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Entsetzen

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Als Abigail Campano eines Nachmittags nach Hause kommt, tritt sie direkt in einen Albtraum: ein zerbrochenes Fenster, ein blutiger Fußabdruck auf der Treppe und der leblose Körper ihrer Tochter – mit einem Mann, der sich, ein Messer in der Hand, über sie beugt. Abigail stürzt sich auf ihn, überwältigt und tötet den mutmaßlichen Täter in einem erbitterten Kampf. Doch das Opfer ist nicht ihre Tochter – sie lebt, wurde jedoch entführt. Special Agent Will Trent ermittelt und taucht ein in die Abgründe von Atlantas reichster Community. Und die Zeit wird knapp …


  • Erscheinungstag: 23.07.2024
  • Aus der Serie: Georgia Serie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008386

Leseprobe

Für Irwyn und Nita … für alles

PROLOG

Abigail Campano saß in ihrem Auto auf der Straße vor ihrem eigenen Haus. Sie schaute zu der Villa hoch, die sie vor fast zehn Jahren umgebaut hatten. Das Haus war riesig – viel zu viel Platz für drei Personen, vor allem, da ihre Tochter, so Gott wollte, in weniger als einem Jahr aufs College gehen würde. Was würde sie mit sich selbst anfangen, wenn ihre Tochter erst einmal damit beschäftigt war, ihr eigenes Leben zu beginnen? Es wären dann nur wieder Abigail und Paul, so wie vor Emmas Geburt.

Bei dem Gedanken zog sich ihr der Magen zusammen. Pauls Stimme krächzte aus den Autolautsprechern, als er wieder ans Telefon kam. »Babe, hör zu«, begann er, aber sie starrte das Haus an, und ihre Gedanken waren bereits ganz woanders. Wann war ihr Leben so klein geworden? Wann waren die wichtigsten Fragen ihres Tages die Probleme anderer Leute und andere Nebensächlichkeiten geworden? Waren Pauls Hemden beim Schneider schon fertig? Hatte Emma heute Abend Volleyballtraining? Hatte der Innenausstatter den neuen Schreibtisch fürs Büro bestellt? Hatte jemand daran gedacht, den Hund hinauszulassen, oder würde sie die nächsten zwanzig Minuten literweise Pisse vom Küchenboden wischen?

Abigail schluckte, die Kehle wurde ihr eng.

»Ich glaube, du hörst mir nicht zu«, sagte Paul.

»Ich höre zu.« Sie stellte den Motor ab. Ein Klicken war zu hören, dann wurde, ein Wunder der Technik, Pauls Stimme von den Autolautsprechern auf ihr Handy umgeleitet. Abigail stieß die Tür auf und warf die Schlüssel in ihre Handtasche. Sie klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, während sie in den Briefkasten schaute. Stromrechnung, die Abrechnung von American Express, Emmas Schulgebühren …

Paul hielt inne, um Luft zu holen. Sie ergriff die Gelegenheit.

»Wenn sie dir nichts bedeutet, warum hast du ihr dann ein Auto geschenkt? Warum bist du mit ihr dorthin gegangen, wo du wusstest, dass meine Freundinnen auftauchen könnten?« Abigail sagte die Wörter, während sie die Auffahrt hochging, aber sie spürte sie nicht tief in ihrem Bauch wie beim ersten Mal, als so etwas passiert war. Damals war ihre einzige Frage gewesen: Warum genüge ich ihm nicht?

Jetzt lautete ihre einzige Frage: Warum bist du so ein notgeiler Mistkerl?

»Ich brauchte einfach eine Pause«, sagte er, noch eine altbekannte Floskel.

Abigail stieg die Verandastufen hoch und suchte in ihrer Handtasche nach den Haustürschlüsseln. Sie hatte den Klub seinetwegen verlassen, hatte ihre wöchentliche Massage und das Mittagessen mit ihren engsten Freundinnen ausgelassen, weil es sie demütigte, dass sie alle Paul mit einer flaschenblonden Zwanzigjährigen gesehen hatten, mit der er, so unverfroren war er, in ihr Lieblingsrestaurant gegangen war. Sie wusste nicht, ob sie sich dort je wieder würde zeigen können.

Abigail sagte: »Ich brauche auch eine Pause, Paul. Wie würde es dir gefallen, wenn ich mir auch eine Pause gönnen würde? Wie würde es dir gefallen, wenn du eines Tages mit deinen Freunden reden und du spüren würdest, dass irgendetwas los ist, und du müsstest sie praktisch anflehen, dir zu sagen, was los ist, bis sie dir endlich sagen, dass sie mich mit einem anderen Mann gesehen haben?«

»Ich würde seinen gottverdammten Namen herausfinden und zu ihm nach Hause gehen und ihn umbringen.«

Warum war ein Teil von ihr immer geschmeichelt, wenn er so etwas sagte? Als Mutter eines Teenager-Mädchens hatte sie sich angewöhnt, auch in den wüstesten Bemerkungen noch nach positiven Aspekten zu suchen, aber das hier war einfach lächerlich. Außerdem hatte Paul so große Probleme mit seinen Knien, dass er am Müllabfuhrtag kaum die Tonnen an den Straßenrand bringen konnte. Der größte Schock dieser Geschichte hätte eigentlich sein sollen, dass er noch immer eine Zwanzigjährige finden konnte, die mit ihm ins Bett stieg.

Abigail steckte den Schlüssel in das alte Metallschloss der Haustür. Die Angeln quietschten wie in einem Gruselfilm.

Die Tür war bereits offen.

»Moment mal«, sagte sie, als würde sie Paul unterbrechen, obwohl er gar nichts gesagt hatte. »Die Haustür ist offen.«

»Was?«

Auch er hatte nicht zugehört. »Ich sagte, die Haustür ist bereits offen«, wiederholte sie und stieß die Tür weiter auf.

»O Gott. Die Schule hat doch erst vor drei Wochen wieder angefangen, und sie schwänzt schon wieder?«

»Vielleicht die Putzfrau …« Sie hielt inne, weil sie auf Glas trat. Abigail schaute nach unten und spürte, wie sich irgendwo unten in ihrem Kreuz eine kalte, scharfe Panik aufbaute. »Da liegen überall Scherben auf dem Boden. Ich bin eben reingetreten.«

Paul sagte etwas, das sie nicht verstand. »Okay«, antwortete sie automatisch. Sie schaute sich um. Eines der hohen Seitenfenster neben der Tür war kaputt. Sie stellte sich vor, wie eine Hand durch das Loch griff, den Riegel zurückschob und die Tür öffnete.

Sie schüttelte den Kopf. Im hellen Tageslicht? In diesem Viertel? Sie konnten nicht mehr als drei Leute auf einmal zu sich einladen, ohne dass die alte Spinnerin von gegenüber sich über den Lärm beschwerte.

»Abby?«

Sie befand sich in einer Art Blase, hörte alles nur gedämpft. Zu ihrem Mann sagte sie: »Ich glaube, da ist jemand eingebrochen.«

Paul bellte: »Raus aus dem Haus! Die könnten noch immer drin sein!«

Sie warf die Post auf den Tisch in der Diele und sah sich dabei im Spiegel. Sie hatte die letzten zwei Stunden lang Tennis gespielt. Die Haare waren noch feucht, einzelne Strähnen klebten ihr im Nacken, wo der Pferdeschwanz sich allmählich auflöste. Es war kühl im Haus, aber sie schwitzte.

»Abby?«, schrie Paul. »Geh sofort raus aus dem Haus. Ich rufe auf der anderen Leitung die Polizei.«

Sie drehte sich um und öffnete den Mund, um etwas – was? – zu sagen, als sie den blutigen Fußabdruck auf dem Boden sah.

»Emma«, flüsterte sie, ließ das Handy fallen und rannte die Stufen hoch zum Zimmer ihrer Tochter.

Oben auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, schockiert über das zertrümmerte Mobiliar, die Glasscherben auf dem Boden. Ihr Blickfeld verengte sich, und sie sah Emma als blutiges Häuflein am Ende des Gangs liegen. Ein Mann stand, ein Messer in der Hand, über ihr.

In den ersten Sekunden war Abigail zu schockiert, um sich zu bewegen, der Atem stockte ihr, die Kehle schnürte sich zu. Der Mann kam auf sie zu. Ihre Augen konnten sich auf nichts mehr konzentrieren. Sie huschten zwischen dem Messer in seiner blutigen Faust und dem Körper ihrer Tochter auf dem Boden hin und her.

»Nein …«

Der Mann machte einen Satz auf sie zu. Ohne nachzudenken, wich Abigail zurück. Sie stolperte und fiel die Treppe hinunter, und Schulter und Hüfte knallten auf das Hartholz, als sie mit dem Kopf voran nach unten rutschte. Ihr Körper kreischte einen Chor der Schmerzen: der Ellbogen, der gegen die Pfosten des Geländers krachte, ein scharfes Brennen in ihrem Nacken, als sie versuchte, mit dem Kopf nicht gegen die Kanten der Stufen zu schlagen. Der Atem wurde ihr aus den Lungen gepresst, als sie im Foyer landete.

