsst euch merken, was ihr träumt«, sagte sie. »Das wird in Erfüllung gehen.«

Die Geschwister drängten sich unter dem Federbett aneinander, und Clara wärmte ihre Füße am Bauch des kleinen Bruders.

»Wovon magst du träumen?«, flüsterte Wilhelm seiner Schwester zu.

Clara lachte. »Vom Schlafen! Ich möcht nur einmal in meinem Leben ausschlafen. Und du?«

Wilhelm musste gar nicht erst nachdenken. »Von einem Fund in Oberschlema will ich träumen«, sagte er. »Ich wünsch mir, dass sie hier im Berg etwas finden, was alles für uns ändert.«

3. Nichts geht verloren

August 2019

Das alte Mundloch gähnte in der Felsenklippe Roter Kamm am Zechenplatz. Die tief stehende Abendsonne färbte die Landschaft sepiafarben. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Der hölzerne Förderturm von Schacht 15IIb spuckte Menschen aus, als wäre die Schicht zu Ende. Sie liefen zu dem schindelgedeckten Huthaus schräg gegenüber. Früher hatten dort die Hauer ihre Arbeitsgeräte und Lampen abgegeben, die sie Gezähe und Geleucht nannten. Jetzt war in dem Fachwerkgebäude eine Wirtschaft.

Luisa führte die Teilnehmer ihrer Gruppe aus dem Besucherbergwerk zum Freisitz. Sie blinzelten ins Licht, studierten die Speisekarte und versuchten ihre Bergführerin zum gemeinsamen Essen zu überreden. Luisa holte sich jedoch nur eine Limonade und entschuldigte sich damit, dass sie noch schwimmen gehen wolle. Ein voller Magen sei dabei hinderlich. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr verabschiedete sie sich.

Sie folgte dem Schlemabach ein Stück und stieß auf den Floßgraben, in dem sie ihre limonadenklebrigen Finger abspülte.

Über dem alten Lichtloch 15 stand ein Nachbau des ersten Ausgabehäuschens von heilkräftigem Radonwasser. Ihr Urgroßvater Wilhelm war in diesen Schacht noch eingefahren, um auf die Marx-Semmler-Sohle hinabzugelangen.

Der Wasserlauf führte sie hinaus aus der Vergangenheit. Vor Luisa lag der sanft gewellte Kurpark wie eine frisch verheilte Wunde. So ursprünglich die Landschaft auch wirkte, war doch alles künstlich angelegt, die Erhebungen, die Senken, der Graben. Mit dem Stolz eines Künstlers, der auf sein Meisterwerk blickt, betrachtete sie dieses harmonische Bild. Natürlich war ihr bewusst, dass es den Park auch ohne sie geben würde. Sie stellte in einem riesigen Getriebe nur ein winziges Rädchen dar, das verlustlos ausgetauscht werden konnte. Und doch fühlte es sich berauschend an, Teil einer solchen Verwandlung zu sein.

Der Boden im Park war an dieser Stelle um acht Meter erhöht worden. Mitten auf der Wiese, kurz über der Rasenfläche, schwebten die Glocken der alten Oberschlemaer Kirche in einem Gestell. Durch die Aufschüttung hingen sie in ihrer ursprünglichen Höhe, doch den Kirchturm mit dem Glockenstuhl gab es nicht mehr.

Luisa arbeitete in einer Firma, deren einziger Daseinszweck darin bestand, die Katastrophe, die hier stattgefunden hatte, wiedergutzumachen, das Leid, das geschehen war, zu heilen.

Als sie sich vor ein paar Jahren bei der Wismut GmbH beworben hatte, waren schon alle Kämpfe ausgefochten. In der Nachfolgefirma der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft, die Uran abgebaut hatte, lauerten die Altlasten nicht nur auf den Halden, sondern auch in den Chefetagen. Doch diese Zeiten waren vergangen.

Luisa drehte sich einmal um sich selbst. In ihrem Kopf geisterten blasse Kindheitserinnerungen herum, aber es war schwer, diese Bilder richtig einzuordnen. Die meisten Anhaltspunkte waren verschwunden. Nur die Häuser Bautzen und Tanneneck bildeten noch Fixpunkte. Jahrzehntelang hatten sie wie eine Enklave im Trümmergebiet gelegen. Auch jetzt wirkten sie noch wie Fremdkörper und ragten in den Park hinein. Sie würden eine Enklave bleiben. Hier durfte nichts gebaut werden, der Boden trug nicht. Das neue Kurbad, das am damaligen Rand des Abgrunds stand, ruhte auf einer riesigen Bodenplatte aus Stahlbeton. Was auch immer in der Tiefe rumorte, nichts würde diesen Bau erschüttern, dessen Grundform wie ein eleganter Fächer wirkte. Auf dem Vorplatz ließ ein bronzenes Brunnenmädchen Wasser aus seinem Krug in einen kleinen Teich plätschern.

