×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Sündenbraut«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Sündenbraut« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Sündenbraut

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Rheinland im 13. Jahrhundert: Seit dem Mord an ihren Eltern ist Fenja bei ihrer Ziehmutter Runhild aufgewachsen und hat von ihr die Kunst erlernt, Toten ihre Sünden zu nehmen. Doch als auch Runhild ermordet wird, bleibt Fenja nichts - bis auf ein Tuch mit eingesticktem Wappen, das der Mörder verloren hat, und der brennende Wunsch nach Rache. Völlig auf sich gestellt, tritt Fenja die gefährliche Reise an und trifft unverhofft auf den Handwerker Gerald. Er behauptet, den Träger des Wappens zu kennen, und bietet ihr seine Hilfe an. Aber kann Fenja dem jungen Mann trauen?


  • Erscheinungstag: 25.06.2020
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674287

Leseprobe

Verzeichnis der Personen

Hauptpersonen

Fenja, eine Heilerin auf der Suche nach ihrer Vergangenheit

Gerald von Aue, ein Ritter aus Walescheid, unterwegs im geheimen Auftrag des Kaisers

Rufus, Fenjas Hund und treuer Begleiter

Weitere Personen

Achatus, ein Alchemist aus Blankenberg

Aristoteles VIII., sein Kater

Diethelm von Deyssen, Schwanhilds Vater

Dietke, Nichte von Einhard

Einhard, Knecht von Ritter Gilbert

Gilbert von Monokeros, Herr über Eibenbach

Hartwig von Aue, Geralds älterer Bruder

Hermann von Aue, Geralds und Hartwigs Vater

Ingbert, Abt von Sankt Katharinenberg

Mathilde von Aue, Geralds und Hartwigs Mutter

Roderich, ein Konverse

Runhild, Fenjas Ziehmutter

Schwanhild von Deyssen, Geralds Verlobte

Historische Persönlichkeiten

Friedrich II. von Hohenstaufen,

Kaiser des Heiligen Römischen Reiches

26.12.1194–13.12.1250

Heinrich III., Graf von Sayn

um 1185/1193–01.01.1247

Heinrich von Heisterbach, Abt des gleichnamigen Zisterzienserklosters im Siebengebirge

um 1175/1180–11.11.1242

Mechthild von Sayn, Gemahlin Heinrichs III.

um 1200/1203–um 1285/1291

Orts- und Flussbezeichnungen, damals und heute

Acher

Agger (Fluss)

Achera

Agger (Ort)

Aldenkirchen

Altenkirchen

Adscheid

heute zu Hennef gehörend

Alpach

Albach, heute zu Lohmar gehörend

Baiern

Bayern

Coellen

Köln

Hall

Schwäbisch Hall

Helmbund

heute nicht mehr vorhandene Siedlung, nur die Ruine der Kirche steht noch

Lomere

Lohmar

Nunkirchen

Neunkirchen, heute Neunkirchen-Seelscheid

Okenrode

Uckerath, heute zu Hennef gehörend

Schönes Feld

Oberschönesfeld

Sege

Sieg (Fluss)

Selige Tal

Seligenthal, heute zu Siegburg gehörend

Syberg

Siegburg

Walescheid

Wahlscheid, heute zu Lohmar gehörend

Werd

heute Donauwörth

Wimpfen

Bad Wimpfen

Wolsdorfer Berg

neben dem Riemberg der zweite Hügel, aus dessen Kuppe der Wolsdofer Brocken für den Bau von Gebäuden gebrochen wurde; heute innerhalb des Stadtgebietes Siegburg liegend

Glossar

Begine: weibliche Angehörige einer christlichen Gemeinschaft, die kein Ordensgelübde ablegt, aber ein eheloses und religiöses Leben führt

Bruoch: eine Art Unterhose, an der die Beinlinge befestigt wurden

Buhle/Buhlin: Geliebte/r

Cellerar: zuständig für die wirtschaftlichen Belange des Klosters

Cotte: eine Art Schlupfkleid, wurde über dem Unterkleid und unter dem Surkot getragen

Donnerkraut: (Sprengpulver) ab circa 1890 Schwarzpulver zur Unterscheidung vom Weißpulver (Nitropulver) genannt, obwohl es eher grau bis graubraun ist; eine genaue Beschreibung der Herstellung findet sich im »Liber ignium ad comburendos hostes« (Buch vom Feuer, um Feinde zu verbrennen), dessen älteste noch erhaltene Abschrift wahrscheinlich um 1250 entstanden ist und auf ältere Werke zurückgehen soll; wer es tatsächlich erfunden hat, verliert sich im Nebel der Zeit

Gebende: Witwen und Ehefrauen hatten seit dem 12. Jahrhundert das Gebände zu tragen; es ist ein Kopfschleier, bestehend aus einem Leinenband, das Oberkopf, Ohren und Kinn miteinander verbindet und gleichzeitig verdeckt

Grangie: von Konversen der Zisterzienser bewirtschaftete landwirtschaftliche Güter

Grutbier: Grut = Kräutergemisch, das zum Bierbrauen verwendet wurde, ehe sich Hopfen durchsetzte

Holler: Holunder

Infirmarius: verantwortlich für die Versorgung der Kranken im Kloster

Kebse: Konkubine

Kemenate: mittels Kamin beheizbarer Raum

Konverse: Laienbruder einer Ordensgemeinschaft; sie empfingen keine Weihen und verrichteten überwiegend körperliche Arbeiten

Mauerblende: schmale, leicht hervortretende vertikale Verstärkung der Wand zur optischen Gliederung einer Fassade

Metze: Hure

Münze: hier Münzstätte/Münzprägeanstalt

Muhme: Tante, Schwester mütterlicherseits

Palas: Saalbau einer Pfalz oder Burg

Pranger: Schandpfahl, diente dem Vollzug von Ehrenstrafen

Rachenpest: Diphtherie

Refektorium: Speisesaal im Kloster

Reißen: Gicht

Skapulier: Überwurf, getragen über der Tunika einer Ordenstracht

Suckenie: ärmelloser Surkot

Surkot: Ärmeltunika, die über der Cotte getragen wurde

Vitriole: Kristallwasser enthaltendes Sulfat eines zweiwertigen Metalls

Vitriolöl: Schwefelsäure

Waffenrock: auch Wappenrock, ärmelloses Gewand, das über der Rüstung getragen wurde

Zingulum: Gürtel, der um den Habit getragen wird

Prolog

Sachsen 1234

Der matte Schein des Talglichtes malte die Züge des Toten weicher, als sie je zu Lebzeiten gewesen waren. Fenja atmete tief den harzigen Duft der frisch geschnittenen Tannenzweige ein, mit denen der Raum geschmückt war. Noch übertünchten sie den beginnenden Verwesungsgeruch des verblichenen Kaufmanns.

Fenja drückte das Weidenkörbchen fester an sich. Zwei kleine Brote lagen darin. Sie trat auf den toten Mann zu, der mit einem groben Leinenhemd bekleidet war, dessen Stoff an einigen Stellen abgenutzt wirkte.

»Diese Händler sind doch alle gleich«, murrte Runhild neben ihr. »Im Leben Reichtum gescheffelt, seiner Familie Wohlstand gebracht, und im Tode hüllt ihn sein Sohn in einen besseren Lumpen. Ich hoffe nur, er wird uns den Lohn nicht vorenthalten.« Es schien, als wäre ihr blindes Auge auf den Toten gerichtet, während das gesunde Fenja anfunkelte. »Du bist dir immer noch sicher, dass du seine Sünden auf dich nehmen willst?«

Die junge Frau streckte sich und reckte das Kinn ein wenig vor. Eine schwarze Haarsträhne löste sich aus dem geflochtenen Zopf und umschmeichelte ihre Wange. »Es wird Zeit, dir ein wenig von deiner Güte zurückzugeben, denn ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben. Künftig sollst du die Verfehlungen der Verstorbenen nicht mehr alleine tragen müssen.«

Entschlossen trat Fenja auf den Toten zu, legte ihm einen der handtellergroßen Brotlaibe auf die Brust, den anderen auf den geblähten Bauch. Von der Familie war auf einem kleinen Tisch ein Becher mit verdünntem Rotwein bereitgestellt worden. Fenja griff danach und hielt ihn, mit beiden Händen fassend, zunächst über die Stirn des Verstorbenen.

»Durch Euren plötzlichen Tod konntet Ihr keinem Priester Eure Sünden beichten, keine letzte Ölung empfangen. Ich bin hier, um Euch zu helfen. Übergebt mir Eure Sünden, damit sie zu den meinen werden und Eure Seele befreit in den Himmel aufsteigen kann.«

Fenja senkte den Becher, bis sein Boden kurz die erkaltete Stirn des Toten berührte. Danach wiederholte sie die Zeremonie an den Stellen, wo die Brote lagen.

