×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Game of Blood«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Game of Blood« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Game of Blood

Als Buch hier erhältlich:

Actionreich, packend und dabei voll finsterer Romantik!

Lou und Reid haben gleich mehrere Verfolger. Die gefährlichen Dames Blanches, die Vertreter des Königs von Belterra und die Chasseure sind allesamt hinter ihnen her. Zusammen mit ihren Freunden Ansel und Coco verstecken sie sich in den finsteren Wäldern. Doch um zu überleben, brauchen sie neue mächtige Verbündete. Während Lou verzweifelt versucht, die Menschen zu schützen, die sie liebt, steuert sie unweigerlich auf die dunkle Seite der Magie zu. Doch damit bringt sie Reid in Gefahr, den sie doch mehr liebt als alles andere.

Für alle Fans der »Das Reich der sieben Höfe«-Serie

»Eine brillante, nicht enden wollende Achterbahnfahrt.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Jodi Picoult

»Dekadent und gefährlich! Game of Blood war für mich genau das richtige Buch zu genau der richtigen Zeit. Die vielfältigen Figuren haben mich gefesselt, und ich kann es kaum erwarten zu erfahren, wie es mit dieser fröhlichen Schurkenbande weitergeht.«
Bestsellerautorin Reneé Ahdieh

»Eine ins Mark gehende Liebesgeschichte, die mich die ganze Nacht lang gefesselt hat.Game of Gold ist ein wahres Juwel.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Sarah J. Maas über den ersten Teil der Trilogie


  • Erscheinungstag: 20.04.2021
  • Seitenanzahl: 400
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800583

Leseprobe

Für Beau, James und Rose,
die ich bedingungslos liebe

TEIL I

Il ny a pas plus sourd que celui qui ne veut pas entendre.

Keiner ist so taub wie jene, die nicht hören wollen.

Französisches Sprichwort

MORGEN, MORGEN, NUR NICHT HEUTE

Lou

Dunkle Wolken ballten sich über uns zusammen.

Obwohl ich den Himmel durch das dichte Blätterdach von La Fôret des Yeux nicht sehen konnte – genauso wie ich den eisigen Wind jenseits unseres Lagers nicht spürte –, wusste ich, dass sich ein Sturm zusammenbraute. Die Baumkronen schwankten in der grauen Dämmerung, die Tiere drängten sich am Boden zusammen.

Seit mehreren Tagen saßen wir nun in diesem Loch, das wir uns gegraben hatten, eine Art Becken im Waldboden, durchzogen von den Wurzeln der Bäume, die wie Finger aus der kalten Erde heraus- und wieder hineinstachen. Höhle nannte ich das Loch liebevoll. Während außerhalb alles von Schnee bestäubt war, schmolzen die Flocken beim Kontakt mit dem schützenden Zauber, mit dem Madame Labelle unseren Zufluchtsort belegt hatte.

Ich platzierte den Backstein über dem Feuer und stocherte hoffnungsvoll im unförmigen Teigklumpen herum, der darauf lag. Brot konnte man es nicht wirklich nennen, was ich da aus gemahlener Rinde und Wasser zusammengemischt hatte, aber noch eine Mahlzeit aus Pinienkernen und Mariendistelwurzel hätte ich nicht runterbekommen. Unter keinen Umständen. Ein Mädchen musste hin und wieder etwas essen, das lecker schmeckte – und damit meinte ich bestimmt nicht den wilden Lauch, den Coco heute Morgen gefunden hatte. Ich roch noch immer aus dem Mund wie ein Drache.

»Das esse ich nicht«, sagte Beau rundheraus und beäugte misstrauisch das Brot, als könnte es jeden Augenblick Beine bekommen und sich auf ihn stürzen. Sein sonst stets makellos frisiertes schwarzes Haar stand in zerzaustem Zickzack von seinem Kopf ab, die gelbbraune Haut seiner Wangen war fleckig, und seine samtenen Kleider, die in Cesarine der letzte Schrei gewesen waren, starrten nun vor Dreck.

Ich grinste ihn an. »Von mir aus. Du kannst auch verhungern.«

»Ist das …« Ansel pirschte sich heran und schnupperte verstohlen.

Seine Augen gierten vor Hunger. Seiner äußeren Erscheinung waren die Tage in der Wildnis ebenfalls nicht gut bekommen, sein Haar war vom Wind ganz durcheinandergewirbelt, nur dass Ansel mit seiner oliv getönten Haut und seinem gertenschlanken Körperbau, seinen gebogenen Wimpern und seinem unverstellten Lächeln immer schön war. Er konnte nicht anders.

»Meinst du, das ist …«

»Essbar?«, beendete Beau naserümpfend den Satz für ihn. »Nein.«

»Das wollte ich doch gar nicht sagen!« Ansels Wangen färbten sich rosa, und er warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Äh … fertig wollte ich sagen. Meinst du, es ist fertig?«

»Selbe Antwort: nein.« Beau wandte sich voller Ekel ab und begann in seinem Bündel zu kramen. Dann richtete er sich triumphierend auf und hielt eine Handvoll Knoblauchzwiebeln in die Höhe. »Das hier wird heute mein Abendessen, vielen Dank«, sagte er und steckte sich eine in den Mund.

Ich setzte schon an, um ihm eine vernichtende Antwort zu geben, da legte Reid einen Arm um meine Schultern – schwer und warm und tröstlich – und hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe.

