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Fünf Leben

Als Buch hier erhältlich:

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Eine junge Chinesin kämpft in den 1880ern im amerikanischen Westen um ihren Platz im Leben

Die junge Daiyu muss die Heimat und die Zukunft, die sie sich erträumt hatte, aufgeben, als sie entführt und über den Ozean von China nach Amerika geschmuggelt wird. Über die folgenden Jahre muss sie sich beständig neu erfinden, um zu überleben. Von einer Kalligraphieschule in China über ein Bordell in San Francisco bis zu einem kleinen Laden, versteckt in den Bergen Idahos gelegen, versucht Daiyu verzweifelt, der Tragödie zu entkommen, die sie verfolgt. Aber dann geht eine Welle von Rassismus durchs Land, die sich gegen Einwanderer aus China richtet, und führt zu unsäglicher Gewalt und Lynchmorden. Daiyu muss all ihre Stärke aufbringen, sich zurückerinnern an alle Rollen, die sie schon ausgefüllt hat – um endlich ihren eigenen Namen und ihre Geschichte zurückzuerobern.


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000572

Leseprobe

TEIL I

*

ZHIFU, CHINA

1882

1

ALS ICH ENTFÜHRT WERDE, geschieht es nicht in einer Gasse. Es geschieht nicht mitten in der Nacht. Es geschieht nicht, als ich allein bin.

Als ich entführt werde, bin ich dreizehn, stehe mitten auf dem Fischmarkt an der Beach Road in Zhifu und beobachte eine fleischige Frau vor einem Haufen weißer Spatenfische. Sie hockt da, die Knie in den Achselhöhlen, und ordnet die Fische so, dass die größten oben liegen. Ringsum tun ein Dutzend Händler das Gleiche, ihre Fischhaufen hängen zappelnd in Netzen. Unter ihnen stehen Eimer, die das von den Fischen tropfende Wasser auffangen. Der Boden glänzt nass. Wenn die noch nicht ganz toten Fische sich in der Luft winden, schimmern sie wie silbrige Feuerwerkskörper.

Der ganze Markt riecht feucht und roh.

Jemand preist lautstark Roten Schnapper an. Frisch!, ruft er. Direkt aus dem Golf von Petschili. Eine andere Stimme übertönt die erste, lauter, schriller. Echte Haifischflossen! Stärken die sexuelle Potenz, verschönern die Haut, verbessern die Energie für euren kleinen Kaiser!

Für die Dienstboten, die im Auftrag ihrer Herrschaften zum Fischmarkt gekommen sind, klingt das wie Poesie. Sie drängen in Richtung der Haifischflossenstimme, rempeln und schubsen wegen der Aussicht auf eine Beförderung, eine Rangerhöhung, eine Begünstigung. Alles könnte von der Qualität einer Haifischflosse abhängen.

Umgeben vom Marktgeschrei beobachte ich die Fischfrau, die noch immer ihren Haufen ordnet. Ihre Ware ist auf einer Plane ausgelegt. Während sie herumhantiert, rutschen ein paar lose Fische von der Spitze des Haufens an den Rand der Plane, wo sie wehrlos und unbeaufsichtigt liegen bleiben.

Der Hunger drückt in meinem Magen. Es wäre so einfach, mir einen Fisch zu schnappen. In der Zeit, die ich bräuchte, um mich anzuschleichen, den am weitesten von ihr entfernt liegenden Fisch zu packen und davonzulaufen, wäre die Frau kaum auf den Füßen. Ich befühle die Silbermünzen in meiner Hose, bevor ich sie wieder ins Futter fallen lasse. Dieses Geld sollte ich aufheben und nicht für ein paar schlappe Fische verschwenden. Ich würde auch nur einen oder zwei nehmen, sie könnte das am nächsten Tag locker wettmachen. Im Meer gibt es jede Menge.

Doch bevor ich mich entscheide, hat die Fischfrau mich entdeckt. Sie weiß sofort, wer ich bin, sieht das Nagen in meinem Bauch, das beharrlich alles aushöhlt, womit es in Berührung kommt. Ich bin dünn wie ein Schilfrohr, das verrät mich. Sie erkennt, was sie in all den Gassenkindern sieht, die es wagen, auf dem Fischmarkt herumzuschleichen, und noch ehe ich wegsehen kann, steht sie wutschnaubend vor mir.

Was willst du?

Ihre Augen sind schmal. Sie schlägt nach mir, ihre Hände groß wie Pfannen.

Ich weiche einem, zwei Schlägen aus. Verschwinde, sofort!, schreit sie. Hinter ihr liegen die weißen Fische glänzend auf dem Haufen. Noch bleibt Zeit, mir welche zu schnappen und wegzulaufen.

Doch inzwischen ist der Rest des Markts auf uns aufmerksam geworden.

Den Bengel hab ich schon gestern gesehen, ruft jemand. Schnappt ihn, dann verpassen wir ihm eine ordentliche Tracht Prügel!

Die Fischhändler in der Nähe grölen zustimmend. Sie kommen hinter ihren Ständen hervor und bilden eine Barrikade um mich und die Frau. Ich bin zu lange geblieben, denke ich, während sie noch enger zusammenrücken. Wenn ich je nach Hause komme, werde ich Meister Wang viel zu erklären haben. Sofern er mich dann noch bei sich bleiben lässt.

Packt ihn, ruft jemand schadenfroh. Die Frau macht einen Satz vorwärts, die Hände ausgestreckt. Ihr Zahnfleisch hat die Farbe von Fäulnis. Die Gesichter der Fischhändler hinter ihr platzen fast vor Freude. Ich schließe die Augen, aufs Schlimmste gefasst.

Doch was ich erwartet habe, bleibt aus. Stattdessen spüre ich einen warmen, festen Druck auf meiner Schulter. Ich öffne die Augen. Die ausgestreckten Arme der Frau sind wie erstarrt. Den Fischhändlern stockt der Atem.

Wo warst du denn?, fragt eine Stimme. Sie kommt von oben, klingt weich wie Honig. Ich habe dich überall gesucht.

Ich blicke hoch. Ein schlanker Mann mit breiter Stirn und spitzem Kinn lächelt zu mir herunter. Er ist jung, doch aus seiner Haltung spricht das Gewicht eines Älteren. Ich kenne Geschichten von Unsterblichen, die vom Himmel herabsteigen, von Drachen, die sich in Wächter verwandeln und menschliche Gestalt annehmen. Von Wesen, die Leute wie mich beschützen.

Der Mann zwinkert mir zu.

Sie kennen diesen Bengel?, faucht die Fischfrau. Ihre Arme hängen jetzt herunter, rot und fleckig.

Bengel? Der Mann lacht. Das ist kein Bengel. Das ist mein Neffe.

Die Fischhändler ringsum stöhnen und zerstreuen sich langsam, kehren zurück zu ihren unbewachten Fischen. Heute würde es keine Aufregung geben. Roter Schnapper, Roter Schnapper, preist die erste Stimme wieder an.

Doch die Fischfrau glaubt dem Mann nicht. Das merke ich. Sie funkelt erst ihn böse an, dann mich, als würde sie nur darauf warten, dass ich den Blick abwende. Aber etwas an der Hand des Mannes auf meiner Schulter und ihre beruhigende Wärme sagen mir, dass wir hier nicht wegkommen, wenn ich nachgebe. Also starre ich die Fischfrau weiter ungerührt an.

Wenn Sie ein Problem haben, fährt der Mann fort, können Sie gern mit meinem Vater sprechen, dem werten Herrn Eng.

Und, einfach so, als hätte der Mann ein Zauberwort in die Luft entlassen, wendet die Frau ihren Blick als Erste ab. Ich blinzle ein-, zwei-, dreimal und spüre meine wunden Augenlider.

Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Bruder Eng, sagt sie und verneigt sich. Hier ist es so dunkel, und von den Fischen ist mir ganz schwindelig. Ich werde Herrn Eng meinen besten Fisch schicken, um diesen schrecklichen Fehler wiedergutzumachen.

Wir verlassen zusammen den Markt, ich und dieser große zwinkernde Fremde. Er lässt seine Hand auf meiner Schulter, bis wir wieder auf der Straße sind. Es ist Mittag, das Licht der Sonne taucht alles in Grün- und Goldtöne. Ein Händler geht an uns vorbei, im Schlepptau eine Sau mit schwingenden Zitzen.

Wir sind in Beach Road, dem ausländischen Geschäftszentrum von Zhifu. Über den Ziegeldächern und dem britischen Konsulat ziehen sich wogende grüne Felder zu weit entfernten Hügeln. Am Strand hinter uns das gedämpfte Rauschen des Meeres, der leichte Wind umgibt uns wie ein langer Atemzug. Die Luft hier ist salzig. Alles klebt an mir.

Ich war in diesem Viertel, weil man hier immer etwas findet. Wenn Fremde unterwegs sind, lassen sie Silberstücke, bestickte Taschentücher, Handschuhe fallen. Belanglose Dinge, mit denen Westlinge sich gerne schmücken. Meine Ausbeute heute waren zwei Silberstücke. Sie klimpern in meiner Tasche neben den vier anderen, die ich bei Meister Wang verdient habe. Heute könnte ich mich als reich bezeichnen.

