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Dino Moms

Als Buch hier erhältlich:

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»In meinem Leben war ich immer eine gute Frau gewesen, die ihre Bedürfnisse kontrollierte. Aber vor kurzem war mir meine schlechte Energie aufgefallen und ich begann, ihr zu folgen...«

Lesley hat einen unerwarteten Wutausbruch in einer betrieblichen Therapiesitzung für Eltern, die in den Job zurückkehren. Ein Paar mit zwei kleinen Kindern nimmt sich die längst überfällige Zeit, die Beziehung wieder aufleben zu lassen und ein unüberlegtes Sex-Tape zu drehen. Eine Frau sorgt auf der Hochzeit ihres Ex-Mannes absichtlich für eine Konfrontation. Und Deborah muss einsehen, dass ihr Haus keine uneinnehmbare Festung ist...

Dino Moms wirft Schlaglichter auf das Leben bissiger, subversiver und ungezähmter Frauen. Diese kraftvollen Kurzgeschichten erforschen gescheiterte Schwesternschaft, fragwürdige Moralvorstellungen von Elternschaft und die dunkle Seite moderner Liebe. Naomi Wood wendet sich nach zwei erfolgreichen Romanen dem Genre der Erzählung zu und das Ergebnis könnte nicht rebellischer und unterhaltsamer sein.


  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013371

Leseprobe

für
Cathryn Summerhayes und Francesca Main – danke

Lesley in Therapie

Obwohl die Geburten ihrer Babys weit auseinanderlagen, kamen Lesley und Irina beide zur selben Zeit aus der Elternzeit zurück: Irina hatte das Kontingent ausgeschöpft und Urlaub drangehängt, aber Lesley hatte vorzeitig abgebrochen. Deshalb landeten sie am selben Tag in der Gruppentherapie für wiederkehrende Eltern, was für Lesley das schlimmstmögliche Szenario war, denn wer wollte schon mit einer in die Mom-Zone entschwundenen früheren Freundin in Gruppentherapie sein? Außerdem wusste Irina Sachen über Lesley, die niemand sonst wissen durfte.

Das Timing war lausig. Am Nachmittag sollte Lesley Jerry ihr neues Spiel pitchen, und die GT (wie die erfahrenen Mütter im Haus sie nannten) würde den gesamten Vormittag dauern. Normalerweise wäre sie davon ausgegangen, dass sie gute Chancen hatte, für ihr Spiel grünes Licht zu bekommen, aber sie war in einen gesättigten Markt zurückgekehrt, in ein wirtschaftliches Tief, mit Stellenabbau am Horizont. Überraschend eigentlich, dass die GT noch lief – aber so machtvoll war eben Rise, die Initiative für Chancengleichheit, deren Fördergeldzahlungen an Videospielhersteller von solchen Trainings abhing.

Im sechsten Stock von IX Games stieg Lesley aus dem Fahrstuhl. Dort war eine Finanzabteilung, irgendwas Unspannendes – Auftragsvergabe vielleicht? Jedenfalls viele Männer. Zum Beratungsraum ging es durch einen Vorflur, und in den Teppich – maulwurffarben und pelzig – sanken ihre Schichtabsätze ein. Irina war schon da, und Li Jing, die auf ihr Telefon starrte. Sie waren alle frischgebackene Mütter.

Irina lächelte, als sich Lesley setzte. Seitdem sie beide zurück waren, versuchte Irina ihre Freundschaft wieder aufzuwärmen. »Witzig, dass wir am selben Tag hier sind«, sagte Irina.

»Yep.«

»Wie geht’s dem kleinen Max?«

»Ganz gut«, sagte Lesley.

»Ist er im Little Jungle?«

Lesley nickte. »Und Zeppe?«

»Bei meiner Mum.«

»Schön, wenn die Verwandtschaft mitmacht«, sagte Lesley und wandte sich ab.

Der Raum wirkte bieder, besonders für so ein Hightechgebäude wie IX. Die Atmosphäre glich der eines Wartezimmers oder eines Vorraums zur Leichenhalle; gepolsterte Stühle, gravierte Plastikschilder, auf dem Tisch ein Teller Kekse, die wie dunkle regungslose Handys aussahen. Vielleicht, dachte Lesley und prüfte die Luft auf das Zitrus-Aerosol, das sie an der Highschool auf den Toiletten geschnüffelt hatte, waren sie im Pausenraum für die Putzkräfte? Sie hörte ein Geräusch, wahrscheinlich von der Heizung. Eine leise Zersetzung. Lesley fragte sich, warum sie nicht einen der Meetingräume benutzten – aber die hatten Glasfronten, und womöglich würde es Tränen geben, Regulationsstörungen, Gefühle.

Zufrieden stellte sie fest, dass sie von allen anwesenden Frauen am gepflegtesten aussah.

