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Ein Apfelbaum am Meer

Als Buch hier erhältlich:

Die Liebe wartet zwischen Meer und Deich

Als Julie die Einladung nach Juist zu Ennas achtzigstem Geburtstag in der Hand hält, kann sie es kaum glauben. Jahre ist es schon her, dass sie die beste Freundin ihrer verstorbenen Oma getroffen hat. In den lebhaftesten Bildern erinnert Julie sich noch an die zauberhaften Urlaube ihrer Kindheit auf der Nordseeinsel mit der Großmutter. Und an Enna, die den besten Apfelkuchen aller Zeiten gebacken hat. Auf Juist angekommen, muss sie feststellen, dass Enna dabei ist, liebgewonnene Dinge zu verschenken, damit sie die Zeit überdauern können. Auch Julie erhält ein Geschenk, mit dem sie niemals gerechnet hätte. Und da ist auch noch Ole, der ihr als kleiner Junge einst versprochen hat, sie zu heiraten, wenn sie beide erwachsen sind.



  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001257

Leseprobe

Giulietta

September 1957

Der Hall der Glocken schwebte über dem Tal, den Hügel hinauf bis in den Obstgarten. Es war zwölf Uhr. Sie lehnte ihre Wange an den von der Sonne aufgewärmten Stamm, strich mit den Fingern über die raue Rinde. »Ich muss los«, sagte sie. »Aber später komme ich wieder.«

»Giulietta!« Der Vater kam auf sie zu, blieb vor ihr stehen, die Arme vor der Brust gekreuzt. »Du und dein Baum.«

Giulietta sah in die Krone. Die Äste hingen voller grüner Früchte, es war ein später Apfel, erst in zwei Monaten würde er reif sein, gelb, mit rostig roten Stellen. »Es gefällt ihm, wenn man mit ihm spricht, Papa. Er macht uns dafür die Äpfel süßer.«

»Dann unterhalte dich doch auch mal mit der alten knorrigen Birne oben am Hang.« Er lachte. »Sag ihr, sie soll die Bitterkeit aus den Früchten nehmen.«

Mit ernstem Blick sah Giulietta ihren Vater an. »Ich werde sie ganz bestimmt nicht beleidigen. Sie macht sie absichtlich so, ihr Geschmack ist perfekt. Er passt wunderbar zu der Marmelade, die Nonna für den Käse und das Wild zubereitet. Und er intensiviert das Aroma der süßen Birnen, wenn man sie damit mischt.«

Ihr Vater blickte um sich, bevor er sich wieder an sie wandte; Stolz lag in seinem Blick. »Eines Tages wird das alles dir gehören. Du wirst etwas Großartiges daraus machen.« Er klatschte in die Hände. »Aber nun sieh zu, dass du nach Hause kommst. Nonna wartet.«

Leichter Wind streichelte ihr Haar, ihre Haut. Sie lief den Hügel hinab zwischen den Baumreihen entlang, durch das hohe Gras, das die Bäume überhaupt nicht mochten und das längst hätte gemäht werden müssen.

Giulietta mochte den September. Die Sonne hatte die Strahlkraft des Sommers verloren. Das Licht war sanfter, hatte das kräftige dunkle Grün der Zypressen, die den Schotterweg zum Haus säumten, in ein sattes Oliv verwandelt. Die braunen Ziegel des alten Kirchturms, den der Vater in ein Gästehaus umgebaut hatte, schimmerten in einem warmen Terrakottaton.

Bisher hatte sie keinen Moment betrauert, dass sie aus der Stadt weggezogen waren. Zweieinhalb Jahre war es nun her, aber sie hatte das Gefühl, schon immer hier zu leben.

Am alten Feigenbaum, der mitten auf dem Grundstück stand, hielt sie einen Moment inne. Im Juli hatten sie die Früchte der Vorjahrestriebe geerntet, nun waren auch die der neuen Triebe reif. Groß waren sie geworden, wie kleine Birnen mit dunkelvioletter Schale, fast schwarz, das Fruchtfleisch blassrosa. Der Geschmack erinnerte sie an cremigen Honig.

Die Großmutter trat aus der Tür, sah zu ihr herüber, die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt. »Giulietta! Wo bleibst du?«, rief sie, die dunkle Stimme fordernd, ungeduldig. Laut schimpfend verschwand sie wieder im Haus.

Giulietta strich sich das Haar aus dem Gesicht, zupfte das Kleid zurecht, bevor sie durch den Flur in die Küche ging.

Die Großmutter musterte sie kurz, sah aus dem Fenster in den Himmel, schüttelte vor sich hin murmelnd den Kopf. Sie bat Gott oft um Hilfe, und Giulietta tat es ihr gleich. Auch sie sprach mit ihm, flehte ihn an, die Gebete der Großmutter zu ignorieren, die sich nichts sehnlichster wünschte, als ihre Enkeltochter irgendwann gut zu verheiraten.

»Du siehst aus wie ein Lump.« Die Großmutter schnalzte mit der Zunge. »Deine Fingernägel sind schwarz und auch deine Füße. Warum musst du immer barfuß gehen? Hast du keine Schuhe?« Sie deutete mit dem Kopf zur Tür. »Geh, wasch dich, zieh dich um. Und kämm dein Haar! Du bist sechzehn, kein Kind mehr! Deine zwölfjährige Schwester verhält sich erwachsener als du.«

Ihre Schwester Sophia war klug – und faul. Sie kümmerte sich um sich, bevor sie an andere dachte. Außerdem wollte sie Schauspielerin werden, wie sie erst kürzlich verraten hatte. Giulietta war sich sicher, dass sie jetzt gerade heimlich eine Rolle übte, anstatt ihre Nase in die Schulbücher zu stecken. Aber es würde keinen Sinn machen, sie zu verpetzen, denn aus irgendeinem Grund war Sophia Nonnas Liebling. Flink zog Giulietta das Kleid über den Kopf, ließ es neben sich auf den Boden fallen, stellte sich in die Wanne, säuberte Füße und Hände, benetzte ihr Gesicht mit kühlem Wasser.

Sich zu kämmen, ergab keinen Sinn, wie sie feststellte, als sie vor dem Spiegel stand. Sie würde mindestens eine halbe Stunde brauchen, um die zerzausten Strähnen mit dem Kamm zu entwirren. Also band sie sie kurzerhand zum Zopf, betrachtete ihr Werk kritisch im Spiegel, zupfte ein paar Ähren wilden Hafers aus dem Haar und rümpfte die Nase, die für ihren Geschmack etwas zu schief geraten war und einen kleinen Höcker hatte. Vor zwei Jahren hatte sie sich die Nase gebrochen, und die Knochen waren nicht richtig zusammengewachsen. Aber sie wollte ja keine Schauspielerin werden, auch wenn Sophia ihr schon mehrmals versichert hatte, wie sehr sie Anna Magnani glich, die trotz ihrer Nase berühmt geworden war.