Der Hund? Wo war der blöde Hund?

Abigail drehte sich auf den Rücken, wischte sich Blut aus den Augen und spürte, wie ihr Glasscherben in den Kopf stachen.

Der Mann rannte die Treppe hinunter, noch immer das Messer in der Hand. Abigail dachte nicht nach. Sie trat nach oben, als er auf der letzten Stufe stand, und traf ihn mit der Spitze ihres Turnschuhs irgendwo zwischen Anus und Hoden. Sie hatte ihr Ziel verfehlt, aber das war egal. Der Mann taumelte und sank fluchend auf ein Knie.

Sie drehte sich auf den Bauch und kroch auf die Tür zu. Er packte sie am Bein und riss sie so heftig zurück, dass ein weiß glühender Schmerz ihr in Rückgrat und Schulter schoss. Sie griff nach dem Glas auf dem Boden, suchte eine Scherbe, mit der sie ihn verletzen konnte, aber die winzigen Bruchstücke schlitzten ihr nur die Hände auf. Sie trat nach ihm, strampelte wild, während sie sich zentimeterweise zur Tür vorarbeitete.

»Aufhören!«, schrie er und packte ihre Fußgelenke mit beiden Händen. »Verdammt noch mal, aufhören, habe ich gesagt!«

Sie hörte auf, versuchte, wieder zu Atem zu kommen, klar zu denken. Ihr Kopf dröhnte noch immer, sie konnte sich nicht konzentrieren. Die Haustür einen halben Meter vor ihr war noch immer offen, sie sah hinaus auf den leicht abfallenden Weg, der zu ihrem Auto auf der Straße führte. Sie drehte sich um, sodass sie ihrem Angreifer ins Gesicht sehen konnte. Er kniete auf dem Boden und hielt ihre Fußgelenke umklammert, damit sie nicht nach ihm treten konnte. Das Messer lag neben ihm auf dem Boden. Seine Augen waren hinterhältig schwarz – zwei Granitbrocken unter schweren Lidern. Seine breite Brust hob und senkte sich, er atmete schwer. Blut durchtränkte sein Hemd.

Emmas Blut.

Abigail spannte ihre Bauchmuskeln an, schnellte mit gespreizten Fingern hoch und stach ihm die Finger in die Augen.

Er schlug ihr mit der flachen Hand aufs Ohr, aber sie ließ sich nicht abbringen, rammte ihm immer wieder die Daumen in die Augenhöhlen und spürte schließlich, wie etwas nachgab. Er packte ihre Handgelenke und drückte ihr die Finger weg. Er war zwanzigmal stärker als sie, aber Abigail dachte jetzt nur noch an Emma, an diesen Sekundenbruchteil, als sie ihre Tochter oben gesehen hatte, wie ihr Körper dalag, das T-Shirt über die kleinen Brüste hochgeschoben. Sie war kaum noch zu erkennen, ihr Kopf nur eine blutige Masse. Er hatte ihrer Tochter alles genommen, sogar ihr wunderschönes Gesicht.

»Du Bastard!«, schrie Abigail und hatte das Gefühl, ihre Arme würden brechen, als er ihre Hände von seinen Augen wegdrückte. Sie biss ihm in die Finger, bis sie Knochen spürte. Der Mann schrie, hielt ihre Gelenke aber weiterhin umklammert. Als Abigail nun das Knie anzog, traf sie ihn genau zwischen den Beinen. Der Mann riss die blutigen Augen auf, sein Mund klappte auf, saurer Atem drang heraus. Sein Griff lockerte sich, aber er ließ sie nicht los. Als er auf den Rücken fiel, zog er Abigail mit sich.

Automatisch legten sich ihre Hände um seinen Hals. Sie spürte, wie die Knorpel in seiner Kehle sich bewegten, die Ringe, die die Speiseröhre umgaben wie weiches Plastik. Sein Griff um ihre Handgelenke verstärkte sich, aber ihre Ellbogen waren jetzt gestreckt, Schultern und Hände bildeten eine gerade Linie, als sie mit ihrem ganzen Gewicht auf den Hals des Mannes drückte. Schmerz zuckte wie Blitze durch ihre zitternden Arme und Schultern. Ihre Hände verkrampften sich, als würden tausend winzige Nadeln in ihre Nerven stechen. Sie spürte Vibrationen an ihren Handflächen, als er etwas zu sagen versuchte. Wieder verengte sich ihr Blickfeld. Sie sah rote Punkte seine Augen sprenkeln, seine feuchten Lippen öffneten sich, die Zunge quoll heraus. Sie saß rittlings auf ihm, und sie wurde sich bewusst, dass die Hüftknochen des Mannes sich in ihre Oberschenkel pressten, als er sich hochdrückte und sie abzuwerfen versuchte.

Unvermittelt dachte sie an Paul, an die Nacht, als sie Emma gezeugt hatten – wie sie gewusst, einfach gewusst hatte, dass sie ein Baby machten. So wie jetzt war sie auf ihrem Mann gesessen, wollte jeden Tropfen von ihm in sich haben, damit sie ihr perfektes Kind bekamen.

Und Emma war perfekt – ihr süßes Lächeln, ihr offenes Gesicht. Die Art, wie sie jedem vertraute, den sie traf, gleichgültig, wie oft Paul sie davor gewarnt hatte.

Emma, die jetzt oben lag. Tot. In einer Blutlache. Die Unterwäsche heruntergerissen. Ihr armes Baby. Was hatte sie durchmachen müssen? Was für Demütigungen hatte sie von diesem Mann erleiden müssen?

Abigail spürte eine plötzliche Wärme zwischen ihren Beinen. Der Mann hatte uriniert. Er starrte sie an – sah sie tatsächlich –, und dann wurden seine Augen glasig. Seine Arme sanken seitlich herunter, die Hände fielen auf die mit Scherben übersäten Fliesen. Sein Körper wurde schlaff, der Mund stand offen.

Abigail kauerte sich auf die Hacken und schaute den leblosen Mann vor ihr an.

Sie hatte ihn getötet.

1. KAPITEL

Will Trent starrte zum Autofenster hinaus, während seine Chefin in ihr Handy schrie. Allerdings erhob Amanda Wagner nie wirklich die Stimme, aber ihr Ton hatte eine gewisse Schärfe, der schon mehr als einen ihrer Agenten dazu gebracht hatte, in Tränen auszubrechen und aus einer laufenden Ermittlung auszusteigen – keine schlechte Leistung, wenn man bedachte, dass die Mehrheit ihrer Untergebenen im GBI, dem Georgia Bureau of Investigation, Männer waren.

»Wir sind« – sie reckte den Hals und schaute das Straßenschild an – »an der Kreuzung Prado und Seventeenth.« Amanda machte eine kurze Pause. »Vielleicht könnten Sie die Information in Ihrem Computer nachschauen?« Sie schüttelte den Kopf, offensichtlich gefiel ihr die Antwort nicht, die sie bekommen hatte.

Will versuchte es mit: »Vielleicht sollten wir weiter herumfahren. Vielleicht finden wir ja …«

Amanda legte die Hand über die Augen. Sie flüsterte ins Telefon: »Wie lange dauert es, bis der Server wieder funktioniert?« Die Antwort entlockte ihr ein tiefes, unmissverständliches Seufzen.

Will deutete auf den Monitor, der die Mitte des holzverkleideten Armaturenbretts dominierte. Der Lexus hatte mehr Schnickschnack als ein Weihnachtsbaum. »Haben Sie denn kein GPS

Sie ließ die Hand sinken, dachte kurz über diese Frage nach und fing dann an, mit den Knöpfen auf dem Armaturenbrett zu spielen. Der Bildschirm veränderte sich nicht, aber die Klimaanlage surrte stärker. Will kicherte, doch sie brachte ihn mit einem bösen Blick zum Verstummen und sagte: »Vielleicht könnten Sie, während wir darauf warten, dass Caroline eine Straßenkarte findet, die Betriebsanleitung aus dem Armaturenbrett fischen und mir die Anweisungen vorlesen.«

Will zog an dem Hebel, aber das Fach war verschlossen. Er dachte, dass das eine gute Charakterisierung seines Verhältnisses zu Amanda Wagner war. Sie schickte ihn oft vor verschlossene Türen und erwartete, dass er dennoch einen Weg hineinfand. Will mochte ein gutes Rätsel so gern wie jeder andere, aber nur dieses eine Mal wäre es nett gewesen, wenn Amanda ihm den Schlüssel gegeben hätte.

Vielleicht aber auch nicht. Jemanden um Hilfe zu fragen, war noch nie Wills Stärke gewesen – vor allem nicht jemanden wie Amanda, die beständig eine Liste mit Leuten im Kopf zu haben schien, die ihr noch einen Gefallen schuldeten.