Es war merkwürdig, dass die Therapeutin spät dran war. Lesley war oft zu spät zu Christina gekommen, einer ernsten Psychoanalytikerin der alten Schule. Trotz der fünfundsiebzig Pfund pro Stunde hatte Lesley die Termine sanft, aber bestimmt sabotiert. Inzwischen hatte sie längst ihr persönliches Wachstum aufgegeben, um die Kinderbetreuungskosten zu stemmen. Little Jungle war nicht gerade billig.

Li Jings Handy gab Woosh-Geräusche von sich. Sie hatte weder gegrüßt noch aufgeblickt, als Lesley hereinkam, und Lesley fragte sich, ob sie auch keine Lust auf das Ganze hatte. »Weißt du, wie lange das hier dauert?«, fragte Lesley sie, aber dann kam die Therapeutin.

»Hallo allerseits! Ich bin Tina«, sagte sie, gab ihnen die Hand und entschuldigte sich mit einer steckengebliebenen Bahn in Moorgate. Tinas Haut hatte etwas Seidiges, Pudriges an sich, wie Latex. Unter dem Halstuch trug sie ein tief ausgeschnittenes Top, was ihr zusammen mit dem geglätteten blonden Haar die Ausstrahlung einer sexy Late-Night-Moderatorin gab.

Tina bat die Frauen, ihre Namen auf Schilder zu schreiben.

Lesley schrieb »Les«, was den Leuten immer im Hals steckenblieb.

»Okay!«, sagte Tina mit einem Blick in die Runde. »Ziemlich viele von euch haben dieses Jahr Kinder bekommen.« Dann ging es eine Weile um Vertraulichkeit, einen Safe Space, den Ablauf der GT, bla, bla, bla, bis sie ohne Vorwarnung anfing.

»Welche Ängste verbindet ihr mit eurem Wiedereinstieg in die Arbeit?«, fragte Tina.

Li Jing sagte, sie habe Angst, ihr Pensum nicht zu schaffen, und Irina, ihr würde die Verbindung zu ihrem Baby fehlen, das sie noch stillte. Zeppe sei vierzehn Monate alt, fügte sie hinzu, und habe angefangen zu beißen.

Wohl eher ein Kleinkind, hätte Lesley am liebsten gesagt.

Tina wandte sich ihr zu. »Les?« Tina hatte diese makellos großzügige Art, die Lesley für ein sicheres Indiz für internalisierte Ängste hielt.

Lesley erfand etwas von Rückenproblemen und einem unergonomischen Bürostuhl.

»Super«, sagte Tina, obwohl sie sichtlich enttäuscht war. »Manchmal müssen wir uns klarmachen, wo wir herkommen, um zu begreifen, wer wir sind. Mag eine von euch ihre Geburtsgeschichte mit uns teilen?«

Irina erzählte als Erste, aber Lesley kannte das alles und hörte weg. Geburtsgeschichten hatten sie und ihr Mann schon in einer Elterngruppe des National Childbirth Trust gehört, aus der sie schnell wieder ausgetreten waren. Die anderen Paare waren unerträglich gewesen, gefühlsduselig und dominant zugleich; Charlie hatte ihr zugestimmt, dass sie da wieder rausmussten, und zwar pronto. Dem Gruppenleiter hatten sie gesagt, sie wollten sich in London eine Gruppe suchen, in der mehr Amerikaner waren, aber sie gestanden einander ein, dass sie die Emotionalität der Gruppe unerträglich fanden.

Li Jing – die sich bereitwilliger beteiligte, als es Lesley erwartet hatte – bot eine knappe Synopse ihrer ersten Kindsgeburt, die mit einem Plädoyer für einen geplanten Kaiserschnitt beim zweiten Mal geendet hatte; sie hatte der Hebamme eine selbst laminierte Kopie der NICE-Behandlungsrichtlinien unter die Nase gehalten. Li Jing machte eine schneidende Geste auf Hüfthöhe, und dann tat sie so, als würde sie einen Eimer auskippen. Sollte das das Baby sein? »Wir denken immer, die Hebammen stehen auf unserer Seite, aber das stimmt nicht«, sagte Li Jing. »Sie spielen den Schmerz herunter, als wäre es gar nichts

Lesley dachte an ihre eigene Hebamme, Sandra, die sehr gut zu ihr gewesen war, nachdem Max sie von vorn bis hinten mittendurch gerissen hatte. Nach der Geburt hatte sie ihn deshalb nicht tragen können. Ein Baby bekommen und es dann nicht tragen können! Der Gedanke machte Lesley so traurig.

»Les?«

Sie spürte, dass Tina an sie herankommen wollte; auch Irina beugte sich in einer Haltung des aktiven Zuhörens vor. Es glich einem Spiel, das Lesley entwickeln könnte: Katze, Maus; Belohnung, Falle. »Nein«, sagte Lesley. »Nein danke.«

Lesley beteiligte sich wenig und nur auf Nachfrage. Eine Stunde verstrich. Das Gespräch müffelte zunehmend nach Körpern und Kindern, und Lesley musste sich auf ihre Hände setzen wie in der Elterngruppe des National Childbirth Trust.

