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Die Tochter des Präsidenten

Als Buch hier erhältlich:

Der neue atemberaubende Thriller von Bill Clinton und James Patterson

Die Familie des Ex-Präsidenten und Navy SEAL Matthew Keating steht auf der Todesliste eines der weltweit gefährlichsten Terroristen. Nachdem eine gescheiterte Militäraktion in Libyen ihn seine zweite Amtszeit gekostet hat, lebt er nun mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter im ländlichen New Hampshire. Alles, was er will, ist, mit seiner Familie ein ruhiges, anonymes Leben zu führen. Als seine Tochter entführt wird, helfen ihm jedoch nicht seine politischen Verbindungen oder die Macht, die er als Präsident hatte, seine Familie zu schützen, sondern sein hartes SEAL-Training. Kann er seine Tochter vor den Terroristen in Sicherheit bringen, bevor es zu spät ist?

»Ich hatte mir nie erträumt, ein Buch mit einem Meistererzähler wie James Patterson zu schreiben – geschweige denn ein zweites! Ich war so dankbar für den Erfolg des ersten Romans, und ich könnte mir vorstellen, dass Leserinnen und Leser heute Die Tochter des Präsidenten vielleicht ebenso gerne lesen, wie ich daran gearbeitet habe.« Bill Clinton

Pressestimmen für The President is Missing:

»Patterson weiß, wie man literarisch Spannung erzeugt, Clinton hat exklusives Wissen über die Abläufe im Weißen Haus und einen einmaligen Einblick in die Seele eines Präsidenten.«
Der Spiegel

»Ein großer Roman.«
New York Times

»The President Is Missing hat alle Zutaten für einen politischen Thriller erster Güteklasse.«
dpa

»Bill Clintons Politthriller-Debüt ist patriotisch, staatstragend.«
Deutschlandfunk Kultur

»Unterhaltsam, spannend und sehr präsidential.«
ZDF

»Tadelloser Plot, präziser Stil.«
Sunday Times

»‘Die Tochter des Präsidenten‘ ist ein gründlich konstruierter und routiniert erzählter Thriller, dem man die Erfahrung eines der meistgelesenen Autoren aller Zeiten anmerkt.« Johannes Baumstuhl,Galore, 09.06.2021

»Fünf von Fünf Sternen.« Lebensart Kiel, 01.08.2021

»Wer Hollywood-Action á la „Air Force One“ liebt, ist hier richtig.« OÖ Nachrichten, 21.08.2021


  • Erscheinungstag: 07.06.2021
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749951215
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Robert Barnett, unser Anwalt und Freund, hat uns davon überzeugt, bei The President Is Missing zusammenzuarbeiten. Das hat ziemlich gut funktioniert. Dann – und vielleicht hätten wir gewarnt sein sollen – hat er uns zu Die Tochter des Präsidenten überredet. Wir sind froh darüber, ein weiteres Mal auf Bob gehört zu haben.

Gut gemacht, Counselor.

Obwohl Brendan DuBois zu Hause in New Hampshire Schutz gesucht hatte, war er bei allen Recherchen, jedem Entwurf und mehr Textversionen dabei, als wir zählen möchten. Brendan war unser Fels in der Brandung – und manchmal der harte Hund, den wir brauchten.

KAPITEL 1

2.00 UHR ORTSZEIT

GROßE SYRTE VOR DER LIBYSCHEN KÜSTE

An Bord eines Hubschraubers MH-60M Black Hawk in der Version Night Stalkers für Spezialeinheiten, Codename Spear One, sieht Navy Chief Nick Zeppos vom SEAL-Team Sechs auf seine Armbanduhr. Vor sechs Minuten ist er mit seinem Team von dem amphibischen Angriffsschiff USS Wasp gestartet, um in tiefster Nacht zu einem hochkarätigen Ziel zu fliegen. Mit etwas Glück werden seine Crew und er – sowie die anderen SEALs an Bord des zweiten Black Hawk, Codename Spear Two – Asim al-Aschid lange vor Sonnenaufgang aufspüren und liquidieren.

Zeppos nimmt sich kurz die Zeit, seine Teammitglieder zu mustern, die ihn in zwei beengten Sitzreihen umgeben. In der lauten, vibrierenden Kabine schweigen die meisten, während manche aus Plastikflaschen Wasser trinken und andere mit zwischen den Knien gefalteten Händen nach vorn gebeugt dasitzen. Der Pilot und sein Co-Pilot vom berühmten 160th Special Operations Aviation Regiment Airborne fliegen den Black Hawk nach ihren grün und blau leuchtenden Instrumenten im Tiefstflug kaum zehn Meter über der kabbeligen See. Zeppos weiß, dass sich jeder SEAL in der nur schwach beleuchteten Kabine jetzt an seine Ausbildung erinnert und auf seinen Auftrag konzentriert.

Die Liquidierung von Asim al-Aschid.

Darauf arbeiten die US-Geheimdienste und das Militär seit Jahren hin. Zeppos hofft, dass sie nach vierjähriger Vorbereitung heute Nacht den Jackpot gewinnen werden.

SEAL-Teams und Special Forces haben schon vorher führende Terroristen gejagt – vor allem Osama bin Laden, Abu Bakr al-Baghdadi und ihre vielen Stellvertreter und Verbündeten: Anführer, die im Schatten blieben, Befehle erteilten und sich nicht die Hände schmutzig machten, außer dass sie körnige Videos und blumige Versprechen von Tod und Vergeltung produzierten.

»Gleich sind wir über dem Strand!«, kündigt der Crewchief des Night Stalkers an. So fliegen sie nach Libyen ein, diesen von inneren Konflikten zerrissenen Staat, ein perfekter Brutkasten oder Zufluchtsort für Terroristen wie Asim al-Aschid.

Al-Aschid ist jedoch anders als andere Anführer von Terrororganisationen.

In den letzten Jahren sind Videos aufgetaucht, die Aktionen seiner Gruppe dokumentieren. Jedes zeigt al-Aschid im Mittelpunkt eines blutigen Chaos, wobei er auf ein geheimes Netzwerk von Unterstützern vertraut, die erst im letzten Augenblick für ihn tätig werden, um sofort wieder zu verschwinden.

Asim, der in einem belebten Einkaufszentrum in Belgien einen Fernzünder hochhält und gelassen den Knopf drückt, dann der dumpfe Knall, der durch die Passage hallt und die Kamera zittern lässt – aber nicht genug, um die sich rasch ausbreitende Wolke aus Rauch und Staub zu verbergen –, oder die schreiend vorbeilaufenden Shopper mit blutigen Gesichtern oder gebrochenen Armen.

Asim auf einer Pariser Straße mit einem Kameramann hinter sich unterwegs, wie er ein Sturmgewehr unter seinem langen Regenmantel hervorzieht und auf Gruppen von Passanten schießt, wobei er sich auf Frauen und Kinder konzentriert, bis ein weißer Van neben ihm hält und ihn unbehelligt in Sicherheit bringt.

Asim, der in der sudanesischen Wüste hinter zwei an Armen und Beinen gefesselten schluchzenden Mitarbeiterinnen einer UN-Hilfsorganisation steht und gelassen von einer zur anderen geht, ein großes Schwert schwingt und beide enthauptet, sodass ihr Blut seine Kleidung bespritzt.

Chief Zeppos streckt die Beine, zieht sie wieder an. Zwei Einsätze hat er bereits mitgemacht – einer im Jemen, einer im Irak –, wo gute Chancen bestehen sollten, Asim anzutreffen, aber gut war nicht gut genug gewesen. Beide Unternehmen waren erfolglos gewesen und hatten nichts gebracht als verwundete SEALs, zerschossene Hubschrauber und allgemeine Frustration.

Zeppos hofft jedoch, dass es beim dritten Mal endlich klappen wird.

Es gibt weitere Videos, die zu grausam sind, um veröffentlicht werden zu können. Eine afghanische Lehrerin, die an einen Felsen gekettet mit Benzin übergossen und angezündet wird. Ein nigerianischer Dorfältester, der von Boko-Haram-Kämpfern festgehalten wird, während Asim seine aufgereihten Familienmitglieder abschreitet und einem nach dem anderen die Kehle durchschneidet.

Und Boyd Tanner …

Zeppos wirft einen Blick aus dem nächsten Fenster – er will nicht an Boyd Tanner denken, dessen Todesursache ein innerhalb der Special Forces sorgsam gehütetes Geheimnis ist – und sieht am Horizont den hellen Lichtschein, der die rasch wiederaufgebaute Hafen- und Hauptstadt Tripolis bezeichnet. Im Rahmen ihres Projekts Neue Seidenstraße haben die Chinesen hier und in anderen armen Staaten weltweit massive Entwicklungshilfe geleistet.

Öffentlich behauptet die chinesische Regierung, als aufstrebende Weltmacht nur ihren Reichtum und ihr Wissen teilen zu wollen. In vertraulichen Besprechungen ist Zeppos jedoch über die wahren Ziele der Chinesen informiert worden: die Sicherung von Ressourcen, Verbündeten und möglichen Militärstützpunkten, damit China niemals mehr wie so oft in seiner langen Geschichte isoliert und gedemütigt werden kann.

Der Lichtschein am Horizont verblasst. Spear One und Spear Two überfliegen jetzt die Dünenlandschaft der libyschen Wüste, in der sich vor vielen Jahrzehnten Deutsche und Engländer erbittert bekämpft haben und in der ihre verrosteten Panzer und Lkw noch immer in dem gnadenlosen Sand liegen.

Vor ihnen waren mal die Italiener hier, denkt Zeppos, und jetzt die Chinesen.

Keine große Sache.

Er fängt an, seine Ausrüstung zu überprüfen.

Der Crewchief meldet sich über die Bordsprechanlage.

»Chief, ein Anruf für dich«, sagt er.

Zeppos drückt seine Sprechtaste. »Von wem? Vereinigter Generalstab?«

»Nein, Nick«, sagt der Pilot. »Der garantiert nicht.«

Scheiße, denkt er. Wer muss mich jetzt belästigen?

»Stell ihn durch«, verlangt er, und dann sind knackende statische Störungen und die Stimme eines Mannes zu hören, die ihm aus Rundfunk und Fernsehen vertraut ist.

»Chief Zeppos«, sagt die Männerstimme, »hier ist Matt Keating. Entschuldigen Sie die Störung, ich weiß, dass Sie beschäftigt sind und ich kostbare Sekunden vergeude. Aber ich wollte Sie wissen lassen, dass ich nichts lieber täte, als jetzt bei Ihnen mitzufliegen.«

»Ah, vielen Dank, Sir«, sagt Zeppos mit erhobener Stimme, damit der Präsident ihn hören kann.

Keating sagt: »Ich habe volles Vertrauen, dass Sie und Ihr Team Ihren Auftrag durchführen werden. Daran zweifelt hier niemand. Ich stehe voll hinter Ihnen. Hoffentlich steckt ihr diesen Hundesohn in einen Leichensack – für unser Land, für die SEALs und vor allem für Boyd Tanner. Keating, Ende.«

»Ja, Sir«, sagt Zeppos, teils ehrfürchtig, weil der Mann ihn persönlich angerufen hat, teils von seinen aufrichtigen Worten berührt. Und trotzdem muss Zeppos sich widerstrebend eingestehen, dass er sauer ist, weil der Kerl ihn jetzt, mitten in einer Mission, angerufen hat!

Scheiße, denkt er. Politik kann einen Mann echt ungut verändern. Dann beurteilt er den Präsidenten nachsichtiger. Keating war einer von ihnen gewesen. Und er wusste von Boyd Tanner.

Nur wenige durften wissen, wie er gestorben war – jedenfalls nicht bei einer Einsatzübung, wie seinen trauernden Angehörigen mitgeteilt worden war.

In Wirklichkeit war er letztes Jahr nach einem brutalen Feuergefecht in Afghanistan verwundet und kaum noch lebend gefangen genommen worden. Asim al-Aschid und seine Kämpfer hatten Boyd Tanner vor laufender Kamera entkleidet und in einen Hof gezerrt.

Daraufhin hatte Asim den Schwerverwundeten mit einem Hammer und Nägeln an einem knorrigen Baum gekreuzigt. Das Video hielt die qualvolle Stunde fest, in der Tanner dort hing, bevor die Terroristen sich langweilten und ihm die Kehle durchschnitten.