Einmal in der Woche nutzte Luisa den günstigen Mondscheintarif und besuchte das Bad. Sie steuerte auf den Eingang zu, vorbei an blühenden Stauden und Kübeln mit Palmen.

Wenig später trat sie auf der anderen Seite des Gebäudes hinaus und ging zum Außenbereich. Sie hatte sich umgezogen und in einen Kimono gehüllt, der den Badeanzug verbarg.

Der blaue Abendhimmel spiegelte sich in dem erleuchteten Becken. Luisa legte den Überwurf ab, stippte mit den Füßen in das dampfende Wasser und ließ sich hineingleiten. Sie schwamm zum Strömungskanal und kämpfte so lange gegen den Widerstand, bis sie sich angenehm erschöpft fühlte. Der Salzgehalt erzeugte die Illusion von Schwerelosigkeit. Als sie wendete, sah sie, dass jemand am Beckenrand stand und ihr zuwinkte.

Sie stieg aus dem Wasser und erkannte, wer es war.

»Oh«, sagte sie und tastete nach dem Überwurf. »Der Bitcoinhauer.« Sie wäre lieber allein geblieben.

»Schürfer. Ich schürfe«, erklärte der Mann, den sie am Nachmittag gemeinsam mit seinem Sohn durch das Besucherbergwerk geführt hatte. »Wir mussten uns aufwärmen. War dann doch ganz schön kalt da unten. Und als wir gehört haben, dass man hier schwimmen kann, wollte mein Junge unbedingt her.«

Aus dem Innenbereich hallten Gekreische und Wasserplatschen. Luisa vermutete dort den quecksilbrigen Sohn.

Sie setzte sich auf einen der Liegestühle am Rand. Der Mann zog sich einen Stuhl heran.

»Ich hatte gehofft, dass wir uns hier noch mal treffen«, gestand er. »Mein Junge löchert mich die ganze Zeit, weil du gesagt hast, dass da unten Leichen sind.«

Luisa musste grinsen. »Dann solltet ihr unbedingt auf den Friedhof gehen. Dort liegen noch mehr.«

Der Junge kam nach draußen gerannt und sprang mit Anlauf ins Wasser, stieg wieder heraus, hüpfte erneut hinein und wiederholte das ein paarmal. Sein Vater guckte sich das eine Weile ungerührt an und verschwand dann, um Getränke zu holen. Irgendwann hatte der Junge genug. Er setzte sich keuchend auf den Rand von Luisas Liege und wackelte mit den Beinen. »Vermisst du die aus deiner Familie, die da unten rumliegen?«, wollte er wissen. »Bist du deswegen traurig?«

Luisa sah ihn überrascht an und merkte, wie sie anfing, ihn zu mögen. »Nein«, sagte sie nachdenklich. »Ich kannte keinen von ihnen, das ist alles vor meiner Geburt passiert. Aber der Kummer meiner Großtante macht mich traurig. Der Letzte, der verschwunden ist, war ihr Bruder.«

Der Bitcoinschürfer kam mit zwei Tassen Tee und einer warmen Milch zurück. Der Junge guckte in seinen Becher und beschwerte sich. »Ich wollte Kakao!«

»Davon wirst du immer so hyperaktiv«, behauptete sein Vater.

Luisa wunderte sich. »Da geht noch mehr?«

Sie bedankte sich für den Tee und setzte sich mit ihrer Tasse an den Beckenrand. Der Junge schlich ihr wie ein zutraulicher Hund hinterher.

»Ich hab auf dem Handy so eine Sendung geguckt«, berichtete er aufgeregt. »Da haben sie eine vermisste Frau nach vierzig Jahren gefunden! Als Gerippe im Wald. Bestimmt finden sie deinen Großonkel auch noch.«

Luisa hatte von diesem Fall gehört, er war in dieser Woche eine große Schlagzeile wert gewesen. Aber nach ihrem Vorfahren würde die Polizei nicht suchen.

Der aufsteigende Wasserdampf ließ die Umgebung milchig verschwommen erscheinen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie das Profil der Hügelkette damals ausgesehen hatte.

Wenn jemand spurlos verschwand, blieb er immer anwesend. Sobald zwei aus ihrer Familie zusammentrafen, tauschten sie neue Theorien aus, was mit Rudolf geschehen sein könnte: Unfall, Verbrechen, Flucht. Und weil es keine Bestätigung geben konnte, drehten sich die Gespräche immer im Kreis.

