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Eine kurze Geschichte vom Fallen - Was ich beim Sterben über das Leben lernte

Als Buch hier erhältlich:

»Wenn ich nur aufhören könnte umzufallen, wäre dieses Buch lustiger.«

Joe Hammond fällt einfach hin.
Zum ersten Mal passiert es, als er seinen kleinen Sohn zur Schule bringt und merkt: Sein Körper macht auf einmal Dinge, die er nicht mehr steuern kann. Nach einem halben Jahr Ungewissheit und einer Odyssee der Arztbesuche bekommt Joe Hammond die Diagnose: Er leidet an der Motoneuron-Krankheit – eine zum Tode führende Erkrankung des motorischen Nervensystems.
Und er weiß: Er hat nicht mehr viel Zeit, er wird die Kontrolle über seinen Körper, er wird sein Leben verlieren. Und die Menschen, die er am meisten liebt, verlieren ihn.
Vom anfänglichen Stolpern bis zur fortgeschrittenen Bewegungsunfähigkeit nimmt uns Joe Hammond mit auf seine letzte Reise: Taumeln, hinfallen, auseinanderfallen. Mit tieftraurigem Humor beschreibt er, wie es ist, sich der eigenen Vergänglichkeit so radikal bewusst zu werden und dabei das Leben zu lieben wie nie zuvor.


»In einer Schublade hüten meine Frau Gill und ich einen alten Schuhkarton. In dem Karton sind 33 Geburtstagskarten für unsere Söhne: eine für jedes Jahr bis zu ihrem 21. Geburtstag. Seit Ende 2017 lebe – und sterbe – ich an der Motoneuron-Krankheit. Deswegen habe ich die Karten geschrieben.«

»Dies ist ein Buch über das Abschiednehmen. Abschied von meinem Körper, der mich von einer plötzlichen Unbeholfenheit bis in einen raumschiffähnlichen Rollstuhl führen wird. Abschied von dieser Welt, in der ich immer weniger eine Rolle spiele und stattdessen auf ein mir unbekanntes Terrain zutreibe. Abschied von Gill, meiner Frau. Und Abschied von Tom und Jimmy, meinen beiden Söhnen.«

»›Eine kurze Geschichte vom Fallen‹ handelt von der Traurigkeit (und der Wut und der Angst), aber auch von den schönen Momenten, von Liebe und Vatersein. Und davon, wie ich die letzten Momente mit meinem Körper erlebe, in der Gegenwart von Menschen, die mir das Wichtigste sind. Davon, wie es sich anfühlt, wenn man weiß, dass ich für meine Familie bald als Erinnerung weiterlebe. Auf vielerlei Weise ist das die erstaunlichste Zeit meines Lebens gewesen.«


  • Erscheinungstag: 18.02.2020
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674850

Leseprobe

für Gill, Tom & Jimmy

Stürze

Wenn ich nur aufhören könnte umzufallen, wäre dieses Buch lustiger. Ich bin ein großer Mann, und so allmählich verursache ich einen ziemlichen Flurschaden. Soeben habe ich einen Küchenschrank demoliert, und vor zwei Wochen habe ich mir auf dem Schlafzimmerboden die Schulter ausgekugelt. Kürzlich bin ich in das leere Kinderbett meines Sohnes gefallen, aber das war eine eher friedliche Erfahrung. Die Bettseiten klappten nach innen und umhüllten mich mit einem feinen, weichen, weißen Netz. Angesichts dessen, wie gefährdet ich im Moment bin, fühlte sich das okay an. Ich beschloss, liegen zu bleiben, und schaute mich um. Alles war still. Am liebsten wäre ich eingeschlafen, doch dann kam mein älterer Sohn – mein Sechsjähriger – herein.

Wenn andere in der Nähe sind und ich mal hierhin, mal dorthin kippe, wirkt das fast ballettartig – wie eins von diesen Vertrauensspielen, bei dem eine Person sich mit vor der Brust verschränkten Armen rückwärts fallen lässt, um von anderen aufgefangen zu werden. Aber oft bin ich eben allein oder außer Reichweite, und ein Sturz aus einem Meter neunzig Höhe dauert ganz schön lange. Oder fühlt sich zumindest so an. Es kommt mir vor, als hätte ich in diesem stillen Moment kurz vor dem Aufschlag reichlich Zeit, um nachzudenken und wahrzunehmen und mir Sorgen zu machen. Und das ist ziemlich beängstigend. Allein schon, die Langsamkeit meines Fallens zu beobachten und sowohl einen Landeplatz als auch einen Teil meines Körpers auszuwählen, der den Aufprall am ehesten verkraften kann. Und wenn ich dann auf den Boden pralle oder auf irgendwas anderes, während ich Richtung Boden unterwegs bin, ist das nie komisch oder amüsant. Nie ein lustiger Augenblick, über den ich am nächsten Tag schreiben möchte. Letzte Woche bin ich in der Dusche gestürzt und habe mir den Kopf aufgeschlagen. Und ich lag einfach nur da. Denn wenn ich hingefallen bin, kann ich meine Arme nicht benutzen, um mich wieder hochzustemmen. Ich lag da, gestrandet und seifig auf dem weißen Fliesenboden, während das Wasser herabprasselte und sich um mich herum rosa färbte. Und meine Frau kam hereingestürmt wie eine Greenpeace-Aktivistin, die das Abschlachten von Seehunden verhindern will.