Er schaute zum Fenster hinaus, während sie mit ihrer Sekretärin schimpfte, weil sie nicht ständig eine Straßenkarte bei der Hand hatte. Will war in Atlanta geboren und aufgewachsen, aber in Ansley Park hielt er sich selten auf. Er wusste, dass es eines der ältesten und wohlhabendsten Viertel der Stadt war, wo vor über einem Jahrhundert Anwälte, Ärzte und Banker ihre beneidenswerten Anwesen erbaut hatten, damit zukünftige Anwälte, Ärzte und Banker so leben konnten, wie sie es getan hatten – in klösterlicher Sicherheit inmitten einer der gewalttätigsten Großstädte auf dieser Seite der Mason-Dixon-Linie. Das Einzige, was sich im Lauf der Jahre verändert hatte, war die Tatsache, dass die Schwarzen Frauen, die weiße Babys in Kinderwagen über die Bürgersteige schoben, besser bezahlt wurden.

Mit seinen gewundenen Straßen und den Kreisverkehren schien Ansley Park extra angelegt zu sein, um Besucher zu verwirren, wenn nicht abzuschrecken. Die meisten Straßen waren von Bäumen gesäumt, breite Avenuen mit den Häusern hoch oben auf Hügeln, damit man einen besseren Blick auf die Welt hatte. Überall gab es dicht bewaldete Parks mit Fußwegen und Spielplätzen. Einige Bürgersteige bestanden noch immer aus den originalen Pflastersteinen. Obwohl alle Häuser architektonisch verschieden waren, zeigten sie doch eine gewisse Uniformität in ihren immer frisch gestrichenen Fassaden und den professionell gepflegten Rasenflächen. Will nahm an, dass das so war, weil sogar ein Karriereeinsteiger in diesen Kreisen nicht unter einer Million pro Jahr anfing. Im Gegensatz zu seinem Viertel Poncey-Highland, das weniger als sechs Meilen entfernt war, gab es in Ansley keine regenbogenfarbenen Häuser und keine Drogenkliniken.

Auf der Straße sah Will eine Joggerin, die stehen geblieben war, um sich zu strecken und Amandas Lexus immer wieder einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Aus den Morgennachrichten wusste er, dass eine Smogwarnung der höchsten Stufe ausgerufen worden war und den Leuten geraten wurde, im Freien nicht übermäßig zu atmen, außer es war unbedingt notwendig. Keiner schien sich das zu Herzen zu nehmen, auch jetzt nicht, da sich die Temperatur der 40-Grad-Marke näherte. Seit ihrem Eintreffen in Ansley Park hatte Will mindestens fünf Joggerinnen gesehen. Bis jetzt passten alle perfekt in das Klischee der selbstbewussten, unbeschäftigten Ehefrauen mit Pilates-gestärkten Körpern und wippenden Pferdeschwänzen.

Der Lexus stand am Fuß eines anscheinend sehr beliebten Hügels, die Straße hinter ihnen war von hohen Eichen gesäumt, die Schatten auf den Asphalt warfen. Alle Läuferinnen waren langsamer geworden, um das Auto anzuschauen.

Das war kein Viertel, in dem eine Frau und ein Mann lange in einem geparkten Auto sitzen konnten, ohne dass jemand die Polizei rief. Natürlich war das auch kein Viertel, in dem junge Mädchen in ihrem eigenen Heim brutal vergewaltigt und ermordet wurden.

Er schaute zu Amanda hinüber, die sich ihr Handy so krampfhaft ans Ohr drückte, dass es aussah, als würde das Plastikgehäuse gleich zerbrechen. Sie war eine attraktive Frau, wenn man sie nicht reden hörte oder mit ihr arbeiten oder eine gewisse Zeit in einem Auto sitzen musste. Sie war Anfang sechzig. Als Will vor über zehn Jahren beim GBI angefangen hatte, waren Amandas Haare noch grau gesprenkelt gewesen, aber das hatte sich in den letzten Monaten drastisch verändert. Er wusste nicht, ob etwas in ihrem Privatleben der Grund dafür war oder ob sie einfach keine Zeit hatte, sich einen Termin bei ihrem Friseur zu besorgen, aber seit einiger Zeit sah man Amanda ihr Alter an.

Amanda hatte wieder angefangen, mit den Knöpfen auf ihrem Armaturenbrett herumzuspielen, offensichtlich versuchte sie, das GPS zum Laufen zu bringen. Das Radio sprang an, und sie schaltete es schnell wieder aus, doch Will bekam noch ein paar Takte einer Swing-Band mit. Sie murmelte etwas und drückte auf einen anderen Knopf, wodurch Wills Fenster heruntergelassen wurde. Er spürte einen Schwall heißer Luft, als hätte jemand eine Backofenklappe geöffnet. Im Außenspiegel sah er eine Joggerin oben auf dem Hügel und die Blätter der Hartriegel, die sich in einer Brise bewegten.

Amanda ließ von der Elektronik ab. »Das ist ja lachhaft. Wir sind die oberste Ermittlungsbehörde in diesem Staat und finden nicht einmal den gottverdammten Tatort.«

Will drehte sich um, und der Sicherheitsgurt schnitt ihm in die Schulter, als er den Hügel hochsah.

Amanda fragte: »Was machen Sie da?«

»In diese Richtung«, sagte er und deutete nach hinten. Die Äste der Bäume über ihnen waren miteinander verwachsen und tauchten die Straße in einen dämmerigen Schatten. Zu dieser Jahreszeit gab es keine Brise, nur erbarmungslose Hitze. Was er gesehen hatte, waren nicht raschelnde Blätter gewesen, sondern die blauen Signallichter eines Streifenwagens, die über die Schatten huschten.

Amanda seufzte noch einmal schwer, als sie den Rückwärtsgang einlegte und den Lexus wendete. Ohne Vorwarnung trat sie auf die Bremse und riss ihren rechten Arm vor Wills Brust, als könnte sie ihn so davon abhalten, durch die Windschutzscheibe zu krachen. Ein großer, weißer Transporter raste heftig hupend an ihnen vorbei, der Fahrer schüttelte die Faust und stieß unhörbare Verwünschungen aus.

»Channel Five«, sagte Will, als er das Logo des lokalen Nachrichtensenders auf der Seite des Transporters erkannte.

»Die sind fast so spät dran wie wir«, bemerkte Amanda und folgte dem TV-Transporter den Hügel hoch. Sie bog rechts ab und stoppte vor einem einzelnen Streifenwagen, der die nächste linke Abzweigung blockierte. Eine ganze Reihe von Reportern war bereits vor Ort. Vertreter aller Lokalsender wie auch von CNN, der seine internationale Zentrale nur wenige Meilen entfernt hatte. Eine Frau, die einen Mann erdrosselte, der ihre Tochter ermordet hatte, wäre in jedem Teil der Welt eine fette Schlagzeile, aber die Tatsache, dass die Tochter weiß war, dass die Eltern wohlhabend waren und die Familie zu den einflussreichsten der Stadt gehörte, gab der Nachricht eine schwindelerregende, beinahe skandalöse Note. Irgendwo in New York sabberte eine Managerin von Lifetime Movies bereits in ihren Blackberry.

Amanda zog ihre Marke hervor und zeigte sie dem Uniformierten, während sie an der Absperrung vorbeirollte. Weiter oben standen mehrere Streifenwagen und einige Krankenwagen. Die Türen waren offen, die Bahren leer. Sanitäter standen rauchend herum. Der jagdgrüne BMW X5 vor dem Haus wirkte inmitten der Einsatzfahrzeuge irgendwie unpassend, aber der riesige Geländewagen brachte Will auf die Frage, wo der Transporter des Coroners war. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sich auch der Leichenbeschauer verfahren hätte. Ansley war kein Viertel, in dem sich jemand mit einem Beamtengehalt gut auskannte.

Amanda legte den Rückwärtsgang ein, um zwischen zwei Streifenwagen einzuparken. Die Parkhilfesensoren fingen an zu lärmen, als sie das Gaspedal berührte. »Kein Herumtrödeln da drin, Will. Wir bearbeiten den Fall nur, wenn wir ihn ganz übernehmen.«

Will hatte Variationen dieses Themas schon mindestens zweimal gehört, seit sie die City Hall verlassen hatten. Der Großvater des toten Mädchens war ein milliardenschwerer Bauunternehmer, der sich im Lauf der Jahre einige Feinde gemacht hatte. Je nachdem, mit wem man redete, war Bentley entweder ein geachteter Sohn der Stadt oder ein Kumpel aus der alten Zeit, einer dieser geldschweren Gauner, die im Hintergrund die Fäden zogen, ohne sich je selbst die Hände schmutzig zu machen. Welche Version der Geschichte des Mannes auch korrekt war, seine Taschen waren auf jeden Fall so tief, dass er sich seinen Anteil an politischen Freunden kaufen konnte. Bentley hatte nur einmal kurz beim Gouverneur angerufen, der hatte sich mit dem Direktor des Georgia Bureau of Investigation in Verbindung gesetzt, und der wiederum hatte Amanda den Auftrag gegeben, sich diesen Mordfall anzusehen.