»Giulietta! Wo bleibst du?«

Sie seufzte, zog sich saubere Kleidung an und ging in die Küche.

»Du backst erst die Biscotti. Und danach eine Rocciata, Giulietta«, sagte die Großmutter. »Dein Vater möchte sie zum Nachmittagskaffee reichen. Er bekommt Besuch. Die Schokolade lässt du weg, die passt nicht zur Jahreszeit. Nimm etwas mehr Zimt, verzichte auf den Vin Santo und den Alchermes, nimm den Mistrà, den dein Vater von Bartollo mitgebracht hat, und die kleinen hässlichen Äpfel mit den Pickeln.«

»Ja, Nonna.«

Es stimmte, die kleinen Äpfel waren hässlich. Aber nur auf den ersten Blick. Ihre Schönheit steckte unter der harten Schale. Wenn man das Fruchtfleisch in der Pfanne mit etwas braunem Zucker dünstete, entfaltete es ein intensives Aroma, das dem von reifen Birnen glich.

Sie buk mehrere Bleche Biscotti, bevor sie in die kühle Kammer ging, in der sie das Obst lagerten. Und wie immer war sie einen kurzen Moment benommen von dem betörenden Duft, der ihr entgegenströmte, der sie an Zitrone, aber auch Erde denken ließ, an Natur.

Die meisten der Früchte wurden von den Ästen gepflückt, wenn sie reif waren. Der Hässliche entfaltete sein volles Aroma erst dann, wenn er selbst entschieden hatte, vom Baum zu fallen. Für jeden einzelnen von ihnen war sie durch den Morgentau gestiefelt, um die über Nacht abgefallenen Früchte aus dem nassen Gras zu sammeln.

Sie füllte den Korb mit den Äpfeln, legte einige getrocknete Feigen dazu, Pinienkerne und Mandeln, atmete noch einmal tief ein, bevor sie zurückging.

Im Flur blieb sie stehen, sah durch die offen stehende Tür nach draußen. Vaters Besuch war angekommen. Im Hof stand ein kleiner Bus, taubenblau mit weißem Dach. Auf der gewölbten Front prangte das Markenzeichen des Fahrzeuges, VW. Das Kennzeichen war weiß mit schwarzer Schrift. Die Großmutter hatte nicht erwähnt, dass der Besuch aus Deutschland kam. Giulietta hörte Gelächter, konnte jedoch niemanden sehen. Gerade als sie überlegte, ob sie in die Küche gehen oder die Gäste begrüßen sollte, betrat ein Mann das Haus. Er war noch jung, vielleicht ein paar Jahre älter als sie. Sein Haar hatte die Farbe reifen Weizens.

Sie konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Ständig schweifte ihr Blick aus dem Fenster. Das fiel auch ihrer Großmutter auf.

»Tedeschi, Deutsche, halte dich fern von ihnen«, sagte sie in strengem Tonfall. »Roll den Teig noch einmal aus. Du hast ungleichmäßig und an manchen Stellen viel zu dünn gearbeitet, stupida. Nimm etwas mehr Mehl, damit er nicht kleben bleibt.«

»Sì, Nonna.« Diesmal passte sie auf, alles richtig zu machen, zwang sich, nicht aus dem Fenster zu sehen, um einen Blick auf den jungen Mann mit dem weizenblonden Haar werfen zu können, der plötzlich vor ihr gestanden hatte. Noch nie hatte sie so schöne strahlende Augen gesehen. Sie waren blau wie die Kornblumen, die im Moment überall zwischen dem hohen Gras blühten. Sie ärgerte sich, kam sich vor wie ein kleines Kind. Wortlos hatte sie sich umgedreht, war einfach weggegangen, ohne den Mann zu begrüßen, der immerhin zu Vaters Gästen gehörte. Was er nun wohl von ihr dachte?

»Bene«, sagte Nonna da neben ihr. »Und nun hör auf, sonst wird es wieder zu dünn. Und beeil dich, fertig zu werden.«

Giulietta ging zum Ofen, holte die Pfanne mit den gedünsteten Äpfeln, prüfte mit dem kleinen Finger die Hitze. Die Masse durfte nicht zu warm sein, wenn sie sie auf den Teig gab, sonst riss er.

»Es ist kühl genug, ich habe gerade schon nachgesehen.« Nonna schüttelte den Kopf. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Sieh zu, dass die Rocciata in den Ofen kommt.«

Giulietta schielte zum Fenster. Von den Gästen war nichts mehr zu sehen. Sie war sicher, dass es sich dabei um eine Familie handelte. Alle drei waren blond, Vater, Mutter und der Sohn mit den kornblumenblauen Augen.

Sie gab die Füllung auf den Teig, rollte ihn auf und formte ihn zu einer Schnecke, auf die sie den Mistrà pinselte. Der intensive Duft von Sternanis kroch ihr in die Nase, und kurz dachte sie daran, dass er auch wunderbar zu Pflaumen passen würde. Doch die Stimmen, die nun aus dem Flur bis in die Küche drangen, lenkten sie ab. Die ihres Vaters, laut und rau wie ein Reibeisen, hörte sie sofort heraus. Kurz darauf lachte die Frau, dann einer der Männer. Was der Vater wohl mit den Deutschen zu schaffen hatte?

Sie schob das Blech in die Röhre, drehte sich um und wünschte, sie hätte nicht das Tuch um den Kopf gebunden, durch das ihre Nase noch mehr auffiel. Ihr langes volles Haar war schön, dunkelbraun mit einem ungewöhnlichen roten Stich, wie die Maroni, aus denen sie das Mehl für den Castanaccio herstellten, den Lieblingskuchen ihres Vaters. Hätte sie gewusst, dass sie Besuch bekommen würden, hätte sie es gebürstet, bis es glänzt. Aber nun war es zu spät. Die Gäste standen schon in der Küche.

»Meine liebe Schwiegermutter Francesca und meine bezaubernde Tochter Giulietta bei der Arbeit«, sagte der Vater überschwänglich.

»Buongiorno.« Nonnas Tonfall war unfreundlich. Sie sah kaum auf und widmete sich weiter dem Pastateig, den sie gerade knetete.