Ich nähere mich dem Punkt, an dem ich mich dieser Stürze als Wohlfühlmomente erinnern werde. Aus einem Rollstuhl oder einem Patientenlifter oder einem Krankenbett heraus werde ich diese Anfangsphase der Motoneuron-Krankheit als eine Zeit der Freiheit betrachten. Eine Zeit, in der Hinfallen oder Stolpern oder Stürzen noch möglich war. Denn ich kann meine Finger tief in meine Oberschenkel drücken, glatt durch die Stellen hindurch, wo mal Muskeln waren, bis ich die Sehnen spüre, als würde so etwas wie die Substrukur meiner selbst hervortreten. Und das ist kein besonders gutes Zeichen, aber es ist nicht alles. Es ist nur der Körper. Dieses Buch ist alles – die Erfahrung meines Körpers, der sich verändert und dahinschwindet. Die Erfahrung, mich von den Menschen, die ich liebe, zu verabschieden. Ich habe Angst – das weiß ich. Aber es fühlt sich seltsam okay an. Und auch überraschend. Ich werde Ihnen davon erzählen. Ich werde die Geschichte meines Endes erzählen, zumindest bis zu dem Punkt, ab dem ich nicht mehr dazu in der Lage sein werde.

Das erste Anzeichen bemerkte ich vor ungefähr fünfzehn Monaten. Es war das Gefühl, als würde ein weiches Kaugummi unter meiner Fußsohle kleben. Füße fühlen sich größer an, wenn sie nicht richtig angehoben werden können. Mein großer Zirkusclownfuß und das alberne klatschende Geräusch, wenn ich rannte, um den Bus zu erwischen. Und vielleicht hätte ich das beheben können, wenn ich einen Faden um meinen rechten großen Zeh gebunden hätte. Aber wo hört man mit so was auf? Wie sehr kann man sich zur Marionette machen?

Ich ging wie ein Passagier im Gang eines Flugzeugs bei leichten Turbulenzen. So, wie jemand geht, kurz bevor das Anschnallzeichen wieder aufleuchtet – bei mittelstarken Turbulenzen während eines Flugs. Aber eben nicht in einem Flugzeug, sondern auf ebener Erde. Auf dem Weg, mir ein Sandwich zu machen oder die Zähne zu putzen. Einfach nur beim Gehen. Die Handflächen nach unten gedreht, als wollte ich mich an den Kopfstützen nichtexistierender Sitze festhalten.

Das erste Mal fiel ich hin, als ich Tom zur Schule brachte. Wir hatten unterwegs etliche Mütter mit ihren Kindern getroffen, es war ein fröhlicher Anlass. Ich ging näher an den Bürgersteigrand, um unseren Kreis zu erweitern und mit dieser Phalanx von Müttern zu plaudern. Aber als ich den rechten Fuß aufsetzte, spürte ich nur den äußersten Rand des Bordsteins. Ich hatte mehr Widerstand erwartet. Und der Rest meines Fußes kippte von der Gruppe weg. Nicht von einem Klippenrand, von einer Bordsteinkante, aber irgendwie fiel ich immer weiter. Keines meiner Beine versuchte, mich abzufangen, als wären beide zu höflich, um sich als Erstes in Bewegung zu setzen. Also kippte ich der Länge nach um und landete zwischen zwei parkenden Autos. Etwa fünf oder sechs Kinder, Tom eingeschlossen, und etliche Mütter musterten mich. Irgendwas an der Choreografie war irritierend – ich glaube, das spürten wir alle. Nach kurzem Zögern fingen die meisten von uns an zu lachen. Und dann stand ich auf, und wir lachten noch ein bisschen mehr. Als wir uns das nächste Mal trafen, lachten wir erneut darüber.

Aber Tom lachte am wenigsten. Er war nicht sonderlich beunruhigt, er fand es einfach nicht lustig. Seitdem hat er so einige Stürze miterlebt. Vor ein paar Wochen war er bei einer Freundin, als die sich die Schilderung eines Sturzes ihrer Tante anhörte und dann meinte, Erwachsene machen so was nicht. Mein Sohn belehrte sie prompt eines Besseren. Es war eine sachlich falsche Behauptung, und die erkennt er immer auf Anhieb.