Bald begann Irina zu weinen. Sie war früher so cool gewesen, Lesleys Saufkumpanin, ihre Bürogenossin und Lästerfreundin auf WhatsApp, und jetzt wurde Irina fast komplett von ihrer Mutterrolle absorbiert. »Wisst ihr, manchmal«, sagte sie, ein Taschentuch in der Hand, das Gesicht kummervoll zerknüllt, »liege ich nachts neben Zeppe wach. Mein Mann sagt mir, ich soll reingehen und dann wieder raus, aber wenn Zeppe nach mir ruft, Mama, Mama, dann muss ich ihn einfach in den Arm nehmen. Manchmal klettere ich sogar ins Gitterbett und schlafe dort ein. Am nächsten Morgen bin ich dermaßen kaputt, und ich weiß wirklich nicht«, Irina wies mit einer ausladenden Geste auf die Polstermöbel, »wie ich mich jemals in meiner neuen Rolle zurechtfinden soll.«

Deshalb hatten sie sich vor ein paar Monaten zerstritten; mit einer Diskussion über Zeppes Nachtschlaf hatte es angefangen.

»Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du deinem Baby gibst, was es braucht«, sagte Tina. »Säuglinge kann man gar nicht verwöhnen.«

Irina hatte rote Wangen und verquollene Augen. »Mein Mann sagt, dass wir Schlaf brauchen. Dass Zeppe nachts keine Mahlzeit braucht. Aber was soll ich denn machen? Ich kann mein Kind nicht einfach ignorieren!«

»Du könntest schon«, sagte Lesley.

Irina schaute sie an, als müsste Lesley es besser wissen, und Lesley wusste es vielleicht auch tatsächlich besser, konnte sich aber nicht beherrschen.

Tina redete, und Lesley sah sich um. Hier saßen sie nun. All ihre Körper hatten Kinder auf die Welt gebracht: bläulich, blutig, mit diesem funkigen Eisengeruch auf der verschmierten Haut. Das war das Einzige, das sie miteinander verband. Und was hieß das schon? Sie hatten geboren, na und?

Während Irina immer lauter schluchzte, fragte sich Lesley, wie man das Gespräch auf Arbeitnehmerinnenrechte lenken könnte. Jerry hatte ihr sämtliche Stunden mit Kundenterminen gefüllt, obwohl Rise vorsah, dass wiedereingegliederte Eltern bei achtzig Prozent anfingen und schrittweise auf hundert hochfuhren. Mit achtzig Prozent bliebe ihr mehr Zeit für die Spieleentwicklung.

»Kann das so stimmen?«, fragte sie und unterbrach Irina vermutlich im ungünstigsten Moment, nach den Blicken zu urteilen, die sie kassierte. »Nach dem Rise-Modell sollte ich bei achtzig Prozent Kundenkontakten sein. Mein Boss meint, das wäre ich auch, aber ich war vor der Elternzeit dermaßen überlastet, dass ich jetzt in Wahrheit auf hundert Prozent bin.«

»Mit den Regelungen in eurem Unternehmen kenne ich mich nicht aus«, sagte Tina. »Konzentrieren wir uns doch darauf, wie eure Gefühle euch …«

»Rise bedeutet gar nichts«, sagte Li Jing und zermalmte einen der Kekse. »Das Programm sieht auch vor, dass Männer Elternzeit nehmen, also, du siehst ja … ha-ha. Wer ist dein Vorgesetzter?«

»Jerry.«

»Na dann viel Glück.«

»Entschuldigung, was ist denn Rise?«, fragte Tina.

»Rise ist ein Programm für Gendergerechtigkeit und Chancengleichheit«, sagte Li Jing. »Aber es ist totale Augenwischerei.«

»Wieso?«

Li Jing wischte sich Krümel aus den Mundwinkeln. »Die wollen nicht, dass man wirklich einfordert, was sie einem versprechen. Und jetzt ist definitiv nicht der beste Zeitpunkt, um anzuecken.«

Tina schaute auf die Uhr. »Okay, Mums, konzentrieren wir uns auf das Hier und Jetzt und auf das, was wir ändern können.« Sie verteilte kleine Whiteboards und Marker. »Nach der Elternzeit wieder zu arbeiten kann schön oder schwierig sein. Man kann nichts falsch machen dabei.« Sie bat die Frauen, vier Wörter auszusuchen, die wertfrei und unzensiert ihre Elternzeit beschrieben. Lesley starrte stumm auf ihr Whiteboard und die darin verborgenen Geister der Unternehmersprache. Sie hatte zwei respektable postpartale Depressionen hinter sich, und nach Max hatte Sandra sie mühelos überzeugt, früher als geplant wiedereinzusteigen.

Lesley hatte ihre Wahrheit gelernt: Arbeit ist die Rettung.