»Ich denke, man muss nur lang genug suchen«, sagte der Junge und pulte sich Wasser aus dem Ohr. »Nicht bloß dort, wo es angeblich passiert ist. Man muss einfach an der richtigen Stelle suchen.«

Luisas Großonkel hatte im Schacht 38 gearbeitet, als er verschwand. Dort in der Tiefe vermuteten sie ihn. Luisa musste für ihre Firma manchmal die alten Stollen in diesem Gebiet vermessen. Der Gedanke, dabei auf seine Überreste zu stoßen, begleitete sie stets bei dieser Arbeit, wobei sich Hoffnung und Furcht die Waage hielten.

»Und?«, fragte der Junge. »Suchst du weiter nach deinem Onkel?«

Seinem Vater war diese Beharrlichkeit unangenehm. »Jetzt lass sie doch in Ruhe. Sie hat gesagt, sie kannte diesen Großonkel gar nicht. Wen man nicht kennt, wird man wohl kaum vermissen.«

Der Junge zog einen Flunsch und behauptete: »Ich hab keinen Bruder und vermisse den trotzdem sehr.«

»Gib Ruhe.« Der Bitcoinschürfer knuffte seinen Sohn. »Das ist was anderes.«

War es das? Vermisste nicht auch Luisa ihren Urgroßvater Wilhelm? Von ihm hatte sie so viele Geschichten gehört, dass sie manchmal glaubte, sich an ihn zu erinnern, was völlig unmöglich war. »Mein Vater hat seine Großmutter nicht gekannt, und sie fehlte ihm dennoch«, erzählte sie. »Alle anderen Kinder hatten eine Oma, nur er nicht.«

Der Junge riss die Augen auf. »Ist sie auch im Berg verschwunden?«

Luisa schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie und musste dabei an ein Bild ihrer Urgroßmutter denken, von dem sie wünschte, sie hätte es nicht gesehen. »Bei ihr war es etwas anderes.«

Ein Schauer lief über ihren Rücken. »Mir ist kühl«, stellte sie fest. »Ich werde langsam aufbrechen.«

Der Bitcoinschürfer stand ebenfalls auf und erklärte seinem Kind, es sei Zeit fürs Hotelbett.

»Sind die Häuser hier sicher?«, wollte der Junge noch wissen.

Luisa sah ihn amüsiert an. »Wieso nicht?«

»Vorhin hast du erzählt, dass da unten alles hohl ist«, erklärte er aufgeregt. »Womöglich bricht heute Nacht unser Hotel ein. Ich hab vor Kurzem einen Film gesehen …«

Während sein Vater befand, dass er eindeutig zu viele Filme gucken würde, erkundigte sich Luisa: »Wo schlaft ihr denn?«

»Im Haus Elfriede.«

»Dann besteht kein Risiko«, versprach sie. »Meine Firma hat alle alten Gänge gesichert, ich kenne die Grubenrisse der Gegend. Die Häuserreihen da drüben stehen auf festem Boden.«

»Und wie sieht es mit Radon aus?«, wollte der Vater wissen.

»Keine Sorge, es werden ständig Messungen durchgeführt«, beruhigte sie ihn. »Die alten Stollen leiten das Gas von den Häusern weg.«

Vor den Umkleidekabinen trennten sie sich.

Luisa hatte ihr Telefon im Rucksack gelassen und entdeckte nun, dass ihre Großtante Irma mehrmals versucht hatte, sie zu erreichen. Da das die einzigen Anrufe waren, machte sich Luisa keine Gedanken. Wenn etwas passiert wäre, hätte sie zusätzlich verpasste Anrufe von ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer Großmutter, Irmas Tochter und dem kompletten Zwickauer Teil der Familie.

Sie hörte die Nachrichten ab. »Wieso gehst du nicht ran, Luisa?«, krächzte die Stimme ihrer Großtante Irma. »Ich will mich über das Essen beschweren. Salat! Das ist doch nichts für Bergleute.«

Im nächsten Anruf beklagte sie sich, dass ihr Wohnungsschlüssel unauffindbar sei. »Wieso verschwindet hier ständig alles?«, schimpfte sie. »Ich vermute, hier klaut einer.«

In der nächsten Nachricht sinnierte sie: »Nichts auf der Welt kommt weg. Kein Schlüssel und kein Bruder. Das muss doch langsam mal alles gefunden werden.«

Luisa seufzte. Sie hatten den Schlüssel bei der Hausverwaltung abgegeben, als ihre Großtante ins Heim gekommen war. Bisher hatte es nur niemand gewagt, ihr das zu sagen.

An der Gleesbergquelle in der Eingangshalle füllte Luisa ihre Trinkflasche mit Radonwasser auf.

Vater und Sohn waren schon fertig umgezogen und beobachteten, wie sie davon trank.

»Ich denk, das Zeug ist giftig?«, wollte der Junge wissen.