Im Tageslicht mustere ich den zwinkernden Fremden. Er scheint reich zu sein, ist aber nicht wie andere reiche Leute gekleidet. Statt eines Changshan aus Seide trägt er ein weißes Hemd mit einem leuchtenden Stoffstreifen, der an seinem Hals baumelt. Sein schweres schwarzes Jackett ist offen und nicht bis zum Hals zugeknöpft, seine Hose sitzt eng. Am seltsamsten ist sein Haar – es ist nicht zu einem Zopf geflochten, sondern raspelkurz geschoren.

Was denkst du, kleiner Neffe?, fragt mein Retter, noch immer lächelnd.

Ich bin ein Mädchen, platze ich heraus. Ich kann es nicht verhindern.

Er lacht. Das Sonnenlicht bricht sich auf zwei gelben Zähnen. Ich denke an Geschichten von Männern mit gelben Zähnen und dass solche Zähne aus Goldstücken wachsen. Das wusste ich, erwidert er, aber ein Junge war in diesem Fall für uns beide hilfreicher.

Er mustert mich, seine Augen leuchten vor Neugier. Hast du Hunger? Bist du allein hier? Wo ist deine Familie?

Ich sage: Ja, ich bin am Verhungern. Ich brenne darauf, dass er mir seine Gunst erweist. Auch ich würde ihm gern ein paar Fragen stellen wie zum Beispiel: Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Wer ist Herr Eng, und warum ist die Fischfrau plötzlich zurückgewichen, als Sie seinen Namen erwähnten?

Das erzähle ich dir alles noch, sagt er und legt mir wieder seine Hand auf die Schulter. Er schlägt Nudeln vor – ein Stück weiter an der Straße gibt es einen guten Laden.

Irgendetwas sagt mir, dass mit dieser Einladung nicht zu spaßen ist. Ich nicke und lächle ihm schüchtern zu. Das genügt als Antwort. Er führt mich weiter vom Fischmarkt weg. Wir schlendern gemeinsam die Straße entlang, vorbei am Postamt, an drei weiteren Auslandskonsulaten und einer Kirche. Die Passanten starren uns an, bevor sie sich wieder auf sich selbst besinnen, vorübergehend verblüfft von diesem merkwürdigen Vater-Sohn-Duo, einer gekleidet wie eine Figur aus dem Theater, der andere blass und ängstlich. Hinter uns schäumt das Meer.

Bei jeder Nudelküche, an der wir vorbeikommen, frage ich meinen Retter: Sind wir da? Und bei jeder Nudelküche, an der wir vorbeigehen, antwortet er: Nein, kleiner Neffe, noch nicht ganz. Wir gehen immer weiter, bis ich nicht mehr weiß, wo wir sind, und als wir nicht mehr weitergehen, begreife ich, dass wir die Nudelküche nie erreichen werden.

Es ist der erste Tag im Frühling.

2

DIES IST DIE GESCHICHTE eines magischen Steins. Es ist eine Geschichte, die mir meine Großmutter erzählte. Und es ist die Geschichte, wie ich zu meinem Namen kam.

In der Geschichte versucht die Göttin Nüwa den Himmel zu reparieren. Sie schmilzt Felsen und gießt sie in 36501 Blöcke, verwendet aber nur 36500 und lässt einen Steinblock zurück.

Dieser eine Steinblock kann sich bewegen, wie es ihm beliebt. Er kann zur Größe eines Tempels anwachsen oder zu einer Knoblauchknolle schrumpfen. Schließlich hat er die Fürsorge einer Göttin erfahren. Doch da er zurückgelassen wurde, lebt er von einem Tag in den nächsten, weil er sich für unwürdig hält und sich für seine Nichtsnutzigkeit schämt.

Eines Tages begegnet der Stein zufällig einem daoistischen Priester und einem buddhistischen Mönch. Sie sind so beeindruckt von seinen magischen Kräften, dass sie beschließen, ihn mit auf ihre Reisen zu nehmen. Und so gelangt der Stein in das Reich der Sterblichen.

Viel später wird ein Junge mit einem Stück magischer Jade im Mund geboren. Es heißt, dieser Junge sei die Reinkarnation des Steins.

Was noch? Der Junge verliebt sich in seine jüngere Cousine Lin Daiyu, ein kränkliches Mädchen, dessen Mutter tot ist. Doch die Familie des Jungen ist gegen die Liebe der beiden und besteht darauf, dass er eine wohlhabendere, gesündere Cousine namens Xue Baochai heiratet. Am Hochzeitstag des Jungen verkleidet die Familie Xue Baochai unter Lagen von schweren Schleiern. Sie belügen den Jungen, der glaubt, seine Braut sei Lin Daiyu.

Als Daiyu von diesem Plan erfährt, wird sie krank, legt sich ins Bett und spuckt Blut. Sie stirbt. Der ahnungslose Junge begeht die Hochzeit und wähnt sich mit seiner jungen Braut glücklich und unzertrennlich. Als er die Wahrheit erfährt, wird er verrückt.

Fast ein Jahrhundert später liest eine junge Frau unter einem Maulbeerbaum in einem Fischerdorf diese Geschichte zu Ende, legt eine Hand auf ihren Bauch und denkt: Daiyu.

So jedenfalls wurde mir die Geschichte erzählt.

Ich habe meinen Namen immer gehasst. Lin Daiyu war schwach. Ich schwor mir, dass ich nie so sein würde wie sie. Ich wollte nicht trübsinnig, eifersüchtig oder boshaft sein. Und ich würde nie zulassen, dass ich an einem gebrochenen Herz sterbe.

Ihr habt mich nach einer Tragödie benannt, beklagte ich mich bei meiner Großmutter.

Nein, liebe Daiyu, du wurdest nach einem Dichter benannt.

Meine Eltern waren in Zhifu geboren, in der Nähe des Meers. Ich stelle mir gern vor, wie sie zusammenkamen: Die Gezeiten schoben sie sanft aufeinander zu, bis sie sich eines Tages von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Sie folgten einem Gebot des Wassers. Nach ihrer Hochzeit eröffneten sie ein Tapisseriegeschäft, das sie gemeinsam führten. Meine Mutter webte die Wandteppiche, während mein Vater sie an die Frauen von Regierungsbeamten und an andere wohlhabende Händler verkaufte. Meine Mutter legte Wert darauf, dass jedes Motiv, ob Phoenix, Kranich oder Chrysantheme, auf dem Stoff lebendig wurde. Der Phoenix stieg empor, der Kranich bog sich, die Chrysantheme blühte. Unter ihrer Hand erwachten die Bilder zum Leben. Es überraschte nicht, dass ihr Tapisseriegeschäft das beliebteste in ganz Zhifu war.

Dann zogen meine Eltern aus Gründen, die sie mir nicht nannten und die ich nicht hinterfragte, in ein kleines Fischerdorf außerhalb der Stadt. Meine Mutter hatte nicht umziehen wollen, so viel wusste ich. Zhifu füllte sich mit Ausländern und verwandelte sich von einer Küstenstadt in einen überfüllten Hafen, und sie wollte, dass das in ihrem Bauch schlafende Kind eine der westlichen Schulen besuchte, die überall in der Stadt eröffnet wurden. Sie war schwanger, konnte die Seide mit ihren geschwollenen Händen nicht mehr in den Kesi-Webstuhl einfädeln und wartete darauf, dass ich zur Welt kam. Als die Möbelpacker ihren Webstuhl samt Fäden in einen Wagen luden, drehte sie sich noch einmal zu ihrem geliebten Geschäft um.

Es war Spätsommer, als mein Vater, meine Mutter und meine Großmutter von Zhifu nach sechs Tagen in dem kleinen Fischerdorf ankamen. Ich war im Bauch meiner Mutter von einer Bohne zu einer kleinen Faust gewachsen. Im Herbst kam ich zur Welt, ein Kind vom Land. Als ich endlich herausschlüpfte, erzählte mir meine Mutter, habe sie sich vorgestellt, sie würde Salzwasser trinken, das durch ihren Körper glitt und sich in meinem Mund sammelte, sodass ich immer den Weg zum Meer finden würde.

Offenbar hat es funktioniert. Unser Dorf lag neben einem Fluss, der ins Meer mündete. In den ersten Jahren ging ich oft am Ufer entlang, bis ich zur Meeresmündung gelangte. Ich schmiegte mich an den Rand des Wassers und zählte die Reichtümer, die es barg: Leben, Erinnerung und auch Verderben. Meine Mutter sprach schwärmerisch vom Meer, mein Vater ehrfurchtsvoll und meine Großmutter ängstlich. Ich empfand nichts von alldem. Wenn ich unter den Möwen, Mauerseglern und Seeschwalben stand, spürte ich nur mich, ein Mädchen, das nichts besaß, nichts bei sich trug und nichts zu bieten hatte. Ich stand schlicht am Anfang.