Sie spürte Tinas Blick auf ihr leeres Whiteboard. »Les, wie lief das Bonding mit deinem Baby deiner Meinung nach?«

»Bestens.«

Irina hatte immer noch feuchte Augen, oder kamen ihr schon wieder die Tränen, vor Mitleid? Lesley hatte Irina von den Depressionen erzählt, von ihrer Unfähigkeit, die Liebe zu ihrem Kind zu spüren, die sie sich wünschte und die aus ihrer Freundin so mühelos hervorgeströmt war. Lesley war es bei beiden Kindern schwergefallen. Charlie sagte, sie sei zu streng mit sich, aber sie hatte überhaupt kein Talent für das alles, und sie wusste, dass er manchmal nur so tat, als wäre er pessimistisch, damit sie sich normal fühlte.

»Es muss sehr schwer sein, sowohl eine Familie zu wollen als auch eine Karriere.«

»Yep«, sagte Lesley.

»Lesley, ich glaube, Tina versucht nur rauszufinden, ob da irgendetwas …«

»Es sind nur Babys, okay? Keine Ufos«, sagte Lesley. Sie drückte sich die Stiftkappe gegen das Augenlid. »Das war kein Trauma. Wir haben keine PTBS. Wir sind nicht von der Front zurück. Wir sind keine Geflüchteten oder so was. Wir haben bloß Kinder bekommen.«

»Es kann auch eine Reaktion auf ein Trauma sein …«

»Nein, ich …«

»… dem Schmerz auszuweichen, die Erinnerung an die Geburt zu verdrängen.«

»Nein«, sagte Lesley. Sie schrie es fast. »Ich wollte nur …«

»Weil ein Trauma sich nicht in der Sprache ereignet«, sagte Tina, »kann es nicht durch Sprache zum Ausdruck kommen.«

Lesley sah sich – auch von außerhalb der Sprache – dabei zu, wie sie Tina den Whiteboardmarker, so fest sie konnte, an den Kopf warf. Er prallte an ihrer Stirn ab und fiel auf den Nylonteppich.

»Ich wollte bloß wieder zur Arbeit, okay! Mehr nicht!«

»O mein Gott«, sagte Li Jing nach einer Weile. »Du hast gerade die Therapeutin abgeworfen.«

Irina war sichtlich entsetzt, aber Lesley fühlte sich glänzend.

Tina brauchte eine Weile. Bis auf das Gewinsel der nicht entlüfteten Heizung war es still. Wo der Marker sie getroffen hatte, war eine rote Stelle.

»Würdest du den Stift bitte wieder aufheben, Les?«

Lesley erhob sich würdevoll. Sie holte den Marker zurück und setzte sich auf ihren Platz.

Tina zupfte ihr Top zurecht und atmete durch. »Ich würde jetzt die Emotionalität gern ein wenig zurücknehmen, wenn das okay ist. Schließt bitte alle die Augen. Versuchen wir es mit einer angeleiteten Meditation, ja? Ich möchte, dass wir alle an unsere Babys denken und sie ohne Schuldgefühle in die Präsenz hereinholen. Darf ich euch bitten, das einmal zu versuchen?«

Lesley gefiel ihre Wut, und sie hatte wenig Lust, sie zurückzunehmen, aber sie wusste auch nicht, was sie sonst tun sollte.

»Und jetzt stellt ihr euch anstelle eures Babys ein goldenes Licht vor.«

Lesley versuchte, Max in Gedanken durch ein goldenes Licht zu ersetzen, aber er war zu schwer für die imaginäre Kugel, und schon öffnete sie die Augen und fragte sich wieder, wo zur Hölle sie hier gelandet waren. Dieser Raum ergab keinen Sinn: eine braune Höhle in einem der modernsten Gebäude Londons. Sie dachte an den Song aus Frozen II, als Anna sich in der Höhle traurig und einsam fühlt, weil alle weg sind, alle tot. Lesleys Tochter Emily sang ihn ständig. Wie ging er noch gleich?

»Und jetzt lasst ihr dieses Licht wachsen, bis es euch ausfüllt«, sagte Tina. »Bis es überläuft und die Wände berührt.«

Lesley hatte den Film tausendmal gesehen. Dieser billige Verzweiflungssong brachte sie jedes Mal zum Weinen, und wenn Prinzessin Anna ohne Elsa durch die Dunkelheit wankte, ohne Kristoff, sogar ohne Olaf, dann dachte sie immer dasselbe: Diese Höhle kenne ich; diese entsetzliche Höhle.

Anstatt der Hitze, der Wut, erfüllte sie jetzt Trauer. Hier saß sie nun also: die alte Lesley mit ihren Schmerzen.

Weinen kam nicht infrage. Das hätte Tina begeistert. Stattdessen begannen ihre Brüste zu spannen, und ihr BH wurde nass. »Oh, shit.« Sie drückte die Hände darauf. »Ich wollte nicht stören. Ehrlich nicht.«

Die anderen Frauen beäugten sie argwöhnisch, bis sie die zwei dunklen Kreise aus Milch auf ihrem Kleid bemerkten. Li Jing kramte zwei Stilleinlagen aus ihrer Handtasche. »Hier. Nimm die«, sagte sie leise, als hätte Tinas ionisierende Fürsorge auch sie bezähmt.