Einige Sitze weiter in Richtung Heck wird gelacht. Zeppos beugt sich nach vorn und sieht, wie einer aus seiner Crew – Kowalski – etwas hochhält, das wie ein Speer mit Metallspitze aussieht.

Zeppos fragt laut: »Was zum Teufel willst du mit diesem Ding?«

Kowalski hält lachend den Speer hoch. »Der ist für Asim al-Aschid«, schreit er. »Sobald seine Überreste identifiziert sind, sollten wir seinen Kopf auf diesen Spieß stecken und ins Oval Office bringen! Glaubst du nicht, dass der Präsident das zu schätzen wüsste?«

Erneutes Lachen, und Zeppos lässt sich grinsend in seinen unbequemen Sitz zurücksinken.

Yeah.

Dies ist eine gute Nacht für ihn und seine Kameraden, um den Tod so vieler Unschuldiger zu rächen und Asim al-Aschid endlich zu stellen, ihm ein paar Sekunden Zeit zu geben, damit er weiß, mit wem er’s zu tun hat, bevor er mit zwei Schüssen in die Brust und einem in die Stirn erledigt wird.

Der abgedunkelte Black Hawk und sein schemenhafter Begleiter rasen durch die Nacht weiter.

KAPITEL 2

2.15 UHR ORTSZEIT

BOTSCHAFT DER VOLKSREPUBLIK CHINA, TRIPOLIS

In dem großen Empfangssaal im Erdgeschoss der chinesischen Botschaft an der Ecke Menstir Street und Gargaresh Road ist es verdammt spät in der Nacht – oder früh am Morgen –, und Jiang Lijun, laut Gästeliste Vizepräsident der China State Construction Engineering Corporation, unterdrückt ein Gähnen.

Diese angebliche Party hätte vor über einer Stunde enden sollen, aber die Ehrengäste aus diesem verfluchten Land wollen noch immer nicht gehen. Die libyschen Spitzenpolitiker, die Stammesvertreter und die Offiziere – in ihren Uniformen mit Sternen und Orden bunt herausgeputzt wie kleine Jungen, die Verkleiden spielen – rauchen und trinken weiter, während sie in kleinen Gruppen mit ihren geduldigen Gastgebern schwatzen.

Jiang sieht, dass die Repräsentanten von Great Wall Drilling Company, CNPC Services & Engineering, China National Petroleum Company und viele andere tapfer fürs zhōng guó – das Reich der Mitte – einstehen, indem sie lächeln, über plumpe Scherze lachen und auch sonst um ihre ungehobelten Gäste bemüht sind.

Und was für Barbaren! Selbst als die Beleuchtung heruntergedimmt, das fast leer gegessene Büfett abgeräumt und die Bierflaschen – Carlsberg, Heineken, Tsingtao – abserviert wurden, haben diese Bauerntrampel nicht begriffen, dass es Zeit wird in ihre Elendswohnungen voller Flöhe zurückzukehren. Nein, sie blieben und schwatzten weiter, und einige zogen sogar Flachmänner heraus, hier in diesem angeblich islamischen Staat. Als Austauschstudent an der UCLA in Kalifornien und später an der Columbia University in New York hatte der junge Jiang geglaubt, er werde niemals kindischere, rücksichtslosere und ahnungslosere Flegel kennenlernen, aber diese Libyer lassen die Amerikaner wie Chinesen ehrenhalber aussehen.

Jiang zieht eine Packung Zhonghua aus der Tasche und zündet sich eine Zigarette an. Er steht allein zwischen zwei großen Topfpflanzen und registriert, wer mit wem redet, wer vom Botschaftspersonal angetrunken oder ungeduldig wirkt und zu welchen Gruppen sich die libyschen Gäste zusammenfinden. Letztes Jahr ist hier eine sehr fragile Regierung für Waffenstillstand und Aussöhnung gebildet worden, aber Jiang interessiert weiter, welche Stammesmitglieder sich von ihren angeblichen Landsleuten fernhalten, was in Zukunft zu einem Bruch oder Bürgerkrieg führen kann.

Nützliche frühzeitige Informationen.

Ein Botschaftsangehöriger – hager, mit Brille, in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug – betritt den Empfangssaal durch einen Seiteneingang. Er sucht die Menge ab, während er übers Parkett hastet. Ling – so heißt dieser junge Mann. Jiang nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette, drückt sie im nächsten Blumentopf aus und wartet.

Der Junge bleibt vor ihm stehen, verbeugt sich leicht und sagt: »Entschuldigung, Genosse Jiang. Sie möchten in den Keller kommen. Raum zwölf.«

Jiang nickt und macht sich auf den Weg durch den Saal. Aber er kommt nicht weit, weil ein stämmiger bärtiger Mann, betrunken schwankend und in typischer Stammestracht – weites weißes Hemd und schwarze Hose – sich plötzlich vor ihm aufbaut.

»Mr. Jiang«, ruft er in akzentgefärbtem Englisch und packt ihn dabei an den Schultern. Jiang grinst krampfhaft weiter, während er sich bemüht, möglichst wenig von der Alkoholfahne dieses Bauerntrampels einzuatmen. »Sie gehen schon? Müssen Sie das wirklich?«

Jiang tätschelt die rauen Hände des Mannes, zieht sie sanft von seinen Schultern. »Tut mir leid, mein Freund, aber Sie wissen ja, wie’s ist«, antwortet er auf Englisch, der Lingua franca der Diplomatie in vielen Weltgegenden. »Die Pflicht ruft.«

Der Mann – Jiang kann sich nicht an seinen Namen erinnern, sondern weiß nur, dass er Führer eines der rund hundertfünfzig Stämme in diesem Wüstenstaat ist – schwankt wieder, rülpst und sagt dann: »Pflicht, ja.« Er hat plötzlich Tränen in den Augen. »Dies muss ich sagen … ich muss … aber Ihre Pflicht, Ihre Anwesenheit hier hat unser Land so bereichert. Die Italiener, die Franzosen, die Briten, die Katarer, die verdammten Ägypter … sie haben alle versucht, uns zu beherrschen, unsere Bodenschätze auszubeuten … Wer hätte gedacht, dass die gelbe Rasse die halbe Welt umrunden würde, um uns mit ihrer Weisheit, ihrem Wissen zu überschütten?«

In diesem Augenblick würde Jiang dem Kerl am liebsten ins Gesicht schlagen, ihn herumreißen, ihm das Genick brechen – die gelbe Rasse! – und ihn zusammensacken lassen.

Aber weil Jiang weiß, wer er ist und wie er sich verhalten muss, lächelt er weiter, drückt dem Kerl die schmutzige Hand und sagt: »Sobald ich wieder in Peking bin, sorge ich dafür, dass Ihre Dankesworte unseren Präsidenten erreichen.«

Damit lässt Jiang ihn stehen. Er hat das Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen, um sich den Schmutz und Gestank dieses Bauerntrampels von den Händen zu waschen, aber stattdessen marschiert er weiter.

Pflicht.

Er geht an zwei grimmig dreinblickenden Sicherheitsbeamten mit unauffälligen Ohrhörern und Pistolen in Schulterholstern unter ihren Anzügen vorbei und holt Ling ein, der am Aufzug auf ihn wartet. Ling hält die Tür für ihn auf, aber Jiang ignoriert ihn und poltert rasch die Kellertreppe hinunter. Die Stromversorgung in diesem zweifelhaften Land ist notorisch unzuverlässig, und Jiang will trotz Notstromgeneratoren nicht riskieren, mit dem Aufzug stecken zu bleiben.

Er zieht die Kellertür auf, geht an einem weiteren Wachposten vorbei und folgt einem schlecht beleuchteten Korridor bis zu einer massiven Stahltür mit einem Handscanner am Türrahmen. Jiang legt seine rechte Hand darauf und wartet den Lichtblitz ab, nach dem sich die Tür öffnet.

Als er eintritt, schließt die Sicherheitstür sich hinter ihm und wird automatisch verriegelt. Der Raum dahinter ist angenehm kühl und behaglich, aber obwohl Jiang sich nach einer Zigarette verzehrt, herrscht hier unten Rauchverbot – hier im Tag und Nacht besetzten Operationszentrum des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit.

Liu Xiaobo, der Wachhabende, der eine schwarze Hornbrille trägt, sitzt lässig in Jeans und weißem Oberhemd an einer Tastatur vor einem großen Bildschirm. »Wie läuft’s oben bei der Party?«, fragt er. »Ist der Boden voller Kamelmist?«

»Noch nicht«, sagt Jiang. »Was ist passiert?«

Der kleine Raum steht voller Aktenschränke, Schreibtische, Computermonitore, Fernseher, die CNN, BBC und CCTV-13, den Nachrichtenkanal von China Central Television, zeigen. Auf riesigen Plasmabildschirmen sind Nordafrika, das Mittelmeer und die Große Syrte dargestellt. Acht weitere Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit sitzen an diesem frühen Morgen an ihren Schreibtischen.

Liu sagt: »Die Amerikaner haben irgendwas vor.«

»Haben sie das nicht immer? Hunde kläffen eben. Was ist’s diesmal?«

»Sie haben ein Kampflandungsschiff im Golf – ungefähr zwanzig Kilometer vor Tripolis«, sagt Liu und deutet auf einen rot blinkenden Punkt auf der Karte auf seinem Bildschirm. »Vor einer halben Stunde sind zwei Black-Hawk-Hubschrauber gestartet. Sie sind auf diesem Kurs …« – ein nikotingelber Zeigefinger fährt ihn nach – »… hier in den libyschen Luftraum eingedrungen und jetzt ungefähr … hier.«

Jiang starrt den Bildschirm an, auf dem kleine Dreiecke Dörfer und Städte in einem Gebiet bezeichnen, das flach und fast ungegliedert ist, bis …

»Sie wollen ins Nafusa-Gebirge«, sagt Jiang.

»Genau«, antwortet Liu. »Sie halten völlig geraden Kurs – ohne Ausweichmanöver –, und bei den bekannten Verbrauchsdaten ihrer Hubschrauber haben sie kaum genug Treibstoff für den Rückflug zur Wasp. Meiner Ansicht nach zeigt es, dass sie zu einem Ziel in den Bergen unterwegs sind, das so wichtig ist, dass es sich lohnt, dafür zwei Hubschrauber zu riskieren.«

Wespe, denkt Jiang. Was für Dummköpfe benennen ein Kriegsschiff nach einem Insekt?

Er konzentriert sich wieder auf den Bildschirm.

Liu fragt vorsichtig: »Haben Sie nicht … jemanden in diesen Bergen?«

Lange Erfahrung und jahrelange Arbeit haben Jiang gelehrt, keine Miene zu verziehen, gleichmäßig zu atmen, sich durch keine Bewegung zu verraten. Man hat keinen Erfolg, wird nicht befördert, indem man Gefühle zeigt. »Sonst noch was?«, fragt er knapp.

»Nein«, sagt Liu. »Ich wollte Sie nur auf dem Laufenden halten.«

Jiang klopft ihm leicht auf die Schulter. »Das weiß ich zu schätzen, Genosse.«

Liu scheint die Aufmerksamkeit eines Höherstehenden zu genießen. »Kann ich sonst noch was für Sie tun?«

Jiang nickt. »Bei Ihnen arbeitet ein gewisser Ling, korrekt? Der junge Mann, der mich geholt hat?«

Lius Stimme klingt vorsichtig. »Ja.«

»Schicken Sie ihn mit dem nächsten Transport nach Hause«, weist Jiang ihn an. »Sorgen Sie dafür, dass er Arbeit im größten Schweinemastbetrieb in Liaoning bekommt. Vorhin ist er fast schreiend auf mich zugerannt, sodass jeder Dummkopf merken musste, dass ich mehr als irgendein kleiner Technokrat bin. Er muss bestraft werden.«

»Wie Sie wünschen«, sagt Liu.

»Gut«, sagt Liang. »Jetzt muss ich wieder nach oben und nachsehen, ob die Kamele schon eingetroffen sind oder ob die Bauerntrampel sich mit Mist bewerfen.«

Darüber lacht Liu, bevor er sich wieder auf seinen Bildschirm konzentriert. Jiang wendet sich ab und benutzt den Handscanner, um auf den Korridor zurückzukehren. Statt sich nach links zur Treppe ins Erdgeschoss zu wenden, geht er rasch zu seinem Büro am anderen Ende des Korridors, wo Jiang Lijun kein Vizepräsident der China State Construction Engineering Corporation, sondern ein hoher Beamter des Ministeriums für Staatssicherheit ist.