Wir wohnten in einem Haus mit drei Erkern, das nach Norden ausgerichtet war. Wir waren nicht reich, aber auch nicht arm. Mein Vater führte das Tapisseriegeschäft weiter, obwohl wir in einem Dorf lebten, wo niemand genug Geld besaß, um sich die Entwürfe meiner Mutter leisten zu können. Doch das Geschäft, so schien es, lief besser denn je. Unser Haus wurde ein Anlaufpunkt für Bürokraten, die in Regierungsangelegenheiten nach oder von Zhifu unterwegs waren, manchmal, um sich von ihrer Reise auszuruhen, dann wieder, um ein Geschenk für ihre Frauen und Konkubinen zu Hause zu kaufen. Ein Blick auf die rosa Päonien, silbernen Fasanen oder goldenen Drachen meiner Mutter – vorbehalten nur den ranghöchsten Beamten –, und sie waren hingerissen. Ich erinnere mich noch an die Stammkunden: ein dickleibiger Mann mit mehrfachem Kinn, der große Bruder, bei dem ein Bein kürzer war als das andere, der Onkel, der mir immer sein Schwert zeigen wollte.

Da waren auch andere, Männer und manchmal Frauen, die bei uns vorbeikamen und sich leise mit meinen Eltern unterhielten. Diese Besucher trugen nicht den offiziellen Hofstaat, sondern einfache schwarze Shankus; sie sahen eher aus wie Brüder und Schwestern aus der Kirche als wie Beamte. Oft gingen sie ohne Wandteppiche weg, und ich fragte mich, ob meine Eltern vielleicht für wohltätige Zwecke spendeten. Ein Gast brachte mir immer Süßigkeiten und Bonbons mit. Auf seine Besuche freute ich mich besonders, und ich war hochbeglückt, als er eines Morgens in unserem Esszimmer über Haferbrei und eingelegtem Rettich kauerte.

Die Reise zu mir nach Hause ist weit, meine Kleine, sagte er zu mir, als er mein überraschtes Gesicht sah. Deine Eltern sind sehr großzügig.

Du musst nicht mit ihr reden, fuhr ihn meine Großmutter aus der Küche an.

Er entschuldigte sich, aber als meine Großmutter nicht hinsah, reichte er mir noch etwas Süßes über den Tisch, ein Geheimnis zwischen uns.

Vielleicht lag es an dieser Begegnung, dass mich meine Großmutter mit in ihren Garten nahm, wenn Besucher da waren. In Zhifu hatten wir keinen Platz für die Gemüse und Kräuter gehabt, die sie ziehen wollte, hier aber gehörte das Land ihr. Auf dem leeren Grundstück hinter unserem Haus grub sie die Erde um und legte dicht an dicht Samen. Als ich groß genug war, um aus dem Fenster zu schauen, hatte ich schon mein Leben lang grüne Paprika und zerstoßene Minze gegessen, auch wenn ich damals die Namen noch nicht kannte.

In diesem Garten lernte ich, mich um alles Lebendige zu kümmern. Ich fand es verwirrend, dass man etwas, was seine Fähigkeit zu leben so langsam unter Beweis stellte, lebendig nennen konnte. Ich wollte Unmittelbarkeit, eine Knospe sollte sich im Laufe eines Tages in eine reife Frucht verwandeln. Doch es gab Vieles, was meine Großmutter mir über Gartenarbeit beibringen wollte, das nicht unmittelbar mit Gartenarbeit zusammenhing, und dazu gehörte Geduld. Wir bauten haarigen Ginseng an, Rüben, die aussahen wie weiße Schlappen, und Gurken mit verschrumpelter Haut. An sonnigen Stellen pflanzten wir grüne Paprika und trockneten über Holzmasten grüne Stangenbohnen, deren lange fingerähnliche Schoten schlaff nach der Erde griffen. Die Tomaten waren empfindlich und bedürftig, deshalb hegten wir sie oft und streichelten ihre gelb-grünen Häute, die sich mit geheimnisvoller Kraft um die Früchte spannten.

Die Kräuter interessierten mich eher wegen ihrer heilenden Kräfte: Wir hatten Ma-Huang-Sträucher mit starren Zweigen und Samen, die aussahen wie kleine rote Laternen, und Huang Lian, das wir zum Färben und zur Verdauung verwendeten. Wir pflanzten Chai Hu, ein merkwürdiges Gewächs mit einem Stängel, der sich wie der Schwanz eines Drachen durch das Blatt fädelte, um Leberkrankheiten abzuwenden. Am heikelsten war Huang Qi, eine Pflanze mit behaarten Stängeln und gelben Blüten. Sie machte es meiner Großmutter besonders schwer, weil sie unseren nassen Boden nicht mochte, und die Samen mussten mit einem groben Stein zerrieben und über Nacht eingeweicht werden. Huang Qi war sehr beliebt bei den Händlern und Nachbarn, die bei meiner Großmutter kauften. Sie mahlten die getrocknete Wurzel zu Pulver und nahmen es mit Ginseng ein, um den Körper zu stärken. Ein Kraut, sagten sie, das für alles gut ist.

Aus dir wird noch eine echte Meisterin, sagte meine Mutter oft. Sie war klein und schlank, hatte einen milchfarbenen Teint, nur ihre Hände waren von zarten roten Flecken übersät. Als ich klein war, durfte ich auf ihrem Schoß sitzen und zusehen, wie sie die Seide einfädelte und mit dem Schiffchen nach unten bürstete, als würde man ein Pferd striegeln. Als ich zehn wurde, war ich endlich alt genug, um ihr bei wichtigeren Aufgaben zu helfen, etwa dem Kochen der Seide, damit sie weich wurde.

Von meiner Mutter lernte ich den geschickten Umgang mit meinen Händen. Sie zeigte mir, wie man Kartoffeln in feine Streifen schneidet und Papier zu Fächern faltet. Die Arbeit im Garten hinterließ Schwielen in meinen Handflächen, aber meine Mutter schmirgelte sie mit einem Stein, bis sie wieder für feine Arbeiten zu gebrauchen waren. Egal wie rau die Hände, sagte sie, deine Gutmütigkeit macht dich weich.

Während mir meine Mutter beibrachte, die Hände zu gebrauchen, lernte ich von meinem Vater, den Verstand zu benutzen. In stillen Momenten überraschte er mich mit Fragen, die mich beschäftigten und fast zur Verzweiflung brachten. Was ist der Unterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen?, fragte er an meinem elften Geburtstag. Einmal, als ich mein Abendessen nicht aufaß, fragte er, ohne mich anzusehen: Wie viele Reiskörner braucht man, um ein Dorf sattzukriegen? Ein andermal, als ich barfuß durchs Gras rannte und weinend mit einem Dorn in der linken Ferse zurückkam, fragte er: Was ist für einen Vater am schmerzlichsten? Er folgte mir mit neugierigem, wissendem Blick, als sähe er in mir eine kleine Wurzel, die gleich aus der Erde hervorbricht und erblüht.

Das waren die schönsten Erinnerungen an meine Zeit zu Hause – von allen umsorgt und geliebt zu werden, und jedes Zeichen dieser Liebe wurde durch die Dinge weitergegeben, die sie mir beibrachten. Das Dorf konnte verschwinden und unser Haus davonfliegen, doch ich wusste, solange ich meine Mutter, meinen Vater und meine Großmutter hatte, wäre ich zu allem in der Lage – wir vier, tüchtig und stark und durch Liebe verbunden.

In den stilleren Momenten durfte ich mich wieder auf den Schoß meiner Mutter setzen, und sie flocht mir Bänder ins Haar. Am Anfang waren es nur ein oder zwei schlichte Flechten oder Zöpfe, doch als ich älter wurde, fügte sie Goldfäden, Perlen, Quasten und Blumen hinzu. Irgendwann sah ich meinen Kopf als Spiegelung der Zuneigung meiner Mutter. Je kunstvoller das Haar, desto größer ihre Liebe.

Wenn wir in Zhifu leben würden, sagte sie manchmal, während sie die Schleife auf meinem Kopf zurechtrückte, könntest du mit deinen vielen Talenten dich vor Verehrern nicht retten. So redete sie immer. Sie träumte davon, wie unser Leben aussehen würde, wenn wir geblieben wären. Sie sprach oft und voller Zärtlichkeit über Zhifu, doch für mich blieb es ein verschwommener Traum, zu dem ich keinen Zugang fand.

Wenn wir in Zhifu leben würden, hatte ich damals gedacht, wären meine Füße jetzt gebrochen und verkümmert. Ich wusste, was sie in der Stadt mit den Füßen von Mädchen machten. Eine Dame des Hauses zu sein hieß, sich für immer die Füße brechen zu lassen, einen Mann mit Geld zu heiraten, ihm Kinder zu gebären und dann alt zu werden, die Füße zu einem Klumpen aus vertrocknetem, rissigem Teig verwachsen. So sah die Zukunft nicht aus, die ich mir wünschte. Die ehrgeizigsten Familien in unserem Dorf brachen ihren Töchtern mit fünf die Füße. Es ist das beste Alter zum Füßebrechen. Mit fünf sind die Knochen noch nicht allzu verhärtet, und das Mädchen ist alt genug, den Schmerz auszuhalten. Es würde zu einer Frau mit kleinen Füßen heranwachsen, eine perfekte Ehefrau oder Konkubine für einen reichen Stadtmann. Wenn einer meiner Freundinnen die Füße frisch gebrochen worden waren, sah ich sie viele Tage nicht, und selbst wenn ich sie besuchte, konnte ich nicht bleiben, weil die Fäulnis von Haut und Knochen überwältigend war. Irgendwann verwandelte sich diese Fäulnis in eine Kartoffel, die zu einem Huf wurde, sodass meine Freundinnen beim Spielen nicht rennen, hüpfen und fliegen konnten, sondern mit ihren leblosen gebundenen Füßen im Dreck saßen und auf den Tag warteten, an dem ihre Eltern sie verkauften.