Runhild musterte ihre Schülerin aufmerksam, nickte hin und wieder. Um den Mund ihrer Ziehmutter glaubte Fenja einen traurigen Zug zu erkennen. Sie stellte den Becher zurück auf den Tisch, nahm das Brot von der Brust und riss ein Stückchen ab. Langsam tunkte sie es in den Wein und sah mit leichtem Schaudern zu, wie die rote Flüssigkeit gierig aufgesogen wurde.

Die Krume in ihrer Hand roch frisch und verführerisch. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Ihm schien es gleichgültig zu sein, ob sie mit der Speise die Laster des Kaufmanns auf sich nahm. Für ihn zählte nur, dass Fenja seit dem vorherigen Tag nichts mehr gegessen hatte.

Sie steckte sich das durchweichte Stück Brot in den Mund und verzog das Gesicht. Der Wein schmeckte sauer. Wogen die Sünden des Mannes so schwer und hatten den Trunk verdorben? Tapfer kaute sie weiter, würgte den Bissen hinunter, der zögerlich ihre Kehle hinabrutschte und sich im Bauch scheinbar in einen Stein verwandelte.

»Iss das Brot, ohne es in den Wein zu tauchen, und trinke ihn später«, riet Runhild. »Wenigstens eins von beiden sollte dir munden, wenn du schon seine Seele reinigst.«

Gehorsam aß Fenja zunächst ein Brot und spülte nach. Das war viel besser, auch wenn ihr Gaumen sich zusammenzog und der Mund trocken wurde. Sie unterdrückte den Wunsch, sich zu schütteln. Rasch verzehrte sie auch das zweite Brot und trank den Rest des Weins.

Eine seltsame Schwere überkam sie, was sicherlich nicht nur auf ihren gefüllten Magen zurückzuführen war. Sie hatte die Seelenschuld des Mannes übernommen und würde sie von nun an bis an ihr Lebensende tragen müssen.

Erstaunt bemerkte sie die Tränen in den Augen ihrer Ziehmutter. War Runhild gerührt, weil sie in ihre Fußstapfen trat?

Die ältere Frau blinzelte. »Manchmal denke ich, ich hätte dich damals besser deinem Schicksal überlassen sollen. Dieses Leben ist nichts für dich.«

Sofort schüttelte Fenja den Kopf. »Mir geht es gut, und ich will das hier.« Sie machte eine ausholende Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste.

»Die Sünden der anderen in einem verbotenen Ritual zu essen, um ihre Seelen zu retten?« Runhild schnaubte. »Glaubst du wirklich, ich hätte dich das gelehrt, wenn ich einen anderen Ausweg gewusst hätte?«

Sie beugte sich ein wenig vor. In ihrem gesunden Auge schien ein dunkles Feuer zu flackern. »Was denkst du, was mit uns geschieht, wenn ein übereifriger Kirchenmann unsere Witterung aufnimmt?«

Runhild bekreuzigte sich. »Dem Herrn sei gedankt, dass dieser fanatische Inquisitor aus Marburg letztes Jahr ermordet wurde und die Scheiterhaufen für Ketzer wie uns vorerst nicht mehr so schnell auflodern. Dennoch müssen wir immer auf der Hut sein. Wir lassen uns jetzt entlohnen und ziehen weiter.«

Wenn Runhilds Lippen zu einem Strich wurden, war Auflehnung zwecklos. So zuckte Fenja bloß mit den Schultern und stieß die Tür des Anbaus auf, in dem die Familie ihr ehemaliges Oberhaupt aufgebahrt hatte. Draußen wurden sie bereits erwartet.

Der Sohn des Kaufmanns, ein breitschultriger Mann, der eine rote Tunika trug, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seine magere Frau, gut zwei Köpfe kleiner als er und mit kummervollem Gesichtsausdruck, stand neben ihm und hatte sich das jüngste der fünf Kinder auf die Hüfte gesetzt. Es zupfte mit ungeschickten Fingern an ihrem Gebende, dessen Leinenstreifen fest um Ohren und Kinn geschlungen war.

»So ist es vollbracht?« Die harte Stimme des Hausherrn ließ Fenja aufmerken. Sie hätte schon ein wenig mehr Dankbarkeit erwartet, zumindest aber Erleichterung, weil das Seelenheil seines Vaters gerettet worden war.

Runhild nickte knapp und streckte die Hand aus. »Nun erfüllt Euren Teil des Handels.«

Der Mann entnahm dem Lederbeutel an seinem Gürtel zwei Münzen und reichte sie Runhild.

»Wir hatten den doppelten Preis vereinbart.«

Die Mundwinkel des Mannes wanderten nach unten. »Die Kosten für das frische Brot und den Wein muss ich euch natürlich abziehen.« Sein Kopf ruckte in Richtung Stall. »Der Rest des Lohns wartet da hinten auf euch.«

Runhild straffte sich. Schnell legte Fenja ihr die Hand auf die Schulter. »Nicht bei diesem Mann«, flüsterte sie.

Hin und wieder wurde ihnen der vereinbarte Sold nicht gezahlt. Meist gelang es Runhild, mit ausgestoßenen Drohungen und Verwünschungen ihn dennoch zu bekommen, doch hier ahnte Fenja, dass Widerstand gefährlich wäre. Dem Kaufmann traute sie durchaus zu, sie dem nächsten Geistlichen zu melden. Behutsam zupfte sie an Runhilds Ärmel. »Lass uns sehen, was er uns anbietet.«

»Etwas, das er nicht gebrauchen kann«, brummte Runhild, folgte Fenja aber dennoch, als sie auf den Stall zulief.

Die schwere Holztür knarrte leise beim Öffnen. Der Geruch nach Schafen und muffigem Stroh schlug Fenja entgegen. Im Halbdunkel konnte sie zunächst nichts erkennen. Rüde drängte der Kaufmann sie zur Seite. Er schritt an dem leeren Verschlag vorbei, dessen Bewohner noch auf der Weide waren. Daneben befand sich ein kleiner, mit frischerem Stroh ausgelegter Platz, auf dem eine mittelgroße Hündin mit kurzem rötlichem Fell lag. Vier Welpen winselten, jaulten und purzelten aufgeregt durcheinander. Spielerisch bissen sie sich gegenseitig in die Schlappohren und versuchten, einander umzuwerfen.

»Wie niedlich«, entfuhr es Fenja. Sie hockte sich hin und streckte die Hand aus. Sofort kam einer der Welpen auf sie zu. Sein dunkelbraunes Fell schimmerte in dem Licht, das durch die Ritzen der Bretterwand fiel. Fenja bemerkte den weißen Fleck auf der Stirn. Der Welpe schnupperte an ihren Fingern und begann, sie abzulecken.

Fenja kicherte und blickte zu dem Mann hoch. »Ihr meint, ich soll mir einen aussuchen?«

Zu ihrer Überraschung schüttelte er den Kopf. »Nein, du darfst nicht wählen. Ich zeige dir den Welpen, den du haben kannst. Nimm ihn oder lass es bleiben. Mehr wird es nicht geben.«

Er machte einen großen Schritt zwischen die Hundeschar, die quiekend auswich, und griff hinter ein Bündel Stroh. Sogleich hörte Fenja ein heiseres Knurren. Mit einer Hand fest die Schnauze des Welpen umklammernd, die andere unter seinen Leib geschoben, drehte der Mann sich um. Fenja erhob sich und starrte auf den Hund, der sie aus trüben Augen musterte. Er war etwas größer als die anderen, doch sein Fell war stumpf. Sofort bemerkte Fenja die eitrige Wunde am Vorderlauf.

»Deshalb wollt Ihr ihn mir überlassen, weil er für Euch nicht von Nutzen ist.«

»Wenn du ihn heilen kannst und es dir gelingt, ihn zu zähmen, dann wird er dich immer beschützen und sein Leben für dich geben.«

Fenja nickte, was hätte sie auch anderes tun sollen? Runhild hingegen schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als der Kaufmann mit dem roten Bündel auf den Armen an ihren Handkarren trat und den Welpen dort hineinlegte. Kaum hatte er die Hand um den Fang gelöst, versuchte der Kleine, nach ihm zu schnappen.

»Wie sollen wir den denn durchfüttern? Wir haben selbst oft nicht genug«, schimpfte Runhild, und ihr gesundes Auge musterte Fenja streng.

»Wenn er überlebt, wird er sich sein Futter selbst suchen können, und vielleicht fällt für euch dann auch der ein oder andere Braten ab«, grinste der Kaufmann hämisch.