Was zum Teufel haben die Amerikaner vor?

KAPITEL 3

2.30 UHR ORTSZEIT

NAFUSA-GEBIRGE, LIBYEN

An Bord von Spear One ruft der Crewchief laut: »Zwei Minuten! Zwei Minuten bis zum Ziel!«

Nick Zeppos hält zwei Finger hoch, um zu zeigen, dass er verstanden hat. Das tun auch die übrigen Mitglieder seines Teams. Sie nehmen die Headsets ab und setzen ihre Gefechtshelme mit Nachtsichtgeräten auf, die sie rasch herunterklappen. Als Zeppos sein Gerät einschaltet, steht das Innere des modifizierten Black Hawk mit Stealth-Eigenschaften geisterhaft grün, aber in allen Details scharf vor ihm.

Zwei Minuten.

Hundertzwanzig Sekunden.

Zeppos hört die Stimme ihres Piloten, der meldet: »Ziel in Sicht bei 2.00 Uhr.«

Zeppos erinnert sich an einen weiteren grausigen Mord, den Asim al-Aschid vor zwei Jahren verübt hat, als seine Leute und er vor zahlreichen Anhängern eine syrische Familie hinrichteten, von der er sich verraten fühlte, und das Video anschließend ins Netz stellten. Die Familie war in einen Stahlkäfig gesteckt und mit Benzin übergossen worden, das Asim persönlich entzündet hatte.

In der letzten deutlichen Einstellung, bevor dichter Rauch den Käfig verdeckte, war die in den Flammen zusammengebrochene Mutter zu sehen, die sich vergebens verzweifelt bemühte, ihren sterbenden Sohn mit dem eigenen Leib zu schützen.

»Dreißig Sekunden«, kündigt der Pilot an.

Der Crewchief entriegelt die Seitentür, schiebt sie zurück. Zeppos überprüft ein letztes Mal seine Ausrüstung. Ein Schwall kalter Luft strömt herein. Zeppos steht auf und ruft: »Bleibt zusammen, macht Tempo, erledigt ihn!«

Zustimmendes Nicken und hochgereckte Daumen von den Mitgliedern seines Teams, die mit Ausrüstung, Waffen und Helmen mit Nachtsichtgeräten mit vier Objektiven alle wie glupschäugige Monster aussehen. Zeppos beugt sich aus der offenen Tür, begutachtet die rasch in Sicht kommenden Gebäude. Links drei kleinere Häuser, rechts etwas abgesetzt ein größeres Haus.

Das ist Asim al-Aschids Heim, in dem er sich nach allen Informationsströmen, die gebündelt wurden, um Zeppos und seine Männer heute Nacht hierherzuschicken, in diesem Augenblick aufhält.

Die Häuser sind alle einstöckig. Aus Natursteinen erbaut. Im Hintergrund ein Ziegenpferch. Und das ist alles. Nicht mal genug Häuser für ein Dorf.

Der Pilot fängt die Maschine ab, sodass sie ungefähr einen Meter über dem Boden schwebt, Sekunden später ist Zeppos als Erster draußen. Seine Kampfstiefel von Oakley berühren den Boden im westlichen Bergland, fast an der Grenze zu Tunesien. Außer seinem Heckler & Koch 416 mit verlängerten Magazinen schleppt er etwa zwanzig Kilo Ausrüstung mit, aber zu Beginn solcher Unternehmen fühlt Zeppos sich immer fit und leicht.

Durch sein Nachtsichtgerät erkennt er die anderen SEALs, die Spear Two abgesetzt hat, wie sie sich in gut eingeübtem überschlagendem Vorgehen vorarbeiten, sodass ein Teil der Gruppe zurückbleibt, um Feuerschutz zu geben, bevor sie ihrerseits vorgeht und die Spitze übernimmt. Nick übernimmt die Führung, bewegt den Kopf von links nach rechts und wieder zurück und sieht durch sein Nachtsichtgerät die dünnen Strahlen ihrer Laservisiere, die sich in der kalten Nachtluft kreuzen.

Weiter still.

Er bewältigt die leichte Steigung zum Hauptgebäude hinauf, beobachtet, wertet aus, analysiert.

Noch immer kein Kontakt?

Keine auf den Dächern der kleineren Gebäude auftauchenden Ziele?

Zu verdammt still.

Zeppos’ Team ist seinen Aufgaben entsprechend auseinandergezogen, hält seine Waffen schussbereit, beobachtet die Umgebung. Ihr Vordringen hätte längst auf Widerstand stoßen müssen.

»Sprengteam«, flüstert Zeppos den Männern in seiner Nähe zu. »Los!«

Das Sprengteam nimmt sich ein seitliches Fenster des Hauses vor. Die Haustür könnte eine Sprengfalle sein.

Er spürt eine leichte Detonation durch die Stiefelsohlen, sieht einen grellen Lichtblitz.

Sein Team verschwindet in dem Haus.

Im Kopfhörer seines Funkgeräts PRC 148 MBITR hört er einen Mann seines Teams, Ramirez. »Nick.«

»Los.«

»Wir sind im Haus.«

»Yeah?«

»Es ist leer«, sagt die enttäuschte Stimme. »Hier ist niemand.«

KAPITEL 4

19.30 UHR ORTSZEIT

LAGERAUM DES WEIßEN HAUSES

An diesem spannenden Abend ist der Lageraum gesteckt voll. Ich sitze am Kopfende des Tisches und sehe zu, wie der Angriff auf Asim al-Aschids Wohnkomplex abrollt. Im Raum ist es eng, weil Vizepräsidentin Pamela Barnes in der Ecke neben mir sitzt und auf die Bildschirme starrt, während Admiral Horace McCoy, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, seinen Platz gleich neben mir hat. Neben ihm sitzen ein Kapitän zur See und ein Army-Oberst, die auf ihren abhörsicheren Laptops herumtippen und McCoy Informationen zuflüstern, die er an die in diesem historischen Raum Versammelten weitergeben kann. Seltsamerweise, worüber nicht oft berichtet wird, gibt es hier unten mehr als nur einen Raum, wobei die anderen voller Mitarbeiter sind, die Informationen aus aller Welt empfangen und aufbereiten.

Außer der Vizepräsidentin sind in offizieller Funktion hier: mein Stabschef Jack Lyon, die Mitglieder meines Nationalen Sicherheitsrats und ein Fotograf des Weißen Hauses.

Die beiden wichtigsten Anwesenden sind die Nationale Sicherheitsberaterin Sandra Powell, eine strenge Schwarze mit zu einem Zopf geflochtenen langen Haaren, und Verteidigungsminister Pridham Collum, ein Vierziger mit glattem Gesicht und Brille, der viel jünger aussieht.

Sandra ist Expertin für Außen- und Verteidigungspolitik und Verfasserin mehrerer einschlägiger Bücher, die tatsächlich leicht zu lesen sind. Pridham verdankt seine Ernennung der Tatsache, dass er den riesigen, komplexen Verteidigungshaushalt wie kein anderer kennt und es außerordentlich gut versteht, Schneisen durch den Gesetzes- und Beschaffungsdschungel zu schlagen, damit benötigte Waffensysteme aus dem Entwicklungsstadium heraus und zur Truppe kommen. Außerdem hat er in seinem früheren Job als stellvertretender Staatssekretär für Internationale Sicherheitspolitik wichtige einschlägige Erfahrungen sammeln können.

Obwohl die Medien es als Sicherheitsteam des Präsidenten bezeichnen, ist dies größtenteils noch das Team meines Vorgängers. Ich habe einfach noch keine Zeit gehabt, es zu bewerten und zu entscheiden, wer über mein erstes Amtsjahr hinaus bleiben soll, das vor sechs Monaten begonnen hat, als mein Vorgänger, Präsident Martin Lovering, beim Angeln auf dem Columbia River in seinem Heimatstaat Washington an einem Aneurysma gestorben ist.

Admiral McCoy meldet: »Spear One und Two sind in dreißig Sekunden am Ziel.«

Ich nicke, sehe zu den geisterhaften Infrarotbildern auf dem großen Monitor auf und kann beobachten, wie die beiden modifizierten Black Hawks sich dem kleinen Gebäudekomplex nähern, in dem Asim al-Aschid und seine Vertrauten sich versteckt haben sollen. In einem dieser Hubschrauber sitzt Chief Petty Officer Nick Zeppos. Wahrscheinlich hätte ich ihn vorhin nicht anrufen sollen, aber die Versuchung war zu groß. Ich wollte ihm viel Erfolg wünschen und wäre wirklich gern bei diesem Einsatz dabei gewesen, bei dem die Ziele klar sind und der Feind einem offen gegenübertritt – anders als auf der politischen Bühne in Washington, wo die Motive undurchschaubar sind und Gegner sich mit Maßanzügen und geschmeidigen Floskeln tarnen.

Meine rechte Hüfte schmerzt unwillkürlich, als ich den Anflug der SEALs beobachte, mich an eigene Einsätze erinnere und an den Hubschrauberabsturz in Afghanistan denke, der mir vor Jahren die Hüfte zertrümmert und meine Karriere in der U.S. Navy beendet hat. Als ich später nichts Rechtes mit mir anzufangen wusste, habe ich mich für eine neue Runde von Risiko und Gefahr entschieden: Ich bin in die Politik gegangen, und die guten Leute des Siebten Wahlbezirks von Texas haben mich als ihren Abgeordneten auf den Capitol Hill entsandt.

Die Hubschrauber gehen in den Schwebeflug über. Aus beiden quellen geisterhafte Gestalten, deren taktisches Vorgehen mir nur allzu gut vertraut ist.

Ein leises Knacken, dann merke ich, dass ich meinen Kugelschreiber zerbrochen habe.

Das scheint keiner gemerkt zu haben außer der Vizepräsidentin, die mir einen kühl abschätzenden Blick zuwirft, bevor sie wieder zu dem großen Monitor aufsieht.

Politik ist die Kunst des Kompromisses, heißt es oft, und das vergangene turbulente Jahr hat viele davon gebracht. Als der damalige Senator Martin Lovering vor zwei Jahren kurz davor war, als Präsidentschaftskandidat unserer Partei nominiert zu werden, entstand eine Bewegung, ihm als Ausgleich und um seine Glaubwürdigkeit in Bezug auf nationale Sicherheit zu erhöhen, mich zur Seite zu stellen. Jemanden, der noch nicht lange im Kongress saß und natürlich nie an einem Kampf ums Weiße Haus teilgenommen hatte.

Dieser kalkulierte politische Schachzug verärgerte viele Parteimitglieder, die eher Tauben waren, darunter Gouverneurin Pamela Barnes aus Florida, die Senator Lovering bei der Nominierung nur knapp unterlegen war und verständlicherweise erwartet hatte, er werde ihr die Kandidatur für das Amt der Vizepräsidentin antragen.

Nun, dieser Traum hatte sich schließlich doch für sie erfüllt. Einen Monat nachdem ich Präsident geworden war, weil Präsident Lovering plötzlich und unerwartet gestorben war, nominierte ich sie für dieses Amt. Das war die dritte derartige Ernennung, seit der 25. Verfassungszusatz festlegt, wie dieser frei gewordene Posten zu besetzen ist. Ich entschied mich für sie, weil ich unsere Partei befrieden wollte und zugleich hoffte, wir könnten gemeinsam mehr erreichen, während ich bis zum Ende der Amtszeit meines Vorgängers im Amt bin. Aber falls Barnes glücklich oder dafür dankbar ist, auf diesen Posten gelangt zu sein, hat sie’s mir gegenüber nie gezeigt.

Unterdessen tue ich, von meinem nationalen Sicherheitsteam umgeben, etwas, das mir schwerfällt: Ich halte einfach die Klappe.

Warte.

Auf dem Monitor sehe ich die schemenhaften Gestalten der SEALs rasch und effizient vorgehen und kämpfe gegen Erinnerungen an genau solche Einsätze an. Mit seinem Team, laut keuchend atmend, Sturmgewehr in der Hand, alle Sinne aufs Äußerste gespannt, in Bewegung, einem eingeübten Plan folgend, jederzeit bereit, das Feuer zu eröffnen.

Das kenne ich aus dem Irak, Afghanistan, dem Jemen.