Giulietta wischte sich die Hände an der Schürze ab und tat es ihrer Großmutter gleich. Sie grüßte knapp und griff zum Mehl, als gebe es im Moment nichts Wichtigeres, als die Rocciata zu backen. Dabei bemühte sie sich, möglichst unbeteiligt zu wirken, so als interessiere sie sich kein bisschen für die Deutschen, schon gar nicht für den Sohn, der sie unverhohlen anstarrte. Die Augen hatte er von seinem Vater, dessen ebenso blau waren. Der Junge war der Größte der Familie, überragte sogar seinen Vater noch um ein paar Zentimeter. Giuliettas Vater wirkte fast wie ein Zwerg neben ihnen. Alle drei waren groß. Auch die blond gelockte Frau, die bildschön war mit ihrem fein geschnittenen Gesicht, der kleinen geraden Nase und den in einem dezenten Rosaton geschminkten Lippen. Sehr elegant gekleidet war sie, in einem lindgrünen Kleid mit einem weißen Gürtel um die schmale Taille. Die Männer trugen beige Hosen und weiße Hemden. Der Sohn hatte die Ärmel hochgekrempelt. Seine Haut war leicht gebräunt, sie brachte die vielen kleinen blonden Härchen auf den Armen zum Leuchten. Und auch die blauen Augen, mit denen er sie nun direkt ansah und die sie nun an das Meer erinnerten, wenn sich die Wellen brachen und das Weiß der Gischt das tiefe Blau des Wassers heller färbte.

»Das riecht sehr gut hier«, sagte er auf Italienisch. Giulietta lächelte still in sich hinein. Der Satz war korrekt, aber er hatte die Silben falsch betont.

»Natürlich!«, sagte Nonna.

Ihre Großmutter hatte nur ein einziges Wort gesagt, aber der Tonfall sprach Bände. Nonna war Expertin darin, jeden spüren zu lassen, was sie von ihm hielt, allerdings hatte sie generell von den meisten Menschen keine gute Meinung.

»Ihr werdet begeistert sein«, versicherte der Vater schnell. »Und nun kommt, ich zeige euch den Rest des Anwesens. Durch den Obstgarten wird Giulietta euch sicher gern führen, wenn sie hier fertig ist. Sie kennt sich am besten aus mit den Bäumen.«

»No, sie hat zu tun«, sagte Nonna.

Der Vater sah auf seine Uhr. »Wir sehen uns um vier Uhr zum Kaffee, Giulietta, und danach zeigst du ihnen deine Bäume.«

»Ja, Papa.« Sie schielte zu Nonna, die nun mit versteinertem Blick schwieg.

Da sagte der ältere Mann etwas auf Deutsch zu der Frau, und sie antwortete ihm. Giulietta horchte überrascht auf. Sie hatte schon oft Deutsche sprechen hören, als sie noch in Rom gelebt hatten und die Soldaten dort waren. Damals war sie noch ein kleines Kind gewesen, aber sie hatte die Sprache als hart in Erinnerung behalten. Doch so wie die Frau sie aussprach, klang sie fast weich. Sie redete leise und mit einem sanften Ausdruck in den Augen.

»Meine liebe Frau Sabine und mein Sohn Folkmar und natürlich auch ich, Frerk, wir freuen uns auf den Kaffee und den Spaziergang«, sagte er auf Italienisch. Der Mann hatte alles richtig betont, aber dafür ein paar Wörter vertauscht. Sein Italienisch war nicht perfekt, doch er hatte sich und die Familie vorgestellt, was ihr Vater versäumt hatte. Sicher hatte die Frau ihn dazu aufgefordert, sie wusste, was sich gehört.

»Es wird mir eine Ehre sein.« Giuliettas Vater nickte ihr zufrieden zu, bevor sie die Küche wieder verließen.

Vor sich hin lächelnd, schob Giulietta das Mehl zu einem Haufen, drückte eine Mulde hinein. In eine Schüssel gab sie den Zucker, verrührte ihn mit dem Vin Santo und dem Olivenöl. Wenn sie hier fertig war, würde sie sich das Haar waschen. Es war noch genügend Zeit, um es in der Sonne trocknen zu lassen. In die Spitzen würde sie etwas von dem pflegenden Öl geben, das nach frischer Orange roch.

Als hätte ihre Großmutter die Gedanken erraten, fuhr diese Giulietta an: »Halt dich von ihm fern!«

1.

In meiner Familie haben alle etwas gemeinsam. Sie reden viel, sehr laut, und sie unterbrechen einander ständig, dachte ich, während ich mich im Wohnzimmer meiner Großtante umsah. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie italienischer oder deutscher Abstammung sind. Oder irgendwas dazwischen, so wie ich. Nur meine italienische Großmutter war anders. Nonna Giulietta war still, wirkte in sich gekehrt, schien oft abwesend. Und doch hat sie alles um sich herum mitbekommen. Sie war es, die in unserer Familie die Fäden in der Hand gehalten hat. Bis sie vor einem Jahr beschlossen hatte, uns zu verlassen. Sie wolle sich nicht irgendwann fühlen wie ein Apfel, der vom Baum gefallen und zu lang auf dem Boden gelegen hat, hat sie gesagt. Der dann braun, matschig und faulig werden würde.

Alle in meiner Familie waren sich sicher gewesen, dass sie den kleinen Herzinfarkt überleben würde, denn schließlich hatte sie einen sehr starken Willen. Doch ich habe gefühlt, dass Nonna Giulietta gehen würde. Sie hatte entschieden, dass es Zeit war. Am Abend hatte sie es angekündigt und war am Morgen des fünfzehnten Augusts nicht mehr aufgewacht, ihrem einundachtzigsten Geburtstag, an dem ganz Italien den ältesten Feiertag Europas feierte: Ferragosto, den Sieg über Marcus Antonius und Kleopatra durch Kaiser Augustus. Der Tag, der als der heißeste des Jahres galt, der Wendepunkt des Sommers.

Sie hatte es uns leicht gemacht. Wir mussten uns nur einmal im Jahr treffen, um ihrer zu gedenken, zu trauern und gleichzeitig Ferragosto und ihren Geburtstag zu feiern.

Meine Großtante setzte sich neben mich, Nonna Giuliettas vier Jahre jüngere Schwester. Sie tätschelte meine Hand und sprach auf mich ein. Mein Italienisch war recht gut, obwohl meine Eltern mich nicht zweisprachig hatten aufwachsen lassen, doch mit Sophias umbrischem Dialekt hatte ich zu kämpfen. Wie meine Großmutter war sie bereits in den Siebzigern von Italien nach Deutschland gezogen, sprach perfekt Deutsch. Und vergaß gern, dass ich Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen, wenn sie es nicht tat.