»Ihr wisst ebenso gut wie wir, was uns mit einem wildernden Hund blüht.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ihr dürft euch bloß nicht erwischen lassen. Außerdem steht ihr mit eurer Sündenesserei ohnehin außerhalb der christlichen Gemeinschaft.«

Runhild kniff die Lippen zusammen. Wortlos bedeutete sie Fenja, einen der beiden Griffe zu packen. Gemeinsam zogen sie den kleinen vierrädrigen Karren vom Hof, in dem ihr ganzer Besitz untergebracht war.

»Großartig«, knurrte Runhild. »Dafür hast du deine Seele beschmutzt – für ein paar Münzen und einen kranken Hund.«

»Er wird wieder gesund werden«, antwortete Fenja zuversichtlicher, als sie sich fühlte.

»Natürlich wird er das«, bestätigte Runhild. Tief atmete sie durch. »Der Kaufmann hat recht, der Hund wird tatsächlich für uns jagen können.«

»Erinnerst du dich an das Pferd des Kreuzfahrers, dessen Sohn du vor einigen Monaten geheilt hast?«, fragte Fenja. »Ich werde den Rüden Rufus nennen, nach dem roten Hengst mit dem glänzenden Fell.«

»Noch sieht seins aber ziemlich struppig aus«, warf Runhild brummig ein.

»Das wird sich ändern. Du wirst sehen, der heutige Tag war ein glücklicher für uns.«

Ihre Ziehmutter antwortete nicht, doch es stahl sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen.

1. Kapitel

Es war ein sehr warmer Frühlingstag im Jahr 1238. In der Grafschaft Hohenlohe bog Fenja die noch spärlich belaubten Zweige auseinander. Das Wasser des Sees lag beinahe glatt vor ihr. Dabei hatte sie eben noch geglaubt, ein Platschen zu hören. Gerade wollte sie den Ast des Busches loslassen, hinter dem sie sich verborgen hatte, als ein Mann nicht weit vom Ufer entfernt aus dem Wasser auftauchte. Offenbar war er soeben in den See gesprungen.

Im ersten Augenblick wollte Fenja vorsichtig zurückweichen, doch sie konnte sich nicht vom Anblick des Schwimmers lösen. Kraftvoll und scheinbar mühelos zog er seine Kreise. Plötzlich hielt er inne und schien sie direkt anzusehen. Ein kleiner Laut des Erschreckens entfuhr ihr, und sie schlug sich die Hand vor den Mund.

Er hatte sie gehört! Zügig schwamm er auf sie zu und richtete sich nur wenige Schritte von ihr entfernt im Wasser auf. Sein Blick tastete die Uferböschung ab. Die sanften Wellen umspielten seinen flachen Bauch.

Wie versteinert betrachtete Fenja den wohlproportionierten nassen Oberkörper und die kräftigen Arme. Die gebräunte Haut glänzte im Sonnenlicht. Das feuchte Haar hatte der fremde Mann locker im Nacken zusammengebunden. Eine etwas zu kühn geschwungene Nase ragte aus dem fein geschnittenen Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen.

Am meisten faszinierten Fenja jedoch seine Augen. Sie hatten die Farbe von hellem Bernstein, wie er an den Stränden weit im Norden des Reiches zu finden war. Jetzt kniff er sie zusammen und blinzelte.

Würde er Fenja trotz Gegenlicht entdecken? Instinktiv trat sie einen Schritt rückwärts. Das Knacken eines Zweiges unter ihrem Fuß erklang in Fenjas Ohren wie das Schlagen eines Hammers auf einen Amboss.

Sofort richtete der Mann seine Aufmerksamkeit auf den Busch. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und Fenja erkannte, wie sich seine Augen weiteten, als sich ihre Blicke kreuzten.

»He, du da, komm raus und zeig dich!«

Fenja ließ den Zweig fahren, drehte sich um und rannte den Weg zurück, als wären einhundert Dämonen hinter ihr her.

»Was ist geschehen?«, rief Runhild, als Fenja bei ihr ankam, sich außer Atem an dem Karren abstützte und Rufus sich sofort an ihr Bein drückte.

»Nichts«, keuchte sie.

»Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.«

Fenja war sicher, dass es sich bei dem Mann nicht um einen Wassergeist, sondern einen Menschen gehandelt hatte, trotz seiner ungewöhnlichen Augen. Sie wollte Runhild jedoch nicht von ihm erzählen. »Alles ist gut«, beruhigte sie die ältere Frau. »Ich habe mich lediglich beeilt.«

»Dann lass uns weiterziehen. Ich möchte bis heute Abend noch ein gutes Stück Weg nach Norden zurücklegen.«

Gehorsam zog Fenja mit ihr den Wagen weiter und zwang sich, nicht mehr an den Fremden mit den Bernsteinaugen zu denken.

Wochen später zogen Fenja und Runhild durch die Grafschaft Kevernburg. Der Weg schlängelte sich durch dicht aneinanderstehende Tannen. Wenn es dem Sonnenlicht gelang, durch das Nadeldach zu dringen, blitzte das Fell des Hundes rot auf.

Rufus sprang voraus, die Nase dicht am feuchten Boden. Er hatte sich zu einem kräftigen Rüden entwickelt, der Fenja bis an den Oberschenkel reichte. Der Pfad stieg leicht bergan und war schwer zu befahren. Die beiden Frauen mussten sich anstrengen, den Karren über den mit Wurzeln durchzogenen Weg zu ziehen, doch Runhild hatte darauf bestanden, das Kloster im Georgenthal weiträumig zu umgehen. Runhild schnaufte in dem Moment, als Fenja glaubte, hinter der nächsten Biegung ein unterdrücktes Stöhnen zu hören. Sie sah zu ihrem Hund. Rufus war stehen geblieben, hob den Kopf und stellte die Ohren auf. Ein leises Knurren kam aus seiner Kehle.

Runhild erstarrte. Sie legte den Finger an die Lippen und ließ den Griff des Handkarrens los. Beinahe lautlos ergriff sie einen starken Ast vom Wegesrand und positionierte ihn hinter einem Rad, damit der Wagen nicht wieder bergab rollen konnte. Sie nahm die eiserne Pfanne vom Wagen und schlich vorsichtig den Pfad entlang, Rufus dicht an ihrer Seite.

Fenja folgte ihnen lautlos. Ihr Blick fiel auf einen etwa faustgroßen Stein. Ein erneutes Stöhnen ließ sie danach greifen. Schnell wischte sie die Erde ab, die an der Unterseite haftete, und wog ihn abschätzend in der Hand. Sie war sehr treffsicher und der Stein ein ideales Wurfgeschoss, sollten sie in Gefahr geraten.

Doch ihre Vorsicht war unbegründet. Als sie die Biegung passiert hatten, entdeckten sie einen Mönch am Wegesrand. Mit beiden Händen hielt er sein rechtes Bein umfasst. Der Knöchel, der unter dem Saum seiner befleckten, ehemals rein weißen Tunika hervorschaute, war stark geschwollen und begann sich zu verfärben. Runhild ließ die Pfanne sinken.

Der Mann bemerkte sie erst jetzt. Für einen Augenblick vergaß er den Schmerz, als sein Blick Runhild erfasste. Fenja hatte den Eindruck, als wolle er das Kreuz schlagen, doch er besann sich und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Die Heilige Jungfrau sei gepriesen. Ihr guten Frauen, bitte helft mir, bringt mich hinunter ins Tal. Es soll euer Schaden nicht sein.«

»Wir haben anderes zu tun, Mönch«, zischte Runhild und verschränkte die Arme.

Fenja schätzte den Mann auf Ende vierzig. Sein hageres Gesicht unter dem dichten schwarzen Haarkranz, der nur wenige graue Strähnen aufwies, sah gütig aus. Sie ließ den Stein fallen und näherte sich ihm. Das schwarze Skapulier, der Überwurf seiner weißen Kutte, verriet den Zisterzienser. In ihrem Gewerbe war es ratsam, sich von der Geistlichkeit fernzuhalten. Insbesondere bei Vertretern dieses Ordens wurde Runhild außerordentlich wachsam, ohne dass sie Fenja je den Grund dafür verraten hatte.

Die hellen Augen des Mannes blickten sie bittend an. Fenja fühlte Mitleid in sich aufsteigen.