Wenn der Mord eine professionelle Handschrift getragen oder auf etwas anderes hingewiesen hätte als lediglich auf einen simplen Einbruch, der aus dem Ruder gelaufen war, dann hätte Amanda nur einen Anruf gemacht und dem Atlanta Police Department den Fall schneller entrissen, als sich ein Kleinkind sein Lieblingsspielzeug zurückholt. Wenn dieser Fall nur eine x-beliebige, alltägliche Tragödie war, dann würde sie wahrscheinlich Will die Erklärungen überlassen, während sie in ihrem schicken Auto zur City Hall zurückfuhr.

Amanda schaltete auf vorwärts und rollte zentimeterweise nach vorn. Das Piepsen der Einparkhilfe wurde immer hektischer, je näher sie dem Streifenwagen kam. »Wenn Bentley jemanden so wütend gemacht hat, dass der seine Enkelin umbringt, dann erhält dieser Fall eine ganz andere Dimension.«

Sie schien so etwas beinahe zu erhoffen. Will verstand ihre Aufregung – die Lösung dieses Falls wäre ein weiterer Pluspunkt auf Amandas Meritenkonto –, aber Will hoffte, er würde nie so weit kommen, dass er den Tod eines jungen Mädchens als Sprosse auf seiner Karriereleiter betrachtete. Außerdem wusste er auch nicht so recht, was er von dem toten Mann halten sollte. Er war ein Mörder, aber er war auch ein Opfer. Wenn man sich überlegte, dass die öffentliche Meinung in Georgia eher für die Todesstrafe war, machte es da wirklich etwas aus, dass er hier in Ansley Park erdrosselt worden war und nicht im Coastal State Prison auf eine Bahre geschnallt wurde und eine tödliche Injektion erhielt?

Will öffnete die Tür, bevor Amanda auf Parken geschaltet hatte. Die heiße Luft traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Dann schlug die Feuchtigkeit zu, und er fragte sich, ob man sich so fühlte, wenn man Tuberkulose hatte. Dennoch zog er sein Sakko an, um das Pistolenhalfter zu verdecken, das hinten an seinem Gürtel klemmte. Nicht zum ersten Mal überlegte sich Will, ob es vernünftig war, mitten im August einen dreiteiligen Anzug zu tragen.

Amanda schien von der Hitze völlig unberührt, als sie sich neben Will stellte. Eine Gruppe Uniformierter stand am Anfang der Auffahrt zusammen und sah zu, wie sie die Straße überquerten. Die Männer erkannten sie, und Amanda warnte Will: »Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass wir im Augenblick beim Atlanta Police Department nicht gerade willkommen sind.«

»Nein«, stimmte Will ihr zu. Einer der Beamten spuckte ostentativ auf den Boden, als sie an ihnen vorbeigingen. Ein anderer begnügte sich mit der subtileren Geste eines erhobenen Mittelfingers. Will klatschte sich ein Lächeln aufs Gesicht und präsentierte ihnen den hochgereckten Daumen, um ihnen zu zeigen, dass es keine Unstimmigkeiten gebe.

Gleich an ihrem ersten Tag im Amt hatte Atlantas Bürgermeisterin geschworen, die Korruption auszurotten, die während der Amtszeit ihres Vorgängers wild ins Kraut geschossen war. In den letzten Jahren hatte sie eng mit dem GBI zusammengearbeitet, um Verfahren gegen die unverfrorensten Übeltäter eröffnen zu können. Amanda hatte sich gnädig dazu herabgelassen, Will in die Löwengrube zu schicken. Vor sechs Monaten hatte er eine Ermittlung abgeschlossen, in deren Folge sechs Detectives der Polizei von Atlanta entlassen wurden und eine der ranghöchsten Beamtinnen der Stadt in den vorzeitigen Ruhestand gezwungen wurde. Die Fälle waren solide – die Beamten hatten sich bei Drogenrazzien bereichert –, aber niemandem gefiel es, wenn ein Fremder im eigenen Haus putzte, und Will hatte sich im Verlauf dieser Ermittlungen nicht gerade Freunde geschaffen.

Amanda hatte dafür eine Beförderung bekommen. Will war zum Ausgestoßenen geworden.

Er ignorierte das in seinem Rücken gezischte »Arschloch« und versuchte, sich auf das vorliegende Verbrechen zu konzentrieren, während sie die geschwungene Auffahrt hochgingen. Der Garten strotzte von exotisch aussehenden Blumen, deren Namen Will kaum kannte. Das Haus selbst war riesig, stattliche Säulen stützten einen Balkon im ersten Stock, eine geschwungene Doppeltreppe aus Granit führte zum Hauptportal. Abgesehen von den mürrisch dreinblickenden Polizisten, die den Anblick verunzierten, war es ein beeindruckendes Anwesen.

»Trent«, rief jemand, und er sah Detective Leo Donnelly die Treppe herunterkommen. Leo war klein, mindestens dreißig Zentimeter kürzer als Will mit seinen eins achtundachtzig. Seit ihrer letzten Zusammenarbeit hatte er sich einen anderen Gang angewöhnt, jetzt schlurfte er schwankend, fast wie Columbo. Dadurch sah er aus wie ein aufgeregter Affe. »Was, zum Teufel, tust du denn hier?«

Will deutete auf die Kameras und gab Leo damit die glaubhafteste Erklärung. Jeder wusste, dass das GBI ein Baby in den Chattahochee werfen würde, nur um damit in die Abendnachrichten zu kommen. »Das ist meine Chefin, Dr. Wagner.«

»Hey«, sagte Leo und nickte ihr kurz zu, bevor er sich wieder an Will wandte. »Wie gehts Angie?«

»Wir sind verlobt.« Will spürte, dass Amandas prüfender Blick mit kalter Intensität auf ihm ruhte. Er versuchte abzulenken und deutete mit einem Kopfnicken auf die offene Tür. »Was haben wir hier?«

»Eine geballte Ladung Hass auf dich, mein Freund.« Leo zog eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Du solltest auf dich aufpassen.«

Amanda fragte: »Ist die Mutter noch drin?«

»Erste Tür links«, antwortete Leo. »Mein Partner ist gerade bei ihr.«

»Gentlemen, wenn Sie mich entschuldigen.« Amanda ließ Leo stehen wie einen Bediensteten. Der Blick, den sie Will zuwarf, war auch nicht viel angenehmer.

Leo stieß eine Rauchschwade aus und schaute ihr nach, wie sie die Treppe hochging. »Kalt wie ein Eiszapfen, was?«

Will verteidigte sie automatisch, so wie man einen nutzlosen Onkel oder eine versaute Schwester verteidigt, wenn jemand von außerhalb der Familie sie angreift. »Amanda ist eine der besten Polizistinnen, mit denen ich je gearbeitet habe.«

Leo gab seiner Beurteilung etwas mehr Schliff. »Kein schlechter Arsch für ’ne Oma.«

Will dachte an die Situation im Auto, als sie bei der Beinahekollision mit dem TV-Transporter den Arm vor ihm ausgestreckt hatte. Es war das Mütterlichste, was er sie je hatte tun sehen.

Leo meinte: »Wette, die nimmt einen im Bett ganz schön her.«

Will versuchte, sich nicht zu schütteln, als er die Vorstellung aus seinem Kopf verscheuchte. »Wie gehts?«

»Meine Prostata lässt mich tröpfeln wie ein verdammtes Sieb. Habe seit zwei Monaten keine Nummer mehr geschoben, und ich habe diesen Husten, der einfach nicht vergeht.« Wie zum Beweis hustete er und zog dann wieder an seiner Zigarette. »Und bei dir?«

Will straffte die Schulter. »Kann nicht klagen.«

»Nicht wenn man Angie Polaski zu Hause hat.« Bei Leos anzüglichem Lachen musste Will daran denken, wie ein asthmatischer Kinderschänder klingen würde, wenn er drei Packungen pro Tag rauchen würde. Angie hatte fünfzehn Jahre bei der Sitte gearbeitet, bevor sie die Truppe aus gesundheitlichen Gründen verließ. Leo hatte geglaubt, sie wäre eine Hure, nur weil ihr Job es erfordert hatte, dass sie sich wie eine anzog. Oder vielleicht waren es die vielen Männer, mit denen sie im Lauf der Jahre geschlafen hatte.

Will entgegnete: »Ich richte ihr schöne Grüße von dir aus.«

»Tu das.« Leo starrte zu Will hoch und nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Was willst du wirklich hier?«

Will versuchte, ausweichend zu antworten. Er wusste, dass Leo sehr wütend werden würde, wenn man ihm den Fall entreißen würde. »Bentley hat jede Menge Beziehungen.«

Leo hob skeptisch die Augenbrauen. Trotz seines zerknitterten Anzugs und der fliehenden Neandertalerstirn war er lange genug Polizist, um zu erkennen, wenn jemand eine Frage nicht beantwortet hatte. »Bentley hat euch bestellt?«

»Das GBI kann sich an Fällen nur dann beteiligen, wenn es von der örtlichen Polizei oder der Regierung angefordert wurde.«

Leo lachte schnaubend, und Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern. »Du hast Entführungen vergessen.«

»Und Bingo«, ergänzte Will. Das GBI hatte eine Sondereinheit, die sich um die Bingo-Hallen im Staat kümmerte. Es war die Art von Job, den man bekam, wenn man die falsche Person verärgert hatte. Vor zwei Jahren hatte Amanda Will ins Exil in die Berge von North Georgia geschickt, wo er seine Zeit damit zugebracht hatte, mit Meth dealende Hinterwäldler zu verhaften und über die Gefahren des Ungehorsams gegenüber direkten Vorgesetzten nachzudenken. Er hatte keinen Zweifel daran, dass die Bingo-Abteilung sein Schicksal sein würde, falls er sie je wieder verärgerte.