»Das Brot schmeckt bestimmt köstlich.«

»Genauso ist es.« Ich lehnte mich an ihn und sonnte mich in seinem Zuspruch. »Ganz besonders köstlich. Außerdem werden wir nicht den ganzen Tag wie Arsch, äh … Knoblauch miefen.« Ich lächelte Beau zuckersüß an, der mit der Hand auf halbem Weg zum Mund innehielt und finster zwischen mir und seiner Knoblauchzwiebel hin und her blickte. »Den Gestank wirst du erst mal nicht mehr los.«

Reid kicherte und beugte sich herab, um mich auf die Schulter zu küssen. Seine schläfrige, tiefe Stimme vibrierte auf meiner Haut: »Ein Stück den Weg hinauf soll es übrigens einen hübschen Bach geben, hab ich gehört.«

Instinktiv streckte ich ihm meinen Hals hin, und er drückte einen weiteren Kuss darauf, direkt unterhalb meines Kiefers. Mein Puls pochte an seinen Lippen. Ich achtete nicht auf Beau, der angewidert von unserer öffentlichen Zurschaustellung unserer Gefühle eine Schnute zog, und genoss einfach nur Reids Nähe. Seit ich nach den schrecklichen Ereignissen an Modraniht aufgewacht war, waren wir nicht mehr allein gewesen. »Da sollten wir vielleicht mal hingehen«, sagte ich leicht außer Atem. Reid zog sich zurück, wie immer viel zu früh. »Wir könnten unser Brot mitnehmen und … picknicken.«

Madame Labelle, die am anderen Ende des Lagers mit Coco in den Wurzeln einer alten Tanne saß und wichtige Dinge besprach, wandte sich uns abrupt zu. Die zwei hatten sich über ein Stück Pergament gebeugt, Schultern und Gesichter verrieten ihre Anspannung. Cocos Finger waren von Tinte und Blut gesprenkelt. Schon zweimal hatte sie Nachrichten an La Voisin ins Blutlager geschickt und um Asyl gebeten. Auf beide hatte ihre Tante nicht geantwortet. Ich bezweifelte, dass es bei der dritten Nachricht anders sein würde.

»Auf gar keinen Fall«, sagte Madame Labelle. »Ihr dürft das Lager nicht verlassen. Ich habe es verboten. Außerdem braut sich ein Sturm zusammen.«

Verboten. Mein Hasswort. Mir hatte keiner mehr was verboten, seit ich drei war.

»Darf ich euch daran erinnern«, fuhr sie herablassend und in schwer erträglichem Ton fort, »dass es im Wald immer noch von Chasseuren wimmelt, und die Hexen können auch nicht weit sein, selbst wenn wir bisher keine zu Gesicht bekommen haben. Ganz zu schweigen von der königlichen Garde. Die Nachricht, dass Florin an Modraniht gestorben ist …«

Reid und ich erstarrten eng umschlungen.

»… wird sich herumgesprochen haben, und das Kopfgeld auf euch ist mit Sicherheit erneut erhöht worden. Jetzt kennt jeder Bauer eure Gesichter. Ehe wir uns über unser weiteres Vorgehen geeinigt haben, dürft ihr dieses Lager nicht verlassen.«

Mir entging weder die subtile Art, wie sie das Wort ihr betonte, noch wie sie zwischen Reid und mir hin und her blickte. Uns war es verboten, das Lager zu verlassen. Unsere Konterfeis waren es, mit denen Saint-Loire gepflastert war – und inzwischen vermutlich auch jedes andere Dorf des Königreichs. Coco und Ansel hatten auf ihrem Fischzug nach Saint-Loire unsere Steckbriefe mitgehen lassen – einer zeigte Reids hübsches Gesicht, die Haare mit Färberkrapp rot eingefärbt, der andere meins.

Mir hatte der Künstler am Kinn eine Warze verpasst.

Finster drehte ich den Brotlaib um – die Unterseite war schwarz verbrannt. Einen Moment lang starrten alle darauf.

»Oh ja, Reid. Unglaublich köstlich.« Beau grinste breit.

Hinter ihm quetschte Coco aus ihrer Handfläche Blut auf die Nachricht. Das Pergament zischte und qualmte – und war mit einem Mal verschwunden. Das Blut beförderte es zu La Voisin und ihren Bluthexen, den Dames Rouges, wo immer sie ihr Lager aufgeschlagen haben mochten.

Beau wedelte mit den restlichen Zwiebeln direkt vor meiner Nase und lenkte mich ab. »Sicher, dass du nicht doch eine möchtest?«

Ich schlug sie ihm aus der Hand. »Verzieh dich.«

Reid knuffte mich und trat ans Feuer. Er fegte den verbrannten Laib vom Stein und schnitt mit fachmännischer Präzision eine Scheibe ab. »Musst es nicht essen«, sagte ich mürrisch.

Er grinste nur. »Bon appétit

Gebannt sahen wir zu, wie er sich das Brot in den Mund stopfte – und sofort zu würgen begann.

Beau prustete los.

Mit Tränen in den Augen bemühte Reid sich hastig, den Bissen herunterzuschlucken, während Ansel ihm auf den Rücken klopfte.

»Schmeckt prima«, versicherte er mir hustend. »Wirklich. Schmeckt wie …«

»Holzkohle?«, schlug Beau vor und krümmte sich vor Lachen, als er meinen Gesichtsausdruck sah.

Reid warf ihm einen wütenden Blick zu und trat Beau, nach wie vor würgend, in den Hintern. Der verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber zwischen Moos und Flechten auf den Waldboden. Hinten auf seiner Samthose zeichnete sich ein deutlicher Stiefelabdruck ab.

»Blödmann.«

Während Beau prustend um sich schlug und Matsch ausspuckte, gelang es Reid endlich, den Bissen hinunterzuschlucken.

Ehe er noch einmal zubeißen konnte, warf ich das Brot ins Feuer. »Deine Ritterlichkeit wurde vermerkt, Gatte mein, und eine angemessene Belohnung harret deiner.«

Erleichtert zog er mich in seine Arme. »Ich hätte es gegessen«, sagte er mit aufrichtigem Lächeln.

»Das will ich dir auch geraten haben.«

»Und jetzt müsst ihr alle hungern«, sagte Beau pampig.

Von wegen. Ich ignorierte das verräterische Knurren meines Magens und holte die Weinflasche heraus, die ich in Reids Rucksack versteckt hatte. Als Morgane mich auf den Stufen der Kathedrale Saint-Cécile de Cesarine entführt hatte, hatte sie mir keine Gelegenheit gelassen, ein paar Sachen für die Reise einzupacken. Ein Glück, dass ich mich gestern unterwegs zufällig ein bisschen zu weit vom Lager entfernt und mir bei einer Hausiererin einige nützliche Dinge besorgt hatte. Den Wein vor allem. Und neue Kleider. Zwar hatten Coco und Reid aus ihren Beständen für mich ein Ensemble zusammengestellt, sodass ich nicht mehr mein blutbesudeltes Festkleid tragen musste, doch ich war so abgemagert, dass ihre Kleidung an meinem klapperdürren Körper schlotterte, der in der Zeit im Chateau womöglich noch magerer geworden war. Bis jetzt hatte ich es geschafft, die Früchte meines kleinen Ausflugs in Reids Rucksack und unter dem Umhang, den Madame Labelle mir geliehen hatte, zu verbergen, aber irgendwann musste ich das Geheimnis lüften.