Meine Eltern banden mir nicht die Füße ab, vielleicht weil sie befürchteten, ich könnte es nicht überleben, oder weil sie nicht vorhatten, das Fischerdorf je zu verlassen. Ich war damit zufrieden, denn ich verspürte nicht den Wunsch, das Spielzeug eines Stadtmannes zu sein. Ich träumte davon, Fischerin zu werden und den Rest meiner Tage auf einem Boot zu verbringen, mit großen und stolzen Füßen. Sie wären meine einzige Möglichkeit, den Druck der Wellen auszubalancieren.

*

Dann, als ich zwölf wurde, verschwanden meine Eltern. Eine leere Küche, ihr dunkles Schlafzimmer, ein unberührtes Bett, das Büro meines Vaters unverschlossen, überall verstreute Papiere. Es war ein Morgen wie jeder andere, nur dass meine Eltern fort waren und weder an diesem Abend noch am nächsten Abend oder am Abend danach zurückkehrten.

Ich saß wartend auf unserer Haustreppe, dann in der Webstube meiner Mutter, dann lief ich im Kreis in der Küche, bis meine Füße pulsierten, dann faltete und entfaltete ich die Decke in ihrem Schlafzimmer. Meine Großmutter folgte mir und flehte mich an, etwas zu essen, zu trinken, schlafen zu gehen, auszuruhen, alles Mögliche. Du musst mir sagen, wohin sie gegangen sind, jammerte ich. Sie konnte nicht mehr tun, als mir eine Tasse Tee in die Hand zu drücken und meinen Nacken zu reiben.

Ich wartete mit gesenktem Kopf und schlief drei Nächte lang nicht.

Am Morgen des vierten Tages erschienen zwei Männer an unserer Tür, mit aufgestickten Drachen auf ihren Gewändern. Sie trampelten durch unser kleines Haus, und die Drachen bebten und zuckten, als die Männer Töpfe umdrehten und unsere Kopfkissen aufschlitzten. Sie rissen den Webstuhl meiner Mutter auseinander, obwohl sie sahen, dass nichts darin versteckt war. Ich spürte, wie die Nachbarn mit großen Augen ängstlich aus ihren Fenstern spähten.

Wir wissen, dass sie hier leben, sagte einer der Männer. Ihr kennt die Strafe, wenn man Kriminelle versteckt?

Außer uns ist hier niemand, protestierte meine Großmutter immer wieder. Mein Sohn und seine Frau sind vor Jahren gestorben. Alles ging im Feuer verloren!

Dann wandten sie sich mit gebleckten Zähnen mir zu. Der Mann, der uns verhört hatte, näherte sich mir. Ich starrte unverwandt den Drachen auf seinem Ärmel an, rot-golden mit einem schwarzen Auge, die Zunge wie eine Peitsche im Flug.

Hör zu, sagte er. Ich kenne deinen Vater. Du musst uns sagen, wo er ist.

Er klang nicht drohend, sondern ruhig und gelassen. Ich dachte an alle, die bei uns zu Hause gewesen waren. Auch sie kannten meinen Vater. Sie könnten uns sagen, wo er ist. Ich erinnerte mich an den Mann in unserem Esszimmer, der mir Süßigkeiten gab. Ihn könnten wir zuerst fragen.

Ich öffnete den Mund, um ihnen zu sagen, was ich wusste. Doch ob es mein eigenes Kalkül war oder der Wille eines Unsterblichen, es kam kein Ton heraus. Als ich Luft holen wollte, schien eine Hand meinen Hals zu umklammern und zuzudrücken. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Worte zu lösen.

Nichts zu machen, sagte der andere Mann zu seinem Gefährten. Eine verrückte Alte und ein stummer Balg. Bist du sicher, dass es das richtige Haus ist?

Der erste Mann erwiderte nichts. Er starrte mich an, dann gab er dem anderen ein Zeichen. Sie machten beide kehrt und marschierten aus dem Haus. Ihre Gewänder schimmerten im Sommerlicht, und ich sah zu, wie die Drachen davonflogen.

*

Du darfst mit niemandem über deine Eltern sprechen, sagte meine Großmutter zu mir, nachdem die Männer gegangen waren. Von jetzt an müssen wir uns verhalten, als würden wir sie nie wiedersehen. So ist es besser für alle.

Aber ich wollte nicht auf sie hören. Ich war überzeugt, dass meine Eltern zurückkehren würden. Ich machte ihr Bett und strich ihre Kleider glatt. Ich band mir die komplizierteste Schleife ins Haar, eine Schleife, die meine Mutter bestimmt schön finden würde. Ich versuchte sogar, mit Kleber aus dem Arbeitszimmer meines Vaters ihren Webstuhl wieder zu flicken. Ich wäre hier, wenn sie zurückkehrten, und sie würden sich freuen, mich zu sehen. So war es an diesem Tag und an jedem Tag danach.

Als der Herbst kam und meine Eltern seit drei Monaten fort waren, dachte ich an die Frau, von der ich meinen Namen hatte. In der Geschichte stirbt Lin Daiyus Mutter, als sie noch sehr jung ist, und ihr Vater folgt ihr nicht lange danach. Ich überlegte, ob meine Eltern wegen meines Namens verschwunden waren. Ob sie verschwanden, weil es schon immer so sein sollte.

Wenn du so denkst, sagte meine Großmutter zu mir, dann wird es wahrscheinlich irgendwann wahr.

Aber es ist doch schon wahr, sagte ich. Ich hasste Lin Daiyu wie noch nie zuvor.

*

Im Frühjahr kam ein Brief mit unbekanntem Absender: Meine Eltern waren verhaftet worden.

Irgendwann, sagte meine Großmutter und verbrannte den Brief. Irgendwann kommen die Leute, die deine Eltern verhaftet haben, und holen auch dich.

Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, und meine Großmutter gab mir keine Antworten. Sie steckte mich in Jungenkleidung und gab mir eine Steppjacke. Sie schor mir den Kopf kahl. Ich sah zu, wie meine Haare in schwarzen Mondsicheln auf den Boden fielen, und bemühte mich, nicht zu weinen. Ich dachte an meine Mutter und dass ich keine Haare mehr hätte, die sie schmücken könnte, wenn sie je zurückkäme. Du musst nach Zhifu, sagte meine Großmutter, stopfte ein Stück Stoff vorne in Männerschuhe und zog sie mir an. Verschwinde in die Stadt. Du hast geschickte Hände – du wirst ehrliche Arbeit finden.

Und was macht Großmutter?, fragte ich sie.

Großmutter wird das Gleiche machen wie immer, erwiderte sie. Großmutter wird gute Kräuter züchten, um Menschen zu heilen. Mit einer verrückten alten Frau wie mir können sie nicht viel anfangen. Du bist es, um die wir uns sorgen müssen.

Nachbar Hu kam mitten in der Nacht mit seinem Wagen. Ausgerüstet mit einem Sack Kleider, mit ein paar Mantou und ein paar Münzen aus dem Geschäft meiner Eltern kletterte ich nach hinten. Meine Großmutter wollte mir mehr zustecken, aber ich schloss meine Hände zu Fäusten und hielt meine Taschen zu. Wenn die Männer in den Drachengewändern zurückkamen, würde sie das Geld brauchen.

Schreib mir keine Briefe, sagte sie und zog mir eine Mütze über meinen kahlen Kopf. Schon jetzt vermisste ich mein langes Haar und die Wärme, die es um meinen Hals hielt. Wir befanden uns noch immer am Ende eines harten Winters, und ich zitterte im Nachtwind. Briefe werden abgefangen. Lass uns miteinander sprechen, wenn es regnet.

Und wenn es dort, wo ich hingehe, nicht regnet?, fragte ich sie. Dann können wir nur noch ab und zu miteinander sprechen.

So sollte es sein, erwiderte sie. Sonst würde es mir immer wieder das Herz brechen.

Ich fragte, ob ich sie je wiedersehen würde. Ich weinte. Ich kannte ältere Freundinnen, die man weggeschickt hatte, als sie jung waren, weil die Familien alles taten, um kein weiteres Kind mehr füttern zu müssen. Nie hätte ich geglaubt, dass man auch mich einmal wegschicken würde. Doch meine Eltern waren fort, und als ich jetzt eingewickelt in meiner Steppjacke hinten auf Nachbar Hus Wagen lag, wusste ich, dass mein Leben etwas Neuem und viel Schwierigerem entgegensteuerte. Vorbei waren die Tage, an denen ich im Graben hinter unserem Dorf gespielt hatte. Nie wieder würde ich meiner Großmutter helfen, im orangefarbenen Sonnenschein Tee einzuschenken. Ich würde meine Freundinnen nie wieder sehen. Nie wieder in meinem Bett schlafen. Ohne seine Bewohner war unser Haus nichts weiter als eine Hülle. In diesem Jahr wäre ich nicht hier, wenn die erste Paprika im Garten wuchs, und auch nicht, um eine erste Kostprobe zu nehmen – bittersüß, kühl, frisch. Irgendwie führte der Gedanke an die Paprika dazu, dass mein Schluchzen in Wehklagen überging.