»Wer seid Ihr?«

Der Mönch machte eine fahrige Handbewegung Richtung Osten. »Ich bin Bruder Antonius, der Cellerar des Klosters Georgenthal. Ich war im Dorf Vitzerod, um unseren Besitz zu inspizieren. Auf dem Rückweg bin ich über eine Wurzel gestolpert und habe mir den Knöchel verdreht.«

Fenja hockte sich neben ihn. »Darf ich mir Eure Verletzung näher ansehen?«

Bruder Antonius gab sein Einverständnis und ächzte laut, als Fenja seinen Knöchel vorsichtig betastete. »Gebrochen ist er nicht«, stellte sie nach wenigen Augenblicken fest. »Wie weit ist es noch bis zu Eurem Kloster?«

»Etwa eine gute Stunde.«

Sie nickte und drehte sich zu Runhild um, die mit mürrischem Gesichtsausdruck das Gespräch verfolgt hatte. »Wir können ihn doch nicht so liegen lassen«, flüsterte Fenja. »Außerdem kann es nicht schaden, wenn er für unser Seelenheil einige Gebete spricht.«

Runhilds Mundwinkel wanderten ein weiteres Stück nach unten. »Dein gutes Herz wird uns noch eines Tages das Genick brechen. Also schön, bringen wir ihn ins Tal, aber nur bis vor die Klosterpforte.«

Bruder Antonius’ Augen wurden groß, als die beiden Frauen mit dem Handkarren zurück in sein Sichtfeld kamen. Er lächelte erleichtert. »So wird es natürlich viel einfacher.«

Doch zuvor bestand Fenja darauf, seinen Fuß zu behandeln. Sie kramte zwischen den Tiegeln und Töpfchen auf dem Wagen, bis sie die Arnikasalbe gefunden hatte. Behutsam bestrich sie damit den Knöchel. Anschließend umwickelte sie ihn fest mit einigen Tuchstreifen.

»Es gibt doch sicher einen Bach auf dem Klostergelände?«

»Nicht direkt, aber ganz in der Nähe.«

Fenja war zufrieden. »Kühlt dort den Fuß, sooft es geht, und lagert ihn hoch. Das hilft dem gestauten Blut, in den Körper zurückzufließen.«

Bruder Antonius grinste kurz, als wollte er fragen, wie sie sich das vorstellte, zwischen seiner Arbeit und den Stundengebeten, schwieg jedoch.

»Es ist wichtig«, betonte Fenja deshalb etwas schärfer. »Je öfter Ihr umknickt, desto schwächer werden die Muskeln.«

»Ich werde den Rat an unseren Infirmarius weitergeben«, versprach der Mönch ernst.

Gestützt von Runhild auf der einen und Fenja auf der anderen Seite, humpelte er zum Karren und ließ sich hinten auf die Ladefläche helfen.

»Zum Glück für uns geht es jetzt den Weg wieder runter«, murrte Runhild, als sie den Wagen schweigend Richtung Tal zogen. Auch Fenja war froh, dass sie den schweren Mann nicht den Berg hinaufziehen mussten, denn der Weg zog sich ohnehin lang genug.

Es war früher Nachmittag, als sie Bruder Antonius vor der Klosterpforte absteigen ließen. Obwohl Fenja nicht verstand, warum, konnte keine Bitte Runhild dazu bewegen, im Gästehaus eine Pause einzulegen und sich zu stärken. Sie lehnte auch das Empfehlungsschreiben ab, das der Mönch für sie anfertigen lassen wollte und das ihnen die Hilfe der Zisterzienser zusicherte, falls sie in Not geraten und Zuflucht in einem Kloster suchen sollten.

Lediglich sein Versprechen, für das Seelenheil der beiden Frauen zu beten, nahm sie an sowie den Reiseproviant in Form von zwei Krügen Wein, einem Stück Schinken, Getreide, Hülsenfrüchten und Brot, den Bruder Antonius ihnen noch aufdrängte.

Erst gegen späten Nachmittag hatten sie wieder die Stelle erreicht, an der sie zuvor umgekehrt waren, um ihren ursprünglichen Weg fortzusetzen. Herzhaft biss Fenja in einen der Schmalzkringel, die Antonius ihr zugesteckt hatte.

»Weshalb hast du ihm gesagt, wir reisen nach Reinhardsbrunn, um am Grab des Thüringischen Landgrafen zu beten?«, fragte sie Runhild.

Ihre Ziehmutter erlaubte sich ein kurzes Grinsen. »Es wäre verdächtig gewesen, kein Ziel anzugeben. Außerdem wollte ich ihn ein wenig aufziehen. Ich weiß, dass die Benediktiner dort ursächlich für die Verlegung seines Zisterzienserklosters vom Berg ins Tal verantwortlich waren.«

»Ich verstehe ja, weshalb du Fremden unsere Taufnamen nicht verraten willst, aber warum hast du den Geistlichen belogen? Bruder Antonius ist ein ehrenhafter Mann. Vielleicht können seine Gebete für unser Seelenheil jetzt gar nicht erhört werden.«

Augenblicklich wirkte Runhild wieder verschlossen. »Der Herr wird unsere Namen schon kennen, sofern der Mönch sein Wort hält und wirklich für uns betet.«

Fenja erstickte ihren Seufzer mit einem erneuten Biss in das fettige Gebäck. Eines Tages würde es ihr schon gelingen, Runhild die Wahrheit über ihre Angst vor Zisterziensern zu entlocken.

***

Der Windhauch, der durch die Maueröffnung fegte, blies die Hälfte der Kerzen aus. Die verbliebenen beiden flackerten heftig, warfen zuckende Schatten auf die Wand und zeichneten den verschwommenen Umriss eines Mannes nach, der sich über einen Brief beugte.

Das Pergament knisterte leicht, als er es mit verkniffenen Lippen zusammenrollte. Fahrig strich er sich über die Tonsur. Sollte die Heilige Jungfrau nach all den Jahren seine Bitten erhört haben? Wie viele Frauen mit einem blinden Auge gab es wohl, die eine Begleiterin im passenden Alter hatten?

Die Namen stimmten nicht überein, aber das hatte er auch nicht erwartet. Er traute der gerissenen Runhild durchaus zu, den Zisterziensern im Georgenthal falsche Namen genannt zu haben. Schließlich war sie seit siebzehn Jahren erfolgreich vor ihm auf der Flucht. Doch nun war der Tag gekommen, an dem sie eine Unvorsichtigkeit begangen hatte. Der Bruder, dem sie geholfen hatten, berichtete aus Dankbarkeit den größeren Zisterzienserabteien davon und bat darum, seinen Helferinnen zur Seite zu stehen, sollten sie an die Klosterpforte klopfen.

Er war sicher, dass Runhild niemals wieder in die Grafschaft Sayn reisen, geschweige denn nach Sankt Katharinenberg kommen würde.

Seine Hände begannen zu zittern, und er verschränkte die Finger ineinander. Das hölzerne Kreuz auf seiner Brust schien plötzlich schwerer zu werden. Unwillkürlich nahm er es ab und legte es vor sich auf den Tisch. Er musste Gewissheit haben, ob es sich bei der jungen Frau tatsächlich um Fenja handelte. Unruhig schritt er in dem kleinen Raum auf und ab.

Roderich!

Er war der Einzige, auf den er sich verlassen konnte. Ihn würde er nach Georgenthal entsenden, damit er die Fährte der beiden Frauen aufnahm – sie aufspürte wie ein Bluthund.

Sein Blick fiel auf das abgenommene Kreuz. Er dachte daran, was er in seinem Leben erreicht hatte. Niemand durfte ihm das nehmen. Seine Lippen verzogen sich zu einem maliziösen Lächeln. Er würde seinen Fehler von damals ausmerzen. Dieses Mal entkam Fenja ihm nicht.

***

Das Schnauben der Pferde, das Klirren der Waffen und alle anderen Geräusche des Feldlagers vor der lombardischen Stadt Brescia verstummten, als Gerald untertauchte. Einen langen Moment genoss er die Ruhe und Kühle des Wassers, das ihn umgab. Er schwamm einige Züge flussaufwärts, ehe er erneut auftauchte und sich die nassen Haare aus der Stirn strich. Sogleich griff die Augusthitze nach ihm, die sich jetzt am Abend noch nicht verflüchtigt hatte. Er kraulte bis zur nächsten Biegung, drehte sich auf den Rücken und ließ sich von der schwachen Strömung der Mella wieder den Flusslauf hinabtreiben.

Immer wenn er schwamm, dachte er an die nun schon einige Monate zurückliegende Begegnung mit dem Mädchen jenseits der Alpen. Viel mehr als ein schmales Gesicht, umrahmt von schwarzem Haar, und Augen, so blau wie ein Gebirgssee, hatte er nicht erkennen können. Zu gerne wäre er der davoneilenden Maid gefolgt. Doch seine Gewandung hatte zu weit entfernt am Ufer gelegen. Er hatte es nicht bereut, sich zum Schwimmen aus dem Heerlager geschlichen zu haben, sonst hätte er sie nie getroffen. Gerald grinste unwillkürlich. Flink wie ein Wiesel war sie davongestürzt, nachdem sie ihn sicherlich eine Weile beobachtet hatte. Wirklich bedauerlich.

Der junge Ritter beschloss, zurückzuschwimmen. Er stutzte, als neben der Stelle, an der er seine Kleidung zurückgelassen hatte, ein Mann hockte. Er trug einen weißen Waffenrock mit einem schwarzen Kreuz auf der Brust. Die hellen Augen musterten Gerald unter buschigen Brauen, während er mit einem Dolch seine Fingernägel säuberte.