»Manchmal sehnt sich dein Körper nach deinem Baby, und du weißt es hier oben nicht mal«, sagte Tina und tippte sich an die Stirn, wo der Marker sie getroffen hatte.

»Mh-hm«, sagte Lesley.

Hätte sie sich durch die Therapie nicht besser fühlen sollen, optimierter? Warum ging es ihr dann so beschissen? Die elegische Heizung war verstummt. »Sorry, kannst du mir sagen, was das für ein Raum ist?«

»Der Raum?«

»Ich meine, wo zur Hölle sind wir?«

»Bitte, Les«, sagte Tina und verlor endlich die Nerven. »Lässt du uns bitte einfach weitermachen?«

Aber Lesley beobachtete sie die ganze Meditation über und fragte sich, was Tina wohl in Rechnung stellte.

Zur Arbeit zurückzukehren war eine sinnliche Erfahrung gewesen. Der erste Tag hatte sich für Lesley angefühlt, als wäre sie zum Atmen aufgetaucht. Sie hatte erlebt, wie manche der anderen Frauen – sogar die kurzlebige CEO vor ein paar Jahren – als angeschossene Spitfires ihre Jobs wieder angetreten hatten: eine Gefahr für sich selbst und andere. Lesley wollte es anders machen. Sie trug skandinavische Maßanfertigungen, zog sich den Lidstrich mit Liquid Liner, machte sich die Nägel mit dunkelgrauem Schellack. Bei der Arbeit fühlte sie sich reintegriert. An ihrem Mac klebten Fotos von beiden Kindern: eins von Max (in der Sandra-Pose) und eins von einer glücklichen Emily auf der Schaukel. Bei dem Bild dachte sie immer etwas erstaunt, dass sie das auch einmal gewesen war, ein entspannt einfallsreiches und vollkommen intaktes Mädchen; eine kleine Persönlichkeit, der noch niemand etwas weggenommen hatte.

Wegen ihrer Antworten auf die Fragen zur geistigen Gesundheit im Anamnesebogen war Sandra nach Max’ Geburt wochenlang geblieben und hatte still aufgepasst, dass Lesley nicht zusammenklappte. Charlie mochte Sandra. Lesley mochte Sandra. Sandra, eine Jamaikanerin um die sechzig mit grauem Haar an den Schläfen, war bei allen beliebt, ganz besonders weil Max zu weinen aufhörte, wenn sie zu Besuch kam. Sandra hatte eine besondere Art, Babys zu halten, das Rückgrat am Arm entlang, den Kopf in ihrer Hand, und das beruhigte ihn immer. Selbst Max, der so schwer war, konnte sie so halten.

(Nach diesem Foto hatte Sandra diskret ein Kreuz geschlagen, und Lesley hatte ihr mit Tränen in den Augen stumm gedankt, denn vielleicht würde sie damit den Schutz vor der eigenen Mutter auf ihn herabbeschwören, den er so dringend brauchte.)

Manche Kollegen hatten sich erkundigt, ob alles in Ordnung sei, weil sie früher als geplant zurückkam. Lesley sagte, sie habe sich gelangweilt.

Tina und Christina – der gleiche Name! – hätten ihren Bindungsstil als sehr ambivalent beschrieben, aber Sandra, eine Frau, die buchstäblich ihr ganzes Leben mit Babys verbrachte, hatte zu Lesley gesagt, sie sei besser im Büro aufgehoben anstatt darüber zu fantasieren, ihrem Kind auf dem Küchentresen den Schädel zu brechen. »Keine Sorge«, hatte sie gesagt. »Jede Frau fantasiert irgendwann mal darüber, ihr Kind umzubringen.«

Nach der GT setzte sich Lesley an ihren Schreibtisch. Sie öffnete den letzten Build von Air, ihrem neuen Spiel. Die zentrale Grafik, eine Kugel, war bitmapgrün. Behutsam vergrößerte sie die Kugel etwas. In der Kunsthochschule hatte sie etwas über die menschliche Wahrnehmung von räumlicher Tiefe und Schattierungen gelernt: Wenn eine Animation »flach« aussah, wurden ihr jegliche moralische Fähigkeiten abgesprochen. Die zentrale Herausforderung des Spiels lag darin, die Kugel groß genug werden zu lassen, dass sie schwebte, aber kompakt genug, dass sie sich zwischen Gebäuden hindurchbewegen konnte. Lesley schaltete die Stadtlandschaft dazu. Jetzt musste man die Kugel um die Hochhäuser und Menschenmassen lotsen, ohne dass sie etwas davon berührte.

Sie spielte damit herum, dann schrieb sie Charlie, sie habe sich bei der Arbeit danebenbenommen, aber er antwortete nicht. Charlie entwickelte für eine Anlagebank mathematische Modelle. Babys, sagte er, würden völlig unbrauchbare Daten liefern, weil sie nie freiwillig lange bei einem Verhaltensmuster blieben. Er hatte immer viel zu tun, und sein Arbeitsleben hatte sich durch Emily und Max kaum verändert.