Nun war der richtige Zeitpunkt.

Reid starrte die Weinflasche an, sein Lächeln verschwand. »Was ist das?«

»Ein Geschenk natürlich. Weißt du nicht, was heute für ein Tag ist?« Entschlossen, den Abend zu retten, drückte ich die Flasche dem ahnungslosen Ansel in die Hände. Seine Finger schlossen sich um ihren Hals, er lächelte und errötete von Neuem. Mir ging das Herz auf. »Bon anniversaire, mon petit chou!«

»Aber ich habe doch erst nächsten Monat Geburtstag«, entgegnete er schüchtern, presste die Flasche dennoch an seine Brust. Man sah ihm die stille Freude an. »Niemand hat mir je …« Er räusperte sich und schluckte schwer. »Mir hat noch nie jemand etwas geschenkt.«

Ein Glücksgefühl breitete sich in meiner Brust aus.

Als ich ein Kind war, wurden meine Geburtstage im Chateau le Blanc wie Feiertage begangen. Aus dem ganzen Königreich reisten Hexen an, und wir tanzten gemeinsam im Mondschein, bis wir nicht mehr konnten, weil uns die Füße so wehtaten. Der Tempel war vom scharfen Duft der Magie eingehüllt, und meine Mutter überhäufte mich mit extravaganten Geschenken – ein Diadem aus Diamanten und Perlen in einem Jahr, ein Strauß Geisterorchideen im nächsten. Einmal teilte sie sogar die Fluten des Eau Mélancolique, damit ich über den Meeresboden spazieren konnte. Wasserfeen waren herbeigeschwommen und hatten ihre schönen, unwirklichen Gesichter gegen die Wasserwände gedrückt, um unsere Geburtstagsgesellschaft zu beobachten, hatten ihr leuchtendes Haar zurückgeworfen und ihre silbernen Fischschwänze aufblitzen lassen.

Schon damals wusste ich, dass meine Schwestern weniger mein Leben als meinen Tod feierten, und später – in meinen schwächeren Momenten – fragte ich mich, ob das auch für meine Mutter galt. »Wir beide stehen unter einem unheilvollen Stern, du und ich«, hatte sie an meinem fünften Geburtstag gemurmelt und mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Obwohl ich nicht mehr alle Einzelheiten im Kopf hatte – die Schatten in meinem Schlafzimmer, die kalte Nachtluft auf meiner Haut, das Eukalyptusöl in meinem Haar –, meinte ich, mich zu erinnern, dass ihr eine Träne über die Wange gelaufen war. Wegen dieser Momente, wenn sie Schwäche zuließ, wusste ich, dass meine Geburtstage für Morgane keineswegs Feiertage gewesen waren.

Es waren Tage der Trauer.

»Danke sagt man in solchen Fällen.« Coco pirschte heran, begutachtete die Weinflasche und warf ihre schwarzen Locken über eine Schulter zurück. Ansels Röte vertiefte sich. Coco machte einen Schmollmund und strich mit dem Zeigefinger anspielungsreich die Kurven der Flasche entlang, wobei sie ihre Kurven an seinen schlaksigen Körper presste. »Was haben wir denn für’n Jahrgang da?«

Bei ihrem schamlosen Auftritt verdrehte Beau nur die Augen und bückte sich nach seinen Knoblauchzwiebeln. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Die beiden hatten seit Tagen kein freundliches Wort miteinander gewechselt. Anfangs war es amüsant gewesen, Coco zuzusehen, wie sie den aufgeblasenen Prinzen mit ihren scharfzüngigen Bemerkungen zurechtstutzte, aber seit Neuestem zog sie Ansel in ihre Scharmützel hinein, und dafür musste ich sie sehr bald mal zur Rede stellen. Ich sah zu Ansel, der immer noch den Wein betrachtete und von einem Ohr zum anderen grinste.

Morgen. Morgen würde ich mit ihr reden.

Coco legte ihre Finger über die von Ansel und hob die Flasche etwas höher, um das zerbröckelnde Etikett zu studieren. Im Feuerschein erkannte man die unzähligen Narben auf ihrer braunen Haut.

»Boisaîné«, buchstabierte sie die kaum erkennbare Aufschrift. Mit dem Saum ihres Umhangs rieb sie etwas Schmutz weg. »Altholz, oder was?« Sie warf mir einen Blick zu. »Nie gehört. Reichlich alt ist er, das ist mal sicher. Hat bestimmt ein Vermögen gekostet.«

»Viel weniger, als man denken würde.« Wieder grinste ich über Reids misstrauischen Gesichtsausdruck und mopste ihr augenzwinkernd die Flasche. Eine mächtige Sommereiche zierte das Etikett, daneben stand ein riesenhafter Kerl mit Geweih und Hufen und einer Krone aus Zweigen. Er hatte leuchtend gelbe Augen und die Pupillen einer Katze.

»Sieht ja furchterregend aus«, kommentierte Ansel und beugte sich über meine Schulter, um das Etikett aus der Nähe zu betrachten.

»Der Wilde Mann.« Plötzlich erfasste mich unerwartet eine Welle der Sehnsucht. »Der Herr des Waldes, der König über Pflanzen und Tiere. Als Kind hat Morgane mir oft Geschichten über ihn erzählt.«

Der Name meiner Mutter wirkte schlagartig. Beau hörte abrupt auf, finster dreinzublicken. Ansel hörte auf, rot zu werden, und Coco hörte auf, Grimassen zu schneiden. Reid suchte das Walddunkel ringsum ab und griff nach dem Balisarda in seinem Messergurt. Sogar die Flammen des Feuers flackerten, als ob Morgane selbst einen kalten Hauch zwischen den Bäumen hindurchgeblasen hätte, um sie zu löschen.

Ich lächelte tapfer weiter.