Der konstante Faktor bei allen diesen Einsätzen war, bei Nacht exponiert unterwegs zu sein, von seinen besten Freunden und Kameraden umgeben und bereit, Verwüstungen anzurichten und 5,56-mm-Geschosse und Handgranaten gegen Feinde unserer Nation einzusetzen. Wie diese Männer jetzt in Libyen, fast fünftausend Meilen weit entfernt, von denen jede Bewegung, jede Aktion hier in diesem Raum verfolgt wird.

Hier statt dort zu sein ist ein eigenartiges Gefühl. Noch unwirklicher erscheint alles durch die Tatsache, dass nur einen kurzen Spaziergang entfernt meine Frau, Dr. Samantha Rowell Keating, an einem Artikel für irgendein angesehenes archäologisches Journal arbeitet, während unsere Tochter Melanie, die wir immer nur Mel nennen, im Wohntrakt eine Party für einige Mitschülerinnen aus der Sidwell Friends School gibt.

Ich freue mich für sie beide. Es ist nicht leicht, an diesem höchst unnormalen Ort ein halbwegs normales Leben zu führen.

Ich sehe wieder auf den Monitor, sehe die Gestalten sich bewegen, sehe drei in das Haus eindringen.

Das ist alles.

Keine Lichtblitze, keine Leuchtspurgeschosse, kein Ausfall von bewaffneten Männern, die sich den Angreifern entgegenstellen.

Admiral McCoy räuspert sich. »Sir …«

»Ich weiß«, sage ich. »Der Raid ist fehlgeschlagen. Asim al-Aschid ist nicht dort.«

KAPITEL 5

2.35 UHR ORTSZEIT

BOTSCHAFT DER VOLKSREPUBLIK CHINA, TRIPOLIS

In seinem abhörsicheren nüchternen Kellerbüro, das ihm als höchstem Beamten des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit in ganz Nordafrika zusteht, sitzt Jiang Lijun an seinem Schreibtisch, raucht eine weitere Zhonghua und denkt nach. Mit einem Bücherregal und drei abschließbaren Aktenschränken aus Stahl ist der Raum nur spärlich möbliert. An der Wand hängt ein Foto des Großen Steuermannes neben dem Porträt des jetzigen Präsidenten. Auf seinem Schreibtisch stehen zwei gerahmte Fotos: eines von seiner Frau Zhen, das andere von seinem verstorbenen Vater. Jiang war erst fünf, als er 1999 mit seiner weinenden Mutter auf dem Vorfeld des Flughafens Peking stand und auf die Urne mit Vaters Asche wartete, nachdem die Amerikaner ihn mit zwei anderen im Keller der chinesischen Botschaft getötet hatten.

Der Angriff am 7. Mai gehörte zu den Luftangriffen, mit denen die NATO versuchte, die Serben von ihrer Bestimmung abzuhalten, die darin bestand, ihr eigenes Gebiet zu kontrollieren und ihre Feinde zu besiegen. Der Westen hatte seit Jahrhunderten so gehandelt, aber weil die Serben »die anderen« waren, wurden sie dafür gescholten und bombardiert, dass sie’s wie alle Großmächte machten.

Vater hatte als Nachrichtenoffizier der chinesischen Botschaft gearbeitet, als vier Bomben einer amerikanischen B-2 Spirit das Gebäude getroffen hatten – angeblich aus Versehen, auch wenn das in China niemand glaubte. Jeder wusste, dass dies ein absichtlicher Versuch des Westens war, China dafür zu bestrafen, dass es zu den Serben hielt.

Als Jiang später in die Schule ging, erfuhr er, dass der Bomber, der Vater getötet hatte, zu der berüchtigten 509th Bomb Group der U.S. Air Force gehört hatte, die 1945 die Atombomben abgeworfen hatte, durch die Zehntausende zu Asche geworden waren.

Diese Einheit, denkt er, hat Erfahrung darin, schuldlose Asiaten zu töten.

Sein Blick streift das Foto von Zhen, das sie in den Flitterwochen auf Hawaii zeigt. Im Augenblick ist sie in Peking, um ihren kranken Vater zu besuchen. Sie arbeitet in der Personalabteilung des Ministeriums in der Dongchangan-Avenue 14.

Jiangs Großvater – Jiang Yun – war ein einfacher Bauer, bis er in die Rote Armee eintrat, um gegen die Japaner und die Kuomintang zu kämpfen, bevor er ein stiller, aber mächtiger Parteifunktionär in Schanghai wurde. Er lebte lange genug, um zu sehen, wie erfolgreich sein Sohn war, und Jiang bedauert oft, dass die Amerikaner Vater daran gehindert haben, den Erfolg seines Sohnes zu sehen.

Jiang berührt kurz Zhens Foto. Er hat sich viele Male geschworen, dass ihr zukünftiges Kind in einer friedlichen Welt aufwachsen soll, deren Staatengemeinschaft den Platz und die Macht Chinas anerkennt.

Um jeden Preis.

Er zieht die mittlere Schreibtischschublade auf, nimmt eine detaillierte Karte von Libyen heraus und kniet sich auf den kalten Teppichboden, um sie vor sich auszubreiten. In den Datenbanken des Ministeriums stehen ihm Tausende von hochauflösenden Karten zur Verfügung, die eine einzelne Blüte im Rosengarten des Weißen Hauses oder die erhobenen Gesichter amerikanischer Seeleute im Turm eines aus Kitsap, Washington, auslaufenden Atom-U-Boots zeigen können.

Aber der Zugriff auf solche Karten hinterlässt elektronische Spuren, die andere in seinem Ministerium und sonst wo sehen können.

Er ist geschickt darin, keine Spuren zu hinterlassen.

Sein Zeigefinger fährt von der Großen Syrte zum Nafusa-Gebirge. Jiang studiert die Legende in der unteren rechten Ecke der Karte, auf der die Entfernungen in Kilometern angegeben sind. Er tritt an seinen Schreibtisch und kommt mit einem Stahllineal zurück, das er auf die Karte legt.

Nur schade, dass er die genaue Position des amerikanischen Kriegsschiffs – das tatsächlich nach einem stechenden Insekt benannt ist – nicht kennt, aber danach kann er nicht fragen, ohne später unangenehme Nachfragen auszulösen.

Der Wachhabende hier unten – Liu Xiaobo – hat recht.

Die Amerikaner werden sehr bald in diesen zerklüfteten Bergen landen, ohne große Treibstoffreserven zu haben. Klar, sie sind für Luftbetankung eingerichtet, aber in Libyen gibt es viele elektronische Augen und Ohren aus China, Russland, dem Iran und anderen Ländern.

Er begutachtet die kleinen Dreiecke, die Dörfer symbolisieren. Liu hat zweifach recht: Jiang ist an jemandem interessiert, der dort oben lebt, und fragt sich jetzt, was er tun soll.

Er lässt Landkarte und Lineal auf dem Boden liegen, geht an seinen Schreibtisch zurück. An einer dünnen Halskette, die er jetzt abnimmt, hängt ein kleiner rechteckiger elektronischer Digitalschlüssel, den er in die untere rechte Schublade steckt. Ein leises Klicken, dann kann er die Schublade aufziehen. Dieses Schloss hat er nicht übers Ministerium angefordert, sondern direkt von der Herstellerfirma Schlage bezogen, sodass sichergestellt ist, dass niemand diese Schublade ohne seine Erlaubnis öffnen kann.

Zwischen Papieren, USB-Sticks und anderem Kram liegt seine neueste Errungenschaft: ein nur beschränkt lieferbares Satellitentelefon des US-Herstellers Iridium, das sich dadurch auszeichnet, dass es in Gebäuden benutzt werden kann. Der Westen beginnt allmählich zu begreifen, dass all die billigen elektronischen Geräte, die er jahrzehntelang aus dem Reich der Mitte bezogen hat, Spyware und Geheimzugänge für Jiangs Arbeitgeber enthalten haben, und Jiang muss telefonieren können, ohne dass seine eigenen Leute ihn abhören können.

Ein kleines Notizbuch, das bestimmte Nummern enthält, wird herausgezogen.

Er schaltet das Satellitentelefon ein und wartet einige Sekunden, während er seinen nächsten Zug plant.

Tod den Amerikanern, beschließt er zuletzt, als das Telefon blinkend zum Leben erwacht.

Dazu ist er seit jener Nacht im Mai 1999 bestimmt.

KAPITEL 6

2.40 UHR ORTSZEIT

NAFUSA-GEBIRGE, LIBYEN

In der klaren, kalten Bergluft reckt Nick Zeppos eine Faust hoch, was allen in Sichtweite signalisiert, sich still zu verhalten. Wut steigt in ihm auf. Scheiße, nicht schon wieder!

Auch das dritte Mal wird ein Flop.

Er sucht die kleinen Gebäude ab, sieht einen mit Steinen übersäten, leicht ansteigenden Weg. Während er ihn anstarrt, ist er sich bewusst, dass ihre Helis in einiger Entfernung kreisen und darauf warten, sie zur Wasp zurückzubringen – hoffentlich mit Rucksäcken voller erbeuteter Geheiminformationen und einem Leichensack mit den noch warmen Überresten Asim al-Aschids.

Aber sie haben nichts dergleichen in den Händen. Und Spear One und Two würde sehr bald der Treibstoff knapp werden.

Zeit, sich zu entscheiden.

Als er nach seinem Mikrofon greift, um die Black Hawks anzufordern, glaubt er plötzlich, eine kleine Glocke zu hören.

Was?

Er beginnt, dem Weg zu folgen.

Das Bimmeln wird lauter.

Er weiß, dass die Tanks der beiden Hubschrauber leerer werden.

Aber er bleibt in Bewegung.

KAPITEL 7

19.40 UHR ORTSZEIT

LAGERAUM DES WEIßEN HAUSES

In der zunehmend angespannten Atmosphäre ergreift Vizepräsidentin Pamela Barnes erstmals das Wort.

»Warum treten die SEALs nicht den Rückzug an?«, will sie wissen. »Geht den Hubschraubern nicht allmählich der Treibstoff aus? War ihre Zeit auf libyschem Gebiet nicht beschränkt … und ihr Aufenthalt illegal, wenn ich das hinzufügen darf?«

Ich möchte antworten, aber ich halte mich zurück. Vor vielen Jahren, als ich noch im Team war – BUD/S (Basic Underwater Demolition/SEAL) Klasse 342 –, hätte ich ihre Fragen sekundenschnell beantworten können.

Aber ich bin kein SEAL mehr.

Nur POTUS.

Andere werden ihre Fragen beantworten müssen.

Neben mir sagt Admiral Horace McCoy, Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs: »Madam Vizepräsidentin, die Situation bleibt … weiter im Fluss. Ich nehme an, dass die SEAL-Teams die nähere Umgebung nach möglichen Zielen absuchen.«

Ich sage: »Sonst noch Fragen, Pamela?«

Sie funkelt mich an, und ich erwidere ihren Blick gelassen. Sie leistet gute Arbeit als Vizepräsidentin, war in Florida eine passable Gouverneurin und wäre vor zwei Jahren fast Präsidentschaftskandidatin geworden. Aber sie ist passiv und versteht nicht viel vom Militär. Meine Vizepräsidentin hält SEALs und andere Soldaten für Aufziehfiguren, die im Einsatz nur eine Richtung kennen, ihre Befehle ausführen und rasch zurückkehren.

Und was macht es schon, wenn sie unterwegs beschädigt oder vernichtet werden? Wo sie herkommen, warten noch viele andere.

»Sir«, sagt Admiral McCoy. »Auf dem Bildschirm!«

Ich wende mich von Barnes ab und beobachte wieder die geisterhaften Gestalten, die uns unsere Aufklärungsdrohne zeigt. Die weißen Umrisse der SEALs sind jetzt in lockerer Schützenlinie aufgereiht, und die Drohne folgt ihnen in der Bewegung.

Weitere Gebäude kommen in Sicht.

Mit einem Pferch, in dem Tiere durcheinanderlaufen.

Auf den Dächern dieser neuen Gebäude tauchen andere geisterhaft weiße Gestalten mit Waffen in den Händen auf.

Admiral McCoy sagt: »Ich glaube, in die Situation kommt Bewegung, Sir.«

Ich sage: »Gut.«

KAPITEL 8

2.40 UHR ORTSZEIT

NAFUSA-GEBIRGE, LIBYEN

Kurz vor dem Hügelkamm suchen die Männer von Chief Zeppos’ Stoßtrupp gleichzeitig Deckung hinter Felsbrocken und kümmerlichem Buschwerk, um sich nicht als Silhouetten vor dem Nachthimmel abzuheben. Mit dem Sturmgewehr HK 416 in seinen behandschuhten Händen auf dem kalten Boden ausgestreckt, wirft Chief Zeppos einen Blick auf die andere Seite.