»Langsam, Sophia.«

Sie hielt inne, sah mich an und sagte: »Du bist wie sie. Der rote Schimmer im Haar, der melancholische Blick, die Nase.«

Meine Haarfarbe hatte ich nicht meiner Großmutter zu verdanken, ich half regelmäßig mit einer Tönung nach, die den schönen Namen »Kastanienglanz« trug. Meine Nase glich jedoch tatsächlich ihrer. Für meinen Geschmack war sie etwas zu groß, und außerdem hatte sie einen kleinen Knick. Ich rümpfte sie.

»Wie Giulietta, einhundert Prozent. Dein Vater hat richtig entschieden, dich nach ihr zu nennen.« Es störte sie nicht, dass ich die Geschichte meiner Geburt schon oft gehört hatte, sie erzählte noch einmal ausführlich, wie ich auf die Welt gekommen war und mich, anstatt zu schreien, mit großen Augen umgesehen hatte. Mein Argument, dass Neugeborene Gegenstände nur unscharf erkennen können und ihre Welt in Schwarz, Weiß und Grau wahrnahmen, zählte nicht. Julie Moretti kam schweigend, aber dafür mit voller Sehkraft auf die Welt. Auch da war sich die Familie einig.

Ich ließ sie erzählen, hörte zu, lächelte an den richtigen Stellen. Und dann bemerkte ich den kleinen schwarzen Falter, der über der Schale mit den Äpfeln flatterte. Er schimmerte im Licht der Abendsonne, die durch das Fenster fiel.

»Was ist los?« Sophia folgte meinem Blick, fasste sich ans Herz und rief ergriffen: »Giulietta!«

Sofort hatte sie die Aufmerksamkeit der anderen Familienmitglieder auf sich gelenkt. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf die Schale. »Giulietta.«

Noch nie wäre ein schwarzer Falter in ihrer Wohnung gewesen, tat Sophia kund. Er sei das Symbol für Auferstehung und Wiedergeburt, das könne nur eins bedeuten: Giulietta sei zurückgekehrt. Meine Cousinen nickten synchron, und dann redeten alle aufgeregt durcheinander. Bis der Falter sich dazu entschied, durch den Raum direkt zu mir zu flattern und sich auf meine rechte Schulter zu setzen. Ich mochte keine Insekten, wenn sie es sich auf meiner nackten Haut bequem machten, auch nicht, wenn es hübsche Schmetterlinge waren. Aber ich widerstand dem Impuls, das Tierchen zu verscheuchen. Instinktiv wusste ich, dass in diesem Moment etwas Großes, Wichtiges geschah, zumindest in den Augen meiner Großtante, Tanten und Cousinen. Denn plötzlich war es mucksmäuschenstill im Raum, ein Zustand, den ich so noch nie erlebt hatte.

Erst als der Falter geradewegs aus dem geöffneten Fenster in den Garten verschwand, kam wieder Leben in die Familie.

Ich suchte den Blick meiner Mutter, die auf der Couch neben meinem Vater saß. Sie lächelte sanft, war der wahre Ruhepol der Familie, mit sich selbst zufrieden, ausgeglichen. Nonna hingegen hatte allen etwas vorgemacht, da war ich mir sicher. Nach außen wirkte sie still, in sich gekehrt, doch ihr wahres Ich hielt sie tief in sich verschlossen. Sie hatte etwas Geheimnisvolles an sich gehabt, das mich schon als Kind fasziniert hatte, insbesondere dann, wenn sie von ihren Äpfeln sprach, als wären sie ihre Kinder.

Sophia tätschelte wieder meine Hand. »Das war eine Botschaft an dich. Giulietta war wegen dir hier.«

Ratlos sah ich aus dem Fenster. Ich glaubte daran, dass es zwischen Himmel und Erde Außergewöhnliches gab, Dinge, die man nicht oder nur schwer erklären konnte. Aber dass meine Oma genau ein Jahr nach ihrem Tod in Gestalt eines schwarzen Falters erschien, um mir etwas mitzuteilen, war selbst mir zu spirituell. Jedoch wollte ich die anderen nicht enttäuschen, also fragte ich: »Was meint ihr, was Nonna mir sagen wollte?«

Und schon sprachen wieder alle durcheinander. Bis mein Vater plötzlich aufstand, zur Obstschale ging, einen Apfel hinausnahm und ihn mir brachte. »Ich weiß, was sie dir mitteilen wollte.« Seine Augen blitzten belustigt. »Du sollst einen Apfel essen.«

Ich sah ihn ernst an, zeigte auf die rosa glänzende Frucht in seiner ausgestreckten Hand. »Papa, Nonna hätte mir niemals einen Pink Lady angeboten.«

»Sie ist wie sie«, sagte Sophia mit theatralischer Stimme. »Unsere Julie ist wie unsere Giulietta.«

Der Abend wurde lang, und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, nichts zu trinken, war ich doch schwach geworden und nicht mehr imstande, Auto zu fahren. Ein Glas Wein beim Essen, nicht zu voll, konnte ich verkraften. Aber daraus waren zwei geworden, gefolgt von drei Grappa. Immerhin hatte ich genug Widerstandskraft, den Alchermes abzulehnen, obwohl ich den süffigen Likör liebte. Er erinnerte mich an Nonna Giulietta und daran, wie sie mir beigebracht hatte, die perfekte Rocciata zu backen. Außerdem mochte ich den Geschmack nach Zimt, Kardamom, Vanille und Gewürznelken.

Meine Mutter und ich schwankten leicht, als wir Arm in Arm Tante Sophias Haus verließen und zum Auto gingen. Mein Vater, der ausnahmsweise nüchtern geblieben war, öffnete lachend die Türen.

»Ich bin achtunddreißig Euro ärmer«, jammerte meine Mutter. Sie ließ sich seufzend auf den Beifahrersitz fallen. »Morgen habe ich sicher einen dicken Kopf.«

»Einen Brummschädel werde ich auch haben.« Ich machte es mir grinsend auf dem Rücksitz bequem. »Aber dafür bin ich ganze dreiundneunzig Euro reicher.«

»Darunter das Geld deiner Eltern«, stellte mein Vater trocken fest und startete den Wagen.