Seit Modraniht hatten wir nichts mehr von Morgane gehört. Seit Tagen hatten wir keine Hexe mehr gesehen. Wobei wir, ehrlich gesagt, außer diesem Käfig aus Wurzeln überhaupt nicht viel zu Gesicht bekommen hatten. Allerdings konnte ich mich wirklich nicht über die Höhle beklagen. Auch wenn man nie allein war und ich Madame Labelles herrische Art nur schwer ertrug, war ich fast erleichtert, dass wir nichts von La Voisin hörten, denn so konnten wir erst mal verschnaufen. Außerdem hatten wir hier alles, was wir brauchten. Madame Labelles Zauberkraft schützte uns vor allen Gefahren – sie wärmte uns, verbarg uns vor neugierigen Blicken –, und Coco hatte in der Nähe den Bergbach entdeckt. Die Strömung verhinderte, dass er zufror, und früher oder später würde Ansel uns einen Fisch fangen.

Für den Moment war es, als lebten wir in einer eigenen Zeit, einem eigenen Raum, getrennt vom Rest der Welt. Morgane und ihre Dames Blanches, Jean Luc und seine Chasseure, sogar König Auguste – an diesem Ort existierten sie nicht. Niemand konnte uns etwas anhaben. Es war … seltsam friedlich.

Wie die Ruhe vor einem Sturm.

Als wäre es das Echo auf meine unausgesprochene Angst, sagte Madame Labelle erneut: »Ihr wisst, dass wir uns nicht ewig verstecken können.« Sie kam zu uns und kassierte die Flasche ein.

Coco und ich wechselten betrübt einen Blick. Noch eine einzige dieser schrecklichen Warnungen und ich würde Madame Labelle den Flaschenhals in den Schlund stecken und sie ersäufen.

»Deine Mutter wird dich finden. Wir allein können dich nicht vor ihr beschützen. Aber wenn wir Verbündete auftreiben und andere sich unserer Sache anschließen, dann könnten wir vielleicht …«

»Das Schweigen der Bluthexen sagt doch alles.« Ich schnappte mir die Flasche wieder und kämpfte mit dem Korken. »Sie werden nicht riskieren, sich Morganes Zorn zuzuziehen, indem sie sich unserer Sache anschließen. Was immer unsere Sache auch sein mag, verdammt.«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist. Selbst wenn Josephine sich weigert, uns zu helfen, gibt es andere mächtige Personen, die wir …«

»Ich brauche mehr Zeit«, unterbrach ich sie und deutete auf meine Kehle. Reids Zauberkraft hatte die Wunde geschlossen und mir das Leben gerettet, doch die dicke Schorfkruste war deutlich zu sehen, und es tat immer noch weh wie Sau. Aber das war nicht der Grund, weshalb ich hierbleiben wollte. »Du bist doch selbst kaum wiederhergestellt, Helene. Lass uns morgen weiterüberlegen.«

»Morgen.« Ihre Augen wurden schmal.

Seit Tagen hatte ich sie immer wieder auf morgen vertröstet, diesmal jedoch war es ernst gemeint – etwas anderes hätte Madame Labelle auch nicht mehr akzeptiert.

Wie um meine Gedanken zu bekräftigen, sagte sie: »Ja, morgen werden wir reden, ob La Voisin auf unsere Nachricht antwortet oder nicht. Abgemacht?«

Ich stieß mein Messer in den Korken und drehte so heftig, dass er quietschte. Die anderen zuckten zusammen. »Jemand durstig?«, fragte ich grinsend reihum. Ich schnippte Reid den Korken auf die Nase, der ihn ärgerlich wegschlug. »Ansel?«

Ansel riss die Augen auf. »Oh, ich weiß nicht …«

»Vielleicht sollten wir einen Nippel beschaffen.« Beau schnappte ihm die Flasche vor der Nase weg und nahm einen kräftigen Schluck. »Vielleicht schmeckt’s ihm dann.«

Ich prustete los. »Mensch, Beau …«

»Du hast recht. Mit einer Brust wüsste er sicher sowieso nix anzufangen.«

»Hast du überhaupt schon mal Alkohol getrunken, Ansel?«, fragte Coco neugierig.

Puterrot riss er Beau die Flasche aus der Hand und trank in großen Schlucken. Statt alles wieder auszuspucken, sperrte er seinen Mund auf und schüttete die Hälfte des Flascheninhalts in sich hinein. Als er fertig war, wischte er sich seelenruhig mit dem Handrücken die Lippen ab und reichte die Flasche an Coco weiter. Seine Wangen waren immer noch rosa.

»Geht runter wie Öl.«

Ich wusste nicht, was ich lustiger fand – Cocos und Beaus geplätteten Gesichtsausdruck oder Ansels selbstgefällige Miene. Begeistert klatschte ich in die Hände. »Gut gemacht, Ansel. Als du gesagt hast, du magst Wein, da hab ich ja nicht geahnt, dass du wie ein Fisch trinkst.«

Er zuckte die Achseln und schaute weg. »Ich lebe schon ewig in Saint-Cécile. Da lernt man, gern zu trinken.« Er blickte auf die Flasche in Cocos Hand. »Der schmeckt aber viel besser als alles, was man da so kriegt. Wo hast du den aufgetrieben?«

»Genau«, schaltete sich da Reid ein und seine Stimme klang nicht annähernd so amüsiert, wie es der Situation angemessen gewesen wäre. »Wo hast du den Wein aufgetrieben? Unter den Vorräten, die Coco und Ansel gekauft haben, war er nämlich nicht.«

Immerhin hatten die beiden Anstand genug, ahnungslos dreinzuschauen.

»Ach«, sagte ich und klimperte mit den Wimpern, während Beau die Flasche Madame Labelle hinhielt, die aber vornehm ablehnte. Sie erwartete meine Antwort. »Frag mich nicht, dann belüge ich dich nicht.«

Reid biss die Zähne zusammen, um seine Wut zu zügeln, und ich rüstete mich für die Inquisition. Auch wenn er keine blaue Uniform mehr trug, konnte er sich nicht zurückhalten. Gesetz war Gesetz. Egal, auf welcher Seite des Gesetzes er stand. Gesegnet sei er.