Luisa versicherte: »Die Dosis macht das Gift. Das hier ist Heilwasser.«

Draußen, am Wasserbecken mit dem Brunnenmädchen, verabschiedete sie sich von den beiden. Sie schlenderten zum Haus Elfriede, und Luisa sah ihnen nach. Vermutlich hatte der zappelige Junge recht. Wenn jemand verschwand, musste man auch an unwahrscheinlichen Orten suchen. Ihre Familie hatte nach der Wende nur an den wahrscheinlichen Stellen nach Rudolf gesucht. Da war er schon viele Jahre verschwunden gewesen, und es gab keine Spuren mehr zu finden. Vor der Wende waren sie gegen Mauern gelaufen. Wer in der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut arbeitete, baute schließlich keine Steinkohle ab. Der militärische Bergbau hatte strengster Geheimhaltung unterlegen.

Luisa wandte sich Richtung Klosterberg und trank noch einen Schluck Radonwasser. Sie spürte der kühlen Flüssigkeit nach, die ihre Kehle hinunterrann. Ihre Großmutter behauptete, dass sie keinen Glauben hätte, weil sie nicht zur Osternachtsfeier um fünf Uhr in der Früh in der Kirche gewesen war. Doch sie hatte unrecht. Luisa glaubte an die Heilkraft dieses Wassers, das aussah wie Wasser und schmeckte wie Wasser. Und sie glaubte an Wunder. Denn ein Wunder war es gewesen, dass sie diese Quelle wiedergefunden hatten.

Nichts auf der Welt ging verloren. Wie hatte der Junge gesagt? Man musste einfach an der richtigen Stelle nachsehen.

Sie überlegte, ob sie die Suche nach dem verschollenen Teil ihrer Familie noch einmal neu beginnen sollte. So als gäbe es an dieser Sache nichts, was absolut sicher war. Verdiente ihre Großtante nicht endlich eine Antwort? War es nicht höchste Zeit, ihr jene innere Ruhe zurückzugeben, die sie an einem fernen Junitag verloren hatte?

Kurz entschlossen wechselte Luisa die Richtung. Ihre Eltern würden alles über die alte Vermisstenanzeige wissen.

4. Der Fund

Juni 1913

Wilhelm folgte dem schmalen Weg, der sich neben dem Floßgraben in sanften Biegungen durch das Tal schlängelte. Die Reflexionen der Morgensonne im Wasser tanzten wie Irrlichter durch den Wald. Früher einmal hatte der Graben das Holz für die Bergwerke in Oberschlema und Schneeberg transportiert. Nun wucherte an den Rändern Farn, und von beiden Seiten neigten sich Bäume über den Pfad.

Der Junge versuchte dem schnellen Tempo der Fräuleins vor ihm zu folgen. Sie trugen die weißen, gestärkten Schwesternschürzen vom Genesungsheim des Verbands deutscher Handlungsgehilfen in Niederschlema. Ihre Arme hatten sie im Rücken umeinandergeschlungen, als wären sie unzertrennlich. Die Beine marschierten im Gleichschritt, sodass die bodenlangen Röcke rhythmisch mitschwangen. Beide trugen über dem Arm einen geflochtenen Henkelkorb mit leeren Schnapsflaschen, die bei jeder Bewegung aneinanderklimperten. Die Fräuleins schlüpften durch ein Portal von Zweigen und wurden vom Schatten verschluckt.

»Wartet auf mich!«, rief Wilhelm und sprang schnell hinterher.

Lachen antwortete ihm. Die beiden jungen Frauen blieben stehen, drehten sich zu ihm um und legten die erhitzten Gesichter aneinander. Sie hätten Zwillinge sein können und waren doch nur beste Freundinnen.

Wilhelms Schwester Clara und ihre Nachbarin Martha hatten zur Feier des Tages unterwegs Blumen gepflückt und sich gegenseitig in die Haarkränze gesteckt.

»Ich fühl mich fast schlecht, weil wir heut so faul sein dürfen«, bekannte Clara.

Martha verschränkte demonstrativ die Arme und erklärte: »Bloß Arbeit und kein Spaß macht fei dumm.«

Ihr Lachen schreckte die Braunkehlchen in den Zweigen über ihnen auf. Clara stimmte ein und verschränkte die Arme ebenso. Alles, was die Freundin tat, fand sie famos. Martha hatte ihr auch die Anstellung im Genesungsheim besorgt. Sie war ein paar Jahre älter als Clara und bereits volljährig. Leider nützte ihr das nichts, weil eine durchweg übel gelaunte Mutter wie ein Drachen über sie wachte. Umso mehr genoss sie die wenigen Momente der Freiheit mit ihrer Freundin. Dass Wilhelm immer mit von der Partie war, nahm sie in Kauf. Meistens ignorierten ihn die Fräuleins und behandelten ihn wie Luft. Auf diese Weise erlauschte der Junge, dass Martha kein Schnürkorsett trug und mithilfe roher Kartoffeln ihre Sommersprossen zu beseitigen versuchte.