Meine Glückssträhne beim Familienbingo hatte ich dem schwarzen Falter zu verdanken, auch da waren sich alle einig. Mir war es recht, ich freute mich diebisch über den Gewinn. Nicht wegen des Geldes, sondern weil ich gewonnen und die anderen verloren hatten. So war das in unserer Familie, beim Glücksspiel durfte man schadenfroh sein.

Mein Vater fuhr mich direkt bis vor die Haustür. Er machte sich nichts daraus, dass es ein Gehweg war, auf dem er hielt. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, einfach auf der Straße anzuhalten. Denn das hätte bedeutet, dass möglicherweise ein anderes Fahrzeug hinter ihm stoppen müsste, was ihn selbst geärgert hätte, wenn ihm das passiert wäre. Auch dass es schon nach Mitternacht war, störte ihn nicht. Er ließ den Motor laufen, wartete, bis ich ausgestiegen und an der Tür war – und hupte zweimal zum Abschied.

Prompt ging unten rechts das Licht an. Ich sah zu, dass ich schnell ins Haus kam, und nahm gleich zwei Treppenstufen auf einmal, bis ich völlig außer Atem bei meiner Dachgeschosswohnung angekommen war.

Mein Ex-Freund Philipp hatte einen Teil der Möbel mitgenommen, als er vor sechs Wochen ausgezogen war. Die Couch stand noch da, aber der große Smart-TV war weg, so auch die Kommode, auf der er gestanden hatte. Der Sessel fehlte, der Fußhocker, und sogar die große halb vertrocknete Palme vermisste ich in stillen Momenten. Dafür hatte ich die komplette Kücheneinrichtung behalten, abgesehen vom Vollautomaten, der mir aber nie etwas bedeutet hatte. Meldete sich das Bedürfnis nach Koffein, griff ich nach der alten Bialettikanne, die ich aus Nonnas Nachlass ausgewählt hatte. Meinen Kaffee genoss ich schwarz, dickflüssig und süß. Philipp trank seinen mit viel Hafermilch. Zucker kam ihm nicht in die Tasse und selten auf den Teller, weder in Form von Kuchen, Keksen noch Desserts.

Im Nachhinein kann ich nicht sagen, inwieweit ein gewisses Maß an innerem Protest zu meiner Entscheidung beigetragen hatte, jeden Tag von Essen bis nach Köln zu pendeln, um Cannoli, Sfogliatelle, Ricciarelli und andere italienische Gebäcksorten zu zaubern. Es hatte schon längere Zeit gekriselt zwischen Philipp und mir. Nach vier Jahren Beziehung war die Luft raus, wir hatten uns auseinandergelebt, offen darüber gesprochen, ob wir uns trennen sollten. Er verbrachte viel Zeit mit Sport, ich in der Küche oder mit meinen Freundinnen. Und dann bekam ich die Kündigung. Meine Chefin hatte die Praxis von Essen nach Bonn verlegt, der Liebe wegen. Physiotherapeutinnen wurden gesucht, ich hätte schnell einen Job gefunden. Doch ich hatte anderes vor, wollte neue Erfahrungen sammeln. Dass ich ausgerechnet in einer kleinen Pasticceria anfing, gefiel Philipp nicht. Ihm war gesunde ausgewogene Ernährung wichtig. Mir prinzipiell auch. Wenn da nicht plötzlich die unbändige Lust auf süßes Gebäck gewesen wäre. Während die ganze Welt versuchte, den Zuckerkonsum zu reduzieren, hatte ich meine Leidenschaft fürs Backen entdeckt.

Mit Philipps Ausstieg aus unserem gemeinsamen Leben hatte ich allerdings nicht gerechnet. Ein paar Wochen zuvor hatten wir erst gemeinsam den Entschluss gefasst, noch mal an unserer Beziehung zu arbeiten. Und dann hatte er sie doch von einem Tag auf den anderen mit der Begründung beendet, wir hätten unterschiedliche Vorstellungen vom Leben. Damit lag er nicht ganz falsch, denn während er einen sehr konkreten Plan hatte, hatte ich gar keinen. Ich wusste schlicht nicht, was ich wollte. Nonna hatte mir etwas Geld vererbt, wie allen ihren Enkelkindern. Für ein Auto, eine neue Küche, Möbel, den lang ersehnten Urlaub in der Karibik. Mir hatte sie einen kurzen Brief hinterlassen, in dem stand, dass ich das Geld brauchen würde, um herauszufinden, was ich wirklich will. Dass im Umschlag etliche Scheine steckten und ich somit mehr bekommen hatte als mein Bruder, meine Cousins und Cousinen, behielt ich für mich. Es war eine stille Verabredung zwischen Nonna und mir, unser Geheimnis, von dem ich niemandem erzählen durfte, wie sie ausdrücklich verlangt hatte.

Diesmal war ich es, die sich sicher war. Irgendwo da oben im Himmel hielt Nonna Giulietta noch immer die Fäden zusammen. Im Moment dachte ich ernsthaft darüber nach, für einige Zeit nach Italien zu gehen, um dort in einer waschechten Pasticceria zu arbeiten. Mein Bruder Max, der zurzeit als Koch in Florenz arbeitete, kannte da jemanden. Und der kannte jemanden, der jemanden kannte, der jemanden ab September suchte. Ich musste nur Ja sagen. Aber da war auch noch die Einladungskarte, die vor drei Wochen bei mir angekommen war, von Enna, einer Freundin meiner Großmutter. Sie lud mich zu ihrem achtzigsten Geburtstag Anfang September nach Juist ein, wo ich als Kind einige Urlaube gemeinsam mit Nonna verbracht hatte.

Ich ging in die Küche, kochte mir einen Kaffee, um wieder ein wenig nüchtern zu werden, und setzte mich an den Tisch. Die Einladung lag noch immer dort. Enna hatte ihr eine vergilbte Schwarz-Weiß-Aufnahme beigelegt, darauf abgelichtet Nonna Giulietta und sie. Mit angezogenen Beinen, die Arme um die Unterschenkel geschlungen, saßen die beiden lachend nebeneinander im hellen feinkörnigen Sand, den Blick direkt in die Kamera gerichtet. Hinter ihnen das Meer.

Immer war ich davon ausgegangen, dass sie sich erst kennengelernt hatten, nachdem Nonna Giulietta in den Siebzigern nach Deutschland gezogen war. Aber auf dem Foto sahen sie bedeutend jünger aus, ich schätzte sie auf Anfang zwanzig.

Zum gefühlt hundertsten Mal, seitdem die Karte bei mir im Briefkasten gelandet war, las ich die Zeilen, die Enna in blauer Tinte unter den offiziellen Einladungstext geschrieben hatte.