»Sag mir, dass du ihn nicht gestohlen hast«, forderte er. »Sag mir, dass du ihn in irgendeinem Loch gefunden hast.«

»Von mir aus. Ich habe den Wein nicht gestohlen. Ich habe ihn in irgendeinem Loch gefunden.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Lou.«

»Was?«, fragte ich unschuldig. Coco, die mir zu Hilfe kommen wollte, reichte mir die Flasche. Ich nahm einen langen Zug und betrachtete mit ungenierter Anerkennung Reids Bizeps, seinen kantigen Kiefer, seinen vollen Mund, sein kupferbraunes Haar. Ich streckte eine Hand aus und tätschelte ihm die Wange. »Du wolltest doch die Wahrheit gar nicht wissen.«

Er drückte meine Hand an sein Gesicht. »Jetzt schon.«

Ich sah ihn an, der Drang zu lügen, schwappte wie eine Flutwelle durch meinen Hals nach oben. Aber … nein. Missbilligend wies ich den niederen Instinkt in seine Schranken.

Reid hielt mein Schweigen für Bockigkeit und kam näher, um eine Antwort zu fordern. »Hast du ihn gestohlen, Lou? Die Wahrheit, bitte.«

»Also, das triefte vor Herablassung. Wollen wir das noch mal versuchen?«

Verzweifelt seufzend drehte er den Kopf zur Seite und küsste meine Finger. »Du bist unmöglich.«

»Unpraktisch vielleicht, unwahrscheinlich, aber niemals unmöglich.« Ich stellte mich auf Zehenspitzen und drückte meine Lippen auf seine. Er schüttelte den Kopf und gluckste vergnügt, beugte sich tief vor, um mich in seine Arme zu schließen und den Kuss zu erwidern. Köstliche Hitze durchströmte mich, und ich musste mich wahnsinnig zusammenreißen, um ihn nicht zu Boden zu werfen und über ihn herzufallen.

»Mein Gott«, sagte Beau angewidert. »Das sieht ja aus, als würde er ihr Gesicht essen.«

Madame Labelle entschied sich, nicht hinzuhören. Ihre Augen, so vertraut und blau, leuchteten vor Wut.

»Beantworte die Frage, Louise«, forderte sie scharf.

Ich erstarrte, und zu meiner Überraschung tat Reid es mir nach. Langsam wandte er sich ihr zu.

»Hast du das Lager verlassen?«

Reid zuliebe bemühte ich mich, freundlich zu bleiben. »Ich habe nichts gestohlen. Zumindest …« Ich zuckte die Schultern und nötigte mir ein ungezwungenes Lächeln ab. »… nicht den Wein. Ich habe ihn heute Morgen mit ein paar von Reids Goldkronen bei einer Hausiererin auf der Straße gekauft.«

»Du hast meinen Sohn bestohlen?«

Reid streckte beschwichtigend eine Hand aus. »Immer mit der Ruhe. Sie hat nichts …«

»Er ist mein Mann«, sagte ich und hob zum Beweis die linke Hand, wo ihr Perlmuttstein an meinem Ringfinger schimmerte. Vom vielen Lächeln tat mir langsam der Kiefer weh. »Was mein ist, ist sein, und was sein ist, ist mein. Lautet so nicht das Gelübde, das wir abgelegt haben?«

»Ja, so ist es.« Reid nickte rasch und warf mir einen beruhigenden Blick zu, dann starrte er Madame Labelle an. »Alles, was mir gehört, gehört auch ihr.«

»Aber ja, mein Sohn.« Sie lächelte gequält. »Obwohl ich mich verpflichtet fühle, darauf hinzuweisen, dass ihr beiden vor dem Gesetz nicht wirklich verheiratet wurdet. Louise hat einen falschen Namen in die Heiratsurkunde eintragen lassen, weshalb der Vertrag nichtig ist. Wenn du dich dennoch entscheidest, deinen Besitz mit ihr zu teilen, so steht dir das natürlich frei, aber fühle dich in keiner Weise verpflichtet. Besonders wenn sie weiterhin mit ihrem impulsiven, rücksichtslosen Verhalten dein und unser aller Leben gefährdet.«

Jetzt lächelte ich nicht mehr. »Die Kapuze meines Umhangs hat mein Gesicht verborgen. Die Frau hat mich nicht erkannt.«

»Und wenn doch? Was, wenn die Chasseure oder die Dames Blanches uns heute Nacht angreifen?« Als ich keine Anstalten machte, ihr zu antworten, seufzte sie und fuhr leise fort: »Ich verstehe, dass du dich dem nicht gern stellst, Louise, aber die Augen davor zu verschließen heißt nicht, dass die Ungeheuer dich nicht mehr sehen können. Blind bist dann nur du.« Und noch leiser: »Du hast dich lange genug versteckt.«

Plötzlich konnte ich keinen mehr anschauen. Ich ließ die Arme sinken, die bis eben um Reids Nacken gelegen hatten. Sofort vermissten sie seine Wärme. Als er näher kam, wie um mich wieder an sich zu ziehen, nahm ich noch einen Schluck Wein. »In Ordnung«, sagte ich schließlich und zwang mich, ihrem hartherzigen Blick zu begegnen. »Ich hätte das Lager nicht verlassen dürfen, aber ich hätte Ansel ja schlecht bitten können, sich sein Geburtstagsgeschenk selbst zu kaufen. Geburtstage sind heilig. Morgen überlegen wir uns, wie es weitergeht.«

»Aber ich habe wirklich erst nächsten Monat Geburtstag«, sagte Ansel leutselig. »Das musste jetzt nicht sein.«

»Doch, es musste. Vielleicht gibt’s uns ja …« Ich hielt inne und biss mir auf meine lockere Zunge, doch es war zu spät. Obwohl ich sie nicht laut ausgesprochen hatte, schallten die Worte durchs Lager. Vielleicht gibt’s uns ja nächsten Monat gar nicht mehr. Ich hielt ihm wieder den Wein hin und versuchte es noch einmal. »Feiern wir, Ansel. Man wird nicht jeden Tag siebzehn.«

Ansel sah Madame Labelle an, als wollte er um Erlaubnis bitten. Sie nickte bitter.