Wilhelm war nun vierzehn Jahre alt, besuchte die Bergschule und trug voller Stolz den schwarzen Bergmannskittel mit seinen neunundzwanzig glänzenden Kupferknöpfen.

»Hast du den Erlaubnisschein von der Grubenverwaltung auch nicht vergessen?«, vergewisserte sich Martha bei ihrer Freundin. Sie selbst sah zum wiederholten Male nach, ob das kostbare Papier tatsächlich im Korb lag. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas Wertvolles geschenkt bekommen. Dieser Schein berechtigte sie, an einem Schatz teilhaben zu dürfen.

Clara klopfte auf ihre Schürzentasche, und Wilhelm drängte: »Lasst uns weitergehen. Nachher kriegen wir nichts mehr.«

»Ach, Unsinn.« Seine Schwester lachte und hakte sich bei ihm unter. »Das Wunderzeug wird niemals alle. Das weiß ich sicher.«

»Von wegen Wunderzeug«, brummte er.

Seine Schwester spuckte in ihre Handfläche und klebte ihm eine widerspenstige Haarlocke an den Kopf. »Dir kann man es nicht recht machen«, sagte sie. »Dein Wunsch hat sich doch erfüllt. Sie haben einen großen Fund getätigt bei uns. Einen, der alles verändern wird, da bin ich sicher.«

»Aber ich wollt, dass wir gediegen Silber finden«, maulte der Junge. »Und nicht bloß eine Quelle, die aus der verwünschten Pechblende kommt.«

Wilhelm hatte inzwischen die nächste Stufe seiner Ausbildung erreicht und durfte in der Scheidebank den Fäustel auf die Erzbrocken krachen lassen. Schon vorher erkannte er allein am Gewicht, ob sich im Inneren eine kristallisierte Höhlung verbarg oder er schwere Pechblende in der Hand hielt. Die hatte den Bergleuten seit jeher nichts als Unglück gebracht. Sobald sie auf das schwarzgrüne Mineral stießen, war es mit dem Silber vorbei. Und obwohl die Physikerin Marie Curie in Frankreich tonnenweise Pechblende für ihre Versuche benötigte, hatte nicht das Grubenfeld von Schneeberg, sondern das in Johanngeorgenstadt den Zuschuss für die Suche bekommen.

Aber dann war der Baumeister des Oberschlemaer Blaufarbenwerks im Marx-Semmler-Stolln auf ungewöhnlich heftig strömendes Grubenwasser gestoßen. Es schien durch eine unterirdische Kraft bewegt zu werden und besondere Fähigkeiten zu haben. Und die durften die Bewohner von Oberschlema an diesem Feiertag testen.

»Was meint ihr? Was passiert, wenn wir das Wasser trinken?«, fragte Wilhelm.

Martha ließ wieder ihr helles Lachen ertönen, und Clara stimmte ein. »Vielleicht wächst du dann«, zog sie ihren Bruder auf. Er war mindestens einen Kopf kleiner als die Fräuleins.

»Und bei mir verschwinden die Sommersprossen.« Martha beugte sich zu ihm herunter, damit Wilhelm ihren Makel aus der Nähe betrachten konnte.

Beleidigt stupste er die Fräuleins vorwärts. Die Bäume öffneten sich, und der Pfad führte weiter zum Ort. An den zahlreichen Lichtlöchern, die mit kleinen Holzhütten gesichert waren, konnten sie den unterirdischen Verlauf des Marx-Semmler-Stollns ausmachen.

Zwischen den Häusern von Oberschlema lag der neue Radiumtagschacht, der geradewegs in die Tiefe führte. Über dem Loch war eine Bretterbude mit Kreuzdach aufgebaut worden. Schon aus der Ferne konnten sie das Gedränge der vielen Schaulustigen sehen. Aufgeregtes Stimmengewirr schwirrte zu ihnen herüber. Sämtliche Schulkinder der Umgebung waren zusammengekommen und rannten durcheinander. Zwei junge Lehrerinnen erteilten mit schrillem Tonfall vergeblich Befehle.

Wilhelm blickte sich besorgt um. »Meint ihr wirklich, es reicht für alle?«

Clara winkte ab. »Das wird schon langen für die paar Seelen.«

Ihr Bruder blies die Backen auf. »Du hast ja keine Ahnung, wie die saufen können!« Er entdeckte seine Bergschulklasse und gesellte sich zu ihr. Die Ungeduld war kaum erträglich.