Meine Großmutter hielt ihre Hände über meine Augen, als könnte sie den Quell meiner Tränen wegwischen. Dann zog sie die Plane zurecht, um mich zu bedecken.

Wenn es sicher ist und du zurückkommen kannst, sagte sie, wirst du es erfahren.

In der Dunkelheit konnte ich nicht sehen, ob auch sie weinte, aber ihre Stimme klang belegt.

Ich drückte den Sack mit den Kleidern und den noch warmen Mantou an meine Brust, als der Wagen von Nachbar Hu mich wegbrachte, und versuchte mir die Gesichter meiner Eltern, meiner Großmutter und meines Heims fest einzuprägen. Die Fältchen in den Augenwinkeln meines Vaters, wenn er lächelte. Die warme Stelle unter dem Haaransatz im Nacken meiner Mutter. Das beruhigende Licht aus dem Schlafzimmer meiner Eltern, wenn ich aus einem Albtraum erwachte. Die Bilder rotierten vor mir wie Gebetsperlen, an die ich mich klammern konnte. Ich werde nichts vergessen, sagte ich mir immer wieder.

Als Nachbar Hus Wagen über einen Stein holperte, verrutschte die Plane über mir und offenbarte den sternlosen Nachthimmel. Ich hob den Kopf, um ein letztes Mal zum Haus zurückzublicken. In der Dunkelheit wirkte die Gestalt meiner Großmutter geduckt und weich. Mir kam in den Sinn, dass ich sie noch nie so weit entfernt gesehen hatte.

Sie würde Hilfe im Garten brauchen. Die Steppjacke, die ich anhatte, gehörte ihr. Ob sie genug warme Sachen für den nächsten Winter hatte? Ich hätte dafür sorgen sollen, dass jeden Tag jemand nach ihr sah. Wieder flossen mir Tränen übers Gesicht. Ich sah meine Großmutter schrumpfen, bis die Dunkelheit sie verschluckte und ich mir nur noch vorstellen konnte, dass sie es war, die dort draußen vor dem Haus stand, die wartete, beobachtete und sich nicht von der Stelle rührte, bis sie sicher sein konnte, dass wir fort waren. Ich betete, dass es bald regnen würde.

3

DIES IST DIE GESCHICHTE eines Mädchens, das Zhifu hinten auf einem Wagen erreichte.

Die Fahrt dauerte sechs Tage. Ich lag hinten auf Nachbar Hus Wagen, schlief ein und wachte wieder auf, aß Mantou aus meinem Sack und dachte unablässig nach.

Ich musste eine neue Person werden. Ich durfte nicht länger Daiyu sein, sondern jemand, den man nicht zu mir zurückverfolgen konnte. Ich würde Feng werden, ein Junge – das war sicherer. Kein Zuhause, keine Eltern, keine Vergangenheit. Keine Großmutter.

Am fünften Tag fing es an zu regnen. Eine Achse brach, der Wagen kippte um und ich mit ihm. Nachbar Hu kniete sich fluchend neben den Wagen und reparierte die kaputte Achse. Zurück unter der Plane, mit den schlammigen Kleidern auf meiner Haut, lauschte ich dem Regen, der wie Finger auf Holz trommelte, und dachte lächelnd an meine Großmutter. Deine Daiyu vermisst dich, flüsterte ich, schloss die Augen und stellte mir vor, was sie erwidern würde.

Als ich am sechsten Tag erwachte, schien mir die Sonne auf die Stirn, und ich roch das Meer. Der Geruch gab mir das Gefühl, das Fischerdorf nie verlassen zu haben, doch diese Vertrautheit hielt nicht lange vor. Nachbar Hu entfernte die Plane und half mir aus dem Wagen. Wir waren in einer Art Gasse und ringsum das Stimmengewirr von Dialekten, die ich noch nie gehört hatte. Viel Glück, sagte er und klopfte mir halbherzig auf den Rücken. Ich sage deiner Großmutter, dass du es geschafft hast. Er bedachte mich mit einem hoffnungslosen Blick, als rechnete er damit, mich zum letzten Mal lebendig zu sehen. Ich versuchte ihm nicht zu zeigen, dass ich es sah. Stattdessen verneigte ich mich und dankte ihm für seine Umstände. Nachbar Hu ging zu seinem Wagen zurück und manövrierte ihn aus der Gasse.

Feng, ein Junge, geboren aus dem Wind, dachte ich bei mir.

Gut. Fangen wir an.

*

Hallo, rief ich in die Nudelküche. Ich bin Feng und würde gern für Sie arbeiten.

Warum sollte ich dich einstellen?, sagte der Küchenchef lachend. Damit du mir im Schlaf die Kehle aufschlitzt und mein ganzes Geld klaust?

Hallo, rief ich in das Geschäft mit den Wandteppichen. Ich bin Feng und kenne mich aus mit der Arbeit am Webstuhl.

Fort mit dir!, fauchte der Ladenbesitzer. Für Abschaum wie dich ist hier kein Platz.

Nicht anders verlief es, wenn ich in Cafés, Teehäusern oder Gewürzläden nachfragte. Ich musste mich dringend waschen, brauchte frische Kleider und Schuhe, die nicht nach Matsch stanken. Zerzaust, wie ich war, unterschied ich mich nicht von den anderen Jungen, die durch die Straßen streunten, Jungen, die aussahen, als hielte sie nur der Hunger am Leben. Ich beobachtete, wie sie in Geschäfte schlichen und herauskamen, die Taschen gefüllt mit gestohlenen Sachen. Sie hätten die Stadt leergeräumt, wenn die aufmerksamen Ladenbesitzer sie nicht mit Besen verjagt hätten. Dieselben Ladenbesitzer, die mich zurückwiesen, ohne sich anzuhören, was ich zu sagen hatte.

Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was meine Eltern mir über Zhifu erzählt hatten. Ich wusste, dass die Stadt sich langsam mit Ausländern gefüllt hatte und zu einem der größten Häfen in ganz China geworden war. Sie lag am Meer, wo Schiffe mit Baumwolle und Eisen anlegten und ausliefen mit Sojabohnenöl und Suppennudeln. Helle Schaufenster mit Waren für jede Laune und jedes Bedürfnis säumten die lauten, engen Straßen. Es gab ein Geschäft, wo man Wein, und ein anderes, wo man feine Hüte in allen Farben und aus jedem Material kaufen konnte. Nebenan war ein Laden für Heilkräuter, der nach Ingwer und Erde roch. Ich ging kurz hinein und erinnerte mich an meine Großmutter, bevor das Mädchen hinter dem Ladentisch seinen Besen holte. Über den Geschäften befand sich noch ein Stockwerk mit Wohnungen und Büros, einige mit einer kleinen Terrasse, die auf die Straße blickte. Ich hatte noch nie so viele Häuser und so wenig Himmel gesehen.

Außerdem sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Ausländer. Meine Eltern hatten sie Wai Ren genannt. Sie drängten in die Geschäfte, groß und selbstbewusst. Ihre Haut sah aus wie wundgescheuert. Ich war davon ausgegangen, dass Haare immer schwarz waren, doch auf den Köpfen dieser Ausländer wuchs Schlamm, Sandelholz, verblichenes Leder und Stroh. Ich sah sogar einen Mann mit karottenfarbenem Haar. Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, und schaute erst weg, als er meinen Blick auffing.

Getragen vom Lärm der Stadt, wanderte ich durch diese seltsamen Straßen; Händler schrien, Musik spielte, fremde Worte glitten aus Mündern, die nicht aussahen wie meiner. Ich ging mit demselben hoffnungsvollen Gesicht in die Häuser hinein und wieder hinaus, aber überall war es dasselbe: Für deinesgleichen gibt es hier keine Arbeit.

Als die Nacht kam, kroch ich unter einen herrenlosen Obstkarren, den Bauch voller angeschlagener Äpfel und Birnen – gekauft von dem Geld, das meine Großmutter mir gegeben hatte. Es war nicht so kühl wie in den Nächten zuvor. Ich wickelte die Steppjacke eng um mich und träumte, dass die beiden Männer zu uns zurückkamen und meine Großmutter wegbrachten.

Am nächsten Tag wiederholte sich alles von vorn. Ich ging in das Geschäftsviertel, wo die Straßen von seltsam geformten Gebäuden gesäumt waren, die Fenster manchmal quadratisch, manchmal bogenförmig, manchmal wie Blumen, die von verzogenen Metallstäben umgeben waren. Ich kam an einem ausländischen Postamt aus grauem Backstein vorbei, dessen Fenster an Schuhe mit runder Spitze erinnerten. Während ich über diese Fenster grübelte, tauchte ein flachsblonder Mann auf. Er führte Selbstgespräche, und sein Schnurrbart glich einem muskulösen Ding, das sich mit seinen Lippen bewegte. Ich fragte mich kurz, ob sich die Ausländer meiner erbarmen würden. Würden sie mir Schutz, Essen, Arbeit anbieten? Doch noch während mir der Gedanke durch den Kopf ging, bemerkte mich der flachsblonde Mann und begann auf mich zuzugehen. Erschrocken über die Begierde in seinem Blick, rannte ich davon, bevor er näher kommen konnte.