»Morgen, Louise.«

»Natürlich.« Endlich nahm ich Reids Hand und erlaubte ihm, mich an sich zu ziehen, wobei ich erneut ein scheußliches Lächeln vortäuschte. »Morgen.«

Reid küsste mich – heftiger diesmal, leidenschaftlicher, als ob er etwas zu beweisen hätte. Oder etwas zu verlieren. »Heute Abend wird gefeiert.«

Als die Sonne hinter den Bäumen unterging, frischte der Wind weiter auf, und die Wolken ballten sich immer mehr.

GESTOHLENE MOMENTE

Reid

Die Wange an meine Brust gedrückt, ihr Haar wild über meine Schulter drapiert, schlief Lou wie eine Tote. Sie atmete regelmäßig und tief. So friedlich wie in diesem Moment war sie selten, wenn sie wach war. Ich strich ihr über den Rücken und sog ihre Wärme ein, zwang mich, an nichts zu denken und die Augen geöffnet zu halten, ja, nicht mal zu blinzeln. Ich saß einfach da und blickte in die Ferne, während sich über mir die Bäume im Wind wiegten. Schaute ins Nichts. Fühlte nichts. Wie betäubt.

Seit Modraniht hatte ich kaum geschlafen. Und wenn doch, hatte ich mir gewünscht, ich wäre wach.

Meine Träume waren düster und verstörend geworden.

Ein kleiner Schatten löste sich aus den Kiefern und hockte sich neben mich. Absalon hatte Lou ihn genannt. Ich hatte ihn anfangs einfach für eine schwarze Katze gehalten, aber sie hatte mich schnell eines Besseren belehrt. Absalon war keine Katze, sondern ein Matagot. Ein ruheloser Geist, der – unfähig zu sterben – die Gestalt eines Tiers angenommen hatte. »Sie fühlen sich zu Geschöpfen hingezogen, die mit ihnen resonieren«, hatte Lou mir erklärt und ihn nachdenklich betrachtet. »Seelen in Not. Einer von uns beiden scheint ihn anzuziehen.«

Ihr vielsagender Blick hatte keinen Zweifel gelassen, dass sie sich sicher war, wer.

»Geh weg.« Ich stupste die widernatürliche Kreatur mit dem Ellbogen an. »Husch.«

Er sah mich nur aus seinen unheilvollen bernsteingelben Augen an. Als ich seufzend nachgab, rollte er sich an meiner Seite zusammen und schlief ein.

Absalon. Mit einem Finger strich ich über seinen Rücken und ärgerte mich, als er zu schnurren anfing. Ich bin nicht in Not.

Nicht recht überzeugt starrte ich erneut auf die Bäume.

Verloren in meinen lähmenden Gedanken, bemerkte ich gar nicht, wie Lou sich bald darauf zu rühren begann. Erst als sie sich auf einen Ellbogen stützte und sich über mich beugte und ihr Haar mein Gesicht kitzelte, kam ich wieder zu mir. Mit tiefer Stimme, die weich vom Schlaf und süß vom Wein war, sagte sie: »Du bist ja wach.«

»Ja.«

Alarmiert sah sie mich an, und meine Kehle schnürte sich unwillkürlich zusammen. Als sie zu sprechen ansetzte, kam ich ihr mit den ersten Worten zuvor, die mir in den Sinn schossen: »Was ist eigentlich mit deiner Mutter passiert?«

Sie blinzelte: »Hä?«

»Ich meine, war sie schon immer so …?«

Mit einem Seufzer legte sie ihr Kinn auf meine Brust und spielte mit dem Perlmuttring an ihrem Finger. »Nein. Ich weiß es nicht. Können Menschen böse geboren werden?« Sie sah mich an, und als ich den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Ich glaube das auch nicht. Ich glaube, sie hat sich irgendwo auf dem Weg verloren. Passiert schon mal, wenn man sich mit Magie beschäftigt.« Meine Muskeln verspannten sich, und sie drehte sich zu mir. »Nicht wie du denkst. Magie ist nicht … also, es ist wie bei allem anderen auch. Das Zuviel macht aus einer guten Sache eine schlechte. Es kann süchtig machen. Meine Mutter hat sich in die Macht verliebt, nehme ich an.« Sie lachte kurz auf. Bitter. »Und wenn für uns alles eine Frage von Leben und Tod ist, wird der Einsatz höher. Je mehr wir gewinnen, desto mehr verlieren wir.«

Je mehr wir gewinnen, desto mehr verlieren wir.

»Verstehe«, sagte ich, aber das stimmte nicht. Nichts verstand ich, und nichts an dieser Regel gefiel mir. Warum dann überhaupt das Risiko eingehen und zaubern?

Als ob sie meinen Widerwillen spürte, richtete sie sich auf und sah mir ins Gesicht. »Es ist ein Geschenk, Reid. Es verbirgt sich so viel mehr dahinter als das, was dir bislang davon offenbart wurde. Magie ist schön und wild und frei. Ich kann deine Zurückhaltung nachvollziehen, aber du kannst dich nicht für immer davor verschließen. Sie ist ein Teil von dir.«

Die Antwort blieb mir im Halse stecken, ich brachte keinen Ton heraus.

»Möchtest du vielleicht darüber reden, was passiert ist?«, fragte sie leise.

Ich strich durch ihr Haar und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Nicht heute Abend.«

»Reid …«

»Morgen.«

Sie seufzte erneut, doch zum Glück beharrte sie nicht auf dem Thema. Sie kraulte Absalon den Kopf und legte sich wieder hin. Gemeinsam starrten wir auf die Himmelsflecken zwischen den Bäumen. Ich überließ mich wieder der leeren Stille meiner Gedanken. Ob für Augenblicke oder Stunden, hätte ich nicht sagen können.

»Meinst du …« Lous sanfte Stimme rief mich zurück in die Gegenwart. »Glaubst du, es gibt ein Begräbnis?«

»Ja.«

Ich musste nicht fragen, wessen Begräbnis sie meinte.

»Trotz seines Endes?«

Eine schöne Hexe, getarnt als junge Maid, lockte den Mann alsbald auf den Pfad der Hölle. Der Gedanke an den Auftritt der Ye Olde Sisters versetzte meiner Brust einen Stich. Die strohhaarige Erzählerin, dreizehn, höchstens vierzehn Jahre alt. Die Teufelin in Person, verkleidet nicht als Dirne, sondern als Jungfrau. So unschuldig hatte sie ausgesehen, als sie unser Urteil verkündete. Beinah engelsgleich.