An der Bretterbude hing eine Schiefertafel mit der Aufschrift: Ausgabe Radiumwasser. Dabei enthielt das Wasser keineswegs Radium, sondern lediglich dessen Zerfallsprodukt, das Radongas.

Je näher die achte Stunde rückte, umso gespannter wurde die Stimmung.

»Hat die Brüh wirklich Zauberkraft?«, fragte eine gebrechliche Alte, die keinen Zahn mehr im Mund hatte.

»Pass nur auf! Davon wächst dir fei ein neues Gebiss«, rief ihr eine andere alte Frau zu.

Die Menge johlte und wollte gern daran glauben. Immerhin hatte es in der Auer Zeitung schwarz auf weiß gestanden: Dieses Wasser sei laut zahlreicher Gutachten schmerzlindernd und entzündungshemmend und bewirke wahre Wunder.

Der kleine Platz wurde immer voller. Zum Schluss erschienen der Bürgermeister und die Direktoren der umliegenden Fabriken, die durch ihre Anzüge und die stattliche Erscheinung aus der Masse herausstachen. Gemeinsam mit dem Blaufarbenwerkkonsortium, dessen Geschäfte nur noch mäßig liefen, plante der Bürgermeister einen neuen Kurbetrieb. Die Festlichkeit hatte er auf den Feiertag zum Thronjubiläum des Kaisers gelegt. Das sollte der ganzen Angelegenheit die passende Würde und die nötige Bedeutung verleihen. Seine Rechnung schien aufzugehen. Es waren ein Schreiber vom Auer Tageblatt und der Schneeberger Fotograf mit seiner sperrigen Plattenkamera gekommen, um den denkwürdigen Tag für die Nachwelt festzuhalten.

Als die Glocken der Oberschlemaer Kirche zu schlagen begannen, bildete die Menge einen erwartungsvollen Halbkreis um die Bude. Wilhelm drängte sich schnell zu seiner Schwester hindurch, die an einer besseren Position stand. Der Fotograf kroch unter das Verdunklungstuch und richtete seinen Apparat aus. Mit dem achten Glockenton erschien ein Beauftragter der Grubenverwaltung und öffnete die Tür des Bretterverschlags. Alle begannen zu drängen und zu schieben, um bloß nichts zu verpassen.

»Was macht er da?«, fragte Clara aufgeregt und stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Er pumpt das Wasser hoch«, erklärte Wilhelm.

Der Mann goss die gewonnene Flüssigkeit in eine seltsame Apparatur.

»Und was macht er jetzt?«, wollte Martha wissen.

»Das ist ein Fontaktoskop«, erklärte Wilhelm. Sein Gesicht rötete sich vor Stolz, weil er dieses schwierige, in der Bergschule gelernte Wort behalten hatte. »Damit kann er messen, wie stark das Radiumwasser ist.«

Martha warf ihm einen erstaunten Blick zu, in dem er sich sonnte. Zum ersten Mal wusste er mehr als die neunmalgescheiten Fräuleins.

In diesem Moment holte der Beauftragte einen Schiefergriffel aus seiner Brusttasche und schrieb auf die Tafel an der Bretterbude eine Zahl. Ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Menge. Niemand konnte etwas mit dieser Zahl anfangen, aber sie sah beeindruckend aus, selbst für die, die nicht lesen konnten.

»Ist es stark?«, wollten die Umstehenden wissen.

Der Beauftragte nickte mit Kennermiene. »Sehr stark. Viel stärker als das in St. Joachimsthal im Böhmischen.«

Beifall brandete auf. Der Mann verneigte sich und wurde zur Seite geschoben.

Es war Zeit für die Rede des Bürgermeisters. »Mit der Ausgabe des allerersten Radiumwassers an die Oberschlemaer Bürger feiern wir den alsbaldigen Baubeginn des modernsten Kurbads unserer Epoche!« Die Menge klatschte, und der Bürgermeister fuhr fort: »Dieses radioaktive Heilwasser weckt sämtliche Energien im Körper und wird die Kurgäste in Scharen anlocken!«

Nun jubelten die Menschen. Das Genesungsheim des Verbandes deutscher Handlungsgehilfen in Niederschlema musste jeden Winter schließen, wenn die Natur der Umgebung trist und unwirtlich wurde. Mit der Entdeckung des Heilwassers würde es möglich sein, ein neues, größeres Kurbad zu errichten, das unabhängig von den Jahreszeiten betrieben werden konnte.

Ein Planungsbeauftragter trat nach vorn und erklärte: »Wir werden unweit von hier im Silberbachtal einen prächtigen Neubau erschaffen.«

Martha flüsterte in Claras Ohr: »Ich hab gehört, es soll dort Palmen geben und Springbrunnen. Wie ein Schloss wird es aussehen. Mit Türmen und Grotten. Vielleicht holen sie gar exotische Tiere zur Belustigung aus Übersee?«

Clara starrte ihre Freundin ungläubig an. Während der Beauftragte mit fahrigen Händen Pläne in die Luft hielt, auf denen keiner etwas erkennen konnte, wurden die Leute allmählich unruhig.