Den Ritter des Deutschen Ordens hatte Gerald bereits öfter an der Seite von Heinrich von Hohenlohe gesehen, dem Deutschmeister des Ordens. Jedoch war ihm unverständlich, was der Ritter von ihm wollte. Mit dem Orden hatte Gerald nichts zu tun, und er würde sich auch bestimmt nicht anwerben lassen. Ihn hatte das Geld hierhergelockt, nicht etwa Ruhm, Ehre oder gar der Wunsch, dem Kaiser in seinem Kampf gegen den lombardischen Städtebund beizustehen.

Daheim wartete seine Zukünftige auf ihn.

Schwanhild von Deyssen war hübsch, liebenswert und die perfekte Gemahlin. Vor allem aber brachte sie eine reiche Mitgift in die Ehe. Gerald kannte sie schon seit seiner Kindheit, und ihre Väter waren befreundet. Nur aus diesem Grund hatte Diethelm von Deyssen der Vermählung seiner Tochter mit Gerald zugestimmt, der als zweiter Sohn niemals den Familienbesitz erben würde.

Doch vorher musste der junge Ritter beweisen, dass er Schwanhilds würdig war. Der Feldzug des Kaisers bot ihm dazu die Gelegenheit. Er beabsichtigte, als wohlhabender Mann zurückzukehren. Er würde heiraten und nach Diethelms Tod der Herr über die Ländereien derer von Deyssen werden. Dafür betete er beinahe jeden Abend. Gerald schwamm auf das Ufer zu. Er stieg so weit aus dem Wasser, dass es seine Hüften gerade noch bedeckte, und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust.

Der andere erhob sich. »Ziemlich leichtsinnig von Euch, unbewaffnet im Feindesland zu schwimmen.«

»Greift mich an, und Ihr werdet erfahren, dass ich mich sehr gut zu wehren weiß. Aber Ihr seid wohl kaum gekommen, um mir das zu sagen.«

Der Ritter verzog keine Miene, als er antwortete: »Der Kaiser will Euch sehen.«

Geralds Nacken wurde heiß. Seit seinem Eintreffen vor zwei Monaten war er dem Staufer nie näher als fünfzig Schritte gekommen. Weshalb wollte der Herrscher des Heiligen Römischen Reiches sich plötzlich mit einem unbedeutenden Ritter abgeben? Woher wusste er überhaupt von ihm? Das war nicht gut. Zwar galt Friedrich als großzügig, wenn ihm ein Dienst erwiesen wurde, aber auch unerbittlich seinen Feinden gegenüber, wie die Bewohner von Brescia gerade am eigenen Leib erfuhren.

»Hegt Ihr etwa die Absicht, den Kaiser warten zu lassen? Wie lange wollt Ihr denn noch dort stehen?«

Sofort ließ Gerald die Arme sinken und stieg vollends aus dem Wasser. Mit einem Schmunzeln bemerkte er den Blick des Deutschordensritters, der sich auf das Lederband an seiner Wade richtete, in dem ein Messer steckte.

»Glück für Euch, dass Ihr mich nicht angegriffen habt.«

Der Mann antwortete nicht. Stumm sah er zu, wie Gerald sich anzog. Nachdem er zum Schluss den Schwertgurt umgelegt hatte, winkte der Ritter, ihm zu folgen.

Auch ohne Führung hätte Gerald den Weg gefunden, schließlich wusste hier jeder, wo sich das Zelt des Kaisers befand. Dennoch stapfte er wortlos hinter dem Ordensritter durch das Lager.

Viele waren Friedrichs Ruf gefolgt, um ihm in seinem Kampf gegen die Stadt Mailand und ihre Verbündeten beizustehen. Die Stadt verweigerte ihre Unterwerfung, und jegliche Verhandlungen waren Ende letzten Jahres gescheitert. Nach Mailands Entschluss zum Widerstand hatten sich schließlich weitere Städte an seine Seite gestellt. Diesen Kern des sogenannten Lombardenbundes galt es nun zu zerschlagen.

Gerald schätzte das Heer auf mehrere Tausend Männer aus allen Teilen des Reiches. Hinzu kamen die Kämpfer von Verbündeten und Freunden des Kaisers. Entsprechend groß war der Lärm. Es wurde gestritten, gelacht und gewürfelt. Knappen ölten sorgfältig die Schwertklingen und putzten die Kettenglieder der Rüstungen; oder die Ritter, die keinen hatten, taten es selbst. Verschiedene Essensdüfte der unterschiedlichen nationalen Küchen mischten sich zu einem undefinierbaren Geruch, der Gerald jeglichen Appetit verschlug. Hunde streunten durch das Lager auf der Suche nach Futter. Einer wich jaulend einem Tritt aus, den ihm eine dicke Frau verpassen wollte, die in dem Kessel über einem Feuer rührte.

Sie passierten die aus Lucera stammenden sarazenischen Bogenschützen, und Gerald ahnte, dass ihr Ziel nicht mehr weit war. Als er es zum ersten Mal erblickt hatte, war er von dem verhältnismäßig schlichten, wenn auch großen Zelt des Kaisers überrascht gewesen. Er hatte mit einer erheblich prunkvolleren Unterkunft gerechnet.

Der Ordensritter bedeutete ihm zu warten und trat auf die beiden Wachen zu, die beidseitig des Eingangs standen. Leise wechselte er mit ihnen einige Worte. Einer der Männer verschwand im Inneren des Zeltes, kam kurz darauf wieder heraus und winkte Gerald heran. Er hielt ihm die Zeltplane auf, und Gerald trat ein.

Nach einem kurzen Rundblick beugte er das Knie, sah auf das platt getretene vergilbte Gras und verharrte abwartend in dieser Stellung. Friedrich II. war nicht allein. Gerade sagte er zu einem schwarzhaarigen Mann mit stechendem Blick etwas auf Volgare, der in Sizilien und Apulien vorherrschenden Umgangssprache. Gerald war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, dass es sich bei dem Besucher um Ezzelino da Romano handelte, den Schwiegersohn des Kaisers. Dieser neigte kurz den Kopf und verließ das Zelt.

»Erhebt Euch, Gerald von Aue«, befahl Friedrich.

Gerald stand auf. Er überragte den etwa mittelgroßen Kaiser um einen halben Kopf. Friedrich zeigte auf einen der hölzernen, reich verzierten Faltstühle, die um einen Tisch mit Schachbrettmuster herumstanden, und lud ihn ein, sich zu setzen.

Der hintere Teil des Zeltes war Geralds Blicken durch kostbare Stoffe verborgen. Da er dahinter kein Geräusch hörte, nahm er an, mit dem Kaiser allein zu sein.

Sein Herzschlag beschleunigte sich. Wenn Friedrich keine Zuhörer wollte, musste es sich um eine delikate Angelegenheit handeln. Die Kettenglieder ihrer Hemden klirrten leise, als die beiden Männer einander gegenüber Platz nahmen.

Gerald wunderte sich ein wenig, dass der Kaiser im Gegensatz zu vielen anderen im Lager gerüstet war. Ob er einen Ausfall der Bewohner Brescias erwartete? Eigentlich unwahrscheinlich, da sie sich hinter ihren Mauern verschanzt hatten und sich wohl kaum auf eine offene Feldschlacht mit dem Heer einlassen würden.

Friedrich trug einen weißen Waffenrock, auf dessen Brust der schwarze Adler, das Wappentier seines Königreiches Sizilien, prangte. Er stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab, legte die Fingerspitzen aneinander und lächelte einnehmend.

Gerald versuchte, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen. Er hatte schon vernommen, dass der Kaiser fähig war, die Mimik und den Ausdruck seines Gegenübers sehr genau zu lesen und zu deuten. Sofern es ihm beliebte, verstand er es äußerst geschickt, jemanden entweder zu beruhigen oder anzuspornen. Aber ebenso konnte seine Laune plötzlich umschlagen und sich sein Zorn einem Gewitter gleich über einem entladen.

Jetzt trübte jedoch kein Wölkchen den Stimmungshimmel des Kaisers, als er sich über das bartlose Kinn strich und Gerald in die Augen sah. »Wir haben Euch aus einem bestimmten Begehren heraus rufen lassen. Wir brauchen für unser Vorhaben einen Mann, der sich in der Grafschaft Sayn auskennt. Uns wurde zugetragen, dass Ihr aus der Gegend stammt. Eure Rüstung und ein mageres Pferd sind Euer ganzer Besitz. Wir vermuten, dass Ihr einem Beutel Gold bestimmt nicht abgeneigt seid.«

Vorsichtig nickte Gerald.