Er flüstert: »Hol mich der Teufel.«

Links vor ihm liegt ein kleiner aus Steinen erbauter Pferch mit Ziegen, von denen manche Glöckchen umgebunden haben.

Mehr interessiert ihn jedoch der Grundriss dieser Anlage.

Er ist ein Spiegelbild der Häusergruppe, bei der sie vor wenigen Minuten gelandet sind.

Ein kleiner Orientierungsfehler.

Eine gottverdammte Überraschung!

Im Helmkopfhörer hat er das Flüstern eines der Männer aus seinem Team, der ihren Decknamen für Terroristen benutzt. »Hier Blake, zwei Tangos auf dem Dach des Hauses im Südwesten. Greife an.«

»Verstanden«, bestätigt Zeppos. Seine Stimmung und Einstellung sind umgeschlagen, als er denkt: Ja, jetzt geht’s los, hier sind wir richtig. Asim al-Aschid, wir kommen!

Ein gedämpftes Pfft-pfft-pfft kommt aus der Umgebung des kleinsten Hauses links. Zwei mit Kalaschnikows bewaffnete Männer brechen zusammen.

Doch kein friedlicher einheimischer Weiler, was? Das Überraschungsmoment ist verloren, falls es jemals wirklich existiert hat.

Semper Gumby, denkt er. Immer flexibel.

Er richtet sich gebückt auf, und sein Stoßtrupp tritt als geschlossene Einheit rasch, lautlos und effektiv in Aktion – ohne Geschrei, ohne »Los, los, los!« zu brüllen, wie man’s aus schlechten Videospielen kennt. Nur eine eng verbundene Gruppe, die sich bewegt, wie sie es eingeübt hat. Und ihren Auftrag mit möglichst wenig Drama ausführt.

Ein Mann, ebenfalls bewaffnet, kommt aus dem nächsten kleinen Haus gestürmt, und Zeppos bringt ihn mit zwei Schüssen zur Strecke. Als er an der bewegungslosen Gestalt vorbeitrabt, schießt er sie noch zweimal in die Brust.

Dem großen Haus näher, denkt Zeppos jetzt daran, dass wegen der Drohnen und weiterer Aufklärungsmittel über ihnen jede Bewegung, jedes Flüstern und jeder in dieser kleinen Anlage abgegebene Schuss ins Special Operations Center in Bagram, in Beobachtungsräume im Pentagon und in Langley sowie in den Lageraum des Weißen Hauses übertragen wird.

Er gesteht sich das ungern ein, aber er empfindet ein wenig Stolz und einen gewissen Druck wegen der Tatsache, dass der Tausende Meilen entfernte Präsident der Vereinigten Staaten heute Nacht ihren Einsatz beobachtet. Schließlich hat der ehemalige Vizepräsident und Abgeordnete aus Texas einschlägige Erfahrungen, weil er vor vielen Jahren, kurz nachdem die Twin Towers eingestürzt waren, selbst bei den SEALs gedient hat.

Auf uns ist Verlass, Sir, denkt Zeppos.

»Sprengteam«, flüstert er. »Los!«

Zwei seiner SEALs setzen sich in Bewegung, halten auf das große Haus zu. Es ist jetzt deutlicher sichtbar, und Zeppos spürt, wie er kühl und gelassen wird. In etwa einer Minute kommt es zu einem weiteren dynamischen Eindringen, und jeder Mann dort drinnen wird mit zwei Schüssen in die Brust und einem in den Kopf erledigt. Der Leichnam der Zielperson wird fotografiert und vermessen; dann werden Fingerabdrücke und DNA-Proben genommen, damit er später positiv identifiziert werden kann.

Asim, denkt er, wir holen dich jetzt raus!

Die beiden SEALs sind an der Haustür.

Zeppos sieht, dass die massive Holztür mit Eisen beschlagen ist.

Sind die Fenster ähnlich stark gesichert, dürfte das Eindringen etwas länger dauern.

Die beiden gehen ums Haus herum, suchen eine Gelegenheit.

Miller, ein anderes Mitglied seines Teams, meldet flüsternd: »Greife Tango an.«

Pfft-pfft.

Die SEALs sind an einem Fenster des größeren Hauses, machen sich an die Arbeit und …

Der Lichtblitz, der Knall und die Druckwelle der Detonation werfen Zeppos auf den Rücken. Er hustet Staub und Blut, wälzt sich auf die Seite, kniet dann mit dem HK 416 in den Händen und ist zunächst blind.

Er blinzelt angestrengt, klappt sein Nachtsichtgerät hoch und schützt seine Augen mit den Händen vor der plötzlichen Helligkeit.

Das Zielgebäude ist bei der Detonation eingestürzt. Aus den brennenden Trümmern steigt dichter Rauch auf.

Aus den beiden anderen Gebäuden wird geschossen.

Liegend beginnt Zeppos das Feuer zu erwidern.

»Status«, verlangt er. »Status.«

Keine Antwort von seinem SEAL-Team.

Er gibt zwei weitere Schüsse ab.

»Status«, ruft er nochmals. Lauter. »Status!«

Weitere Schüsse decken ihn ein, treffen Felsbrocken in seiner Nähe und surren als Querschläger davon.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelt Zeppos und ersetzt das leere Magazin seines Sturmgewehrs durch ein volles.

Sorry, Sir, denkt er, als er wieder auf das Mündungsfeuer im nächsten Gebäude schießt, wir haben versagt.

KAPITEL 9

19.45 UHR ORTSZEIT

LAGERAUM DES WEIßEN HAUSES

Admiral McCoy sagt: »Kontakt. Die SEALs bekämpfen in der zweiten Häusergruppe bewaffnete Männer. Der erste Landeplatz scheint ein Irrtum gewesen zu sein.«

Ich nicke nur.

Was hätte ich sonst tun sollen?

Im Hinterkopf habe ich einen Gedanken.

Wird dies ein Carter-Augenblick?

Oder doch ein Obama-Augenblick?

Der Pechvogel Jimmy Carter, der im April 1980 erfuhr, dass das kühne Unternehmen zur Befreiung der im Iran festgehaltenen Geiseln mit einem feurigen Debakel in der Wüste geendet hatte.

Oder der Glückspilz Barack Obama, der hier in diesem Raum erfahren hatte, dass das kühne Unternehmen, OBL im Mai 2011 zu liquidieren, mit einem Triumph geendet hatte, als aus Abbottabad gemeldet wurde: »Für Gott und unser Land – Geronimo, Geronimo, Geronimo, Geronimo – Feind im Kampf gefallen.«

In einer Ecke des großen Bildschirms erscheinen kurz die beiden Hubschrauber, die in wenigen Minuten zurückkommen werden, um die SEALs abzuholen – hoffentlich unverletzt und mit Beute beladen: Festplatten, Schriftstücken, USB-Sticks. Mobiltelefonen und …

In der rechten oberen Ecke des Bildschirms flammt eine Feuersäule auf.

Einige der Anwesenden murmeln, und Vizepräsidentin Barnes ruft aus: »Was war das?«

Ich greife nach einem weiteren Stift, halte mich daran fest.

Mehr kann ich nicht tun.

Wir sind machtlos, müssen hilflos zusehen, und wie schon so oft ist ein sorgfältig geplantes militärisches Unternehmen bei der ersten Feindberührung fehlgeschlagen.

Die bösen Kerle haben immer eine Chance, erinnere ich mich aus meiner Dienstzeit.

Admiral McCoy sagt: »Irgendwas ist schiefgegangen.«

»Das sehe ich«, sage ich.

»Das größte Gebäude … wir haben’s alle gesehen. Es ist einfach explodiert.«

Vizepräsidentin Barnes fragt scharf: »Waren das die SEALs?«

»Nein, Ma’am«, sagt der Admiral. »Die Explosion scheint im Gebäude stattgefunden zu haben. Unsere Bodentruppen hatten nichts damit zu tun. Das war auch kein Luftangriff von unserer Seite.«

Der Kapitän zur See und der Army-Oberst flüstern ihm wieder etwas zu.

Ich sage: »Verstanden.«

Auf dem Monitor wird das zerstörte Gebäude deutlicher dargestellt. Weitere geisterhafte Gestalten sind in Bewegung. Erst eine, dann zwei fallen.

Die Besten unserer Nation, verwundet oder tot auf fremdem Boden liegend.

Von mir entsandt.

McCoy sagt: »Die SEALs erwidern das Feuer, Sir. Und … drei von ihnen sind in die Ruine eingedrungen. Zur Erkundung … um festzustellen, was dort vor sich geht.«

Ich nicke nur.

Die Gesichter der anderen im Lageraum scheinen blutlos, bar jeglicher Gedanken zu sein. Wir warten alle.

Warten.

Ich frage: »Sind die Hubschrauber noch in sicherer Position zum Ausfliegen bereit?«

Flüstern am Tisch, dann sagt der Admiral: »Ja, Sir. Möchten Sie …«

»Nein«, unterbreche ich ihn. »Das müssen die Jungs vor Ort entscheiden.«

»Ja, Sir«, erwidert er.

Ich warte.

Die Vizepräsidentin starrt mich an. Ihr Blick ist streng, ihre blonde Kurzhaarfrisur sitzt perfekt.

McCoy räuspert sich. »Sir … die SEALs bereiten sich darauf vor, ausgeflogen zu werden. Sie … äh, wir haben Verluste, Sir.«

»Wie viele?«

»Zwei Gefallene, mindestens drei Verwundete.«

Scheiße.

»Und Asim al-Aschids Status?«

Keine Antwort. Sie beraten sich wieder flüsternd.

Ich lasse den Stift fallen und schlage mit der flachen Hand auf den Konferenztisch. »Admiral! Asim al-Aschids Status?«

KAPITEL 10

2.45 UHR ORTSZEIT

NAFUSA-GEBIRGE, LIBYEN

Sein linker Unterschenkel schmerzt, und als Chief Zeppos an sich nach unten sieht, ist das Hosenbein seines Kampfanzugs zerfetzt, und er spürt jetzt auch, dass er blutet.

Fuck it, denkt er, während er mit den anderen SEALs daran arbeitet, diese beschissene Situation unter Kontrolle zu bekommen. Das vor wenigen Minuten explodierte Gebäude ist teilweise eingestürzt, und aus der Ruine steigt der Rauch kleiner Brände auf. Vom nächsten Hügelkamm aus werden sie weiter beschossen, aber das Feuer ist undiszipliniert und zufällig, und Lopez, der beste Scharfschütze des Teams, knipst mit seinem MK 13 Mod 7 Sniper Rifle in aller Ruhe einen Schützen nach dem anderen aus.

Die Ziegen, die durch die Explosion in Panik geraten sind, laufen auf der Suche nach einem Hirten in ihrem Steinpferch durcheinander.

Scheiße, das kann dauern, denkt Zeppos. Einer seiner Männer, Herez, kommt zu ihm und meldet: »Wir haben die Verwundeten stabilisiert, Nick.«

Er nickt. Vielleicht kommen die Verwundeten durch, sodass die zwei Gefallenen vielleicht die einzigen schweren Verluste sind, die sie heute Nacht zu beklagen haben.

Prudhomme ist tot, ein guter Kerl aus New Orleans, trotz seines Nachnamens und seiner Cajun-Abstammung der beschissenste Koch der ganzen Einheit.

Und Kowalski.

Der Asim al-Aschids Kopf aufspießen wollte, um ihn als Siegestrophäe ins Oval Office zu bringen.

Drei weitere Männer kommen hustend aus der brennenden Ruine, bewegen sich rasch in seine Richtung.

Picabo erreicht Zeppos als Erster. »Keine Männer im wehrfähigen Alter, keine Festplatten, keine Aktenschränke … absolut nichts! Nur Bettzeug und Öfen und Konserven.«

In den Gebäuden und ihrer näheren Umgebung liegen sieben tote Terroristen, von denen keiner Asim al-Aschid ist, wie eine hastige Untersuchung ergeben hat. Zeppos spuckt auf den Boden. Er sieht, wie seine drei Kameraden versorgt werden, während Wallace bei den gefallenen Prudhomme und Kowalski Wache hält.

»Sonst noch was?«

Picabo hustet. »Scheiße, Chief, sorry. Dort drinnen sind tote Zivilisten.«

»Fuck«, sagt Zeppos.