Was sollte ich tun? Ich wünschte, meine Großmutter hätte mir mehr Ratschläge gegeben, bevor ich ging. Ich wünschte, meine Eltern hätten mir mehr über Zhifu erzählt oder ich hätte mich besser daran erinnert. Am meisten aber wünschte ich, dass nichts von alldem passiert wäre und wir wieder die Familie sein könnten, die wir einmal waren, als Zhifu nur eine Geschichte und die Pflege des Gartens meine einzige Sorge war.

Ob ich wütend war? Und wie. Auf meine Eltern, weil sie mich im Stich gelassen hatten. Auf meine Großmutter, weil sie mich fortgeschickt hatte und nicht mitgekommen war. Auf die beiden Männer, die unser geschätztes Haus betreten und auf den Kopf gestellt hatten. Dieses neue Leben, in dem ich ziellos durch die Straßen strich, hatte ich mir nicht erhofft. Früher hatte ich davon geträumt, das Geschäft meiner Eltern zu übernehmen und vielleicht sogar eigene schöne Entwürfe zu schaffen. Ich wollte Fische aus dem Meer fangen und sie bei den Familien meiner Freundinnen gegen Mehl, Zucker und Algen tauschen. Wir wären immer satt geworden, eine Familie, die Jahreszeiten, Kaiserreiche und sogar den Tod überdauern konnte.

Am Abend des fünften Tages war ich so viel gelaufen, dass sich meine Füße anfühlten wie mit Steinen malträtiert. Ich war benommen, mein Körper schwerelos, und in meinem Kopf flimmerte ein Nebel, der mir die Erinnerung daran nahm, welche Straßen ich schon entlanggestolpert war. Bevor ich Arbeit finde, werde ich elend verhungern, dachte ich bei mir. Ich war ein treibender Körper, ein vom Wind getragener Faden, und niemand ringsum kümmerte sich oder bemerkte es. Vielleicht war ich ja schon verschwunden, dachte ich verzweifelt. Wenn der Körper sich von innen her verzehrt, was geht dann wohl als Letztes?

Ich träumte von den prallen, schweren Teigtaschen meiner Großmutter, gefüllt mit Schweinefleisch und Schnittlauch oder Krabben und Zucchini. Ich aß sie gern frisch aus dem Topf, sodass man sich schon beim ersten Bissen an dem austretenden dampfenden Saft den Mund verbrühte. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich sie förmlich riechen – die wohlschmeckende Hitze, die geschmeidige Konsistenz der Teigtaschenhaut und die verheißungsvolle Füllung.

Es war nicht nur meine Phantasie. Ich konnte sie wirklich riechen. Als ich die Augen öffnete, sah ich alles lebhaft vor mir. Dort, nur ein paar Schritte vor mir zur Linken, war eine Nudelküche. Ich stolperte darauf zu, blieb aber schnell stehen – der Besitzer fegte gerade, und alle Laternen im Inneren waren gelöscht. Der Laden war geschlossen.

Wenn mich der Hunger in einen Nebel getaucht hatte, dann holte der Hunger mich jetzt wieder heraus. Ich huschte die Gasse neben dem Laden entlang, bis ich auf einen schmutzigen Durchgang stieß, in dem es nach überreifen Orangen roch. Mein Magen pulsierte im Takt mit meinem Herzen.

Ich blieb stehen und wartete.

Wie vermutet, war der Ladenbesitzer mit dem Fegen fertig und kam jetzt mit einem Tablett alter Teigtaschen durch die Hintertür heraus. Er warf sie auf den Müllhaufen, ging wieder zurück und schloss die Tür hinter sich ab. Ich sah mich um. Die Dämmerung brach herein, und niemand war in dem Durchgang.

Mit wässrigem Mund rannte ich los. Die Teigtaschen lagen auf einem schmutzigen Lappen, schimmerten aber noch perlmuttfarben und platzten fast. Trotz des Geruchs von ranzigem Obst und schmutzigem Wasser war ich heißhungrig. Ich nahm sämtliche Teigtaschen und steckte sie in meine Hose. In dieser Nacht schlief ich auf den Stufen einer Kirche, und die Teigtaschen quollen vergnügt in meinem Bauch auf.

4

MEINE GROSSMUTTER HATTE RECHT – ich war geschickt mit den Händen. Es war das Geschenk meiner Mutter an mich. Als ich am Morgen erwachte, mit klarem Kopf von der neuen Fülle in meinem Bauch, zählte ich an den Händen die Dinge ab, die ich mit ihnen tun konnte.

Ich konnte Teigtaschen falten und Blütenblätter in Baozi drücken. Äpfel mit einem kleinen Messer schälen, die Enden von grünen Bohnen abbrechen, ohne zu viel Fleisch zu verlieren. Meine Hände konnten mich am Leben halten. Ich brauchte nur jemanden, der mir eine Chance gab.

Ich ging von Laden zu Laden, und immer folgte mir das Keifen der Besitzer: Verschwinde, hier will dich keiner, lass dich bloß nicht mehr blicken.

Ich bin geschickt mit den Händen, beschwor ich den siebten, achten oder war es schon der neunte Geschäftsinhaber eines Ladens für handgezogene Nudeln. Ich habe mit meiner Mutter gewebt – meine Finger sind perfekt für die Nudeln.

Du bist sehr dünn und klein, selbst für einen Straßenjungen, sagte die Besitzerin zu mir und musterte mich wie einen Schatten von oben bis unten. Du weißt, einen hungrigen Welpen wie dich nimmt keiner auf – du musst Disziplin lernen, bevor dir jemand vertraut.

Sie war freundlicher als die anderen. Sie holte keinen Besen und drohte nicht, mich zu verdreschen.

Mehr kann ich nicht für dich tun, sagte sie und zeigte auf die Tür.

Sie wollte, dass ich ging, also verneigte ich mich und drehte mich um.

Nicht so schnell, rief sie, als ich auf die Straße trat. Verstehst du nicht, was ich dir sage? Da, an der Tür. Siehst du?

Ich sah es. Anfangs hatte ich es für einen gezeichneten Baum gehalten, die Pinselstriche lang und sicher, wie Wurzeln auf einem Blatt Papier. Als ich jedoch genauer hinsah, erkannte ich, dass es kein Baum war, sondern ein chinesisches Zeichen, ein Zeichen, das ich nicht kannte. Es war nicht geschrieben wie andere Zeichen, die ich gesehen hatte – die Tusche war schwarz und kühn, jede Linie, jeder Haken und Punkt war dick, wo nötig, und dünn, wo nötig, perfekt in Schwere und Ausgewogenheit. Irgendwie machte es mich zufrieden, obwohl ich nichts über das Zeichen oder die Person wusste, die es geschaffen hatte. Die Zeichnung durchströmte mich und erfüllte mich mit Harmonie.

Es war ein Geschenk an mich, sagte die Ladenbesitzerin. Ich habe gehört, der Künstler könnte Hilfe gebrauchen.

In der Hoffnung, ihr Wohlwollen würde sich nicht erschöpfen, fragte ich sie, wo ich den Künstler finden könne.

Sie zupfte an ihrer Schürze und sah nach, ob ein Kunde in den Laden gekommen war. Niemand war da. Ich habe eine Tochter in deinem Alter, sagte sie zu mir. Darum jage ich dich nicht auf die Straße. Halte Ausschau nach einem roten Haus mit einem erdnussfarbenen Dach. Mehr sage ich dir nicht. Das Schicksal wird entscheiden, ob du ihn finden sollst.

Es war der erste Hauch von Hoffnung, den ich seit meiner Ankunft in Zhifu zuließ. Ich flog aus dem Laden mit den handgezogenen Nudeln und stieß fast mit einem Mann zusammen, der eine Kiste voller Hühner trug.

Ein rotes Haus mit einem erdnussfarbenen Dach?, fragte ich verzweifelt.

Verschwinde, bevor ich dir eine verpasse, sagte er giftig.

Wenn die Person, die ich suchte, wirklich ein Künstler war, dann wusste ich genau, an wen ich mich um Hilfe wenden konnte. Ich wich dem Fuß des Mannes aus und machte mich auf den Weg zu dem Tapisserie-Geschäft, das ich am ersten Tag aufgesucht hatte.

Der Besitzer stand da, als hätte er auf mich gewartet. Er hob eine Hand und machte Anstalten, mir den kostbaren Schatz, den ich stehlen wollte, aus den Armen zu schlagen.

Ich hab dir gesagt, keine Bettler, sagte er drohend. Die Ärmel seines Changshan flatterten, er sah aus wie ein großer Vogel.

Bitte, sagte ich keuchend. Können Sie mir sagen, wo ich ein rotes Haus mit einem erdnussfarbenen Dach finde? Ein Haus, in dem ein Kalligraphie-Künstler lebt?

Der Besitzer betrachtete mich argwöhnisch und verwirrt.

Wieso willst du das wissen? Hast du vor, einem guten Mann seine Kunst zu stehlen?

Nein, erwiderte ich. Ich musste an meine Mutter denken. Die Wandteppiche ringsum riefen sie mir klar und schmerzhaft in Erinnerung. Da saß ich, in ihrem Zimmer auf ihrem Schoß, ich sah ihre Hände flink über den Webstuhl tanzen, ihre Fingernägel wie Perlen, ihre warme Brust an meinem Rücken, die Schwingungen ihres Summens schön wie ein Wiegenlied.