»Was würdet Ihr damit anfangen?«

»Wenn die Summe ausreichend ist … heiraten.«

Auf Friedrichs hochgezogene Augenbrauen hin führte Gerald aus: »Nicht weit vom Besitz meines Vaters gibt es ein Rittergut. Der Herr dort hat nur eine Tochter. Sofern ich gesund und mit gefüllten Taschen von diesem Feldzug zurückkehre, werden wir vermählt.«

»So treibt Euch die Liebe hierher?«

Wie leicht wäre es jetzt gewesen, den Kaiser in dem Glauben zu belassen. Doch ein kurzes Zucken von dessen Lidern warnte Gerald, dem Impuls nachzugeben. So räusperte er sich zunächst, um etwas Zeit zu gewinnen und sich eine geeignete Antwort zurechtzulegen. Nachdenklich rieb er über seine Nasenwurzel, bevor er dem Herrscher offen in die Augen blickte. »Es ist wohl eher das Land, das mich reizt.«

Friedrich schmunzelte. »Bestimmt gelingt es Euch, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ihr seid ein stattlicher junger Mann, und der willensstarke Ausdruck in Euren Augen erinnert uns an den Blick unserer ersten Gemahlin, Konstanze von Aragon.«

Der Kaiser machte eine ruckartige Handbewegung, als wollte er die Geister der Vergangenheit verscheuchen. »Doch kommen wir zu dem Grund, weshalb wir Euch haben rufen lassen.«

Unwillkürlich spannte Gerald die Muskeln an und beugte sich ein wenig nach vorne.

»Es wird Euch nicht verborgen geblieben sein, dass die Einwohner von Brescia sich uns heftig widersetzen. Natürlich wissen wir, dass es innerhalb der Stadtmauern Bestrebungen gibt, sich uns zu ergeben, doch bisher überwiegen die Zweifler an unserer Mildtätigkeit.«

Möglicherweise nicht zu Unrecht, dachte Gerald, hütete sich jedoch, seine Überlegungen auszusprechen.

»Wir setzen modernes Kriegsgerät ein, und Brescia zahlt es uns mit gleicher Münze zurück. Die Belagerung zieht sich schon länger hin, als es uns lieb ist, und wir wünschen eine schnelle Erledigung der Angelegenheit.«

»Und dazu braucht Ihr mich, mein Kaiser?«

Einen Augenblick lang fiel Friedrichs Maske. Der Staufer lächelte verschlagen. »Über unseren geliebten Schwager, König Heinrich von England, haben wir von einer neuartigen Waffe gehört – dem sogenannten Donnerkraut.«

Verwirrt runzelte Gerald die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Wie soll eine Pflanze Euch den Sieg bringen? Plant Ihr, die Bevölkerung zu vergiften?«

Friedrich winkte ab. »Es ist keine Pflanze, sondern ein fein gemahlenes, dunkles Pulver, das Donner erzeugen und Mauern zum Einsturz bringen kann. Es ist noch nicht bis zur Vollendung erprobt, aber der englische Alchemist, von dem Heinrich sprach, hat einen Vetter, der in der Grafschaft Sayn lebt und daran arbeitet.«

Gerald dämmerte der Zusammenhang. »Und da ich auch von dort komme, wünscht Ihr, dass ich die Alpen überquere und Euch dieses Wundermittel beschaffe?«

»Nur die Rezeptur – sofern es dem Alchemisten gelungen ist, die richtige Mischung herzustellen. Wir verfügen selbst über fähige Alchemisten. Sobald wir das richtige Verhältnis aller Zutaten kennen, werden wir Brescia die ganze Wucht unseres kaiserlichen Zorns spüren lassen. Sowie die Stadt gefallen ist, werden wir uns gegen Mailand wenden und damit sowohl dem Heiligen Vater in Rom als auch dem Lombardenbund beweisen, dass niemand gegen uns bestehen kann.« Ein Faustschlag begleitete das Ende seiner Rede, der die Tischplatte erzittern ließ.

Gerald konnte sich nicht vorstellen, dass es ein solches Donnerkraut wirklich gab. Andererseits hatte Friedrich überall seine Spione, insofern war sicherlich etwas Wahres an dieser geheimnisvollen Erfindung.

»Wo finde ich diesen Alchemisten?«

»Er soll in Blankenberg ansässig sein. Ist Euch der Ort ein Begriff?«

»Selbstverständlich, dort befindet sich eine Burg des Grafen. Ab und an stattet er ihr einen Besuch ab, und ich selbst war schon öfter dort.«

Der Staufer wirkte sehr zufrieden. »Ausgezeichnet. Demnach kennt Ihr Euch in der Siedlung bestens aus. Es ist nämlich von allergrößter Wichtigkeit, dass Euer Auftrag geheim bleibt. Niemand darf den wahren Grund Eurer Reise erahnen. Sobald Ihr die Anleitung zur Zubereitung des Pulvers in Händen haltet, kehrt Ihr sofort zu uns zurück.«

»Das bedeutet also, dass nichts auf mich als Euren Boten hinweisen darf. Ich erhalte auch kein Schreiben an den Grafen, mich zu unterstützen?«

»So ist es. Was glaubt Ihr, wird der Papst dazu sagen, wenn ihm zugetragen wird, dass wir gedenken, uns einer solchen Wunderwaffe zu bedienen? Wir werden ein weiteres Mal exkommuniziert.«

»Demnach darf auch Graf Heinrich von Sayn nichts davon wissen? Aber er ist Euch sehr ergeben.«

»Selbstverständlich wissen wir um Graf Heinrichs Treue, aber er ist auch sehr gottesfürchtig. Wir würden ihn in einen Konflikt stürzen, und das wollen wir unserem Untertanen nicht zumuten. Ihr müsst dem Alchemisten deshalb die Rezeptur entlocken, ohne dass dieser misstrauisch wird und den wahren Grund Eures Interesses daran erfährt.«

Gerald blies die Wangen auf. Als wenn sich Friedrich auch nur einen Hauch um das Gewissen des Grafen scherte, obgleich er einer der mächtigsten Fürsten im Rheinland war.

»Wir haben nie behauptet, dass es einfach werden würde«, sagte der Kaiser langsam, der Geralds Schweigen offenbar als Zaudern auffasste.

»Das ist es nie, aber wenn die Belohnung stimmt …« Gerald ließ den Satz unvollendet im Raum stehen.

Friedrich legte einen ledernen Beutel auf den Tisch, in dem es vernehmlich klimperte. »Dieses Säckchen enthält so viele Münzen, wie Euer Schwert und Eure Rüstung wert sind. Beides müsst Ihr hier zurücklassen. Nicht der Hauch eines Verdachtes darf auf Euch fallen, eine Verbindung zu uns zu haben. Nehmt Euer mageres Pferd und schließt Euch einer Reisegruppe an. Wenn Ihr mit der Rezeptur zu uns zurückkehrt, erhaltet Ihr Rüstung und Waffe zurück und doppelt so viel Gold, wie wir Euch bereits gegeben haben. Damit ist Eure Zukunft gesichert.«

»Und wenn ich es nicht schaffen sollte?«, wagte Gerald einzuwenden.

Der Staufer zuckte mit den Achseln. »In diesem Fall haben wir zumindest keinen monetären Verlust erlitten. Und nun zieht Euch aus. Ihr werdet neue Kleidung erhalten.«

***

Instinktiv zog Roderich die Kapuze seines Mantels über den Kopf, als er durch die Pforte schritt und das Kloster Georgenthal verließ. Ein scharfer Wind zerrte an dem Stoff, unter dem er sein Gewand verborgen hatte, das ihn als Konverse der Zisterzienser auswies.

Es war leicht gewesen, Bruder Antonius alle Einzelheiten über die Hilfsbereitschaft der beiden Frauen zu entlocken. Insbesondere war er voll des Lobes über die Güte der Jüngeren. Natürlich stimmten die Namen nicht, und Roderich vermutete, dass sie dem Mönch ein falsches Reiseziel genannt hatten. Aber zwei wichtige Anhaltspunkte hatte er bekommen: Die junge Frau war schwarzhaarig, wie sein Auftraggeber gehofft hatte, und sie wurden von einem großen Hund mit rotem Fell begleitet.

Es sollte schon mit dem Teufel zugehen, wenn er ihre Fährte nicht finden und beide überwältigen könnte. Hastig bekreuzte er sich, wie immer, wenn sich Satan in seine Gedanken schlich.

Das Einzige, was ihm ein wenig Sorgen bereitete, war der Hund. Roderich war stark, unerbittlich und in der Lage, Menschen zu töten, aber nicht unbedingt kampferfahren. Es mit zwei Frauen und einem Hund gleichzeitig aufzunehmen wäre nicht ratsam, wenn sein Plan sicher gelingen sollte. Grübelnd schritt er auf den Baum zu, unter dem er das Bündel mit unauffälligerer Kleidung versteckt hatte. Er musste die beiden Frauen trennen, sie einzeln überwältigen, vielleicht sogar zuerst den Hund töten.