Das nächste Mal fiel ich hin, als ich versuchte, einen Toaster pantomimisch darzustellen. Genau genommen hatte es in der Zwischenzeit schon andere Stürze gegeben, aber nichts Verhängnisvolles. Nichts, was mir in Erinnerung geblieben wäre. Mittlerweile wohnten wir in Portugal, wo die Fliesenböden wahnsinnig glatt sind, also völlig ungeeignet für einen Mann, der zu Stürzen neigt. Und das war nur ein Teil des Abenteuers. Ein neues Leben auf Hochglanzböden. Diesmal fiel ich hin und knallte mit dem Hinterkopf gegen einen Heizkörper. Tom und der damals knapp ein Jahr alte Jimmy saßen nach dem abendlichen Bad in Handtücher gewickelt auf Toms Bett. Tom hatte gerade meine Waschmaschine erkannt, und es waren noch weitere Küchengeräte sowie ein Staubsauger im Spiel gewesen. Bei dem Toaster kippte ich um, weil mein linkes Bein eine Hebung schaffte, die mein rechtes nicht hinbekam. Es lief auf eine Art abgeknickte Rückwärtsrolle hinaus, und als ich mit dem Kopf aufprallte, ertönte aus den Rohren ein dumpfes vibrierendes Scheppern, das uns alle erschreckte. Ich lag auf dem Rücken, den Kopf von dem Stahlkissen unangenehm nach vorne gedrückt. Nach einigen Augenblicken fing erst Jimmy an zu weinen, dann Tom. Ich schaute zu ihnen hinüber. Sah ihre Tränen. Ihre zerknautschten Gesichter. Ein näselnder Klang ertönte, wie zwei miteinander verbundene Luftschutzsirenen, und es schien, als würde er durch ihre Ohren nach außen gequetscht.

Was ist demütigender als der fehlgeschlagene Versuch herumzukaspern? Kaum etwas bringt mich dem Gefühl, erledigt zu sein, so nahe wie der Gedanke, nicht mehr der Clown sein zu können. Es hängt viel davon ab, einen Toaster nachahmen zu können. Ich glaube, ich habe nie länger als fünf Minuten mit jemandem verbringen wollen, der nicht irgendwie in der Lage ist, ein Clown zu sein. Und meine Verlustgefühle sind immer dann am stärksten, wenn diese Gelegenheiten für mich unerreichbar sind. Wenn ich mir nicht im Stil eines Kamels die Zähne putzen kann. Oder wenn ich morgens angezogen werde und nicht mehr in der Lage bin, meinen abgelegten Pyjama nach meinen Kindern zu schmeißen.

Ich habe festgestellt, dass Tränen durch fast nichts so schnell ausgelöst werden wie durch ein unerwartetes Geräusch. So war das mit mir als Toaster und dem tiefen Dröhnen des Heizkörpers, aber auch, als ich die Besteckschublade in der Küche zertrümmerte. Ich war schwächer geworden, aber nicht willens, meine Rolle als Koch des Hauses aufzugeben. In der Küche musste ich mich an der Arbeitsplatte festhalten, um aufrecht zu stehen. Es war also alles ziemlich schludrig, ein bisschen verzweifelt. Ich hackte eine Zwiebel, indem ich ein Messer nach ihr warf, oder ich schmiss einen benutzten Löffel aus sechs Metern Entfernung in die Spüle. An diesem Tag war ich besonders kraftlos. Wir hatten Gäste, und ich hätte um Hilfe bitten sollen. Ich weiß noch, dass ich mir nicht mal die Mühe machte, das Besteck abzuzählen. Ich schaufelte es einfach aus der Schublade, die ich offen stehen ließ, und drehte mich zum Esstisch um. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte mich nicht so sorglos bewegen sollen. Aber ich verteilte die nötige Menge Besteck auf dem Tisch, und als ich mich mit den überschüssigen Messern und Gabeln wieder zu der Schublade umdrehte, blieb die Gummisohle meines linken Joggingschuhs auf dem glänzenden Fliesenboden haften, und mein rechter spastischer Fuß verhakte sich an meinem statischen linken Knöchel. Ich hatte den Kipppunkt erreicht, und meine Beine konnten mich unmöglich retten. In dieser Phase meiner Erkrankung wurde mein Oberkörper weniger von den Beinen als vielmehr von einem knarrenden Korsett aus massiven viktorianischen Stahlstäben getragen. Ich wusste, dass ich fiel. Das ist passives Wissen. Das Wissen, dass es passieren wird; das Wissen, dass ich es nicht verhindern kann. In einem Zeichentrickfilm würde ich in dieser Position vor mich hin pfeifen und auf die Uhr gucken. Doch tatsächlich schätzte ich in dem Moment meine komplette »Arme ausgestreckt«-Länge ab, meine Entfernung zur Besteckschublade, die fixierte Position meiner Füße – und ich rechnete mir aus, dass sich meine Hände genau zu dem Zeitpunkt, an dem mein Körper einen Winkel von fünfunddreißig Grad zum Boden eingenommen hätte, parallel zur Schublade befinden würden. Meine Berechnung stimmte: Genau dort waren meine Hände tatsächlich. Nicht einkalkuliert hatte ich jedoch die beträchtliche Geschwindigkeit, mit der meine Hände durch die Luft sausen würden. Meine oberen Gliedmaßen krachten durch die geöffnete Schublade, bevor ich Gabeln, Messer und Löffel auf ihre jeweiligen Fächer verteilen konnte, und rissen Schublade inklusive Inhalt mit mir zusammen nach unten. Das Ganze erinnerte stark an Filmsimulationen der Kollision eines Asteroiden mit der Erde, die das Zeitalter der Dinosaurier beendete.