Meine liebe Julie,

es wäre mir äußerst wichtig, dich zu sehen. Das Töwerland und ich, wir warten und freuen uns auf dich.

Deine Enna

Sie war meiner Großmutter ähnlich, ebenso stark, mit einer geheimnisvollen Aura. Dazu passten die wenigen persönlichen Sätze, die sie für mich gefunden hatte.

Warum war es ihr wichtig, mich zu sehen? Hätte es nicht gereicht, mir mitzuteilen, sie würde sich freuen?

Noch einmal griff ich zum Foto, drehte es um, als würde ich diesmal das Datum der Aufnahme auf der Rückseite entdecken. Aber es standen nur zwei Namen darauf, in Großdruckbuchstaben, so wie Nonna sie immer geschrieben hatte.

ENNA e GIULIETTA

Ich holte mein Notebook. Auf der Karte war die Mailadresse von Ennas Enkeltochter angegeben, bei der man sich bis heute mit Zu- oder Absage und ob man eine Unterkunft für eine oder zwei Personen benötigte, melden sollte. An Merle hatte ich schon Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Wir waren Kinder gewesen, als wir uns auf Juist kennengelernt hatten, beide gerade elf Jahre alt geworden und stolz darauf, dass wir nach den Sommerferien zu den Ältesten in der Grundschule gehörten. Jeden Tag hatten wir gemeinsam am Strand gespielt – und uns am Ende des Urlaubs auf die nächsten Ferien gefreut, in denen wir uns wiedersehen würden. Doch dann war Nonna plötzlich nicht mehr mit mir nach Juist gefahren, sondern wir hatten gemeinsam mit meinem Opa und meinem Bruder Urlaub in Italien gemacht, was natürlich auch sehr schön gewesen ist. Als ich dann erwachsen war, hatte ich hin und wieder darüber nachgedacht, noch einmal Urlaub auf der kleinen Insel zu machen, an die ich nur schöne Erinnerungen hatte. Und dann ist es doch Italien geworden, Spanien oder Frankreich.

Nun hielt ich die Einladungskarte in der Hand. So richtig hatte ich mich noch nicht entschieden, aber auf Juist erwarteten sie meine Antwort. Ohne weiter darüber nachzudenken, schrieb ich:

Liebe Merle,

sehr gern komme ich aufs Zauberland, um mit deiner Großmutter den achtzigsten Geburtstag zu feiern. Ich werde allein anreisen. Rufst du mich an, damit wir Genaueres besprechen? Das wäre schön.

Ich freue mich und schicke liebe Grüße aus dem Ruhrgebiet!

Julie

Ich drückte auf Senden. Florenz musste warten.

2.

Am nächsten Morgen lag ich im Bett und dachte darüber nach, ob ich mich daran gewöhnen könnte, einfach nichts zu tun. So wie ich es in den letzten vier Wochen gemacht hatte, mich einfach weiter selbst bemitleiden, da ich innerhalb kürzester Zeit meinen Freund und zum zweiten Mal meinen Job verloren hatte. Doch wenn ich ehrlich war, vermisste ich Philipp selten, und in der Pasticceria hatte ich nur als Krankheitsvertretung gearbeitet. Es war von vornherein klar gewesen, dass das Beschäftigungsverhältnis befristet war. Es ging mir gut. Die Sonne schien, und durch die offen stehende Balkontür hörte ich den Gesang einer Taube. Ihr Gurren war tief, eintönig, schnurrend. Vor meinem inneren Auge sah ich Nonna Giulietta, saß neben ihr auf der Parkbank, folgte ihren Ausführungen über die unterschiedlichen Vogelarten. Sie erklärte mir, dass die Turteltaube kleiner, zierlicher war als andere Tauben, ihr Gefieder farbenfroher, die Brust zart terrakottafarben, die Augen umrandet mit einem leuchtend roten Lidring. Dass sie zum Überwintern in den Süden flog, wenn es in Deutschland kalt wurde. Und dass sie ihren Namen dem kosenden Verhalten zu verdanken hatte.

Ich richtete mich auf, sah zum Balkon. Auf dem Blumenkasten, in dem der Thymian blühte, hatte es sich eine Schmusetaube, wie ich sie damals genannt hatte, bequem gemacht.

Mit einem Lächeln im Gesicht ging ich in die Küche.

Gerade als ich den ersten Schluck Kaffee genoss, klingelte mein Handy und zeigte eine mir unbekannte Nummer an.

Es war Merle.

Obwohl ich sie mehr als zwanzig Jahre nicht gesehen hatte, war sie mir sofort vertraut.

»Mensch, ich freu mich, wirklich!«, sagte sie. »Und die anderen auch. Jannes, und natürlich Oma.«

»Jannes?«, hakte ich nach.

»Mein Mann.« Sie lachte. »Der freche Kerl, der uns am Strand früher mit Quallen beworfen hat, Oles Bruder.«

»Ach ja, das war echt gemein. Er war der Ältere der beiden. Und Ole …« Schemenhaft blitzte das Bild eines blonden Jungen in mir auf. »Der Kerl mit dem altmodischen Bonanza- Rad. Er hat uns ständig verfolgt.«

»Genau der.«

Die Zeit verflog. Merle schwärmte von ihrer Hochzeit, der Geburt ihrer Tochter Meret, die im Winter drei werden würde. Sie erzählte vom Café, das sie auf Juist eröffnet hatte – bis sie plötzlich schwieg, sich räusperte und sagte: »Ich rede die ganze Zeit über mich und lass dich gar nicht zu Wort kommen.«

»Das holen wir nach, wenn ich auf der Insel bin«, sagte ich.

»Da werden wir nicht viel Zeit finden.« Sie seufzte. »Es gibt noch jede Menge zu organisieren bis zu Omas Feier. Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, an ihrem Ehrentag die Kuchen und Torten zu backen. Zum Glück werden es nicht sehr viele Gäste. Nur die engsten Freunde von der Insel. Und dann kommt noch der Besuch vom Festland, die Familie. Meine Eltern, Omas andere Tochter Undine mit Mann und Tochter, Omas Bruder. Und du. Oma hat sich sehr gefreut, als ich ihr erzählt habe, dass es bei dir passt.«

»Schön, dass sie an mich gedacht hat.« Ich war mir plötzlich sicher, dass Nonna Giulietta zu Ennas engsten Freunden gehört haben musste und sie mich deshalb einlud. »Wenn ich dir beim Backen helfen kann, sag einfach Bescheid«, bot ich an. »Ich habe zwei Monate in einer kleinen Pasticceria gearbeitet. Zeit habe ich, ich kann gern etwas früher kommen.«

»Wann kannst du da sein?«, fragte Merle.