Eine Stimme aus der Menge unterbrach ihn: »Wann gibt es denn endlich das Radiumwasser? Für Gelaber sind wir fei nicht gekommen.«

Auf dieses Stichwort hin schwangen die Fensterläden der Bretterbude wie bei einem Kasperltheater auf, und der Bürgermeister bekam die erste Flasche überreicht, gefüllt mit flüssigem Wunder. Er hielt sie in die Höhe und rief: »Auf unseren Kaiser Wilhelm den Zweiten!«

»Auf unsern Kaiser!«, antwortete die Menge im Chor und reckte die mitgebrachten, noch leeren Flaschen empor.

Von dem unmittelbar darauf einsetzenden Ansturm wäre der Bürgermeister fast überrannt worden.

Drei Gefäße durfte jeder füllen lassen, der einen Berechtigungsschein vorzeigte. So mancher blieb gleich neben der Bude stehen, kostete und versicherte den anderen, dass es gar nicht so schlecht schmecke. Der Bürgermeister und die Herren vom Blaufarbenkonsortium konnten äußerst zufrieden sein.

Am Abend, als Vater Johann aus dem Bergwerk heimkam, standen die drei Flaschen voll Radonwasser auf dem Küchentisch. Die Steiners hatten es nicht gewagt, die Kostbarkeit anzurühren, und auf ihn gewartet.

»Nun guck einmal«, sagte Alma ehrfürchtig zu ihrem Mann. »So etwas Teures haben wir umsonst bekommen. Wenn das nicht ein Zeichen ist, dass es aufwärts mit unserem Ort geht.« Sie schenkte ihm einen Becher mit dem Heilwasser ein.

»Radiumwasser weckt Energie. Es soll gegen alles helfen«, erklärte Clara ihrem Vater eifrig. »Egal was einen plagt. Das hat beste Heilwirkung, sagen die wissenschaftlichen Gutachten.«

»Also hilft es auch gegen die Schneeberger Krankheit«, sagte Alma überzeugt.

Johann probierte und stellte enttäuscht fest: »Von dem Radium merk ich aber nichts.« Er nahm einen zweiten Schluck. »Das schmeckt nicht anders als unser normales Wasser.« Unzufrieden kratzte er sich am Hals und bat seine Frau: »Gib mir zur Sicherheit lieber meine Medizin, Alma.«

Sie goss ihm einen Schnaps ein, und gleich darauf ertönte ein wohliges Stöhnen.

»Das Radiumwasser dürft ihr allein trinken«, verkündete Johann großzügig. »Ich bleib beim Bewährten.«

Alma kostete vorsichtig und glaubte zu spüren, wie sich das Wundermittel in ihrem Körper ausbreitete. »Willst du nicht doch etwas davon?«, fragte sie ihren Mann. »Wir könnten es mit dem Schnaps mischen, damit es dir besser schmeckt.«

Aber Johann sträubte sich entschieden gegen die Verdünnung seiner Medizin. Inzwischen hatten auch Clara und Wilhelm gekostet und versicherten einander, ein belebendes Kribbeln in den Fingerspitzen zu spüren.

Während Clara sich um das Abendessen kümmerte, erzählte sie: »Sie beginnen bald zu bauen. Das Kurhaus soll prächtiger werden als das Hotel Blauer Engel in Aue mit seinem Türmchen und den Fahnen. Ist das nicht herrlich?«

»Was soll daran herrlich sein?«, maulte Wilhelm. »Der Bergbau wird davon nicht aussichtsreicher.«

Wenn es so weiterging, würden sie alle die Heimat verlassen müssen, um zu überleben. Der gemeinsame Bruder Christian war schon nach Oelsnitz gegangen und arbeitete dort im Steinkohlerevier. Es gab Gerüchte, dass die Schneeberger Kobaltfelder ihre Gruben und das Pochwerk nicht mehr lange halten könnten.

Alma strich ihrem Jungen über den Kopf. »Deine Schwester hat recht. Das Kurbad ist ein Segen für den Ort. Clara kann dort arbeiten, bis sie mal heiratet.«

»Und was wird mit mir?«, fragte Wilhelm aufsässig.

»Ganz sicher findest du dort auch eine Anstellung«, versprach Clara eifrig.

Der Junge schnaufte empört. »Ich bin Bergmann!«

»Vielleicht solltest du deinem Bruder folgen, wenn du fertig mit der Schule bist«, schlug Johann vor.