Will deutete zum Haus. »Was ist hier passiert?«

»Das Übliche.« Leo zuckte die Achseln. Er nahm noch einen langen Zug an seiner Zigarette und drückte sie auf der Schuhsohle aus. »Mom kommt vom Tennisspielen nach Hause, die Tür ist offen.« Er steckte den Stummel in seine Jackentasche und führte Will ins Haus. »Sie geht nach oben und sieht ihre Tochter, missbraucht und massakriert.« Er deutete auf die Treppe, die sich vor ihnen in die Höhe schwang. »Der Mörder ist noch da, sieht Mom – die übrigens verdammt heiß ist –, ein Kampf folgt und, Überraschung, er ist derjenige, der schließlich tot auf dem Boden liegt.«

Will betrachtete das mächtige Eingangsportal. Es bestand aus zwei Flügeltüren, die eine war geschlossen, die andere offen. Das eingeschlagene Seitenfenster war ein gutes Stück vom Türknauf entfernt. Man brauchte schon einen langen Arm, um da hindurchgreifen und die Tür öffnen zu können.

Er fragte: »Irgendwelche Haustiere?«

»Es gibt einen dreihundert Jahre alten gelben Labrador. Er war im Hinterhof. Stocktaub, wie die Mutter sagt. Hat wahrscheinlich die ganze Sache verschlafen.«

»Wie alt ist das Mädchen?«

»Siebzehn!«

Die Zahl hallte durch das geflieste Foyer, wo sich das Aroma von Lavendel-Raumspray und Leos Schweiß- und Nikotingeruch mit dem metallischen Gestank eines gewaltsamen Todes vermischten. Am Fuß der Treppe lag die Quelle des dominantesten aller Gerüche. Der Mann lag auf dem Rücken, die Hände wie in einer Unterwerfungsgeste mit den Innenflächen nach oben neben dem Kopf. Ein mittelgroßes Küchenmesser mit Holzgriff und gezahnter Klinge lag inmitten von Glasscherben einen knappen halben Meter neben seiner rechten Hand. Seine schwarzen Jeans sahen besudelt aus, die Haut an seinem Hals zeigte rote Quetschungen von der Strangulation. Der Anflug eines Schnurrbarts unter seiner Nase ließ seine Oberlippe schmutzig aussehen. Akne sprenkelte seine Koteletten. Die Schnürsenkel seiner Turnschuhe waren steif von getrocknetem Blut. Auf dem T-Shirt des Mörders prangte, völlig unpassend, eine tanzende Kirsche mit neckisch schiefem Stängel. Das Shirt war dunkelrot, und deshalb war es nur schwer festzustellen, ob die dunkleren Stellen Blut, Schweiß, Urin oder eine Mischung aus allen dreien war.

Will folgte dem Blick des Toten hoch zu dem Lüster, der von der Decke hing. Das Glas klimperte leicht in der künstlichen Brise von der Klimaanlage. Weiße Flecken tanzten durchs Foyer und wetteiferten mit dem Sonnenlicht, das durch das Giebelfenster über der Tür hereinfiel.

Will fragte: »Habt ihr ihn schon identifiziert?«

»Sieht so aus, als hätte er eine Brieftasche in seiner hinteren Tasche, aber er läuft uns ja nicht mehr davon. Ich will die Leiche nicht bewegen, bevor Pete da ist.« Er meinte Pete Hanson, den Leichenbeschauer der Stadt. »Der Täter sieht ziemlich jung aus, weißt du?«

»Ja«, stimmte Will ihm zu und dachte dabei, dass der Mörder wahrscheinlich noch nicht einmal alt genug war, um Alkohol zu kaufen. Amanda war aufgeregt gewesen bei der Aussicht auf einen Auftragsmord. Aber wenn Hoyt Bentleys Feinde keine Elitetruppe aus Highschool-Söldnern auf der Gehaltsliste hatten, dann war eine Verbindung in Wills Augen sehr unwahrscheinlich.

Er fragte: »Fall von häuslicher Gewalt?«

Leo zuckte noch einmal die Achseln, eine Geste, die eher schon ein Tick war. »Sieht so aus, was? Freund dreht durch, bringt das Mädchen um, gerät in Panik, als Mom nach Hause kommt, stürzt sich auf sie. Das Problem ist, Campano schwört, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.«

»Campano?«, wiederholte Will und spürte, wie sich bei dem Namen seine Eingeweide zusammenzogen.

»Abigail Campano. Das ist die Mutter.« Leo schaute ihn an. »Kennst du sie?«

»Nein.« Will blickte auf die Leiche hinunter und hoffte, dass seine Stimme ihn nicht verraten würde. »Ich dachte, der Familienname wäre Bentley.«

»Das ist der Vater der Frau. Ihr Mann ist Paul Campano. Besitzt eine ganze Reihe von Autohäusern. Den Werbeslogan hast du doch bestimmt schon gehört, oder? ›Bei Campano sagen wir nie Nein.‹«

»Wo ist er?«

Leos Handy klingelte, und er zog es sich vom Gürtel. »Sollte bald hier sein. Er telefonierte mit ihr, als es passierte. Er war derjenige, der 9-1-1 angerufen hat.«

Will räusperte sich. »Dürfte interessant sein zu erfahren, was er gehört hat.«

»Glaubst du?« Leo betrachtete Will sehr eingehend, während er sein Handy aufklappte und sich meldete: »Donnelly.«

Leo ging nach draußen, und Will sah sich im Foyer um, betrachtete die Leiche und die Glasscherben. Offensichtlich war es hier zu einem massiven Kampf gekommen. Blut befleckte den Boden, zwei verschiedene Paare Tennisschuhe hatten verschmierte Waffelabdrücke auf den cremig weißen Fliesen hinterlassen. Ein zerbrechlicher, antik aussehender Tisch war umgefallen, eine Glasschüssel lag zerbrochen daneben. Auch ein kaputtes Handy war zu sehen, das aussah, als wäre man daraufgetreten. Post lag verstreut herum wie Konfetti, und eine Frauenhandtasche war umgekippt, ihr Inhalt ergänzte das Durcheinander.

Drüben an der Wand stand eine Lampe aufrecht auf dem Boden, als hätte man sie dort hingestellt. Der Sockel war gesprungen, der Lampenschirm hing schief. Will fragte sich, ob jemand sie wieder aufgestellt hatte, oder ob die Lampe, allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, auf dem Sockel gelandet war. Er fragte sich außerdem, ob irgendjemand den blutigen, nackten Fußabdruck neben der Lampe bemerkt hatte.

Sein Blick folgte der geschwungenen Linie der polierten Holztreppe, er sah zwei verschiedene blutige Tennisschuhabdrücke, die nach unten führten, aber keine weiteren Abdrücke von nackten Füßen. Die Wand zeigte abgestoßene Stellen und Furchen, wo Schuhe und Körperteile den Verputz beschädigt hatten, was darauf hindeutete, dass mindestens eine Person gestürzt sein musste. Die ganze Sache musste ziemlich brutal gewesen sein, Abigail Campano hatte gewusst, dass sie um ihr Leben kämpfte. Was den Jungen betraf, so war der alles andere als ein Leichtgewicht gewesen. Seine Muskeln zeichneten sich unter seinem roten T-Shirt deutlich ab. Noch bei seinem letzten Atemzug musste es ihn schockiert haben, dass man ihn überwältigt hatte.

Im Kopf machte Will sich eine Skizze des Hauses, um sich zu orientieren. Unter der Treppe führte ein langer Gang in den hinteren Teil des Hauses zu etwas, das aussah wie Küche und Familienzimmer. Links und rechts der Haustür gingen zwei Zimmer ab, die ursprünglich offensichtlich als Salons gedacht waren, in denen sich die Männer, ungestört von den Frauen, aufhalten konnten. Das eine Zimmer war mit einer zweiflügeligen Schiebetür verschlossen, aber die Tür des zweiten Zimmers, das offensichtlich als Bibliothek genutzt wurde, stand offen. Dunkle Holzverkleidung dominierte den Salon. Bücherregale säumten die Wände, und in einem großen, offenen Kamin war bereits Holz für ein Feuer aufgeschichtet. Das Mobiliar war schwer, wahrscheinlich Eiche. Zwei große Ledersessel standen im Mittelpunkt. Will nahm an, dass der andere Salon das genaue Gegenteil war, die Wände weiß oder cremefarben, die Einrichtung weniger maskulin.