He, was ist denn los?, fragte der Besitzer verstört und riss mich aus meinen Gedanken. Warum weinst du?

Er hatte recht. Ich hatte es nicht gemerkt, aber mein Gesicht war nass, die Lippen zitterten. Die Last der vergangenen Tage erdrückte mich, presste mich in den Erdmittelpunkt. Ich wollte das alles nicht.

Entschuldigen Sie, mein Herr, sagte ich und wischte mir die Tränen mit der Hand ab. Ich kannte einmal Leute, die Wandteppiche wie die Ihren gewebt haben, nur mit Blumen, Vögeln und sogar Drachen.

Bei diesen Worten wurde der Besitzer etwas milder. Du kanntest Leute, die Wandteppiche gewebt haben, wiederholte er. Hier in Zhifu? Wie heißen sie? Kenne ich sie?

Nein, sagte ich und schüttelte den Kopf. Und Sie werden sie wahrscheinlich auch nie kennenlernen. Sie sind vor Kurzem verschwunden. Aber sie haben mir beigebracht, meine Hände zu benutzen. Deswegen bin ich hier, mein Herr. Ich suche Arbeit, aber zuerst muss ich Disziplin lernen. Ich suche eine Arbeit, bei der ich meine Hände geschickt einsetzen kann. Wissen Sie, wo das rote Haus mit dem erdnussfarbenen Dach ist? Sagen Sie es mir, dann lasse ich Sie in Ruhe, und wenn ich je zurückkomme, werde ich disziplinierter und zuverlässiger sein, ich verspreche es, mein Herr.

Es würde bald dunkel werden. Ich sah, wie der Besitzer über meine Worte nachdachte, und ich wartete auf den Schlag, der mich aus seinem Laden vertreiben würde. Die Sekunden türmten sich zwischen uns auf.

Doch der Schlag, mit dem ich gerechnet hatte, blieb aus. Stattdessen öffnete der Besitzer den Mund.

5

ALS ICH AM NÄCHSTEN Morgen erwachte, sah ich einen Mann über mir, seinen Fuß neben mir.

Ich schreckte hoch. Der Mann spähte über seine Brille auf mich herunter, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug einen grauen Changshan mit gestickten Pfirsichblüten auf den Ärmeln. Ich fand, er sah aus wie mein Vater.

Wieso schläfst du auf den Stufen meiner Schule?

Er klang nicht angewidert oder wütend, nur neugierig.

Entschuldigen Sie, mein Herr, erwiderte ich und rutschte beiseite. Bitte holen Sie nicht die Wachen.

Warte, sagte er und streckte eine Hand aus. Seine Finger waren schwarz verfärbt. Du hast meine Frage nicht beantwortet.

Ich erklärte ihm, ich sei Feng und auf der Suche nach Arbeit. Inzwischen ging mir die Lüge so leicht über die Lippen, als wäre es die Wahrheit. Ich bin zu Ihrer Schule gekommen, um Ihr Lehrling zu werden.

Aber ich suche keinen Lehrling, erwiderte er. Wie kommst du darauf, dass ich einen suche?

Durch eine Frau in einem Laden für handgezogene Nudeln, erwiderte ich. Sie sagte, sie könnten Hilfe gebrauchen.

Verstehe. Ich weiß nicht, wie sie darauf kommt. Na schön, Feng der auf der Suche nach Arbeit ist, es tut mir leid, dich zu enttäuschen. Ich stelle niemanden ein.

Ich blickte auf meine Kleider. Meine Hosenbeine waren staubig von den Stufen, auf denen ich geschlafen hatte. Mir kam eine Idee.

Moment, sagte ich zu ihm. Wenn Sie keinen Lehrling suchen, dann können Sie vielleicht jemanden brauchen, der Ihre Schule sauber hält. Ich bin hier, weil ich Ihre wunderschöne Kunst in der Nudelküche bewundert habe. Eine solche Schrift habe ich noch nie gesehen. Und sollte ein Ort, an dem so viel Schönheit entsteht, nicht dementsprechend aussehen?

Noch nie war ich einem Erwachsenen gegenüber so forsch gewesen. Ich biss mir auf die Lippe und wartete darauf, dass mir meine Klugheit heimgezahlt wurde.

Aber seine Hände rührten sich nicht. Stattdessen schwenkte sein Blick auf meine schmutzige Hose und dann seine Stufen. Und wieso glaubst du, dass du der Richtige für diese Aufgabe bist?

Ich dachte an meine Mutter und an meine Großmutter. Ich bin sehr geschickt mit den Händen, antwortete ich.

Dann streck deine Hände aus.

Widerstrebend gehorchte ich; es waren Mädchenhände, die Knöchel weich und gepolstert, die Schwielen von der Gartenarbeit längst verschwunden. Diese Hände haben nicht einen Tag lang harte Arbeit verrichtet. Der Mann bückte sich und drehte sie um, inspizierte meine Handflächen, kniff ins Fleisch unter dem Daumen. Er starrte so lange darauf, dass ich mich schon fragte, ob er eingeschlafen war. Doch als er sich wieder aufrichtete, war er hellwach und hatte einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht.

Du hast nicht gelogen, sagte er. Möchtest du für mich arbeiten, Feng mit den guten Händen?

Die Sonne ging auf und färbte sein graues Haar ockerfarben. Ich fragte ihn nicht, was er in meinen Händen gesehen hatte, sondern schaute in seine Brille und sagte Ja.

Dann steh auf, sagte er. Ich gehorchte und merkte, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben ordentlich dastand. Dein Name bedeutet Wind, sagte er. Und ich erwarte, dass du dich bewegst wie der Wind – keine Faulheit, keine Schludrigkeit. Wenn du für mich arbeitest, arbeitest du anständig.

Sein Name war Meister Wang, und das rote Haus mit dem erdnussfarbenen Dach war seine Kalligraphie-Schule.

Wir gingen zusammen hinein. Durch die abgedunkelten Fenster sickerte Licht in das Klassenzimmer und hinterließ weiße Schlitze auf dem Holzfußboden. Der Raum war in zwölf Arbeitsplätze unterteilt, jeder ausgestattet mit einem Pinsel, einem Tintenfass, wie ich annahm, mit langen Reispapierblättern und anderen Materialien, die ich nicht kannte. An den Wänden hingen Bildteppiche mit schwarzen Zeichen, die von der Decke bis zum Boden reichten. Die Zeichen wirkten heroisch und kompliziert, erstarrt im Tanz. Sie sahen aus, als wären sie von Kräften geformt worden, die größer waren als sie selbst.

Auf der anderen Seite des Raums befanden sich Meister Wangs Privaträume, abgeschirmt durch einen Paravent. Wir gingen daran vorbei, ohne anzuhalten. Das letzte Zimmer war klein und voller Gerätschaften, unbenutzter Tintenfässer und Reispapierrollen. Dort sollte ich schlafen.

Der Unterricht beginnt bei Sonnenaufgang und endet mit dem ersten Zeichen von Dunkelheit, erklärte mir Meister Wang und suchte in der Kammer nach einem Besen. Du wirst jeden Tag vor und nach dem Unterricht die Treppe draußen fegen. Was du sonst mit deiner Zeit anstellst, bleibt dir überlassen, aber ich warne dich: Was immer du tust, es wird auf meine Schule zurückfallen, egal wohin du gehst.

Schließlich fand er den Besen und gab ihn mir. Der Stiel war dick, ich konnte ihn kaum mit den Fingern umfassen. Aus Angst, Meister Wang könnte mir den Job gleich wieder wegnehmen, bemühte ich mich, es vor ihm zu verbergen. Er drehte sich um und führte mich hinten durch die Schule zu einem mit Steinen ausgelegten Hof. In jede Steinfliese war ein chinesisches Zeichen eingraviert. In der Mitte des Hofs befand sich ein Springbrunnen, in dem zwei Drachen sich um vier Töpfe schlangen. Ein kleiner Garten umgab den Brunnen. Ich dachte voller Sehnsucht an meine Großmutter und bat die Erinnerung, sie möge verschwinden. Ich musste mich konzentrieren.

Kein Stein ist unberührt, sagte Meister Wang. Wie du so scharfsinnig bemerkt hast, muss eine Kalligraphie-Schule die Schönheit widerspiegeln, die in ihren Räumen entsteht, indem auch das Äußere vorzeigbar gehalten wird.

Ich nickte und fragte nicht, warum dann draußen alles so dreckig war oder warum das erdnussfarbene Dach aussah, als wäre es eingesackt. Er betonte jedes Wort mit Endgültigkeit, und das genügte mir.

Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte den Hof in Licht. Der Unterricht beginnt gleich, sagte er. Du weißt, was du zu tun hast, Feng, der du gut mit den Händen bist.

Ich verneigte mich, weil ich es für richtig hielt, und ging zur Vordertreppe, den Besen in beiden Händen. Die Sonne folgte mir. Der Tag war schön, die Blumen schön, die Kalligraphie schön, die Steinfliesen schön. Aber es hätte mich nicht gestört, wenn es geregnet hätte.