»Ein paar Stunden solltest du mir schon geben«, feixte ich.

»Zwei meiner Saisonkräfte haben sich in der letzten Woche heimlich aus dem Staub gemacht. Conny, mit der ich das Café gemeinsam geführt habe, hat die Insel der Liebe wegen Hals über Kopf verlassen. Meine andere Freundin Agata ist hochschwanger. Ich meine das ernst, Julie. Wenn du Zeit und Lust hast, komm! Am besten sofort. Arbeitskräfte sind Mangelware auf Juist. Ich stell dich ein. Ein Zimmer bekommst du gestellt. Die Saison geht bis nach den Herbstferien, dann wird es ruhiger. Im Moment bin ich kurz vorm Durchdrehen.«

Ich sah auf das Foto, betrachtete Enna und Nonna Giulietta am Strand und sagte spontan: »Heute ist Dienstag, ein paar Dinge müsste ich schon noch erledigen. Was hältst du von Samstag oder Sonntag?«

Ein kleiner Schrei ertönte und kurz darauf ein fröhliches »Ernsthaft?«.

»Ja.«

Sie seufzte wieder, diesmal erleichtert. Und dann fragte sie: »Meinst du, du könntest mir dann ein paar der italienischen Rezepte aus der Pasticceria mitbringen? Oder sind die geheim?«

Ich lachte. »Da frage ich vorsichtshalber vorher mal nach. Aber ich kann dir auf jeden Fall welche von meiner Oma verraten. Sie hat sie von ihrer Oma, die wohlbehüteten Familienrezepte sind doch immer noch die besten.«

»Da sagst du was. Davon haben wir in unserer Familie auch eins.«

Plötzlich blitzten längst vergessene Bilder auf, Gerüche. »Ennas Apfelkuchen«, sagte ich, »mit dicken Streuseln, noch lauwarm vom Blech. Der Duft war himmlisch. Er hing in der Luft, wenn wir vom Baden zurückgekommen sind, hat sich mit dem des Meeres vermischt. Deine Oma hat uns die Stücke durch das geöffnete Fenster gereicht. Sie hat sie so groß geschnitten, dass wir sie mit beiden Händen halten mussten.«

»Omas berühmter Blechkuchen«, sagte Merle. »Das Geheimnis liegt in der gebräunten Butter, mit der sie die Streusel zubereitet. Und an der Apfelbutter, die sie auf den Teig streicht, wobei das eher ein sehr reduziertes Apfelmus ist. Es heißt nur Butter, weil es von der Konsistenz her daran erinnert. Sie wird auch für ein anderes Rezept verwendet, eine Apfelrosentorte mit einer besonderen Bedeutung.« Sie seufzte. »Ich rede schon wieder zu viel. Davon erzähl ich dann, wenn du da bist.«

»Unbedingt, ich freue mich darauf. Hört sich spannend an. Und lecker! Muss ich noch an irgendwas denken? Kleidungstechnisch zum Beispiel …«

Wir unterhielten uns noch weitere zehn Minuten und hatten eine volle Stunde miteinander gesprochen, als wir das Gespräch beendeten.

Gut gelaunt ging ich zum Kühlschrank. Es war mittlerweile halb elf, ich hatte noch nichts gefrühstückt und plötzlich Lust auf Apfelpfannkuchen. Ich verquirlte das Ei mit der Milch, gab das Mehl hinzu, stellte die Schüssel zur Seite, damit die Masse etwas aufquellen konnte, und sah aus dem Fenster zur Silberlinde, die in diesem Jahr spät zu blühen begonnen hatte. Leichter Wind kam auf, einige der letzten kleinen weißen Blüten rieselten herab. Die Turteltaube fiel mir wieder auf. Sie saß nun auf einem Ast der Linde, schien mich direkt anzusehen. Eine leichte Gänsehaut zog über meine Arme, kroch den Nacken hinauf. Ich war mir sicher, dass meine Großmutter niemals in Gestalt eines schwarzen Falters erscheinen würde. Und wenn, hätte sie sich ganz sicher nicht auf meine Haut gesetzt. Sie wusste, dass ich leicht hysterisch werden konnte, wenn irgendwas mit dünnen Beinen auf mir saß oder krabbelte. Aber eine Turteltaube passte zu ihr, das Symbol für die Liebe, die sie mir geschenkt hatte.

Sie fehlte mir. Ich wünschte, Nonna Giulietta wäre noch da, sie könnte all die Fragen beantworten, die ich mir stellte. Sie hatte mir von ihren Äpfeln erzählt, alten vergessenen Birnensorten, hatte mir auf unseren Spaziergängen viel über die Natur beigebracht. Ich konnte Vögel aufgrund ihres Gesangs unterscheiden, wusste, welche Pilze essbar waren, wo man kiloweise wilde Himbeeren, die dicksten Brombeeren und nach dem ersten Frost aromatische Schlehen pflücken konnte.

Warum hatte ich sie nie gefragt, was wirklich in ihr vorging, was sie dachte, fühlte? Erst nach ihrem Tod war mir bewusst geworden, wie fremd sie mir geblieben ist, obwohl ich mich ihr so nah fühlte.

Du wirst das Geld brauchen, um herauszufinden, was du wirklich willst …

Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Meine Mutter war Deutsche, sie war nicht nur der Ruhepol, sie war die Konstante in unserem Leben. Sie hatte einen gut bezahlten Job als Verwaltungsfachangestellte im öffentlichen Dienst, arbeitete seit Jahren im Einwohnermeldeamt. Mein Vater war Koch, eröffnete ein Restaurant nach dem anderen, schloss es wieder, brannte für eine neue Idee: Eine kleine Pizzabude, das Vereinsheim des Tennisclubs, sogar an einer Eisdiele hatte er sich schon versucht. Doch auch die hatte er vor einem halben Jahr geschlossen. Seitdem träumte er davon, ein Restaurant in Umbrien zu eröffnen, wovon meine Mutter wiederum nicht begeistert war. Mein Bruder Max eiferte ihm nach, und ich nun auch. Für meinen Vater wäre es das Größte, wenn ich irgendwann meine eigene Pasticceria führen würde. Er hatte mir sogar angeboten, seine eigenen Pläne zurückzustellen und bei mir zu arbeiten. Was mich allerdings in einen Konflikt brachte, da ich ihm ungern sagen wollte, dass ich das für keine gute Idee hielt. 