Oben sah es wahrscheinlich so aus, wie es in diesen alten Häusern immer aussah: fünf oder sechs Schlafzimmer, verbunden von einem langen, T-förmigen Gang und einer schmalen Treppe am hinteren Ende, der ursprünglichen Dienertreppe, die hinunter in die Küche führte. Falls die Häuser in der Nachbarschaft zum Vergleich dienen konnten, gab es draußen wahrscheinlich eine Remise, die in eine Garage mit einer Wohnung darüber umgebaut worden war. Das ganze Anwesen auszumessen und für die Berichte zu skizzieren, würde viel Arbeit sein. Will war froh, dass sie nicht ihm zufallen würde.

Außerdem war er froh, nicht erklären zu müssen, warum der einzelne blutige Abdruck eines nackten Fußes nach oben zeigte und nicht zur Haustür.

Leo kam ins Haus zurück, offensichtlich ärgerte er sich über den Anruf. »Als hätte ich nicht schon genug Leute, die mir wegen dieser Prostatageschichte den Kopf in den Arsch stecken.« Er deutete auf die Szenerie. »Hast du das da für mich schon gelöst?«

Will fragte: »Wem gehört der grüne BMW draußen auf der Straße?«

»Der Mutter.«

»Was ist mit dem Mädchen – hatte das auch ein Auto?«

»Ebenfalls einen BMW, das musst du dir mal vorstellen, ein schwarzes 325er Cabrio. Die Eltern nahmen es ihm weg, als seine Noten schlechter wurden.« Er deutete zum Haus auf der anderen Straßenseite. »Die neugierige Nachbarin hat die Kleine verpfiffen, als sie das Auto während der Schulstunden in der Auffahrt stehen sah.«

»Hat die Nachbarin heute auch irgendwas gesehen?«

»Sie ist älter als der Hund, also mach dir nicht zu große Hoffnungen.« Er zuckte leicht eine Achsel und fügte hinzu: »Wir haben im Augenblick jemanden drüben, der mit ihr spricht.«

»Die Mutter ist sicher, dass sie den Mörder nicht kennt?«

»Eindeutig. Ich ließ sie ihn noch einmal anschauen, als sie sich ein wenig beruhigt hatte. Hat ihn noch nie in ihrem Leben gesehen.«

Will schaute den Toten erneut an. Alles fügte sich zusammen, aber nichts ergab einen Sinn. »Wie ist er hierhergekommen?«

»Keine Ahnung. Hätte den Bus nehmen und von der Peachtree zu Fuß hierhergehen können.«

Peachtree, eine der belebtesten Straßen in Atlanta, war weniger als zehn Minuten entfernt. Busse und Züge führen ober- und unterirdisch hin und her und brachten Tausende von Menschen zu den Bürogebäuden und Läden auf dieser Geschäftsmeile. Will hatte von Kriminellen gehört, die dümmere Sachen anstellen, als sich von einem Busfahrplan abhängig zu machen, um einen brutalen Mord zu begehen, aber diese Erklärung passte irgendwie nicht. Dies war Atlanta. Nur verzweifelte Arme und ökologische Exzentriker benutzten öffentliche Verkehrsmittel. Der Mann auf dem Boden war ein bürgerlicher, weißer Junge, in Sachen gekleidet, die aussahen wie eine Dreihundert-Dollar-Jeans und Zweihundert-Dollar-Turnschuhe von Nike. Entweder hatte er ein Auto, oder er wohnte in der Nachbarschaft.

Leo bemerkte: »Wir haben Streifenbeamte losgeschickt, die Ausschau halten nach Autos, die nicht hierhergehören.«

»Du warst der erste Detective vor Ort?«

Leo ließ sich Zeit, um Will wissen zu lassen, dass er die Frage nur aus reiner Höflichkeit beantwortete. »Ich war der erste Polizist, und Punkt«, sagte er schließlich. »Der Neuneinseinser kam gegen halb eins herein. Ich verdrückte eben die letzten Bissen von meinem Lunch in dem Sandwich-Laden an der Fourteenth. Ich war ungefähr drei Sekunden vor dem ersten Streifenwagen da. Wir kontrollierten das Haus, versicherten uns, dass sonst niemand mehr da war, und dann sagte ich allen, sie sollten sich verziehen.«

Die Fourteenth Street war weniger als fünf Minuten Fahrzeit von dieser Adresse entfernt. Es war ein Glück, dass der erste eintreffende Beamte ein Detective war, der den Tatort sichern konnte. »Du warst der Erste, der mit der Mutter gesprochen hat?«

»Sie war völlig durchgedreht, das kann ich dir sagen. Ich brauchte ungefähr zehn Minuten, um sie so weit zu beruhigen, dass sie ihre Geschichte erzählen konnte.«

»Und, sieht die Sache für dich sauber aus? Ein Fall von häuslicher Gewalt zwischen zwei Teenagern, dann kommt Mama dazu und treibt die Sache auf die Spitze?«

»Hat dich Hoyt Bentley deshalb geschickt, damit du das nachprüfst?«

Will wich der Frage aus. »Das ist ein sensibler Fall, Leo. Bentley spielt Golf mit dem Gouverneur. Er sitzt bei ungefähr der Hälfte der Wohltätigkeitsorganisationen dieser Stadt im Kuratorium. Würde es dich nicht eher überraschen, wenn wir nicht da wären?«

Leo zuckte die Achseln und nickte gleichzeitig. Vielleicht störte auch ihn etwas an dieser Szenerie, denn er redete weiter. »Die Mutter hat Abwehrverletzungen. Man sieht Spuren des Kampfes, teils von den Scherben hier, teils von den Kollisionen mit der Wand. Der tote Junge zeigt ähnliche Verletzungen, und auch einige Bissspuren an den Fingern, weil die Mutter so versuchte, sich aus seinen Händen zu befreien. Das Mädchen oben – das hat er sich richtig vorgenommen. Slip unten, BH hochgeschoben. Überall Blut.«

»Fand auch oben ein Kampf statt?«

»Ein bisschen was, aber nichts im Vergleich zu hier unten.« Er machte eine Pause, bevor er hinzufügte: »Willst du sie sehen?«

Will freute sich über die Einladung, aber Amanda hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie seine Einmischung nur dann wollte, wenn es Hinweise auf eine professionelle Attacke gab. Wenn Will oben etwas entdeckte, wie harmlos es auch sein mochte, lief er Gefahr, dass er später vor Gericht aussagen musste.

Dass er einfach nur neugierig war, konnte sie ihm jedoch nicht vorwerfen. »Wie wurde das Mädchen getötet?«

»Schwer zu sagen.«

Will schaute hinter sich zur offenen Haustür. Die Klimaanlage des Hauses lief mit voller Kraft und versuchte, die eindringende Hitze zurückzuhalten. »Hast du das alles hier drinnen schon fotografieren lassen?«

»Oben und unten«, erwiderte Leo. »Nach Fingerabdrücken und dem Rest suchen wir, nachdem die Leichen fortgebracht wurden. Übrigens, dann mache ich auch die Tür zu, weil dir das Kopfzerbrechen zu machen scheint. Ich versuche, den Tourismus hier so gering wie möglich zu halten.« Dann fügte er hinzu: »Bei einem solchen Fall, da dürften sich einige schwere Kaliber einmischen.«

Will hielt das für ein Understatement. Niemand hatte in der Nachbarschaft ein fremdes Auto gemeldet. Wenn Leos Theorie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln keinen Bestand hatte, dann war der Junge wahrscheinlich ein Bewohner von Ansley Park. Und das hieß, dass er vermutlich aus einer Familie von Anwälten stammte. Leo musste jede Kleinigkeit exakt nach Vorschrift machen, denn sonst würde man ihn im Zeugenstand in der Luft zerreißen.

Will formulierte seine Frage von zuvor neu: »Wie ist sie gestorben?«

»Sie sieht absolut übel aus – das Gesicht wie rohes Hackfleisch, überall Blut. Überrascht mich, dass die Mutter sie überhaupt erkannt hat.« Leo hielt inne, sah aber, dass Will offensichtlich eine konkretere Antwort wollte. »Meine Vermutung? Er hat sie geschlagen und dann erstochen.«

Wieder schaute Will sich den Toten auf dem Boden an. Seine Handflächen waren mit getrocknetem Blut bedeckt, und das war etwas, das man bei einer geschlossenen Faust, die auf jemanden einschlägt, oder auch einer Hand, die ein Messer hält, nicht erwarten würde. Auch wirkten die Knie seiner schwarzen Jeans dunkel, als hätte er in etwas Feuchtem gekniet. Sein T-Shirt war bis knapp unter die Rippen hochgeschoben. Eine frische Prellung erstreckte sich vom Bauch in den Bund seiner Jeans.