Roderich öffnete den Beutel und zog die braune Tunika hervor. Es würde sich schon eine günstige Gelegenheit ergeben, wenn er ihnen unauffällig folgte. Alles, was er tun musste, war zu warten.

Aber zuerst musste er sie finden. Es war sicherlich nützlich, zur Heiligen Jungfrau zu beten und auf deren Hilfe zu vertrauen. So setzte er sich unter die Linde, legte die Hände aneinander und bat die Gottesmutter, ihn bei seiner Mission zum Wohle seiner Ordensgemeinschaft zu unterstützen.

2. Kapitel

Am späten Nachmittag verloren die Strahlen der Augustsonne im Herzogtum Baiern deutlich an Kraft, schafften es nicht mehr, die Baumwipfel zu durchdringen.

»Dieser Platz ist gut«, bestimmte Runhild.

Vor ihnen öffnete sich eine kleine Höhle, deren Eingang halb zugewuchert war. Sie entdeckten ihn durch Zufall, nachdem Rufus einen Fuchs aufgescheucht hatte. Umgeben von mächtigen Bäumen, befand sich die Höhle oben auf einem Hügel. Wenige Schritte weiter lichtete sich der Wald, und sie konnten am Fuße des sanften Abhangs ein Dorf erkennen. Ein kleiner Bach wand sich zwischen den saftig grünen Wiesen hindurch.

»Geh hinunter und schau, ob du noch nicht erblühte Minze findest. Dabei kannst du gleich im Dorf verbreiten, dass zwei Heilerinnen in der Nähe sind. Vielleicht braucht jemand unsere Hilfe. Ich richte derweil unseren Unterschlupf her. Lass dir aber nicht zu viel Zeit, es wird bald dunkel.«

Fenja pfiff nach Rufus und machte sich auf den Weg.

Ausgelassen sprang der Hund durch das Gras, schnappte nach Schmetterlingen, die vor seiner Nase tanzten, schnüffelte an Mauselöchern und buddelte an Maulwurfshügeln. Der Rüde hatte sichtlich seinen Spaß, und auch Fenja zauberte seine Ausgelassenheit ein seltenes Lächeln auf ihr Gesicht.

Rufus hatte viel Freude in ihr Leben gebracht. Hin und wieder erjagte er einen Hasen und bereicherte damit ihren Speiseplan.

Wie gerne strich Fenja über sein glänzendes Fell und genoss besonders nachts die Wärme, die der Hundekörper ausstrahlte. Er war für sie wie ein Familienmitglied. Nicht, dass sie je eine gehabt hätte. Solange sie denken konnte, war sie bei Runhild gewesen. Woher sie stammte, wusste sie nicht. Runhild hatte lediglich gesagt, dass ihre Eltern erschlagen worden waren und sie Fenja, versteckt unter Stroh, in der Ecke der Hütte gefunden hatte.

Je älter sie wurde, desto mehr hatte sie Runhild bedrängt, mit ihr dorthin zurückzukehren. Vielleicht fand sich nach all den Jahren doch noch ein Hinweis. An eine solche Gräueltat erinnerten sich die Nachbarn bestimmt, und einer könnte etwas gesehen haben. Doch sobald sie die Sprache darauf lenkte, wiegelte Runhild ab. Sie behauptete, es könne niemand etwas bemerkt haben, weil die Hütte abseits lag. Fenja solle endlich Ruhe geben und sich freuen, überlebt zu haben.

Es machte Fenja wütend, dass die Mörder entkommen waren und damit niemals zur Rechenschaft gezogen würden. Oft hatte sie als Kind daran gedacht, sich auf die Suche zu begeben, sobald sie erwachsen war. Doch bisher brachte sie es nicht übers Herz, Runhild zu verlassen. Sie wusste ja noch nicht einmal, wo sie anfangen sollte zu suchen. Wenigstens den Ort musste sie Runhild nun endlich einmal entlocken. Fenja seufzte und nahm sich fest vor, ihre Ziehmutter erneut danach zu fragen und nicht aufzugeben, bis sie eine Antwort erhielt.

Sie hatte die Talsohle erreicht und hüpfte über das kleine Gewässer. Mit einem Blick sah sie, dass sie die begehrte Minze hier nicht finden würde, also entschloss sie sich, zuerst das Dorf aufzusuchen. Anschließend würde sie auf dem Rückweg ein Stück am Bach entlangwandern. Vielleicht würde sie später fündig.

***

Roderich rieb sich die Hände. Verborgen hinter einem Baumstamm, beobachtete er, wie das Mädchen und der Hund den Hügel hinunterliefen. Er hatte länger gebraucht als vermutet, bis er die Spur der beiden Frauen gefunden hatte. Nun folgte er ihnen schon seit vier Tagen in gebührendem Abstand, damit der Hund nicht misstrauisch wurde. Im Gewimmel eines kleinen Marktes war er nahe genug an ihnen vorbeigegangen, um den beiden in die Gesichter zu blicken. Runhild hätte er unter Tausenden sofort wiedererkannt. Ihr Haar war nun grau, ihr Gesicht erheblich verhärmter als vor siebzehn Jahren.

Und das Mädchen? Fenja war kaum ein Jahr alt gewesen, als ihre Familie getötet wurde. Dennoch wusste Roderich sofort, dass sie die Richtige war. Fenja glich ihrer Mutter wie ein Zisterziensermönch dem anderen. Noch am selben Tag hatte er nach dem Verlassen des Marktes einen Schreiber aufgesucht und einen Brief aufsetzen lassen, in dem er berichtete, dass es sich tatsächlich um die Gesuchten handelte. Nach erfolgreichem Abschluss seines Auftrages würde er sofort nach Sankt Katharinenberg heimkehren.

Der harzige Duft der Rinde stieg Roderich in die Nase und lenkte seine Aufmerksamkeit erneut auf das Mädchen.

Fenja hatte die Talsohle erreicht, sprang über einen Bach und schritt auf das Dorf zu. Wahrscheinlich wollte sie dort nachfragen, ob jemand der Hilfe einer Heilerin bedürfte. Roderich hatte herausgefunden, dass die beiden auf diese Weise ihren Lebensunterhalt bestritten und auch hin und wieder selbst gemachte Salben und Tinkturen verkauften. Immerhin war es der Alten so gelungen, Fenja großzuziehen und ihr etwas beizubringen. Auch wenn ihr dieses Wissen gegen ihn nicht weiterhelfen würde.

Mit gerunzelten Brauen beobachtete er, wie Fenja in einer der Hütten verschwand. Er wartete noch eine ganze Weile, bis sich die Hüttentür erneut öffnete und eine Frau einem Jungen etwas zurief, der mit zwei weiteren auf der Straße hockte. Der sprang auf und lief aus dem Dorf hinaus in Richtung der Felder. Offenbar wurde er geschickt, jemanden zu holen.

Roderich war sich sicher, dass Fenja nicht so schnell zurückkehren würde. Er hatte ausreichend Zeit, Runhild einer Befragung zu unterziehen, ehe er ihre Seele in die Hölle schickte. Er verließ sein Versteck und überprüfte den Sitz seines Dolches, dessen Scheide er mithilfe von zwei Bändern an seinem Unterarm befestigt hatte, sodass sie durch den Ärmel verdeckt wurde.

Runhild hörte ihn nicht, drehte sich erst um, als sein Körper ihr das Licht nahm, das durch den Höhleneingang fiel. Sie kniff das gesunde Auge zusammen, um es einen Augenblick später erschrocken aufzureißen.

»Wie ich sehe, hast du mich erkannt«, stellte Roderich gleichgültig fest.

»Mörder«, schleuderte sie ihm entgegen. »Wie hast du mich gefunden?«

Er trat einen Schritt näher, stellte amüsiert fest, wie Runhild sich hektisch nach etwas umsah, das sie zur Abwehr benutzen konnte.

»Fenja und du«, begann er schleppend und bemerkte mit Genugtuung, wie sie zusammenzuckte, »hätten dem Zisterzienser aus Georgenthal besser nicht geholfen. Er hatte nichts Eiligeres zu tun, als eure Hilfe zu preisen und zu bitten, euch zu unterstützen, sofern ihr darum ersuchen würdet. Natürlich wissen wir, dass du das niemals tun würdest. Deshalb wurde ich ausgesandt, euch zu finden.«

»Um das zu vollenden, was euch damals misslungen ist?« Runhild klang verbittert. »Weshalb lässt du Fenja nicht gehen? Sie stellt keine Gefahr für euch dar.«

»Es ist nicht am mir, das zu beurteilen«, antwortete Roderich scharf.