Bald schon wurde er heimgesucht von der Hexe, die er so beschimpft hatte, mit der Kunde, sie habe sein Kind geboren.

»Ja.«

»Aber … er war mein Vater.« Sie stockte.

Ich drehte mich auf die Seite und umfing ihren Nacken mit einer Hand, hielt sie ganz fest, meine aufwallenden Gefühle drohten mich zu ersticken. Verzweifelt kämpfte ich darum, die Festung, die ich um mich errichtet hatte, zurückzuerobern und mich in ihre glückseligen Tiefen zurückzuziehen.

»Er hat sich mit der Dame des Sorcières vereint. Mit einer Hexe. Wie kann der König ihn da ehren?«

»Niemand kann das beweisen. Und wegen der Anschuldigungen einer Hexe wird König Auguste nicht den Stab über einen Toten brechen.« Die Worte rutschten mir heraus, ehe ich es verhindern konnte. Der Tote. Mein Griff um Lous Nacken wurde fester, als sie meine Wange umfasste – nicht, damit ich sie anschaute, sondern einfach nur, um mich zu berühren. Um die Verbindung nicht zu verlieren. Ich schmiegte mich an ihre Hand.

Eine Weile betrachtete sie mich still, und wir verharrten in dieser unendlich sanften, ewig andauernden Berührung.

»Reid«, sagte sie dann.

Der Nachhall dieses einen Wortes klang schwer. So erwartungsvoll.

Ich konnte mich nicht überwinden, sie anschauen. Ich konnte die Hingabe nicht ertragen, die mir aus diesen vertrauten Augen entgegensah. Seinen Augen. Selbst wenn sie es noch nicht begriff, selbst wenn es sie jetzt noch nicht kümmerte – eines Tages würde sie mich hassen für das, was ich getan hatte. Er war ihr Vater.

Und ich hatte ihn getötet.

»Sieh mich an, Reid.«

Erinnerungen blitzten auf, ungebeten. Mein Messer, das sich in seine Rippen bohrt. Sein Blut, das mein Handgelenk hinunterfließt. Warm. Dick. Nass. Als ich mich ihr zuwandte, schaute sie mich mit ihren blaugrünen Augen ruhig an. Entschlossen.

»Bitte«, flüsterte ich. Zu meiner Schande – meiner Demütigung – brach meine Stimme. Peinliche Hitze stieg mir ins Gesicht. Worum ich sie bat, wusste ich selbst nicht. Bitte frag mich nicht. Bitte zwing mich nicht, es auszusprechen. Und dann, eine Klage, die durch den Schmerz schnitt und alles andere übertönte:

Bitte mach, dass es weggeht.

Eine Welle der Rührung zeigte sich auf ihrem Gesicht – so schnell, dass ich es fast nicht mitbekommen hätte. Dann hob sie ihr Kinn, in den Augen ein verschlagenes Funkeln. Im nächsten Moment stieg sie auf mich und legte mir einen Finger auf die Lippen. Ihr Mund öffnete sich, und sie leckte sich die Unterlippe.

»Ach, mon petit oiseau, was grämst du dich in diesen Tagen.« Sie beugte sich tiefer und strich mir mit ihrer Nasenspitze übers Ohr, lenkte meine Gedanken in eine andere Richtung, entsprach meinem unausgesprochenen Flehen. »Ich kenne da ein Heilmittel.«

Absalon fauchte empört und verkrümelte sich.

Als sie anfing, mich zu berühren, ihren Körper an meinem zu reiben – so sanft, dass es fast nicht zum Aushalten war –, wich mir alles Blut aus dem Gesicht. Ich schloss die Augen und biss mir aus Furcht vor dem Gefühl auf die Lippen. Vor der Hitze. Meine Finger bohrten sich in ihre Hüften, um sie aufzuhalten.

Ein Stück entfernt seufzte jemand leise im Schlaf.

»Das können wir hier doch nicht machen.« Obwohl ich nur flüsterte, hallte meine Stimme viel zu laut durch die Stille. Lou grinste nur und drückte sich noch fester an meinen Körper – an alle Stellen –, bis meine Hüften ihre Bewegung erwiderten und eins mit ihren wurden. Einmal. Zweimal. Dreimal. Erst langsam, dann immer schneller. Ich ließ den Kopf nach hinten auf den kalten Boden fallen und atmete schneller, die Augen nach wie vor geschlossen. Leises Stöhnen entwand sich meiner Kehle. »Man könnte uns sehen.«

Statt darauf einzugehen, zerrte sie an meinem Gürtel. Ich öffnete die Augen, um zuzusehen, drängte mich ihr entgegen und schwelgte in der Berührung. Schwelgte in ihr.

Jemand hüstelte.

»Und wenn schon«, sagte sie keuchend. »Das ist mir egal.«

»Lou …«

»Soll ich aufhören?«

»Nein.« Meine Hände packten ihre Hüften, rasch setzte ich mich auf und küsste sie leidenschaftlich.

Erneutes Hüsteln, diesmal lauter. Ich registrierte es kaum. Ihre Hand war in meiner offenen Hose, ihre Zunge drängte heiß gegen meine. Ich hätte jetzt nicht aufhören können, selbst wenn ich gewollt hätte. Das heißt, bis plötzlich …

»Hör auf.« Das Wort entwand sich meiner Kehle, ich zog mich zurück und riss ihr Becken hoch, weg von meinem. Das alles ging mir zu weit, zu schnell, mit zu vielen Menschen drum herum. Als ich aus tiefstem Innern böse fluchte, sah sie mich fragend an und legte unwillkürlich die Hände auf meine Schultern, um die Balance zu halten. Ihre Lippen waren geschwollen, die Wangen gerötet. Wieder schloss ich die Augen und dachte krampfhaft an alles Mögliche, um nur nicht an Lou denken zu müssen. An verfaultes Fleisch, kannibalische Heuschrecken, faltige, schlaffe Haut. An die Worte »klamm«, »Quark«, »Schleim.« Triefender Schleim, ja, oder, oder …

Mutter.