Von dem Hügel aus wird anscheinend nicht mehr geschossen. Sein verwundetes Bein schmerzt stärker. Das Zielgebäude – das nichts enthält, das diesen Einsatz oder seine Toten und Verwundeten wert gewesen wäre – schwelt weiter.

Picabo sagt: »Die Scheißkerle wussten, dass wir kommen würden.«

»Yeah.«

»Hauen wir ab, Chief?«

Zeppos drückt seine Sprechtaste. »Yeah«, sagt er noch mal. »Wird Zeit, dass wir uns verpissen.«

KAPITEL 11

19.49 UHR ORTSZEIT

LAGERAUM DES WEIßEN HAUSES

Auf dem Monitor sehe ich Rauch und Flammen aus dem großen Gebäude aufsteigen, das an diesem katastrophalen Abend das Angriffsziel der SEALs war. Das von der Aufklärungsdrohne gesendete Bild erfasst jetzt einen weiteren Bereich, sodass wir beobachten können, wie die beiden Black Hawks tiefer gehen, um das Team aufzunehmen. Ich beobachte angespannt, wie die schemenhaften weißen Gestalten, von denen einige Hilfe von Kameraden brauchen, sich den Hubschraubern nähern.

Zwei Paare von SEALs sind langsamer, weil sie ihre toten Kameraden zu schleppen haben.

»Sir«, sagt Admiral McCoy.

»Weiter«, sage ich.

»Asim al-Aschid war nicht dort«, meldet er, und ich höre einige Anwesende enttäuscht seufzen. »Sieben Terroristen sind tot. Sie wurden genau untersucht, aber keiner von ihnen hat seiner Beschreibung entsprochen.«

Im Lageraum herrscht Schweigen, alle Augen sind auf mich gerichtet.

Der übervolle Raum ist jetzt ein sehr einsamer Ort.

»Haben sie etwas Brauchbares erbeuten können?«

»Nein, Sir«, sagt er. »Ein paar Propagandabroschüren, die Ausweise toter Terroristen. Das war’s. Keine Festplatten, keine USB-Sticks, keine Mobiltelefone.«

Ich sehe die Hubschrauber abheben. Bald zeigt der Bildschirm nur noch rauchende Trümmer und Tote.

»Reicht ihr Treibstoff für den Rückflug zur Wasp?«, frage ich.

»Weiß ich nicht sicher«, sagt Admiral McCoy. »Aber sie schaffen es bestimmt. Die Wasp kann ihnen entgegenkommen. Oder wir betanken sie in der Luft, sobald sie über dem Meer sind.«

Ich starre auf den Bildschirm, auf dem noch vor wenigen Minuten tapfere Männer gekämpft haben: für Gott, für unser Land, für mich … und der nun leer ist.

»Admiral«, sage ich.

»Sir.«

Ich sehe kurz zu ihm hinüber, registriere die finsteren Gesichter meines Teams. Bestimmt haben alle gespannt darauf gewartet, mich im Fernsehen verkünden zu sehen, Asim al-Aschid sei getötet oder gefangen genommen worden. Ich zweifle nicht daran, dass einige von ihnen später Freunden und Angehörigen geschildert hätten, »wie es wirklich war«, diesen geschichtsträchtigen Augenblick an der Seite des Präsidenten zu erleben.

»Zivilisten«, sage ich. »Sind Zivilisten umgekommen?«

McCoy zögert nicht, was ihn ehrt. »Ja, Sir. Eine Frau und drei kleine Mädchen. Aus den erbeuteten Dokumenten scheint hervorzugehen, dass es sich um Asim al-Aschids Familie handelt.«

Oh verdammt, denke ich.

»Von uns getötet«, sage ich.

»Bei der Explosion des Gebäudes umgekommen«, sagt McCoy.

»Und es ist explodiert, weil wir dort waren«, sage ich. »Weil das Kreuzfeuer eine Sprengfalle getroffen hat oder ein Stapel Munition hochgegangen ist – irgendwas in dieser Art.«

Im Raum herrscht kurz Schweigen.

Ohne jemanden speziell anzusprechen, frage ich: »Kann jemand dieses gottverdammte Video abstellen?«

Nach etwa einer Sekunde wird der Monitor schwarz.

Wenigstens das hat heute Abend geklappt.

Ich wechsle einen Blick mit Jack Lyon, meinem Stabschef. Er ist stämmig, trägt eine runde Hornbrille und hat die braunen Haare nach hinten gegelt. Er ist ein erfahrener Parteisoldat, den mein Vorgänger als Ersten ernannt hat, und ich habe ihn behalten, weil er weiß, wie man Türen öffnet und mit den richtigen Leuten richtig telefoniert, was in dieser Stadt mehr wert ist als Gold.

»Jack«, sage ich.

»Sir.«

Ich sehe auf die Uhr. Kurz vor 20.00 Uhr. Zu früh.

»Informieren Sie die Medien«, sage ich. »Um 21.00 Uhr gebe ich eine persönliche Erklärung ab. Bis dahin müssten die SEALs wieder sicher an Bord der Wasp sein.«

Während andere murmeln und sich mir zuwenden, sagt mein Stabschef: »Die großen Sender werden ihr Programm ungern unterbrechen, wenn ich ihnen keinen Hinweis darauf geben kann, was Sie sagen werden, Mr. President.«

»Damit sie ihn binnen sechzig Sekunden nach Ihrem Anruf weiterverbreiten?«

Er sagt: »Wenigstens fünf Minuten Vorwarnung. Die sollten Sie ihnen zugestehen, Mr. President.«

Ich nicke. »Na gut. Sagen Sie ihnen, dass ich die Öffentlichkeit um 21.00 Uhr über das heutige Unternehmen gegen Asim al-Aschid unterrichten und erklären werde, wieso es seine Ziele nicht erreicht hat.«

Sag nicht, dass es gescheitert ist, denke ich. Amerikaner mögen das Wort Misserfolg nicht.

Sandra Powell, die Nationale Sicherheitsberaterin, sagt: »Mr. President, ich denke, Sie sollten pausieren, abwarten, bis alle Fakten auf dem Tisch liegen und …«

Ich hebe eine Hand.

»Nein«, sage ich. »Nicht heute Abend. Wir haben Scheiße gebaut. Wir haben Zivilisten umgebracht. Das ist nicht unsere Art. Das war ein Unfall in der Hitze des Gefechts, aber ich werde nicht zulassen, dass diese Regierung ausweicht und sich wegduckt und floskelhafte Erklärungen darüber abgibt, dass wir nichts sagen werden, bis alle Tatsachen bekannt sind. Zum Teufel damit! Wir haben alle gesehen, was passiert ist. Die SEALs sind reingegangen – auf meinen Befehl, zu dem ich autorisiert bin – und haben ihren Auftrag ausgeführt. Das hat nicht gut geklappt. Und dabei sind Unbeteiligte gestorben. Dafür sind wir verantwortlich.«

Im Raum herrscht weiter Schweigen.

Verteidigungsminister Pridham Collum räuspert sich. »Mit Verlaub, Mr. President, der im Feld stehenden Truppe dürften Ihre Anmerkungen wenig gefallen.«

Ich verliere kurz die Beherrschung. »Pridham, wer dürfte die Stimmung der Truppe besser kennen, ein Veteran oder ein Absolvent der Sloan School am MIT

Ich bedaure diese Worte sofort.

Der Verteidigungsminister wird rot und blättert in den vor ihm liegenden Papieren.

Reiß dich zusammen!

»Heute Abend werde ich den Zweck des Unternehmens erklären und aus Geheimdienstberichten über die von Asim al-Aschid im Lauf der Jahre verübten Verbrechen zitieren«, sage ich. »Ich werde betonen, dass ich die SEALs aufgrund der besten verfügbaren Informationen losgeschickt habe, und mein persönliches Bedauern über die Ereignisse am Zielort ausdrücken.«

Stabschef Lyon fragt ruhig: »Eine Entschuldigung, Mr. President?«

»Die gehört dazu, wenn man Verantwortung übernimmt«, sage ich. »In diesem Fall ist sie angebracht.«

Damit ist Sicherheitsberaterin Powell nicht einverstanden. »Mit Verlaub, Mr. President, das wäre ein schwerer Fehler. Damit unterminieren Sie Ihr Ansehen und Ihre Autorität in Nordafrika. Unsere Verbündeten – auch wenn sie uns nach außen hin loben – werden sich insgeheim fragen, ob wir zu schwächeln anfangen.«

Ich sammle Stifte, Unterlagen und meinen gelben Notizblock ein und stehe auf. Zu den Vorteilen des Präsidentenamts gehört es, dass jede Besprechung beendet ist, wenn man aufsteht.

»Wenn’s Schwäche ist, die Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen«, sage ich, »kann ich damit leben.«

Einige meiner Leute versuchen noch, mich anzusprechen, als ich den Raum verlasse, aber Vizepräsidentin Pamela Barnes, die in ihrer Ecke sitzt und mich nur ansieht, gehört nicht zu ihnen.

KAPITEL 12

21.06 UHR ORTSZEIT

RESIDENZ DER VIZEPRÄSIDENTIN, U.S. NAVAL OBSERVATORY

Nachdem sie in ihrer Privatwohnung auf dem Gelände des U.S. Naval Observatory lange und siedend heiß geduscht hat, trägt Vizepräsidentin Pamela Barnes einen schlichten blauen Frotteebademantel, der sie aus der Gouverneursresidenz in Tallahassee nach Washington begleitet hat. Jetzt tut sie, was sie an den meisten Abenden zu tun versucht, nachdem sie tagsüber durch den politischen Sumpf der Hauptstadt gewatet ist: Sie entspannt sich in einem bequemen Sessel mit einem Glas Glenlivet auf Eis in der Hand und ihrem Ehemann Richard zu ihren Füßen.

Er lehnt an einem Hocker und massiert mit einer Feuchtigkeitscreme ihre rissigen, wunden Füße, unter denen sie leidet, seit sie vor vielen Jahren für sich und andere aufgestanden und in die Politik gegangen ist.

Das luxuriöse Wohnzimmer – mit antiken Möbeln und Ölgemälden vollgestopft – ist dezent beleuchtet, und auf dem Großbildschirm vor ihnen scheint der Präsident der Vereinigten Staaten seine Ausführungen zu beschließen.

»… habe ich das Außenministerium angewiesen, den Familien der von unserem Militär unabsichtlich Getöteten durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes in Genf eine finanzielle Entschädigung anzubieten …«

Der Mann der Vizepräsidentin schnaubt, während seine kräftigen Hände die Creme einmassieren. »Dummkopf. Könnte diesem Terroristen genauso gut einen Blankoscheck ausstellen. Kapiert er nicht, dass jeder Cent, den die Angehörigen bekommen, sofort an Asim al-Aschid weitergeleitet wird?«

Barnes nimmt einen befriedigenden Schluck von dem Single Malt Whisky – das einzige kleine Laster, das sie sich allabendlich gestattet. Einen einzigen Drink, nie mehr. Sie war lange genug in Tallahassee, um miterlebt zu haben, wie etliche hoffnungsvolle Karrieren durch zu viel Alkohol und zu wenig Urteilsvermögen ruiniert wurden.

Sie sagt: »Nach Auskunft des Finanzministeriums lässt sich das vermeiden. Wir können eine Art Fonds einrichten, dessen Zahlungen an bestimmte Leute sich verfolgen lassen, damit kein Plastiksprengstoff oder Waffen gekauft werden.«

Richard drückt noch etwas mehr Feuchtigkeitscreme in seine kräftigen Hände. Er war Rancher im Osceola County und konnte es sich leisten, in die Politik zu gehen, nachdem er einem Spielkasino ein großes Stück Land verkauft hatte. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie Senatorin in Florida und er ein Abgeordneter war, und ihr hatten seine Muskeln – er war kein Schönling in einem eleganten Anzug – und sein scharfer politischer Verstand gefallen.

Dank seiner strategischen Planung hatte sie’s in die Gouverneursresidenz in Tallahassee geschafft und war nur wenige gottverdammte Delegiertenstimmen von der Präsidentschaft entfernt gewesen – ein Ziel, das so verlockend nahe gewesen war.