Ich griff zum Handy, um Max eine Nachricht zu schicken. Er war nach meinem Großvater benannt worden, Nonno Massimo. Der war gar nicht damit einverstanden, dass meine Eltern seinen und Nonnas Namen eingedeutscht hatten. Immer mal wieder hatte er es auf einer der Familienfeiern zum Thema gemacht, hatte meinen Vater gefragt, welcher Teufel ihn dabei geritten hätte. Bis Nonna irgendwann der Kragen geplatzt war. Wir Kinder hätten eine deutsche Mutter, hatte sie gesagt, wären außerdem hier geboren und aufgewachsen. Wenn er wegen seiner Kleingeistigkeit nicht in der Lage wäre, es zu schätzen, dass sein Enkelsohn nach ihm benannt worden war, so solle er doch endlich aufhören, Gift zu verspritzen. Denn sonst würde sie ihre Koffer packen und das machen, was sie schon vor Ewigkeiten vorgehabt hatte: ausziehen und endlich ihr eigenes Leben leben.

Noch nie hatte ich Nonna so emotional erlebt und Nonno noch nie so blass werden sehen. Sie hatte es ernst gemeint, da war ich mir sicher. Nonna Giulietta hat nie viel geredet. Und wenn, hatte es Hand und Fuß, war wichtig. So wie es Enna nun wichtig war, mich zu sehen.

»Florenz muss warten«, schrieb ich an Max. »Ich bin ab Samstag erst mal für eine Weile auf Juist, um dort in Merles Café zu arbeiten.«

Kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, rief mein Bruder an.

»Merle, ist das die Enkeltochter von dieser Enna, die dich zur Feier eingeladen hat?«

»Genau die.« Max kannte sie nicht. Er hatte Nonna und mich nie nach Juist begleitet. Damals war er noch zu klein und auch recht anstrengend gewesen. Deswegen musste er zu Hause bei meinen Eltern bleiben.

»Schieß los!«

Wir hatten ein inniges Verhältnis, freuten uns und litten miteinander. Das war schon immer so, auch als wir noch Kinder waren. Ich war drei Jahre älter als Max. Früher hatte ich auf ihn aufgepasst, nun meinte er, den Spieß umdrehen und auf mich achten zu müssen.

»Hast du dir das auch genau überlegt?«, fragte er, nachdem ich ihm alles berichtet hatte.

»Natürlich nicht.« Ich lachte. »Immerhin bin auch ich eine Moretti.«

»Und Florenz?«

»Muss warten. Außerdem sind es nur ein paar Wochen, vielleicht kann ich ja danach nachkommen. Und wenn alle Stricke reißen, finde ich jederzeit einen Job als Physiotherapeutin.«

Er seufzte. »Schade, ich hatte mich schon auf dich gefreut.«

»Holen wir nach.«

»Hoffentlich! Wie war es bei Sophia?«

Die nächste halbe Stunde verstrich. Mein Magen machte sich mit einem lauten Knurren bemerkbar, noch immer hatte ich nicht gefrühstückt. Ich verabschiedete mich von Max, erhitzte die Butter in der Pfanne, gab einen kleinen Schuss Olivenöl dazu, legte ein paar Apfelstücke hinein, streute etwas Rohrzucker darüber, wendete sie und gab eine Schöpfkelle voll Teig darauf. Kurz darauf saß ich mit einem dicken Pfannkuchen auf dem Balkon. Die Taube war verschwunden.

3.

Um halb fünf rief meine Mutter an. Sie hatte mir angeboten, meinen Wagen abzuholen, den ich gestern vor Sophias Haus hatte stehen lassen.

»Ich blockiere die Einfahrt hinter der Ampel«, sagte sie. »Beeil dich, es ist viel Verkehr. Wenn jemand mit dem Auto rauswill, muss ich hier weg.«

»Bin gleich da.« Ich griff nach meiner Tasche, schlüpfte in die Sandalen und verließ die Wohnung. Am letzten Treppenabsatz angekommen, ging die Wohnungstür unten rechts auf. Frau Niggemann hatte verdammt gute Ohren.

»Junge Frau, seien Sie doch bitte so lieb und sagen Sie Ihrem neuen Freund, dass der Gehweg kein Parkplatz ist und dass er sich die nächtliche Huperei bitte sparen soll«, sagte sie. »Es gibt Menschen, die schlafen um diese Uhrzeit.«

Obwohl ich nun schon gut zwei Jahre hier wohnte, hatte ich mit der alten Dame noch nicht oft gesprochen. Für mehr als ein »Guten Tag«, wenn wir uns zufällig in der Waschküche trafen, oder ein paar Worte über das Wetter hatte es bisher nicht gereicht. Dass Philipp ausgezogen war, hatte sie mitbekommen. Sie stand an dem Tag am geöffneten Fenster, eine Tasse Kaffee oder Tee in der Hand, und hat uns zugesehen, wie wir die Möbel in den Lieferwagen geschoben haben. Daher auch die Spitze mit dem »neuen« Freund, wie ich vermutete. Allerdings hatte sie recht, die Huperei war absolut überflüssig gewesen, genauso wie Ärger mit der Nachbarschaft es wäre.

»Es tut mir wirklich leid. Sie können sich nicht vorstellen, wie unangenehm mir das ist.« Ich legte eine kleine theatralische Pause ein. »Zumal das nicht mein Freund war, sondern mein Vater.«

Sie lächelte. »Na, dann wird das sicher keine Regel werden.«

»Versprochen.« Ich ging weiter. »Tut mir leid, meine Mutter wartet.«

Ich war schon an der Haustür, da sagte sie: »Gut, dass Sie Ihren untreuen Freund vor die Tür gesetzt haben.«

Völlig perplex drehte ich mich noch einmal zu ihr um, sortierte mich einen Moment, bevor ich fragte: »Wie meinen Sie das?«

»Na, dass Sie einen anständigen Kerl verdient haben, der keine andere Frau küsst, sobald Sie aus dem Haus gehen.« Sie schnaubte kurz auf. »Ich hätte ihm nicht dabei geholfen, die Möbel zu tragen.«

Mir fiel darauf keine Antwort ein. Außerdem kündigte der Klingelton, den ich meiner Mutter zugeordnet hatte, ihren Anruf an. Sie wartete.

»Schönen Tag noch«, sagte ich und flüchtete aus der unangenehmen Situation nach draußen.

Meine Mutter startete den Wagen, fuhr aber nicht los, sondern sah zu mir rüber: »Was ist passiert?«

»Weiß ich noch nicht so genau«, sagte ich ausweichend.

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