Meine Rolle als Koch des Hauses begann vor sechzehn Jahren. Ich kannte Gill erst seit einer Woche, daher lebten wir zu der Zeit noch nicht zusammen. Ich war in ihrer Wohnung, versuchte, sie beim Kochen in der Küche zu beobachten. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, und war ein wenig nervös. Ein wenig angespannt. Ich hörte Geklapper und Geschepper und bezog einen besseren Beobachtungsposten. Ich erinnere mich an das freudige Gefühl, das ich empfand, als ich Gill dann durch den Türrahmen hindurch beobachtete. Sie hatte eine geöffnete Dose Thunfisch in der Hand und versuchte, den Inhalt herauszubekommen. Sie stieß die Dose mit der Öffnung nach unten, so wie man versuchen würde, sehr zähflüssigen Ketchup aus einer Flasche zu schütteln, wenn man nicht weiß, dass es effektiver ist, mit der flachen Hand auf den Flaschenboden zu schlagen. Sie gab sich wirklich Mühe. Und ich habe noch gut in Erinnerung, wie sie immer wieder mit zunehmender Verzweiflung ruckartig die Hand senkte. Diese wiederholte, verbissene, hoffnungslose, vergebliche, betörende, schöne Bewegung ihres Armes durch die Luft.

Es ist schwer, die Verluste von Moment zu Moment zu leben, sie zu akzeptieren, wenn sie eintreten, Teile des eigenen Selbst widerstandslos herzugeben, als würde man für einen Schwarm Tauben Vogelfutter ausstreuen. Als ich rücklings auf dem glänzenden Fliesenboden lag, staunte ich über die schiere Menge an Metall und Krümeln, die in eine einzige Besteckschublade passt. Ich war in einer Drehbewegung, als ich auf die Schublade fiel, sodass meine Hände und Unterarme die Schublade seitlich trafen und der Aufprall mich vollends herumriss. Ich konnte nicht genau sehen, was da alles um mich herumlag, aber das Geräusch von fallendem Metall dauerte an, wie Hagel, der auf ein Oberlicht prasselt. Und ich lag mit ausgestreckten Armen auf diesem Meer aus Stahl und Schmutz. Eine Freundin und ihre Schwester waren zu Besuch, und sie sprangen beide auf, packten meine Arme und zogen mich in eine unwesentlich würdevollere Sitzposition. Direkt vor mir standen Tom und Jimmy nebeneinander. Der eine knapp über einen Meter groß, der andere noch zwei Köpfe kleiner. Ihre Lippen fingen an, sich zu bewegen – vier rosa Raupen, die wogend über ein Blatt kriechen. Ich saß in den Trümmern auf dem Hintern und sah, wie ihre Gesichter sich verzogen und sie wieder anfingen, Sirenengeheul aus ihren Ohren zu quetschen. Sobald die beiden Schwestern mich hochgewuchtet hatten, hoben sie die Sachen vom Boden auf. Das war ein Job, den ich unbedingt selbst erledigen wollte. Ich wollte da unten knien. Alles wieder einsortieren. Die Löffel in ihr Fach, die Gabeln, die Messer. Den Stampfer, die Presse, die Klopfer, die Hacker. Die Zangen, die Flaschenverschlüsse, die Spieße, die Öffner. Und dann Kehrblech und Handfeger für all den angesammelten Staub und Schmutz.

In meiner Kindheit träumte ich vom Fallen. Viele Jahre lang ging es in diesem schlichten Traum lediglich um ein Streichholz oder eine Murmel oder andere Kleinteile. Da waren nur ich und diese in der Luft schwebenden kleinen Dinge. Es erinnerte an die sehr schöne Kinderserie aus den 1980ern namens Button Moon, die von Mr. Spoon und seinen Freunden in einem Krimskrams-Universum handelte. Meine eigene Version war nicht ganz so bezaubernd. Es gab keinen Untergrund, keine Umwelt, nur diese Gegenstände, und in dem Traum konzentrierte ich mich stets auf diese kleinen Dinge. Meine Hände waren da, und meine Aufgabe bestand darin, nichts herunterfallen zu lassen. Und das war wirklich das Entscheidende – nichts durfte herunterfallen. Denn wenn das passierte, würde alles zu Ende gehen.

Nachts hörte ich meine Eltern oft streiten. Es war dunkel draußen. Und wenn du ein älteres Kind bist, drehst du die Musik laut, oder du reißt die Tür auf, brüllst irgendetwas nach unten und knallst die Tür wieder zu. Aber wenn du jung bist – oder sehr jung – scheint nichts von dir getrennt zu sein. Geräusche lassen sich auf der Haut nieder und werden absorbiert, als wären sie deine eigenen, als wären diese Probleme deine eigenen.