Sie wandte sich wieder dem Spiel zu. Kein Narrativ, keine Levels: Air war Tend-and-Befriend in Reinkultur. Die Oberfläche der Kugel hatte eine leichte hautartige Elastizität. Selbst in der Betaversion gab das Spiel Lesley das angenehme Gefühl, nicht verfügbar zu sein, das besonders Gamerinnen sicher lieben würden, wenn sie nur Jerry und den Rest der Geschäftsführung dazu bringen konnte, dass sie ihr ein Team zuteilten. Was Menschen sich wirklich wünschten, dachte sie, war Abwesenheit. Nachzudenken machte nur unglücklich. Nicht denken zu müssen war erstaunlich lustvoll. Das Geheimnis der Handys bestand darin, dass sie im Grunde tantrisch waren. Ihr neues Spiel gab den Nutzern, um es in der Sprache des Kindergartens zu sagen, ein Mittel zur Selbstberuhigung an die Hand. Es war vielleicht ein bisschen seltsam, aber normalerweise konnte sie Jerry auf ihre Seite ziehen. Er hatte sie oft seinen Ideenspringbrunnen genannt.

Seit ihrer zweiten Elternzeit wirkte Jerry ein bisschen distanzierter. Manchmal hatte er diesen Blick drauf, wenn er bei ihr vorbeikam, nach dem Motto: Wo ist meine alte Reckin?! Wo ist mein Springbrunnen geblieben?! Wie hieß noch die Redensart – ein Kind ist ein Hobby, zwei sind wie drei?

Jerrys Kind – Carla? Carlo? – ging auch in den Little Jungle, aber Carl(a/o) war immer seelenruhig, während Max, wie seine Bezugspersonen sagten, oft unkontrollierbar weinte. Aber Carlas/Carlos Verhalten, sagte Lesley sich, war vielleicht das eines zukünftigen Psychopathen. Sie hatte sich die »Strange Situation« auf YouTube angesehen, und Kinder, die ohne einen Blick zurück in den Kindergarten tappten, konnten genauso gut Jahre später ihre Eltern in den Betten ermorden.

Oft lud sie Max weinend auf dem schwammigen Bodenbelag ab. Sie hielt es für falsch, ihn so zurückzulassen, aber in ihrer Eile auf dem Weg zur Arbeit fand sie nie jemanden, dem sie ihn in die Hand drücken konnte.

Als sie den Vertical Slice für das Meeting fertigstellte, fielen ihr zwei Ringe auf, die die Muttermilch auf ihrem Kleid hinterlassen hatte. Schon komisch, dass sie seit Wochen nicht mehr stillte, und ausgerechnet jetzt beschloss ihr Körper, sie zu verraten. Ebenso seltsam, dass sie Tina einen Stift an den Kopf geworfen und sich im Angesicht von Tinas alles verschlingender Empathie nicht einmal dafür entschuldigt hatte.

Lesley gönnte sich ein Mittagessen im Benoit’s. Attraktive Menschen saßen an den Außentischen, brachen in Papier eingewickelte Grissini und tranken große Gläser Rotwein. Benoit servierte Lesley Wasser. »Signora«, sagte er, aber ironisch, denn das war seine Masche für andere Kundinnen, nicht sie.

Benoit war Senegalese, gut aussehend und hochgewachsen; ein Grandseigneur der Charlotte Street und von einer Gründlichkeit, die Lesley immer bewundert hatte. Einen Moment wollte sie seine Hand nehmen, ließ es aber bleiben. Sie bestellte einen Meeresfrüchteteller. Um sie herum drängten sich die üblichen Mittagsgäste an die mit Tischdecken eingedeckten Plätze der Restaurants und Cafés. Die Businessleute waren alle so weiß, dass es fast schon präkolonial aussah.

Oft war Lesley mit Irina für einen weinseligen Lunch ins Benoit’s gegangen, bis sie sich per Textnachricht zerstritten hatten. Irina hatte sich über Zeppes Schlafverhalten beklagt, und Lesley hatte ihr – zumal Zeppe sie seit Ewigkeiten quälte – vom »kontrollierten Weinenlassen« erzählt, bei dem man dem Baby nach und nach seine Unterstützung entziehen sollte. Bei Max hatte das wunderbar funktioniert, aber Irina war wütend geworden. Nachdem sie erst ihrem Kummer über Lesleys elterliche Verfehlungen in durch Absätze unterteilten Nachrichten Ausdruck verliehen hatte, bei denen Lesley auf »Mehr lesen« klicken musste, um sie ganz zu sehen, war Irina verstummt, und Charlie hatte Lesley davor zurückhalten müssen, mit allem zu antworten, was ihr durch den Kopf ging. Eine Zeit lang hatten Irina und sie kein Wort miteinander gewechselt, aber jetzt, wo sie wieder arbeiteten, gab sie sich alle Mühe.