*

Am nächsten Morgen tat ich, wie man mir geheißen hatte. Ich wachte vor der Sonne auf und schleppte den Besen vom Schrank zur Vorderseite der Schule. Ich fegte jede Stufe dreimal und sah zu, wie der Staub aus meinem Besen den Morgen bewölkte, was mich an meine Mutter erinnerte, wenn sie sich Mehl von den Händen klopfte. Als ich ins Haus zurückkehrte, fand ich eine Schale Haferbrei mit Szechuangemüse vor meinem Schlafquartier.

Meister Wangs Schüler waren ausnahmslos Männer. Sie gingen hintereinander in einer geraden Reihe in das Gebäude und bewegten sich mit einer Präzision, als nähmen sie sich die Zeichen, die sie malten, zum Vorbild. Aufrecht, mit ernster Miene und gehorsam knieten sie sich an ihre Arbeitsplätze, schoben die Ärmel zurück und warteten auf ihren Lehrer.

Guten Morgen, Klasse, sagte er, als er eintrat.

Guten Morgen, Meister, erwiderten sie gleichzeitig.

Wer hat heute den Sonnenaufgang gesehen?, fragte er mit fester Stimme.

Ich nicht, Meister, erwiderten sie einmütig.

Ich bitte euch, ihn euch morgen und übermorgen und an jedem weiteren Tag anzusehen, sagte Meister Wang, dann werdet ihr irgendwann verstehen, dass die Zeichen, die ihr malt, eine ganze Welt füllen können.

Die Schüler schwiegen, aber ich war verzaubert. Nicht nur von seiner Sprechweise, die mir harmonisch schien wie ein schwimmendes Seerosenblatt auf einem Teich, sondern von dem, was er sagte. Ich verstand zwar nicht, was er mit dem Satz meinte, aber mir war bewusst, wenn es einen Menschen gab, der mir Antworten auf das Leben geben konnte, dann er.

Von diesem Augenblick an nahm ich mir vor, meinen Platz in Meister Wangs Schule zu finden. Es war immer das Gleiche: Der Morgen war dem Fegen vorbehalten, und wenn die Sonne aufging und ich meine Schale mit Haferbrei und den kleinen Teller mit Gemüse gierig verschlungen hatte, hielt ich mich im Flur auf, um die Schüler eintreten zu sehen, neidisch auf ihre Sicherheit und dass sie ein Zuhause hatten, in das sie zurückkehren würden.

Tagsüber ging ich in die Stadt. Die schlichten Mahlzeiten bei Meister Wang waren knapp bemessen – das Essen schien immer zu verschwinden, bevor ich richtig satt war. Ich lechzte nach Fleisch und vermisste besonders den gedämpften Fisch, der in meiner Kindheit ein fester Bestandteil gewesen war. Ich sehnte mich nach leuchtenden Garnelen und Soßen aus Ingwer, Knoblauch und Weißdornbeeren. Bei meinen Eltern und meiner Großmutter war das Essen immer zelebriert worden, bei Meister Wang hingegen war es bloß eine Pflicht, die erledigt werden musste, bevor man zu Wichtigerem überging. Hunger ist gut, sagte er, als ich ihn das erste Mal um eine zweite Portion Reis bat. Er befähigt den Verstand eines Künstlers, sich zu konzentrieren. Danach fragte ich ihn nie wieder.

Doch genau dieser Hunger trieb mich Tag für Tag in die Stadt zurück. Ich wollte alles essen – die Brötchen und Sesamkuchen und handgezogenen Nudeln, die unverständlichen Worte der Ausländer, den fleischigen, stechenden Geruch des Meeres. Dies also war die Stadt, die meine Eltern liebten, dachte ich. Ich hätte alles Essen an den Ständen in mich hineinschlingen, mich sogar über die Stützbalken der Gebäude hermachen können und wäre immer noch nicht satt gewesen. Alles war neu. Alles war denkbar. Es war größer als der Hunger in meinem Bauch – es existierte auch in meinem Herzen, und ich wusste, eines Tages würde mich dieser Hunger einholen. Aber nicht jetzt. Noch nicht.

Nachmittags kehrte ich zur Schule zurück und prägte mir im Hof die Zeichen auf den Steinfliesen ein. Manchmal warfen die Schüler halb aufgegessene Äpfel in den Hof. Und wenn Meister Wang bei schönem Wetter die Fenster öffnete, lauschte ich dem Unterricht und ließ mich von seinem unerschütterlichen Tenor gefangen nehmen.

Aus diesen Sitzungen lernte ich, dass Schreibpinsel, Tuschestab, Papier und Reibstein die Vier Schätze des Gelehrtenzimmers genannt wurden. Ich lernte, dass der Künstler neben dem Malen der richtigen Pinselstriche in der richtigen Reihenfolge auch für die Aufrechterhaltung eines ausgewogenen Ichs verantwortlich war, um gute Kalligraphie zu schaffen.

Bei der Kalligraphie, dozierte Meister Wang, geht es nicht nur um die Methoden des Schreibens, sondern auch darum, den eigenen Charakter zu kultivieren. Dieser Glaubenssatz war für ihn Philosophie wie auch gelebte Praxis. Ihn trug der Kalligraph für den Rest des Lebens mit sich, wobei die Tusche das Blut ersetzte und der Pinsel die Arme. Kalligraph zu sein hieß, die Prinzipien der Kalligraphie bei jeder Handlung, Reaktion und Entscheidung anzuwenden, ob auf dem Papier oder im Leben. Ein solcher Mensch könnt ihr werden, erklärte Meister Wang seinen Schülern, ein Mensch, der sich der Welt zuwendet wie einem leeren Blatt Papier.

Etwas wie Angst, Gefahr, Sorge oder Verlust gab es für ihn nicht. Nach den Prinzipien der Kalligraphie gab es immer eine Antwort – sieh dir das Zeichen an, lass dich von dem leiten, was du weißt. Im Leben war Meister Wang genauso: Behalte das gewünschte Ergebnis im Auge, und lass dich von deinem Wissen zu ihm führen. Und vor allem musst du lernen.

Was macht eine gute Handschrift aus?, fragte er die Schüler.

Eine ruhige Hand, antwortete jemand.

Geduld und ein scharfes Auge, ein anderer.

Eine gute Grundausbildung, versuchte es ein dritter.

Alles richtig, sagte Meister Wang. Doch das Wichtigste von allem habt ihr vergessen: ein guter Mensch zu sein. In der Kalligraphie müsst ihr das, was ihr schreibt, und den, für den ihr schreibt, respektieren. Doch vor allem müsst ihr euch selbst respektieren. Es ist die gewaltige Aufgabe, Einigkeit herzustellen zwischen dem Menschen, der ihr seid, und dem Menschen, der ihr sein könntet. Überlegt: Welche Art Mensch könntet ihr werden, als ihr selbst und als Künstler?

Ein ehrfurchtsvolles Schweigen schloss sich an. Die Schüler hatten genug gehört, um noch jahrelang davon zu träumen. Und ich? Ich hatte endlich eine Antwort und einen Weg, dem ich folgen konnte, einen Weg, der mir helfen würde, die Last meines Namens und das damit einhergehende Schicksal zu überwinden. Wenn Kalligraphie der Schlüssel war, um mich von Lin Daiyu zu trennen, dann würde ich nach Meister Wangs Anweisung üben. Ich würde jemand werden, die sich nicht dem Willen des Schicksals und den Geschichten beugte, nach denen ich benannt war, sondern ein vollkommen eigenständiger Mensch mit einem Erbe, das ihm gehörte.

Und bis dahin würden meine Eltern vielleicht zu mir zurückkehren.

6

ICH BEGANN SOFORT. MIT einem langen Birkenzweig in der Hand fuhr ich die Zeichen in den Steinfliesen nach, schwang und drehte den Zweig, als könnte er etwas aus der Erde heraufbeschwören. Es war irgendwie albern, und mir war klar, wie es für Außenstehende aussehen musste: ein mädchenhaft aussehender Junge, ein jungenhaft aussehendes Mädchen, das spielte zu schreiben und sich einbildete, er oder sie sei kühn. Der Zweig fühlte sich fremd an in meiner Hand, die Bewegungen ungelenk. Nachdem der Unterricht für den Tag zu Ende war und die Schüler herauskamen, blieb mir keine Zeit mehr zu verbergen, was ich tat. Als sie mich sahen, wie ich mit meinem Zweig auf den Fliesen herumfuchtelte, fingen sie an zu lachen über den Stock, der aus meiner ungeübten Hand herunterhing. Ich ließ ihn fallen und rannte ins Haus, suchte den Besen, biss mir auf die Lippe und war wütend auf mich selbst.

Die Daiyu von vor wenigen Monaten, die noch eine Großmutter an ihrer Seite gehabt hatte und ein eigenes Bett, hätte den Traum, die Kalligraphie zu beherrschen, aufgegeben. Sich sehr um etwas zu bemühen – und dafür verspottet zu werden – hatte nie ins Selbstverständnis dieser Daiyu gehört. Aber etwas geschah mit mir, seit dem Augenblick, als meine Großmutter mich auf dem Wagen nach Zhifu fortgeschickt hatte. Ich gierte nach dem, was die Kalligraphie mir bringen würde, und so sicher ich mir war, dass ich nie die Frau eines Stadtmannes werden würde, so sicher war ich mir auch, dass meine Zukunft mit der Kalligraphie verbunden war. Es würde nicht leicht werden. Es war so, wie Meister Wang gesagt hatte – ich musste üben.

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