Ich hatte diesen Traum nahezu unverändert viele Jahre lang. Immer dieselbe Aufgabe – die Welt bewahren. Ich denke, der Druck, unter dem ich stand, war ähnlich groß wie bei einem Bombenentschärfer, der aus irgendeinem Grund gezwungen wäre, seine Arbeit als Kind auszuführen. Und natürlich fiel in diesem Traum irgendwann immer etwas herunter, und dann erwachte ich in der Gewissheit, dass absolut nichts von der Welt übriggeblieben war.

Als meine Beine schwächer wurden und mein rechtes spastisches Bein sich allmählich versteifte, stellte ich erfreut fest, dass ich mein Gleichgewicht verbessern konnte, wenn ich mit einem Buch auf dem Kopf herumlief. Tom hatte ein Paddington-Bär-Buch, mit dem das am besten ging. Es war hart und schwer und quadratisch, und mit dem Buch schien ich mir meiner Bewegungen bewusster zu sein. Weniger sturzgefährdet. Es war die Geschichte von Paddingtons Reise aus dem dunkelsten Peru, seiner Ankunft am Bahnhof Paddington und seinem Einzug bei Mr. und Mrs. Brown. Ich machte diese Entdeckung etwa einen Monat, nachdem ich meine Diagnose erhalten hatte. Ungefähr um diese Zeit begannen meine Arme, sich spontan dem Schweregefühl in meinen Beinen anzupassen. Ich machte größere Schritte und fing an, bewusst die Arme zu strecken und bei jeder Bewegung auszuatmen. Die Inspirationsquelle dafür waren ein paar Tai-Chi-Stunden, die ich mal genommen hatte, aber es fühlte sich an wie eine Eigenkreation. Oder vielleicht wie eine Evolution zum Gliederfüßer.

Ich mochte diese Zeit. Ich war mir meines Körpers bewusster als je zuvor in meinem Leben. Ich wollte meinen Körper spüren und in ihm sein, weil ich wusste, dass ich dabei war, ihn zu verlieren. Wenn ich an diese Zeit denke, frage ich mich oft, wie es wohl weitergegangen wäre, wenn ich nicht mit einem Bein am Träger einer Tasche hängen geblieben wäre, die ich auf dem Boden im Schlafzimmer abgestellt hatte. Ein Teil von mir wünschte, ich hätte beschlossen, mit dem Gesicht aufzuschlagen statt mit der Schulter, weil ich später befand, dass die Verletzung meiner Schulter gewisse Aspekte der Krankheit beschleunigte. Aber ich denke, dieser Sturz verursachte lediglich einen Knick in der Entwicklungskurve meines Körpers. Eine gefühlte Beschleunigung, vielleicht auch eine leichte tatsächliche, aber im Grunde unwesentliche Beschleunigung. Das jähe Ende dieser fruchtbaren Periode führte dazu, dass ich mein kurzes Leben als Insekt mythologisierte. Mehr nicht.

Denn in Wahrheit verschlechterte sich mein Zustand auch in dieser Phase. Ich hielt mich einfach nur an dem Gedanken fest, dass dem nicht so war. Ich denke, der Sturz begrub eine Hoffnung, aber er begrub nicht alle Hoffnung. Das kreative Leben wird schwerer und dunkler und realer. Aber das Leben ist nicht schlechter, als es vorher war. Es hat nicht weniger Wert. Es ist nicht weniger interessant. Ganz und gar nicht. Während ich schwächer werde, weniger an der Welt teilhabe oder weniger teilhabe an dem, was ich liebe, weniger teilhabe am Leben meiner Familie, kann ich die Grenzen dieser Teilhabe mit fantastischer Klarheit sehen. Ich kann mich dagegenlehnen, einen Arm über die Kante baumeln lassen, mit den Fingern über den Rand fahren. Und genau da bin ich.

Jetzt registriere ich mitunter weniger die Stürze als vielmehr die Tatsache, dass ich schon eine Weile nicht mehr gestürzt bin. Diese Normalisierung nimmt gerade Form an. Letzte Woche habe ich einen von diesen alltäglichen Stürzen hingelegt. Auf dem Weg aus der Küche blieb ich mit meiner Sandale in einer kaputten Fliesenfuge hängen. An meinen Handgelenken waren Krücken befestigt, und als ich durch die Tür fiel, verhielten sich mein Körper und beide Arme wie drei beleibte Gestalten, die versuchen, sich vorzudrängeln. Ich spürte sehr viel Drängelei zwischen diesen verschiedenen Bestandteilen meines Körpers. Der Schwung katapultierte meinen Torso vor den anderen zwei Dicken hinaus. Meine Arme folgten steif nach hinten gestreckt. Während diese drei Hornochsen, aus denen mein Körper bestand, durch die Tür polterten, landete mein Kinn zuerst auf dem Boden. Aufgrund der Anordnung meines Körpers wurden meine Schultern nach außen gedrückt, und meine Handflächen landeten klatschend rechts und links. Eine Krücke war noch immer schmerzhaft an mein Handgelenk gebunden und fesselte mich an den Boden. Mein Körper vermittelte mir so den Eindruck, als sei ich von einem kräftigen Polizisten festgenommen und zu Boden gepresst worden. Zunächst unternahm ich keinerlei Bewegungsversuche. Nicht, weil ich mich ernsthaft verletzt hatte, sondern eher wegen des Gefühls tiefer Bestürzung angesichts der Notwendigkeit, mir etwas einfallen zu lassen, um mich vom Boden wieder hochzubekommen.