Für Lesley waren sie beide nicht der Typ Frau, der sich über Schlaftrainingsmethoden zerstreiten würde. Sie fand das nicht wichtig genug, aber Irina offenbar schon. Charlie sagte gern, dass Kinder ihre Eltern in Menschen verwandelten, die sie früher gehasst hätten. Lesley fragte sich, ob sie sich mit mehr Therapiestunden die zweite Wochenbettdepression hätte ersparen können, denn auf dieses Rodeo hätte sie gerne verzichtet. Hätte sie sich mehr Mühe gegeben, dachte sie, vielleicht hätte sie es dann verhindern können.

»Wo ist Ihre Freundin?«, fragte Benoit, als er ihr die Antipasti hinstellte. »Die Italienerin?«

»Rumänin. Bei der Arbeit.«

»Und wie geht’s Ihrem Kleinen?«

»Er ist sehr süß.«

Plötzlich sahen die Meeresfrüchte erschreckend tot aus, wie ein niederländisches Stillleben; ein Gewirr aus Kraken, seidigen Fischen, ängstlich grinsenden Shrimps.

»Hier.« Sie zeigte ihm auf dem Handy ein Foto. Er lächelte über den Anblick von Max, sah aber hauptsächlich sie an. »Sie sind wieder schlank. Ihr Bauch war sehr groß!«

Benoit, dachte sie, Benoit, und wieder überkam sie das Gefühl, dass sie ihm etwas erzählen wollte. Aber Benoit war schon einen Tisch weiter, und überhaupt, was hätte sie sagen sollen? Nach Max’ Geburt wollte ich nur noch sterben? Oder schlimmer: Ich wollte mein eigenes Baby töten? Das konnte sie einem Fremden nicht erzählen. Sie hatte es nicht einmal Charlie gestanden; nur Sandra. Ihr Blick fiel auf ihre große offene Tasche auf dem Boden. Einen Moment lang glaubte sie, Max darin zu sehen, aber dann blinzelte sie, und er war verschwunden. Sie musste daran denken, was Tina gesagt hatte: Man konnte sich nach seinem Baby sehnen, ohne es zu wissen.

Endlich antwortete Charlie und fragte, was passiert sei. Sie berichtete von der Therapeutin und dem Whiteboardmarker und seiner parabolischen Flugbahn, und er schickte ihr das Emoji mit dem Affen, der sich die Augen zuhält. »Sie hatte es bestimmt verdient«, schrieb er, und sie fragte sich, ob es gut war, dass er sich immer auf ihre Seite stellte, aber sie holte sich ihren Rückhalt, wo sie ihn kriegen konnte.

Die Meeresfrüchte waren so essigsauer, dass ihr der Mund wehtat; sie fühlte sich sexy beim Essen. Vielleicht würde jemand sie abschleppen, ihr eine Hoteltürkarte neben den Teller legen. Einmal war ihr das passiert, lange vor Charlie und den Kindern. Spätabends war das gewesen, nach der Arbeit, als alle betrunken waren. Sie hatte in einem verspiegelten Zimmer mit einem irgendwie einschüchternden griechischen Geschäftsmann irren Sex gehabt. Das Bettzeug hatte hinterher widerlicher ausgesehen als das, auf dem sie ihre Kinder geboren hatte; voller steif gewordener Spermaflecken von einem Mann, dessen Name ihr jetzt, als sie sich einen silbernen Anchovi-Pfeil auf die Zunge legte, nicht mehr einfallen wollte. »Was machst du bloß mit mir?«, hatte er im Dunkeln des Hotels gefragt. Jahre später stellte Sandra Max fast dieselbe Frage: »Was machst du bloß mit deiner armen Mum?«

Am Nachmittag ließen Jerry und die anderen sie warten. Das war kein Problem; das war Standard. Durch die Glaswand sah sie Jerry mit CFO-Steve reden, der so hieß, weil es in der Geschäftsführung noch zwei weitere weiße Steves gab. Das Sitzungszimmer war mit Mahagoni ausgestattet, dazu Stahlrohrstühle und schwarze Polster.

Jerry kleidete sich immer so lässig: Hoodies mit offenem Reißverschluss, fleckige Trainingshosen; manchmal roch er komisch. Vor langer Zeit hatte Lesley ihn gemocht, aber seitdem er Vater geworden war, fand sie ihn unausstehlich. Er war, wie Irina berichtet hatte, zur Gruppentherapie gegangen, obwohl er überhaupt keine Elternzeit genommen hatte. Wenn sie beide ihre Kinder bei den kleinen Ryes, den Rivers und den Jungs namens Atlas im Little Jungle abgaben, streifte er sie mit einem harten Grinsen, und ihr war klar, was dieses Grinsen bedeutete: Ich weiß, dass du das hier aus Charlies Tasche zahlst. Dann verschwand er schnellstens, damit sie nicht im selben U-Bahn-Waggon zur Arbeit fahren mussten.