Zum Teufel mit dem Kerl, denkt sie, nimmt einen weiteren Schluck und erinnert sich an den schmierigen, öligen Senator aus Washington State, der nicht so viel Anstand gehabt hatte, während des Parteitags abzukratzen, bevor er Matt Keating als seinen Vize nominiert hatte, und ihr so die Chance eröffnet hätte, per Akklamation zur Kandidatin gekürt zu werden. Jetzt war schon die Rede davon, Schulen und Straßen nach dem verdammten Idioten zu benennen, der ihr nicht den Job gegeben hatte, der ihr von Rechts wegen zustand.

»… der heutige nächtliche Einsatz von Kräften der United States Navy erfolgte auf meinen Befehl und wurde in ihrer typischen Art hervorragend und tapfer ausgeführt. Sollte jemand sich durch dieses Militärunternehmen und den damit zusammenhängenden Tod von Zivilisten schuldig gemacht haben, liegt die Schuld allein bei mir. Die Navy hat Vorbildliches geleistet und ihren Auftrag glänzend ausgeführt.«

Richard bearbeitet weiter ihre Füße, und sie genießt es, von seinen kräftigen Händen massiert zu werden. »Bullshit«, sagt er. »Die Jungs haben Scheiß gebaut, und dir nützt es nichts, dich in die Stars and Stripes zu wickeln, Navy Boy. Die Wähler mögen keine Fuckups, und sie mögen es erst recht nicht, wenn die Vereinigten Staaten sich für etwas entschuldigen … von gleichzeitigen Geldgeschenken ganz zu schweigen.«

»Richard, bitte …«

Er hört zu massieren auf und sieht mit seinen harten grauen Augen zu ihr auf, das dichte braune Haar sorgfältig gestylt. »Pamela, hör mir jetzt zu, hör mir gut zu. Und unterbrich mich bitte nicht.«

Noch ein kleiner Schluck aus ihrem Glas. »Also gut, bitte weiter.«

»Die Sache sieht folgendermaßen aus«, sagt er. »Wir wissen beide, dass Keating – auch wenn er ordentliche Umfrageergebnisse vorweisen kann – vor allem in der Partei nicht viele Unterstützer hat. Dort draußen gibt es viele Leute mit gutem Gedächtnis und viel Geld, nach deren Überzeugung du auf dem Parteitag in Denver betrogen worden bist. Hätte Lovering den Mumm gehabt, das Rechte zu tun und dich als Vize zu nominieren, säßest jetzt du im Oval Office, nicht dieser Cowboy aus Texas. Und wir wissen beide, dass du garantiert nicht im landesweiten Fernsehen auftreten und dich für irgendwas entschuldigen würdest.«

Die Whiskywärme sickert durch ihren Körper, und ihre Füße schmerzen nicht mehr, als sie sagt: »Uralte Geschichte, Richard. Vorbei und vergessen.«

Er wischt sich die Hände an einem kleinen weißen Handtuch ab und steht auf. »Geschichte ist, was wir aus ihr machen, Pamela. Du weißt, was passieren wird. Seine Umfragewerte werden kurzzeitig besser, weil er den starken Mann markiert, aber nach einer Weile verbreiten sich Storys und Gerüchte. Darüber, wie schwach er ist, wie er im Fernsehen aufgetreten ist, nachdem zwei unserer tapferen SEALs gefallen sind, und wie er auf ihr Andenken und ihre Tapferkeit gepisst hat. Indem er sich wie ein kleiner Schuljunge entschuldigt hat. Kombiniert man das mit der Tatsache, dass er seine Bitch Samantha, die arrogante Professorin, nicht im Zaum halten kann … nun, in einem halben Jahr bricht seine Unterstützung ein.«

Über die Jahre hinweg haben Richards rustikaler Stil und seine unverblümte Redeweise viele aalglatte und angeblich clevere politische Gegner getäuscht, und Pamela hat gelernt, seinen Instinkten zu vertrauen.

»Und das wäre weniger als ein Jahr vor dem Parteikonvent in Iowa und den Vorwahlen in New Hampshire«, sagt sie.

Ein zufriedenes Nicken. »Du hast’s erfasst, Pamela. Hör zu, lass mich ein bisschen herumstochern, mit Leuten reden, unsere Ressourcen ausloten. In der Partei gibt es viele, die bereit sind, Keating im richtigen Augenblick fallen zu lassen und dich zu unterstützen. Es ist unser Job, dafür zu sorgen, dass dieser Augenblick kommt.«

Pamela hört den Mann auf dem Bildschirm sagen: »Vielen Dank und gute Nacht.«

Die Vizepräsidentin greift nach der Fernbedienung, stellt den Fernseher ab, leert ihr Glas.

»Dann mach deinen Job, Richard«, sagt sie.

KAPITEL 13

4.05 UHR ORTSZEIT

BOTSCHAFT DER VOLKSREPUBLIK CHINA, TRIPOLIS

In dem kleinen Speisesaal neben der Küche der chinesischen Botschaft sieht Jiang Lijun vom Ministerium für Staatssicherheit sich mit einer Handvoll Kollegen die Nachrichten auf CCTV-13 an.

Auf dem Bildschirm wendet der US-Präsident sich ernst an seine Landsleute, wie in den eingeblendeten Untertiteln zu lesen ist. An dem runden Esstisch sitzt neben Jiang mit einer Zigarette und einer Tasse Tee Liu Xiaobo, der Wachhabende, der ihn auf den Überfall der Amerikaner aufmerksam gemacht hat.

»Unglaublich, nicht wahr?«, fragt Liu.

Jiang nickt und nimmt einen Schluck von seinem eigenen Da Hong Pao. »Bin ganz Ihrer Meinung.«

Lin schüttelt verwundert den Kopf. »Erstaunlich! Der Narr entschuldigt sich tatsächlich dafür, was seine Soldaten heute Nacht getan haben. Er entschuldigt sich! Können Sie sich vorstellen, dass unser Präsident so etwas täte? Das würde er nicht wagen! Würde er’s auch nur versuchen, würde das Politbüro ihn sofort stoppen … vielleicht sogar absetzen.«

Jiang lächelt, nimmt einen weiteren befriedigenden Schluck von seinem heißen Tee. »In zwei Jahren kann das amerikanische Volk Keating absetzen, falls es will.«

Der Wachhabende sagt: »Gewiss. Und was für ein Geschenk das wäre, nicht wahr?«

»Allerdings«, sagt Jiang, der sich durch den Kopf gehen lässt, was sich seit dem plötzlichen Tod des vorigen Präsidenten alles ereignet hat. »Seit Keating im Amt ist, hat er uns bedrängt, unter Druck gesetzt, gedemütigt … Beschwerden bei der Welthandelsorganisation, Prozesse wegen Patent- und Copyrightverletzungen, Entsendung von Schiffen und Flugzeugen ins Südchinesische Meer … Als gehörten diese Gewässer nicht uns, sondern ihnen.«

Auf dem Bildschirm verfolgt Jiang, wie der nur scheinbar demütige, arrogante US-Präsident seine Entschuldigung vorbringt. Sein Tischnachbar Liu hat völlig recht. Ihr eigener Präsident im Fernsehen, erschüttert und den Tränen nahe wie dieser amerikanische Führer … undenkbar!

Niemals.

Deshalb, sagt Jiang sich, werden wir zuletzt siegen.

Keine Entschuldigungen.

Nur das Handeln einer Weltmacht, die den ihr zustehenden Platz einnimmt.

Liu streift Zigarettenasche in seine Untertasse ab. »Wär’s nicht fantastisch, Genosse Jiang, wenn der fehlgeschlagene Raid von heute Nacht und diese Entschuldigungsrede Keatings Niederlage besiegeln würden, wenn die Amerikaner nächstes Mal zu den Wahlurnen gerufen werden? Was für ein glückliches Ergebnis das wäre!«

Jiang nickt befriedigt und denkt an das Telefongespräch, das er vor kaum zwei Stunden in seinem abhörsicheren Büro im Keller geführt hat. Für sein Land, versteht sich, aber auch für sein noch ungeborenes Kind.

»In der Tat ein sehr glückliches Ergebnis«, sagt er.

KAPITEL 14

8.00 UHR ORTSZEIT

NAFUSA-GEBIRGE, LIBYEN

In einer abgelegenen Höhle in diesen geschichtsträchtigen libyschen Bergen sitzt Asim al-Aschid mit untergeschlagenen Beinen auf einer Wolldecke und wartet. Sein Morgenbecher Chai ist fast ausgetrunken. Die kalte Luft lässt die Gipfel spitz und hart aussehen. Umgehängt trägt er eine spezielle Decke, die sein chinesischer Verbündeter ihm vor Jahren geschenkt hat. Sie hat den Zweck, sein Wärmebild vor den verfluchten Drohnen zu tarnen, die ständig versuchen, ihn aufzuspüren. Die Tarndecke hat fast die Farbe der Felsen, sodass er selbst für eine Drohne mit leistungsfähiger Kamera vom Höhleneingang aus kaum zu entdecken wäre.

Neben ihm stehen ein kleiner Rucksack mit seinem Koran, Kleidung zum Wechseln, Essen und Wasser. An der Felswand lehnt ein geladenes Sturmgewehr AK-47, und in seinem Schulterholster steckt eine Tokarew, eine russische 7,62-mm-Pistole.

Einige Meter hinter ihm, tiefer in der Höhle, sitzt der Kurier, der ihm die Nachricht vom Tod seiner Familie überbracht hat. Letzte Nacht hat Asim von Teufeln und Dschinnen geträumt, die seine Frau und seine kleinen Mädchen zerrissen haben, und mit der Ankunft des Kuriers vor wenigen Stunden haben diese Träume sich erfüllt.

Inna lillahi wa inna ilayhi raji’un, betet er erneut. Wahrlich, wir gehören Gott, und zu Gott kehren wir zurück.

Der Kurier bewegt sich nicht, spricht nicht. Er ist in eine blaue Plastikplane gehüllt, lehnt sitzend an der Höhlenwand und verhält sich ruhig.

Asim stört sich nicht an der Einsamkeit, dem harten Fels, seiner unwirtlichen Umgebung. Er kennt die Luxusrestaurants, Hotels und Universitäten von New York, London, Paris und Berlin. Er hat alle diese Städte mehrmals besucht und Geld verteilt, um loyale Unterstützer für spätere Anschläge zu gewinnen. Aber das Leben im Westen mit all seinen Versuchungen hat ihn und seine Brüder und Schwestern zu Müßiggang und Gottlosigkeit verlockt.

Er betrachtet seine Hände, die rau und schwielig und vernarbt sind. Vor vielen Jahren, als er noch studierte, waren diese Hände glatt und weich gewesen, und er hatte davon geträumt, Chirurg zu werden. Dank der Großzügigkeit einer Tante im benachbarten Tunesien hatte er ein Jahr lang an der Université de Tunis El Manar Medizin studieren können. Dort hatte er gesoffen und gehurt, aber auch fleißig studiert, und ein Leben im Westen hatte ihn gelockt … bis der Ruf des Dschihads unüberhörbar geworden war.

Asim reibt sich die rauen Hände.

Vergangene Zeiten.

Die Sonne steht noch nicht lange am Himmel, und er sitzt um Ruhe bemüht da und denkt daran, wie Omar Muchtar, Friede sei mit ihm, vor über einem Jahrhundert jahrelang gegen die Italiener gekämpft hatte, um sein und Asims Heimatland zu befreien. Der Gottgesandte hatte in Bergen wie diesen gelebt und gegen die westlichen Kolonialisten gekämpft, die seit Jahrhunderten versucht hatten, dieses Land zu erobern und seine Bevölkerung zu versklaven.

Asim hat sich stets von ihm inspirieren lassen.

Sein Land, sein Volk, seine Familie.

Bewegung unter ihm.

Asim greift nach seinem deutschen Zeiss-Glas, stellt es auf den kaum sichtbaren Bergpfad scharf.

Da!

Ein Mann und eine Frau, die in gleichmäßigem Tempo den mit Felsbrocken übersäten Weg heraufkommen und sich dabei lachend unterhalten. Ihre leuchtend roten Rucksäcke stehen in auffälligem Gegensatz zu der Felswüste, durch die sie lässig schlendern. Der langhaarige Mann sieht jung und kräftig aus, ist ähnlich blond wie die Frau. Etwa zwei Dutzend Meter unterhalb von Asims Höhle rasten sie kurz, reden und lachen aber weiter.

Der Mann hilft der Frau, ihren Rucksack abzusetzen. Ihre Fleecejacke spannt über ihrer Brust. Der Mann setzt seinen Rucksack ab, lacht erneut und kommt den Weg herauf, der zu der Höhle führt.