Ich habe bereits das Sirenengeheul meiner Kinder beschrieben, nachdem sie einen meiner Stürze mit ansahen. Dieser Sturz nun lieferte einen weiteren Beweis für die Veränderung auf der Skala von Entsetzen zu Langeweile. Aus Jimmys Ohren entwich ein kurzer Laut der Verunsicherung, aber nicht so wie bei den vorangegangenen Vorfällen, und von Tom kam gar nichts. Sie waren daran gewöhnt. Daddy war nun schon des Öfteren auf dem Boden gelandet, und der Laut, den Jimmy diesmal von sich gab, war in etwa mit dem kurzen wichtigtuerischen Aufjaulen einer Polizeisirene zu vergleichen, bei dem man sich fragt, was das eigentlich soll. Ich glaube, Jimmy besann sich schnell eines Besseren und fuhr damit fort, unsere diversen Recycling-Behälter zu leeren. Gill wollte mir aufhelfen, aber ich sagte, das wäre erst mal nicht nötig, und schlug vor, während ich auf den Teppich sabberte, sie sollte die Fischstäbchen fertig braten. Tom stieg auf seinem Weg zur Treppe über mich hinweg. Ich konnte hören, wie das Abendessen auf Teller verteilt wurde, und ich wollte bleiben, wo ich war – vielleicht für immer. Ich zog die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung. Und nichts an dem Gedanken kam mir irgendwie sonderbar vor.

Ich verbringe jetzt viel Zeit in Unterhosen, während Leute kommen und gehen. Es wird immer schwieriger, mich anzuziehen, und wir haben eine gut funktionierende Heizung. Während ich dies schreibe, trage ich Unterhose und T-Shirt, und auf Letzterem sind zwei getrocknete Flecken von der Rote-Beete-Kürbissuppe, die es zum Mittagessen gab. Vieles an mir ist nicht mehr so ordentlich, wie es mal war, und in diesem ungepflegten Zustand finde ich mich immer öfter wieder, wenn ich nach einem erneuten Sturz stöhnend auf dem Boden liege.

Nach einem Sturz ist es mir jetzt unmöglich, allein wieder aufzustehen. Das ist schon seit Monaten so, aber inzwischen schaffen Gill und ich es kaum noch gemeinsam. Der jüngste Versuch hatte ziemlich heftige Schmerzen und das bedauerliche Wiederauftreten der kürzlich verheilten Verletzung meiner Rotatorenmanschette zur Folge. Diesmal war Gill als Erste bei mir, und ich konnte mich auf den Rücken rollen, um das übliche Gespräch darüber zu führen, ob ich mir was getan hatte oder nicht. Ich betrachtete noch die Sorgenfalten auf Gills Stirn, als Jimmy zur Tür hereingelaufen kam. Er lächelte breit, und da er meinen eigentlichen Sturz nicht gesehen hatte, schien es ihm einfach zu gefallen, auf mich herabblicken zu können.

Ein Freund, der uns gerade besuchte, kam als Letzter dazu. Ich glaube, ich erwähne das alles, weil ich an dieser Stelle auch über Würde schreibe und darüber, dass ich mich einfach nicht mehr darum bemühe. Auf meine Würde Rücksicht zu nehmen, würde schlicht zu lange dauern und eine Unmenge von Gills Zeit beanspruchen. Hinter jeder gewaschenen und adrett gekleideten körperbehinderten Person verbirgt sich das erhebliche und ungewürdigte Engagement eines anderen Menschen.

Wir brauchten ein paar Minuten, aber die Methode, mich hochzuheben, war extrem effektiv. Ich bin kein Ingenieur und kann daher nicht erklären, welchen beträchtlichen biomechanischen Nutzen eine leicht unter mein Hinterteil gelegte Hand hat. Normalerweise fällt es mir schwer, aus einem Sessel aufzustehen, aber wenn eine Hand unter meinem Hintern minimalen Aufwärtsdruck ausübt, scheint mir die Aufwärtsbewegung kaum noch Mühe zu bereiten. Diesmal versuchten wir, mich vom Boden hochzuwuchten, aber mit dem Ausgleich von sechs Händen. Ich fand es besonders anrührend, dass zwei davon Jimmy gehörten – dem Jungen, den ich in meinen Armen wiegen sollte. Meine Frau, mein Sohn, ein Freund – alle mit meinem beinahe toten Gewicht befasst. Früher hätte ich mir niemals vorstellen können, dass sechs Hände gleichzeitig mein Hinterteil nach oben drücken. Aber das Unterfangen gelang. In der Unterhose von gestern und einem schmutzigen T-Shirt schaffte ich es in eine sitzende Position auf der Bettkante – und betrachtete erleichtert meine drei Helfer.