Endlich winkte Jerry sie herein.

»Hey, Jerry. Hi alle zusammen.« Sie loggte sich in den Präsentationsrechner ein, und die Männer weckten ihre iPads.

Lesley öffnete den Build, und sobald die Kugel sich aufdehnte, legte sich ihre Nervosität, und sie spürte diese vertraute Verquickung von Schönheit und Trauer, die ihre Wurzeln irgendwo im achtzehnten Jahrhundert hatte. Das Erhabene? Kant? Als sie anfangen wollte, klopfte es.

»Sorry, dass ich spät dran bin.«

Lesley blickte auf: Irina. Was machte Irina hier? Lesleys Herz raste. Wollte sie der Geschäftsführung erzählen, dass Lesley die Therapeutin angegriffen hatte? Dass sie ganz oben auf die Abschussliste gehörte? Aber Irina setzte sich nahe am Fenster auf einen Platz und holte ihr Notepad raus. So fröhlich, wie sie sonst immer war – jetzt lächelte sie nicht.

Jerry hatte Lesleys Verwirrung offenbar bemerkt. »Irina ist jetzt in der Geschäftsführung. Wusstest du das nicht?«

»Nein«, sagte Lesley und versuchte, Wärme in ihren Ton zu träufeln. »Meinen Glückwunsch.«

»Danke«, sagte Irina, ohne sie anzusehen.

»Irina kümmert sich um Produktmanagement und Personal.«

»Verstehe«, sagte Lesley. »Alles klar.«

»Seid ihr Mädels jetzt tiefengechillt nach der GT?«, fragte Jerry.

»Es war kathartisch«, sagte Lesley; sie preschte vor, ehe Irina antworten konnte. »Ich fang mal an«, schob sie nach. Plötzlich wollte sie das alles hier hinter sich bringen. Sie startete die Demoversion und begann, die Kugel zwischen den Hochhäusern hindurchzubewegen.

»Also, was ist die zentrale Loop?«

»Die Spannung liegt in der Frage: Wie groß kann man die Kugel werden lassen, ohne sie zu gefährden?«

»Platzt sie«, fragte Irina, »wenn sie irgendwo anstößt?«

»Nein. Stellt es euch eher wie einen Flugsimulator vor.«

»Wird es nicht schwieriger? Gibt es keine Level?«

»Es ist darauf ausgelegt, uns in einen Zustand jenseits der Sprache zu versetzen.«

Lesley dachte an die Bücher für junge Mütter, die ihr eine Bindung jenseits der Sprache versprochen hatten, und an Tina, die sagte, dass sich das Trauma außerhalb der Sprache ereigne.

Jerry hatte diesen lernbegierigen Blick, von dem sie gleich wusste, dass er aufgesetzt war. »Jetzt kapier ich’s«, sagte er. »Es ist wie ein Zen-Ausmalbuch, oder?«

Es verletzte sie, dass er glauben konnte, ihr Spiel hätte irgendeine Ähnlichkeit mit Ausmalbüchern. »Man braucht sich nur um eine einzige Sache zu kümmern. Diese Kugel. Dass die heil bleibt«, sagte sie und hatte das seltsame Gefühl, ihr würden gleich die Tränen kommen.

Jerry wischte auf seinem Tablet herum. Alle anderen Männer schauten sie an. »Es ist also ein Punkt, den du ausdehnst oder verkleinerst und den du spazieren führst?«

Seine Beschreibung erinnerte sie daran, wie sie ihren Zervixschleim bearbeitet hatte, als sie schwanger werden wollte. »Denken ist leiden«, sagte sie und sah deutlich vor sich, wie sich alle Gedanken aus Jerrys Kopf verflüchtigten. »Deshalb kann man die Abwesenheit von Gedanken als Augenblick des reinsten Hedonismus sehen.«

Jerry schaute sie ausdruckslos an.

»Wie heißt es?«, fragte Irina.

»Ich dachte an ›Air‹.«

»Air?«

»Yep.«

»Weißt du, dass es im Little Jungle eine Air gibt?«, fragte Jerry.

»Nein, das wusste ich nicht.«

Irina räusperte sich. »Ich fürchte, das ist nichts für uns, leider.«

»Das sehe ich wie Irina«, sagte Jerry. »Es ist tougher geworden, nachdem du weg bist. Viel tougher. Wir können nicht mehr so viel riskieren wie früher.« Er machte ein paar Bewegungen auf dem iPad, die sie nicht entschlüsseln konnte. »Sollen’s noch mehr werden?«

»Spielideen?«

»Kinder.«

Lesley schaute ihn entsetzt an. Durfte er so etwas überhaupt fragen? Irina zuckte sichtlich zusammen, trotz ihrer neuen Härte, und mochte ihr nicht in die Augen sehen.

»Nein«, sagte Lesley. »Keine weiteren Kinder.«

Den restlichen Nachmittag über beobachtete sie Irina auf ihren Wegen durch das Büro.

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