Asim hält die Tokarew schussbereit.

Am klaren blauen Himmel über den Bergen erscheint ein Falke, der in den ersten Aufwinden kreist.

Der blonde Mann bleibt am Höhleneingang stehen, dreht sich um, winkt und ruft der Blondine unter sich etwas zu, das sie mit einem Winken quittiert. Der Mann tritt gebückt in die Höhle. Sobald seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, lächelt er und sagt: »As-salaam ’alaikum, mein Cousin.«

Zu seinem Cousin Faraj sagt Asim: »Wa ’alaikum as-salaam.«

Der Mann lässt sich ihm gegenüber nieder.

Einige Minuten vergehen schweigend.

Asim fragt: »Wer ist die Hure, die du mitgebracht hast?«

»Eine dänische Studentin. Ich habe sie in einem Club in Tripolis kennengelernt. Sie ist mit dem Rucksack hier und in Tunesien unterwegs, interessiert sich für römische Ruinen. Ich habe ihr erzählt, dass es hier in den Bergen unbekannte Ruinen gibt, und sie war sofort bereit, mich zu begleiten. Ich habe sie mit den schönen Worten eingewickelt, die ich auf der Uni gelernt habe. Das war einfach.«

»Und sie hat dir geglaubt?«, fragt Asim weiter.

Faraj berührt sein Haar. »Sie ist eine dumme junge Frau. Sie glaubt alles.«

Asim, der sich an die eigene Studienzeit erinnert, nickt zustimmend.

Faraj sagt: »Cousin, wann bekomme ich mein braunes Haar zurück? So sehe ich wie ein Trottel aus.«

»Wenn ich’s dir sage. Das gefärbte Haar und diese Hure erhalten dich am Leben, während du hier im Gebirge unterwegs bist. Kein amerikanischer Drohnenpilot hält zwei blonde Wanderer für Feinde, die verfolgt oder getötet werden müssen.«

»Ja, Cousin.«

»Aber es war eine gute Idee, diese Hure mitzunehmen. Ziemlich clever.«

»Danke, Cousin.«

Sie sitzen eine Weile schweigend da, bis Faraj sagt: »Entschuldigung, Cousin, aber … ist das Ali hinter dir?«

»Ja«, sagt Asim.

»Er ist tot.«

Asim sagt: »Er hat mir die Nachricht vom Tod meiner Layla und unserer drei Mädchen überbracht. Er konnte keine meiner Fragen beantworten. Ich habe nach Layla, dann nach Amina, Zara und Fatima gefragt. Er wusste keine Antwort. Er hat … ungehalten auf meine Fragen reagiert.«

Seine Stimme versagt für einen Augenblick.

Kraft, denkt er. Allah, gib mir Kraft!

Er sagt: »Das konnte ich nicht ertragen. Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten.«

Faraj nickt. »Das verstehe ich, Cousin.«

Asim, nun wieder bei Kräften, fordert ihn auf: »Erzähl mir, was du weißt.«

»Die Amerikaner sind vor sechs Stunden gekommen. Unsere Kämpfer waren vorgewarnt. Es ist zu einem Feuergefecht gekommen. Der im Hauptgebäude lagernde Sprengstoff für den Anschlag in Tripolis ist detoniert. Deine Frauen … sie haben in Leichentücher gehüllt vor dem Haus gelegen.« Faraj spuckt angewidert aus. »Als hätten die Hunde versucht, ihnen Respekt zu erweisen.«

Asim faltet die Hände. »Morgen oder übermorgen fährst du hin, inspizierst die Örtlichkeit, begräbst unsere Toten und bezeichnest die Gräber meiner Frau und meiner Töchter. Eines Tages werde ich sie besuchen, inschallah

Eine Frauenstimme zerschneidet die dünne Bergluft. »Die Hure wird ungeduldig, Cousin«, sagt Faraj. »Ich muss gehen. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Der amerikanische Präsident … Keating. Er hat eine Tochter, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.«

»Darüber werde ich nachdenken.«

»Willst du …«

»Nein, nicht jetzt«, sagt Asim. »Wir müssen geduldig sein.«

Faraj steht auf und ergreift Asims rechte Hand, die er küsst. »Ich trauere um deine Frauen, Asim.«

»Ich danke dir, Cousin«, sagt er. »Sie sind … waren ein Segen und eine Freude für mich.«

Asim kann nicht weitersprechen. Seine Kehle ist wie zugeschnürt.

Faraj bleibt am Höhlenausgang stehen. »Soll ich die Hure jetzt umbringen?«

»Nein«, sagt Asim. »Ihre Zeit ist nicht gekommen. Ihr Verschwinden würde zu Nachforschungen führen. Aber wenn du wieder zu Hause bist, Faraj, kannst du zu deiner natürlichen Haarfarbe zurückkehren. Du hast mir gut gedient.«

»Wie du wünschst, Cousin.«

Faraj geht, und Asim wartet, ohne sich die Mühe zu machen, seine Rückkehr zu der Studentin zu beobachten, die ihrem Schöpfer für den Rest ihres Lebens zutiefst dankbar sein sollte, weil er sie davor bewahrt hat, schon heute in den Himmel geschickt zu werden.

Er wartet.

Der Leichengeruch wird stärker. Irgendwann wird er die Höhle verlassen müssen.

Aber nicht schon jetzt.

Seine Familie, seine Frau, seine Mädchen. Alle tot. Das hat Allah so bestimmt, aber trotzdem …

Der Schmerz brennt in seinem Inneren.

Er beobachtet den kreisenden Falken, der sich so harmlos langsam bewegt, aber ständig auf der Jagd ist, nur auf den richtigen Augenblick zum Herabstoßen wartet.

Asim betet um solche Geduld.

KAPITEL 15

TAG DER AMTSEINFÜHRUNG

OVAL OFFICE, WEIßES HAUS

Ich spüre Samanthas Anspannung, als eine Gruppe von Fotografen die allerletzten Fotos von Präsident Matthew Keating und seiner reizenden Familie macht, bevor ich in ungefähr vier Stunden der ehemalige Präsident Matthew Keating sein werde. Mein linker Arm ist um sie gelegt, mein rechter Arm um unsere Tochter Melanie, aber während Mels Schulter sich anfühlt wie die eines typischen Teenagers, der es kaum erwarten kann, Abstand von dem guten alten Dad zu gewinnen, fühlt sich die Schulter meiner Frau wie aus Granit gehauen an.

Dann hebt eine meiner Assistentinnen aus der Pressestelle des Weißen Hauses die Hand und sagt: »Danke, danke sehr, wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.« Und sie schafft es tatsächlich, die Fotografen aus dem Oval Office zu scheuchen, wobei sie aussieht, als triebe sie eine störrische Herde vor sich her.

Eigentlich sollten nur Fotos gemacht werden, aber das Pressekorps des Weißen Hauses ist stolz darauf, die Regeln möglichst weit zu dehnen, und dieser historische Tag bildet keine Ausnahme.

»Mr. President, haben Sie im Resolute-Schreibtisch ein paar Zeilen für Ihren Nachfolger hinterlassen?«

»Irgendwelche abschließenden Gedanken am letzten Tag Ihrer Amtszeit?«

»Wie fühlt es sich an, der einzige amerikanische Präsident zu sein, der die Wiederwahl gegen seine Vizepräsidentin verloren hat?«

Samanthas Schulter verhärtet sich noch mehr, und ich lächle angestrengt, als die Horde sich an uns und dem Agenten vom Secret Service vorbeidrängt und die leicht geschwungene Tür geschlossen wird, sodass nur wir drei zurückbleiben.

Mel tritt einen Schritt zur Seite und sagt: »Jesus, ich dachte, sie würden nie mehr gehen. Sie konnten die Gelegenheit, sich als Arschlöcher zu beweisen, einfach nicht auslassen.«

Sie trägt ein grünes Kleid mit einer Jacke in sanftem Gelb, und ihr blondes Haar – das meistens ungebändigt von ihrem Kopf absteht – ist für diesen historischen Tag ordentlich frisiert. Eine Brille mit farblosem Acrylgestell umrahmt ihre blassblauen Augen, die leider mit Kurzsichtigkeit und Astigmatismus doppelt geschlagen sind.

»Mom, Dad, kann ich ein letztes Mal in mein Zimmer gehen, bevor wir fahren?«

»Um verlorene Schätze zu suchen?«, frage ich.

Sie verdreht leicht die Augen. »Dad, bitte, ich suche meine Lieblingsbarbie.«

»Die mit dem Kung-Fu-Griff oder die mit den beiden Colts?«

Diesmal verdreht sie die Augen stärker. »Dad … okay, dann bis gleich.«

Samantha bedenkt unseren Teenager mit einem wissenden Lächeln. »Heute keine Tricks oder komisches Zeug, okay? Wir haben einen vollen Terminplan.«

»Klar, Mom.«

»Und vielleicht kannst du die Brille wiederfinden, die du letzten Monat verschlampt hast.«

»Mom!«, protestiert Mel. »Du tust gerade so, als hätte ich sie absichtlich verloren.«

Mit einem Lächeln sagt meine Frau: »Geh nur, aber komm nicht zu spät wieder.«

Mel verlässt das Oval Office, geht an dem Secret-Service-Agenten vorbei, der in das Mikrofon in seiner Manschette flüstert – vermutlich irgendwas wie: »Hope ist in den Wohntrakt unterwegs« –, und ich atme tief durch, damit das enge Band, das meine Brust einschnürt, sich vielleicht ein wenig lockert. Hinter mir liegt ein düsteres, miserables halbes Jahr, seit Vizepräsidentin Pamela Barnes mich bei der Kandidatenkür unserer Partei in Chicago geschlagen hat und ich als fairer Verlierer meine Niederlage eingestanden und die Partei aufgerufen habe, sich hinter ihr zu vereinen.

Seit Chicago bin ich mir vorgekommen, als säße ich eine Haftstrafe ab. Nach dem Parteitag war ich eine »lahme Ente« und konnte nicht mehr viel erreichen, während sie auf Wahlkampftour ging. Sie bat mich nie um meine Unterstützung, daher hatte ich zu viel Zeit, die Vorwahlen zu analysieren. Obwohl ich nach Stimmen knapp vorn gelegen hatte, blieb sie in fast allen Fraktionsversammlungen siegreich, sicherte sich mehr Superdelegierte und gewann die Nominierung anständig und ehrlich.

Unter der geschickten Anleitung ihres skrupellosen Ehemanns benutzte sie den fehlgeschlagenen Libyen-Einsatz und meine wahrheitsgemäße Schilderung, um mich als zu schwach und gleichzeitig zu aggressiv hinzustellen. Das war ein raffinierter Trick, der bei der politischen Presse und jüngeren Wählern, die immer auf der Suche nach etwas Neuem sind, gut ankam.

Ich hätte imstande sein müssen, einen Weg zu finden, um doch noch zu gewinnen, aber das konnte ich nicht. Leider brachte ich für den Kampf um die Nominierung mehr Erfahrung als Navy SEAL mit vielen Auslandseinsätzen als Erfahrung in innenpolitischen Grabenkämpfen mit. Und darüber war ich weiterhin verärgert – so sehr, dass ich mehrmals versucht war, zurückzutreten und ihr das verdammte Amt zu überlassen, bevor sie im November einen Wahlsieg feierte.

Aber das konnte ich nicht. Kein früherer oder aktiver SEAL würde jemals aufgeben, bevor der Auftrag ausgeführt ist. Und das sollte auch kein Präsident tun.

Samantha lässt einen Seufzer hören. Sie trägt ein burgunderrotes Kleid, und ihre schwarze Mähne ist sorgfältig frisiert. Ihr einziger Schmuck ist eine dezente goldene Halskette. Sie bleibt die schöne Frau, die mich bezaubert hat, als wir uns in San Diego, wo ich in der Ausbildung war, begegnet sind. Sie absolvierte damals ein Graduiertenstudium in Anthropologie an der Stanford University und erforschte präkolumbianische Indianersiedlungen.

Ihr gebräunter Teint ist makellos, und ich habe ihr oft im Scherz erklärt, mit ihrem Aussehen und ihrer Intelligenz hätte sie als Model Karriere machen können. Sie hat immer behauptet, nein, dafür sei ihre Nase zu groß, und ich habe ihr jedes Mal lächelnd widersprochen.

»Glaubst du, dass wir uns darauf verlassen können, dass Mel rechtzeitig zurückkommt?«, fragt sie.

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