Wir wohnten seit fast sechs Monaten an einem Berghang im ländlichen Zentralportugal, und dann bekam ich meine Diagnose, und wir stürzten ganz nach unten. Wir stürzten durch die Kiefern und die Eukalyptusbäume, plumpsten und prallten gegen Stämme, rauschten durchs Blattwerk. Wir überschlugen uns und hüpften und rutschten – ein achtzehn Monate altes Baby, ein sechsjähriger Junge und eine Mum und ein Dad. Es ist schon bemerkenswert, dass wir mit der Geschwindigkeit fallender Gegenstände von hoch oben am Berg eine Meile herabstürzten, aber keinerlei äußere Verletzungen davontrugen – keine Schnitt- oder Schürfwunden. Nichts Sichtbares. Der ganze Schmerz war im Innern – die Enttäuschung und der Schock und die Traurigkeit.

Es war Gills Idee gewesen, nach Portugal zu gehen. Sie war mit Jimmy im Mutterschaftsurlaub und hatte auf einmal diesen Traum – und wir setzten ihn um. Wir hatten unsere Wohnung vermietet und experimentierten mit einer anderen Art zu leben. Tom hatte zu Hause in Großbritannien seit seiner Einschulung noch keine Freude am Lernen entdeckt, nun aber ging er in eine kleine zweisprachige Schule umgeben von Kirschbäumen, wo er den halben Tag damit verbrachte, aus alten Treckerreifen und Schlamm und kaputten Ziegelsteinen und Holzresten Buden zu bauen.

Und Gill und ich verbrachten unsere Tage gemeinsam in der Sonne, lernten eine neue Sprache und aßen Orangen, Kohl und Kartoffeln, die Nachbarn uns vor die Tür legten. Und ich weiß nicht, wie lange dieses Leben so weitergegangen wäre, aber ich weiß genau, wenn bei mir etwas Harmloseres diagnostiziert worden wäre, etwas Heilbares, dann wäre unsere Rückreise nach Großbritannien langsamer vonstattengegangen – nicht dicht am Rande eines Abgrunds, wo die Felsen und die Steine und die blutrote Erde vorbeirasten.

Gestern erlebte ich einen seltsamen Moment, als meine Finger nach dem Geländerknauf am oberen Ende der Treppe griffen. Ich sah meine Finger an. Sie spielten eine kleine Klaviermelodie in der Luft. Ich konnte ganz leicht spüren, dass mein Körper sich nach hinten bewegt hatte, statt nach vorne. Dass meine Hand das Gegenteil von Zugreifen machte: Sie zog sich zurück. Und dass mich das ängstigte. Es war zunächst nur eine schwache Empfindung. Das überaus sanfte transitive Gefühl, das ein Baumwipfel haben muss, unmittelbar nachdem die Axt ihre Arbeit unten am Stamm beendet hat. Eine anfangs kaum merkliche Bewegung, aber mit dem Wissen um das unausweichliche Gemetzel. Das ist die schlimmste Form des Grauens, eines Grauens, das mit solcher Behutsamkeit beginnt. Zu wissen, was es bedeutet, was es für meinen Körper bedeuten würde. Die Steilheit des Gefälles hinter mir, die Härte seiner Kanten. Den Schaden, den ich meinen Gliedmaßen zufügen würde, wenn ich in dem Moment nach hinten fiele. Nach hinten fallen und es hinnehmen müssen. Die lautlosen Minuten und Stunden und Jahre des Augenblicks des Fallens. Und der Gedanke an meine Frau, wie sie angelaufen käme. Was das alles bedeuten würde. An die Leben, die aus dem Gleichgewicht gebracht würden. Durch fünf Finger, die zu kurz greifen.

Es ist eine besondere Unterkategorie von Stürzen – vielleicht die schlimmste Sorte –, weil sie nachwirken und widerhallen, weil sie dich verfolgen und nicht mehr loslassen. Es sind die Beinahestürze – solche, die nie passieren, die fast passiert wären. Der Moment des Wissens, dass ein Sturz passiert. Nicht der Moment der Angst davor. Der des Wissens. Selbst wenn dieser Moment nur einen Sekundenbruchteil währt und du dann aus ihm herausgerissen wirst. Es ist eine Art Waterboarding-Effekt, weil es sich anfühlt, als würde es passieren, obwohl dem nicht so ist. Das Herz stülpt sich von innen nach außen wie ein Gummibecher und ploppt dann wieder zurück. Es ist wie eine Zeitreise oder wie zwei parallele Momente, die nebeneinander existieren: der verhängnisvolle und der banale, während die Gedanken wie fremdbestimmt zwischen beiden hin und her klackern wie Kieselsteine in einem Eimer. Der Geländerknauf war unerreichbar, aber das Geländer selbst nicht. Die Beinahestürze vergesse ich nie, nicht die richtig schlimmen.