Will fragte: »Wurde die Mutter verletzt?«

»Wie schon gesagt, Kratzer auf Handrücken und Armen. Auf der Handfläche hat sie einen tiefen Schnitt von den Scherben auf dem Boden.« Leo zählte weiter auf: »Viele Prellungen und blaue Flecken, eine aufgesprungene Lippe, ein bisschen Blut im Ohr. Hat sich vielleicht einen Knöchel verstaucht. Ich dachte zuerst, er sei gebrochen, aber sie konnte ihn bewegen.« Er rieb sich den Mund, hätte wahrscheinlich gern eine Zigarette zwischen den Lippen. »Ich habe einen Krankenwagen gerufen, aber sie sagte, sie gehe erst weg, wenn ihre Tochter entfernt ist.«

»Hat sie es so gesagt, ›entfernt‹?«

Leo fluchte leise, als er sein Spiralnotizbuch aus der Tasche zog. Er blätterte zur entsprechenden Seite und zeigte sie Will.

Will runzelte die Stirn, als er das unleserliche Gekritzel sah. »Hast du einem Huhn die Fingerabdrücke abgenommen?«

Leo drehte das Notizbuch wieder zu sich und las laut vor: »Ich werde meine Tochter nicht liegen lassen. Ich werde dieses Haus erst verlassen, wenn auch Emma es verlässt.«

Will ließ sich den Namen durch den Kopf gehen, und das Mädchen wurde für ihn zu einer Person, nicht nur zu einem anonymen Opfer. Emma war einmal ein Baby gewesen. Ihre Eltern hatten sie in den Armen gehalten, sie beschützt, ihr einen Namen gegeben. Und jetzt hatten sie sie verloren.

Er fragte: »Was sagt die Mutter?«

Leo klappte das Notizbuch wieder zu. »Nur die nackten Fakten. Ich verwette mein linkes Ei, dass sie Anwältin war, bevor sie sich schwängern ließ und den Beruf für das gute Leben an den Nagel hängte.«

»Wie kommst du darauf?«

»Sie ist sehr vorsichtig bei allem, was sie sagt, wie sie es sagt. Viel ›Ich hatte den Eindruck‹ und ›Ich hatte die Befürchtung‹.«

Will nickte. Eine Berufung auf Notwehr fußte ausschließlich auf den Einschätzungen der betreffenden Person, dass er oder sie sich zum Zeitpunkt des Angriffs in unmittelbarer Todesgefahr befunden habe. Campano legte offensichtlich bereits jetzt das Fundament dafür, aber Will wusste nicht, ob sie es tat, weil sie gerissen war oder weil sie die Wahrheit sagte. Er schaute noch einmal zu dem toten Mann hinunter, den blutverklebten Handflächen, dem durchnässten T-Shirt. Hinter der Sache steckte mehr, als man auf den ersten Blick sah.

Leo legte Will die Hand auf die Schulter. »Hör zu, ich muss dich warnen …«

Er brach ab, als die Schiebetüren aufgingen. Amanda stand neben einer jungen Frau. Hinter ihnen sah Will eine andere Frau auf einer Couch sitzen. Sie trug einen weißen Tennisdress. Ihr offensichtlich verletzter Fuß ruhte auf dem Couchtisch. Ihre Tennisschuhe standen darunter auf dem Boden.

»Special Agent Trent«, sagte Amanda und schob die Schiebetüren hinter sich zu. »Das ist Detective Faith Mitchell.« Amanda musterte Leo von oben bis unten wie einen schlechten Fisch und wandte sich dann wieder der Frau zu. »Special Agent Trent steht zu Ihrer Verfügung. Das GBI wird Ihnen mit dem größten Vergnügen jede erdenkliche Hilfe anbieten.« Sie schaute Will mit hochgezogener Augenbraue an, um ihn wissen zu lassen, dass das genaue Gegenteil zutraf. Dann fügte sie, vielleicht weil sie dachte, er sei begriffsstutzig, hinzu: »Ich brauche Sie in einer Stunde wieder im Büro.«

Obwohl Will genau dies erwartet hatte, traf es ihn dennoch unvorbereitet. Sein Auto stand in der Innenstadt vor der City Hall. Donnelly würde hier am Tatort bleiben müssen, bis er geräumt war, und jeder der Uniformierten würde sich über die Gelegenheit freuen, Will Trent allein auf dem Rücksitz seines Streifenwagens sitzen zu haben.

»Agent Trent?« Faith Mitchell wirkte verärgert, was Will auf den Gedanken brachte, er hätte etwas verpasst.

Er fragte: »Verzeihen Sie?«

»Das werde ich mir noch überlegen«, murmelte sie, und Will konnte nur die Augen aufreißen und sich fragen, was er verpasst hatte.

Leo schien an dem Wortwechsel nichts Ungewöhnliches zu finden. Er fragte Faith Mitchell: »Hat die Mutter irgendwas gesagt?«

»Die Tochter hat eine beste Freundin.« Wie Leo hatte auch Faith Mitchell ein kleines Spiralnotizbuch in der Tasche. Sie blätterte es durch, bis sie den Namen fand. »Kayla Alexander. Die Mutter sagt, wir finden sie wahrscheinlich in der Schule. Westfield Academy.«

Will kannte die teure Privatschule in einem der Außenbezirke von Atlanta. »Warum war Emma nicht in der Schule?«

Faith antwortete Leo, obwohl Will die Frage gestellt hatte. »Es hatte da in der Vergangenheit schon ein paar Probleme mit Schulschwänzen gegeben.«

Will war kaum ein Experte, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Jugendliche die Schule schwänzte, ohne ihre beste Freundin mitzunehmen. Außer sie traf sich mit ihrem Freund. Er schaute noch einmal zu der Treppe und wünschte sich, er könnte nach oben gehen und den Tatort untersuchen. »Warum war die Mutter heute nicht zu Hause?«

Faith sagte: »Sie hat eine wöchentliche Verabredung im Klub. Normalerweise kommt sie erst gegen drei Uhr nach Hause.«

»Das heißt, wenn jemand das Haus beobachtet hätte, dann hätte er gewusst, dass Emma allein hier war.«

Faith sagte zu Leo: »Ich brauche ein bisschen frische Luft.« Sie ging zur Tür hinaus und stand dann, die Hände in die Hüften gestützt, auf der Veranda. Sie war jung, wahrscheinlich Anfang dreißig, durchschnittlich groß und hübsch auf die Art, wie man schlanke, blonde Frauen traditionell als hübsch betrachtete – allerdings hatte sie etwas an sich, das verhinderte, dass sie wirklich attraktiv wirkte. Vielleicht war es die finstere Miene, die sie die ganze Zeit zur Schau gestellt hatte, oder das Aufblitzen von nacktem Hass in ihren Augen.

Leo murmelte eine Entschuldigung. »Tut mir leid, Mann. Ich wollte dir eben sagen …«

Auf der anderen Seite des Foyers gingen die Schiebetüren wieder auf. Abigail Campano stand in der Tür, das eine Bein leicht angewinkelt, damit sie ihren verletzten Knöchel nicht belasten musste. Anders als bei Faith hatten ihre blonden Haare und ihre perfekte, milchig weiße Haut etwas Strahlendes. Obwohl ihre Augen vom Weinen verquollen waren und ihre aufgeschlagene Lippe noch immer blutete, war diese Frau wirklich wunderschön.

»Mrs. Campano«, setzte Will an.

»Abigail«, unterbrach sie ihn leise. »Sind Sie der Agent vom GBI

»Ja, Ma’am. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.«

Sie starrte ihn verwirrt an, wahrscheinlich, weil sie mit dem Tod ihrer Tochter noch immer nicht zurechtkam.

»Können Sie mir ein bisschen was über Ihre Tochter erzählen?«

Der verständnislose Blick verschwand nicht.

Will versuchte, ihr auf die Sprünge zu helfen. »Sie haben Detective Donnelly erzählt, dass sie in letzter Zeit öfter die Schule geschwänzt hat?«

Sie nickte langsam. »Offensichtlich hat sie es geschafft …« Sie brach ab, als sie zu dem Toten auf dem Boden hinüberschaute. »Kayla hat sie im letzten Jahr zum Schwänzen verführt. Früher hat sie so etwas nie getan. Sie war immer ein braves Mädchen. Hat immer versucht, das Richtige zu tun.«

»Gab es noch andere Probleme?«

»Das scheint mir jetzt alles so unwichtig.« Ihre Lippen zitterten, sie kämpfte mit ihren Gefühlen. »Sie hat angefangen, uns freche Antworten zu geben, ihren eigenen Kopf durchzusetzen. Sie wollte ihr eigener Mensch sein, und wir wollten sie noch immer als unser kleines Mädchen sehen.«

»Abgesehen von Kayla, hatte Emma noch andere Freundinnen? Einen Freund?«

Abigail schüttelte den Kopf und schlang sich die Arme um die Brust. »Sie war sehr schüchtern. Sie fand nicht so leicht neue Freunde. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.«

»Hat Kayla einen Bruder?«

»Nein, sie ist ein Einzelkind.« Ihre Stimme brach. »Wie Emma.«

»Glauben Sie, Sie könnten uns eine Liste mit den Namen der anderen Jugendlichen schreiben, mit denen sie zusammen war?«

»Es gab Bekanntschaften, aber Emma suchte sich immer nur einen Menschen aus, mit dem …« Wieder brach sie ab. »Eigentlich hatte sie niemanden außer Kayla.« Etwas in ihrer Stimme klang so endgültig, so absolut überzeugt von der Einsamkeit ihrer Tochter, dass Will nicht anders konnte, als ihre Traurigkeit mitzufühlen. Außerdem hoffte er sehr, dass Leo vorhatte, mit dieser Kayla zu reden. Wenn sie so viel Einfluss auf Emma Campanos Leben gehabt hatte, wie ihre Mutter andeutete, dann wusste sie wahrscheinlich sehr viel mehr darüber, was an diesem Tag hier passiert war, als sonst irgendjemand.