Die Ausbildung eines Hauers dauerte ganze sieben Jahre, und in Oelsnitz gab es reiche Steinkohlevorkommen. Der Verdienst war besser, die Arbeit allerdings gefährlicher. Alma kannte die Gegend, sie war dort aufgewachsen, bevor sie Johann ins Schlematal gefolgt war. Bei dem großen Schachtbruch in Lugau war ihr Vater verschüttet worden, zusammen mit einhundert anderen Bergleuten. Alma hatte mit ihrer Mutter und den Geschwistern oben am Schacht gehofft und gewartet. Nach zehn Tagen waren sie heimgegangen. Ihr Vater blieb unten in der neuen Fundgrube. Erst fünf Jahre später war er geborgen worden.

»Es reicht, dass unser Ältester in der Steinkohle arbeitet«, sagte Alma entschieden. »Meinen Jüngsten lass ich nicht auch dorthin gehen.« Sie trat hinter Wilhelm und legte die Hände auf seine Schultern. »Das kommende Jahr wird besser, ihr werdet es sehn. Neuer Tag bringt neue Hoffnung.«

Sie schenkte dem Jungen einen weiteren Schluck Radonwasser ein, damit er stark werden würde. Die Tochter hingegen bekam einen Kräutergeist hingestellt.

Clara verzog das Gesicht. »Das mag ich nicht.«

»Wir müssen dich abhärten«, erklärte Alma und nötigte sie zu trinken. »Jetzt, wo du arbeitest, begegnest du auch Herren. Was ist, wenn dich einer von denen auf einen Likör einlädt, und du bist es nicht gewohnt? Das könnte ein Schwerenöter ausnutzen. Also trink.«

Widerstrebend gehorchte Clara.

Seit Christian nicht mehr in Oberschlema wohnte, schlief Wilhelm in dessen Kammer. Eine Weile lag er still im Bett und wälzte sich hin und her. Er war es nicht gewohnt, so viel Platz zu haben. Als er es nicht mehr aushielt, schlich er hinüber zu Clara. 

»Was willst du denn?«, fragte seine Schwester, schläfrig vom Likör.

Er schlüpfte unter ihre Decke. »Ich möcht nur wissen, ob die Martha zur Bergparade beim Heimatfest kommt.«

Clara streckte sich. »Ganz sicher.« Sie nutzte die Gelegenheit, um ihre ewig kalten Füße an seinem Bauch zu wärmen. »Warum fragst du?«

»Weil ich ja diesmal mitmarschiere und das Festhabit anziehen werde«, erklärte Wilhelm. Er hatte von der Bergbrüderschaft zu diesem Zweck die Paradeuniform der Schneeberger Bergleute bekommen.

Clara lachte. »Willst du sie beeindrucken? Das schlag dir mal schön aus dem Kopf. Sie ist eine erwachsene Frau, und du bist ein kleiner Gungel. Die Martha beeindruckt so schnell nichts.«

Die drei Flaschen mit dem flüssigen Wunder waren längst geleert, als das große Heimatfest gefeiert wurde. Wilhelm hatte in der Nacht davor wegen der Aufregung nicht schlafen können. Im Morgengrauen brach er mit seinem Vater in Richtung Schneeberg auf.

Etwas später kam Martha mit ihrer Mutter zu den Steiners, um sie abzuholen. Sie trugen die Festkleidung ihrer Heimat mit blütenweißen Puffärmeln und geschnürtem Mieder. Alma legte ihrer Tochter einen Kragen aus geklöppelter Spitze um, band sich das Kopftuch neu, und dann liefen sie los.

Es war ein heißer Julitag. Obwohl kurz zuvor der Sprengwagen die Staatsstraße passiert hatte, war alles Wasser schon wieder verdunstet. Clara, Martha und ihre Mütter hielten auf den mächtigen Bergmannsdom St. Wolfgang zu, der in der Ferne aufragte. An den Straßenrändern drängten sich die Menschen, vorbeifahrende Autos wirbelten Staub auf, der sie einhüllte. Das letzte Stück des Wegs war geteert, und der weiche Straßenbelag blieb an ihren Riemchenschuhen kleben.

Die Straßen von Schneeberg waren mit Blumengirlanden geschmückt, Wimpelketten flatterten, Musikfetzen wehten vorbei, und Menschenmassen strömten ins Zentrum der alten Bergstadt. Es wurde gedrängt und geschoben, die Leute lachten und schimpften. Die Nachbarinnen hatten große Mühe, einander in diesem Tumult nicht zu verlieren, und fassten sich an den Händen.

Marthas Mutter zeterte: »Die ganzen Aushiesigen verstopfen die Stadt.« Dabei bedachte sie nicht, dass jemand aus Oberschlema für einen Schneeberger durchaus auch schon als Auswärtiger zählen konnte.

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