Ein Kieselstein klackert schon seit neun Jahren und wird mit jeder Erinnerung lauter. Ich war auf einem Wanderweg am Rande einer Schlucht. Ich muss wegen irgendwas stehen geblieben sein. Eine schöne Aussicht? Vielleicht, um zu pinkeln. Gill war weiter vorne. Ich sah sie auf einem losen Geröllweg um einen spitzen Felsvorsprung verschwinden. Wir machten eine Wanderung auf der indischen Seite des Himalajas, ohne Guide. Wir waren allein. Und als ich mich beeilte, um sie einzuholen, blieb ich mit der Schuhspitze an einem Stein hängen, und meine Füße stießen gegeneinander. Ich stolperte nach vorne, bis die dicke Sohle meines rechten Wanderschuhs mich abbremste und ich zum Stehen kam. Ich war allein in der Stille. Gill war nicht zu sehen, der Abgrund direkt vor mir. Ich dachte an die Kleinigkeiten, durch die Stürze passieren können: die Wucht oder Schwäche, mit der eine Schuhspitze beim Vorgang des Stolperns und Taumelns gegen eine Ferse trifft. Und dass ich um Haaresbreite ins Straucheln geraten und dann ins Nichts gestürzt wäre, über die Kante verschwunden, in die Stille, außer Sicht. Ich stellte mir vor, wie es für Gill gewesen wäre, in diese rätselhafte Stille zurückzukehren. Zu einem leeren Pfad. Es ist die Stille jenes Augenblicks, die diese Erinnerung verdichtet. Die passende Bühne für ein Ende. Die Ahnung eines Endes, auch wenn es keines war.

Jeder Gedanke, den ich mir später um jenen Moment machte, war profunder als der, der mir damals in den Kopf kam. Ich schüttelte das Erlebnis ab, aber es ist bei mir geblieben und bei jeder Erinnerung daran im Dunkeln weitergewachsen. Ich erzählte Gill anschließend nichts von dem Vorfall. Ich trottete einfach weiter und holte sie ein. Weil ja wirklich nichts passiert war – jedenfalls nichts, von dem ich dachte, es irgendwie mitteilen zu können.

Ich falle jetzt. Aber diesmal ist es real. Anders als Sie vielleicht weiß ich, dass ich sterbe. Und deshalb habe ich weniger Angst davor

Der Körper

Wenn ich mich an meinem Rollator festhalte und über den Flur im ersten Stock schlurfe, schaue ich unweigerlich durch die offene Tür ins Bad. Das ist ein Muster geworden. Durch die Tür auf den Metallrahmen zu blicken, der meinen erhöhten behindertengerechten Toilettensitz hält. Diese flüchtige Erfahrung erinnert mich an die Momente in meinem Leben, wenn ich an Sanitätshäusern vorbeikam und zerstreut die unwahrscheinlichen Utensilien aus dem Leben anderer Menschen betrachtete. Diese ganze Welt von Erfahrungen in nur einem Geschäft. Und so fühlt es sich an, wenn ich diese um meine Toilette montierte Vorrichtung sehe. Es ist das Leben anderer Menschen, nicht mein eigenes. Doch jedes Mal erinnere ich mich, dass es meines ist, und bin von Neuem schockiert.

Ich denke, ich erlebe bei jedem Anlass dasselbe Maß an ursprünglichen Schocks. Dasselbe Gefühl empfinde ich bei jedem nun von mir benötigten Hilfsmittel: der konusförmige Gegenstand zum Sockenanziehen, die Greifgeräte, die Geländer, die Schiene, der Rollstuhl und andere wundersame Apparaturen wie aus einem Dr.-Seuss-Buch. Fast täglich treffen neue Sachen ein, und ich werde unvermutet zum Kurator des Museums meines eigenen Verfalls. Wie kam es dazu? Denn vor nicht allzu langer Zeit ging ich noch an solchen Geschäften vorbei. Ich war auf dem Bürgersteig und schaute hinein. Aber jetzt bin ich drin.

Londoner Bettler bitten Behinderte nicht um Geld. Sie sehen sie nicht mal an. Diese Beobachtung machte ich während eines Weihnachtsbesuchs in Großbritannien, als ich in London war, wenige Monate bevor wir endgültig zurückkehren mussten. Ich war mit meiner Behinderung allein unterwegs. Ich muss ziemlich wackelig gewirkt haben, weil ich das erste Mal erlebte, dass mir wildfremde Menschen halfen. Ich fand das aufregend. Ich empfinde keine Aufregung mehr. Aber damals war es beglückend, auf die gleiche Art, wie alle transformierenden Erfahrungen beglückend sind. Wie ein Schauspielschüler mit einer Bettelschale oder ein Promi in einem Fettanzug. Nur dass es diesmal um mich ging. Die kompletteste Version meiner selbst, die ich je sein würde.

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