Will fragte Abigail: »Gibt es irgendjemanden, der vielleicht einen Groll gegen Sie oder Ihren Ehemann hegt?«

Sie schüttelte nur den Kopf und starrte gebannt auf den Toten, der im Foyer lag. »Es ging alles so schnell. Ich muss die ganze Zeit daran denken, was ich getan habe … was ich sonst noch hätte tun können …«

»Ich weiß, dass Sie das bereits gefragt wurden, aber sind Sie ganz sicher, dass Sie diesen Mann nicht kennen?«

Abigail schloss die Augen, aber er stellte sich vor, dass sie den Mörder ihrer Tochter noch immer sehen konnte. »Ja«, antwortete sie schließlich, »er ist mir völlig fremd.«

Plötzlich ertönte an der Vorderseite des Hauses das Geschrei eines Mannes. »Gehen Sie mir, verdammt noch mal, aus dem Weg!«

Will hörte draußen eine Balgerei, Polizisten, die jemandem befahlen, stehen zu bleiben, und dann stürmte Paul Campano die Vordertreppe hoch wie ein Mann in Flammen. Er stieß Faith Mitchell beiseite und stürzte ins Haus. Ein Uniformierter fing sie gerade noch auf, als sie, gefährlich nahe am Rand der Veranda, nach hinten taumelte. Beide sahen nicht besonders glücklich aus, aber Leo bewegte die Hand, um ihnen zu sagen, dass sie es gut sein lassen sollten.

Paul stand mit geballten Fäusten im Foyer. Will fragte sich, ob das etwas Genetisches war – dass man entweder der Typ war, der die ganze Zeit die Fäuste ballte, oder eben nicht.

»Paul …«, flüsterte Abigail und eilte zu ihm.

Auch mit seiner Frau in den Armen hatte Paul die Fäuste noch geballt.

Faith war offensichtlich stinksauer. Ihre Stimme klang ziemlich scharf. »Mr. Campano, ich bin Detective Faith Mitchell vom Atlanta Police Department. Das ist Detective Donnelly.«

Paul hatte kein Interesse an Vorstellungen. Über die Schulter seiner Frau hinweg starrte er den Toten an. »Ist das der Mistkerl, der es getan hat?« Seine Stimme wurde zu einem Knurren. »Wer ist er? Was hat er in meinem Haus zu suchen?«

Faith und Leo wechselten einen Blick, den Will verpasst hätte, wenn er sie nicht beobachtet hätte, um seine eigenen Schlüsse über ihr Verhältnis zu ziehen. Sie waren Partner, offensichtlich hatten sie eine gemeinsame geheime Zeichensprache, und es sah so aus, als hätte Faith diesmal den Kürzeren gezogen.

Sie schlug vor: »Mr. Campano, können wir vielleicht nach draußen auf die Veranda gehen und über alles reden?«

»Und wer, zum Teufel, sind Sie?« Paul starrte Will böse an, und seine Knopfaugen verschwanden fast unter den zusammengezogenen Augenbrauen.

Will überraschte die Frage kaum, und auch die Art nicht, wie sie gestellt wurde. Als Paul Campano zum letzten Mal auf diese Art mit ihm gesprochen hatte, war Will zehn Jahre alt gewesen, und sie lebten beide in einem Kinderheim, im Atlanta Children’s Home. Seitdem hatte sich viel verändert. Will war größer und kräftiger, seine Haare waren dunkler geworden. Das Einzige, was sich an Paul verändert hatte, war, dass er offensichtlich noch schwerer und gemeiner geworden war.

Leo beantwortete die Frage: »Mr. Campano, das ist Agent Trent vom GBI

Will versuchte, Paul ein wenig zu beruhigen, ihm das Gefühl zu vermitteln, er könne ihm helfen. »Wissen Sie, ob Ihre Tochter irgendwelche Feinde hatte, Mr. Campano?«

»Emma?«, fragte er und starrte Will an. »Natürlich nicht. Sie war doch erst siebzehn Jahre alt.«

»Was ist mit Ihnen?«

»Nein«, blaffte er. »Keinen, der so etwas …« Er konnte den Satz nicht beenden, schüttelte nur den Kopf. Dann schaute er wieder den toten Mörder an. »Wer ist dieser Schweinehund? Was hat Emma ihm je getan?«

»Alles, was Sie uns sagen können, hilft uns weiter. Vielleicht könnten Sie und Ihre Frau …«

»Sie ist da oben, nicht?«, unterbrach Paul ihn und schaute die Treppe hoch. »Mein Baby ist da oben.«

Niemand antwortete ihm, aber Leo machte ein paar Schritte auf die Treppe zu, um ihm den Weg zu versperren.

Paul sagte: »Ich will sie sehen.«

»Nein«, sagte Abigail mit zitternder Stimme. »So willst du sie nicht sehen, Paul. Du willst es nicht wissen.«

»Ich muss sie sehen.«

»Hören Sie auf Ihre Frau«, meinte Faith besänftigend. »Sie bekommen sie sehr bald zu sehen. Nur jetzt müssen Sie uns unsere Arbeit machen lassen, wir kümmern uns um sie.«

Paul blaffte Leo an: »Gehen Sie mir aus dem Weg.«

»Sir, ich glaube nicht …«

Leo bekam eine Breitseite seines Zorns ab. Paul stieß ihn gegen die Wand und stürmte die Treppe hoch. Will lief hinter ihm her und wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen, als Paul oben auf dem Treppenabsatz unvermittelt stehen blieb.

Er stand wie versteinert da und starrte die leblose Gestalt seiner Tochter am anderen Ende des Gangs an. Das Mädchen war mindestens fünf Meter entfernt, aber seine Präsenz erfüllte den Raum, als wäre es direkt vor ihnen. Die ganze Aggressivität schien plötzlich aus Paul herauszufließen. Wie die meisten Tyrannen konnte er ein Gefühl nie lange aufrechterhalten.

»Ihre Frau hatte recht«, sagte Will zu ihm. »Sie wollen sie so nicht sehen.«

Paul verstummte, sein Keuchen war das einzige hörbare Geräusch. Die rechte Hand lag flach auf der Brust, als würde er den Treueeid schwören. Tränen standen ihm in den Augen.

Er schluckte schwer. »Da stand diese Glasschüssel auf dem Tisch …« Seine Stimme war flach, leblos geworden. »Wir haben sie in Paris gekauft.«

»Wie schön«, sagte Will und dachte, dass er sich Paul in einer Million Jahren nicht in Paris vorstellen konnte.

»Wie das hier oben aussieht.«

»Es gibt Leute, die das putzen und aufräumen können.«

Er verstummte wieder, und Will folgte seinem Blick, betrachtete die Szene. Leo hatte recht, unten sah es wirklich schlimmer aus als oben, aber hier lag etwas viel Hinterhältigeres und Bedrohlicheres in der Luft. Hier gab es dieselben blutigen Schuhabdrücke, die auf der ganzen Länge des Gangs kreuz und quer über den weißen Teppichboden liefen. Blutspritzer sprenkelten die Wände. Aus irgendeinem Grund war für Will das Aufwühlendste der einzelne rote Handabdruck direkt über dem Kopf des Opfers, wo der Angreifer sich offensichtlich abgestützt hatte, während er sie vergewaltigte.

»Mülleimer, nicht?«

Paul Campano suchte nicht nach einem Abfallbehälter. Als sie noch Kinder waren, hatte er Will »Mülleimer« genannt. Die Erinnerung steckte Will wie ein Kloß im Hals. Er musste schlucken, bevor er antworten konnte. »Ja.«

»Sag mir, was mit meiner Tochter passiert ist.«

Will überlegte, aber nur für einen Augenblick. Er musste sich seitlich drehen, um an Paul vorbei in den Gang zu kommen. Vorsichtig, um nichts zu verändern, näherte Will sich dem Tatort.

Emmas Leiche lag parallel zu den Wänden, der Kopf zeigte von der Treppe weg. Als Will auf sie zuging, blieb sein Blick immer wieder an dem Handabdruck hängen, auf der perfekten Abbildung von Handfläche und Fingern. Der Magen drehte sich um bei dem Gedanken, was der Kerl getan hatte, als er den Abdruck hinterließ.

Einen gute...

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