»Wir haben nie versucht, Rache zu üben. Das muss doch auch ER erkennen.«

»Dein Schützling war damals noch viel zu klein. Jetzt ist sie erwachsen und kann zu einer Bedrohung werden. Du verstehst sicherlich, dass wir das unter allen Umständen verhindern müssen.«

Runhild trat einen Schritt zur Seite, näher an einige verstreut liegende Gesteinsbrocken heran. Roderich durchschaute ihre Absicht und machte einen Satz auf sie zu. Er riss sie von den Füßen, presste ihre Arme auf den felsigen Boden und hockte sich breitbeinig über sie. »Was hast du Fenja erzählt?«

»Gar nichts.«

»Und das soll ich dir glauben?« Er verstärkte den Griff um ihre Handgelenke.

»Bei allen Heiligen, ich sage die Wahrheit. Sie kennt weder ihre Vergangenheit und Herkunft, noch weiß sie, dass ihre Familie aus Raffgier sterben musste.«

»Es war keine Gier, sondern Gerechtigkeit«, schrie er.

Feine Speicheltropfen trafen Runhilds Gesicht. Sie presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Roderich umklammerte ihre Gelenke mit einer Hand und zückte seinen Dolch. Dicht hielt er ihn vor ihr gesundes Auge. »Ich bin in Versuchung, dir auch dieses zu nehmen, bevor ich dich töte.«

Das entfernte Kläffen eines Hundes jagte Roderich einen Schauer über den Rücken. Kam Fenja etwa schon zurück? Möglicherweise in Begleitung von Dorfbewohnern? Die Zeit drängte. Von Runhild würde er nichts erfahren außer weiteren Lügen. Die Alte musste seine Ablenkung gespürt haben, vielleicht hatte sich sein Griff auch unbewusst gelockert. Plötzlich bäumte sie sich unter ihm auf. Es gelang ihr, eine Hand zu befreien, und sie schlug ihm schreiend ins Gesicht. Das Gebell wurde lauter.

»Fenja, lauf weg!«, brüllte sie, seine Hand mit dem Messer umklammernd.

Roderichs Faust traf ihr Kinn. Runhilds Kopf flog zur Seite, und ihre Finger rutschten von seinem Handgelenk ab. Er riss den Dolch hoch und stieß zu.

***

Am Anfang des kleinen Dorfes, das aus wenigen, meist mit Stroh gedeckten Unterkünften bestand, traf Fenja als Erstes auf eine ältere Frau, die vor einer lehmverputzten Hüttenwand saß und ein mageres Huhn rupfte. Sie schaute auf, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Sei gegrüßt«, nickte Fenja ihr zu. »Meine Mutter und ich sind Heilerinnen. Weißt du, ob jemand im Dorf Hilfe braucht?«

Die Frau deutete mit dem dürren Zeigefinger auf eine der Hütten. »Versuche es bei Otmar. Seine Tochter hat einen hartnäckigen Husten.«

Fenja bedankte sich, umging drei kleine Jungs, die auf der staubigen Straße mit Kieseln spielten, und klopfte wenig später an die schiefe Eingangstür. Eine kleine Frau mit einer fleckigen Schürze und einem verschwitzten Gesicht öffnete ihr. Fenja sagte ihr Sprüchlein auf und wurde in die Hütte gebeten, die lediglich aus einem Raum bestand.

Innen war es dunkel und stickig. Sie brauchte einen Moment, bis sich ihre Augen an das trübe Licht gewöhnten. Über der offenen Feuerstelle hing ein Kessel, in dem es sanft brodelte. Der Schein der Flammen war die einzige Lichtquelle, die lediglich die nähere Umgebung erhellte. Rufus drückte sich dicht an sie.

Fenja taumelte einen Schritt zurück und stieß die Tür wieder auf, um mehr Licht und vor allem Luft hereinzulassen. Sie, die überwiegend im Freien lebte, glaubte, nicht mehr atmen zu können. Jetzt erkannte sie in der gegenüberliegenden Ecke ein Strohlager, auf dem wohl die ganze Familie schlief. Dort lag ein schmuddelig anmutendes Mädchen von etwa vier Jahren und sah sie aus geröteten Augen an.

»Das ist Hildegard«, erklärte die Mutter und stopfte sich eine Haarsträhne zurück unter das Kopftuch. »Sie hustet schon seit einigen Wochen.«

Zur Bestätigung bäumte sich die Kleine mit einem Keuchen auf, das Fenja an ein heiseres Bellen erinnerte. Es dauerte ein Weilchen, ehe der Anfall vorüber war und das Kind ermattet auf das Stroh zurücksank.

Die junge Heilerin eilte zu dem Mädchen, das glasigen Schleim neben das Lager auf den festgestampften Lehmboden gespuckt hatte. Sanft fuhr sie Hildegard über das verschwitzte Köpfchen. »Es wird alles wieder gut«, versuchte sie, die Kleine zu trösten. »Gemeinsam werden wir deinen Husten wieder dahin schicken, wo er herkam.«

Der Hund legte sich neben dem Mädchen nieder. Zaghaft streckte es die Hand nach dem Tier aus und lächelte ein wenig, als Rufus sich streicheln ließ.

Fenja wandte sich zu der Mutter um. »Deine Tochter braucht vor allem frische Luft. Um ihr das Atmen zu erleichtern, gib ihr ein feuchtes Tuch, wenn es draußen zu warm ist. Wir haben wirksame Kräuter dabei. Ich stelle dir eine Mischung aus Huflattich, Spitzwegerich, Thymian und Fenchel zusammen. Daraus bereitest du ihr einen Tee.«

»Wir haben aber kein Geld«, sagte die Frau. »Ich kann dir höchstens ein paar Eier geben.«

»Wunderbar«, willigte Fenja ein. »Kann mich jemand begleiten und die Kräuter zu euch bringen?«

Die Frau ging zur Tür und rief etwas nach draußen. »Der Nachbarjunge holt meinen Gemahl und meinen Sohn vom Feld. Das Essen ist ohnehin fertig.« Die Frau trat in die Tür und rief einem der Knaben, an denen Fenja vorher vorbeigekommen war, etwas zu.

Wenig später wurde der Hütteneingang erneut verdunkelt. Der breitschultrige Bauer und ein junger Mann, den Fenja aufgrund der Ähnlichkeit sofort als seinen Sohn erkannte, betraten die Hütte. Die Mutter stellte eine hölzerne Suppenschüssel auf den Tisch und erzählte dem Hausherrn hastig, was die fremde Frau mit dem Hund in ihrer Hütte wollte. Er brummte eine unverständliche Antwort, setzte sich und fiel gemeinsam mit seinem Sohn hungrig über das Essen her.

Fenja hatte dankend abgelehnt, sich aber etwas von der Suppenbrühe in eine kleine Schüssel füllen lassen und flößte sie dem Mädchen Löffel für Löffel ein. Sie bemerkte, wie die Augen des Jungen immer wieder zu ihr hinüberblickten. Sie fand ihn ganz ansehnlich, mit den hellen Haaren und den Sommersprossen. Aber mit ihm anzubändeln war nicht in ihrem Sinn. Runhild hatte sie immer vor Männern gewarnt, besonders wenn sie jung und hübsch waren: »Sie wollen immer nur eins von einem Mädchen, und danach ist es für sie wertlos.«

Ungebeten tauchte aus Fenjas Erinnerung ein Paar hellbrauner Augen auf. Es war ihr immer noch nicht gelungen, den Fremden vom See zu vergessen. Sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich wieder dem kranken Mädchen zu.

Hildegard hatte brav den letzten Rest der Brühe geschluckt, und Fenja erhob sich. Rufus tat es ihr gleich.

Augenblicklich sprang auch der junge Mann auf und wischte sich mit dem zerschlissenen Hemdsärmel über den Mund. »Ich begleite dich.«

»Ich auch«, sagte der Vater zu Fenjas Überraschung. Misstrauisch zog sie die Augenbrauen zusammen. »Keine Sorge, Mädchen«, beruhigte sie der Bauer. »Ist nur zu deiner Sicherheit. Jetzt, im Erntemonat, treibt sich hier allerhand Gesindel herum.«

So ganz glaubte Fenja ihm das nicht, aber sie hatte immer noch Rufus an ihrer Seite, der sie vor ihm beschützen würde. Dankend nahm sie den kleinen Weidenkorb der Bäuerin mit einer Handvoll Eier entgegen und machte sich mit ihren Begleitern auf den Weg.

Kaum hatten sie das Dorf verlassen, hielt Otmar an und schnürte sein verschwitztes Hemd auf. Fenja wich einen Schritt zurück, und Rufus knurrte leise.

»Ich wollte mein Weib nicht beunruhigen, aber ich bitte dich, dir mal meine Schulter anzusehen.« Er zog das Hemd über den Kopf, und Fenjas Blick wurde von der eitrigen Schnittwunde auf dem Oberarm angezogen.

Autor