Die Erinnerung an unsere erste Nacht hier in der Höhle blitzte klar und deutlich auf:

»Es ist mir ernst«, warnt Madame Labelle, nachdem sie uns beiseitegenommen hat, »keinesfalls schleicht ihr euch davon für ein heimliches Stelldichein. Der Wald ist gefährlich. Die Bäume haben Augen.«

Lou lacht nur herzlich, wohingegen ich am liebsten im Boden versunken wäre.

»Ich weiß, dass ihr zwei euch körperlich zueinander hingezogen fühlt – versucht nicht, es zu leugnen«, fährt Madame Labelle – meine Mutter – fort, sodass sich mein Gesicht scharlachrot färbt, »aber egal, wie sehr eure Körper auch danach verlangen, die Gefahr außerhalb dieses Lagers ist zu groß. Also haltet euch bis auf Weiteres zurück.«

Ohne etwas zu erwidern, gehe ich eilig davon, Lous Lachen noch immer in den Ohren.

Madame Labelle folgt mir unbeeindruckt. »Solche Triebe sind ganz natürlich.« Sie muss sich anstrengen, um mit mir Schritt zu halten, und Beau ausweichen, der sich ebenfalls den Bauch vor Lachen hält. »Wirklich, Reid, diese Unreife ist höchst abstoßend. Du bist doch vorsichtig, nicht wahr? Vielleicht sollten wir uns einmal offen über die Frage unterhalten, welche Verhütungsmittel …«

Genau. Das war’s.

Der Druck, der sich in mir aufgebaut hatte, ließ nach, nur dumpfer Schmerz blieb.

Ich atmete tief aus und setzte Lou langsam auf meinem Schoß ab. Wieder ein Hüsteln aus Richtung Beau. Unüberhörbar. Unverblümt, hellwach. Doch Lou harrte aus. Ihre Hand glitt erneut nach unten.

»Stimmt was nicht, mein Ehemann?«

Ich stoppte ihre Hand auf Höhe meines Nabels und starrte Lou an. Nase an Nase. Lippen vor Lippen. »Biest.«

»Ach ja? Dann pass mal auf …«

Genervt seufzend richtete Beau sich auf und unterbrach unser Treiben: »Hallo! Ja, ihr da! Verzeihung! Anscheinend ist es euch entgangen, aber hier sind noch mehr Leute anwesend!« Wie zu sich selbst fügte er hinzu: »Obwohl diese anderen Leute vermutlich bald verschrumpelt und an Enthaltsamkeit gestorben sein werden.«

Lou sah mich schelmisch an. Sie blickte gen Himmel, wo schon das unheimliche Grau zu sehen war, das der Morgendämmerung vorangeht, dann schlang sie ihre Arme um meinen Hals.

»Die Sonne geht gleich auf«, flüsterte sie mir ins Ohr. Die Härchen auf meinem Nacken stellten sich auf. »Wollen wir vielleicht zum Bach gehen und … ein Bad nehmen?«

Widerstrebend sah ich zu Madame Labelle. Weder unser Geturtel noch Beaus Ausbruch hatte sie geweckt. Sogar im Schlaf strahlte sie königliche Anmut aus. Eine als Puffmutter verkleidete Königin, nicht über ein Königreich präsidierend, sondern über ein Bordell. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn sie meinen Vater vor seiner Hochzeit kennengelernt hätte? Und meins vor allem? Angewidert von mir selbst sah ich weg. »Meine Mutter hat uns verboten, das Lager zu verlassen.«

Lou saugte sanft an meinem Ohrläppchen, sodass ich erschauerte.

»Was Madame Labelle nicht weiß, macht sie nicht heiß. Außerdem …« Mit dem Finger berührte sie den Schorf hinter meinem Ohr, an meinem Handgelenk und dann die Male auf meinen Ellbogen, meinen Knien, meinem Hals. Die Male, die wir alle seit Modraniht trugen. Vorsichtshalber, als Schutz. »Cocos Blut wird uns verbergen.«

»Das Wasser wird es wegspülen.«

»Ich kann auch zaubern, ja? Und du ebenfalls. Wenn’s drauf ankommt, können wir uns schützen.«

Und du ebenfalls.

Unwillkürlich zuckte ich zusammen und versuchte, es zu verbergen, sie bekam es trotzdem mit.

Sie schloss die Augen. »Irgendwann musst du lernen, deine magischen Kräfte zu nutzen. Versprich es mir.«

Ich zwang mir ein Lächeln ab und kniff sie leicht. »Na klar.«

Ärgerlich glitt sie von meinem Schoß und schlug heftiger als nötig ihre Decke beiseite. »Gut. Du hast ja gehört, was deine Mutter gesagt hat. Morgen ist hier Schluss.«

Eine Vorahnung von Unheil packte mich bei diesen Worten, bei ihrem Gesichtsausdruck. Natürlich wusste ich, dass wir nicht unendlich lange hierbleiben und einfach warten konnten, bis Morgane oder die Chasseure uns gefunden hatten, doch bis jetzt hatten wir keinerlei Plan, was wir stattdessen tun wollten. Keinen Plan und keine Verbündeten. Und im Gegensatz zu meiner Mutter, die da scheinbar unbesorgt war, hatte ich nicht die geringste Idee, wie wir welche finden sollten. Warum sollten sich uns andere Hexen im Kampf gegen Morgane anschließen? Schließlich verfolgten sie das gleiche Ziel wie sie – alle zu töten, unter deren Verfolgung sie zu leiden hatten.

Schwer seufzend drehte Lou sich weg und rollte sich ganz klein zusammen, ihr Haar fächerte sich hinter ihr auf, eine Schleppe aus Kastanienbraun und Gold. Ich schob meine Finger hinein und versuchte, Lou zu beruhigen, die plötzliche Spannung in ihren Schultern zu lösen, die Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme. Eine hoffnungslose Lou, das gab’s doch nicht – genauso wenig wie einen weltgewandten Ansel oder eine hässliche Cosette.

»Ich wünschte«, flüsterte sie, »wir könnten hier für immer sein. Aber je länger wir bleiben, desto mehr fühlt es sich an, als müssten wir um unsere Momente des Glücks kämpfen. Als gehörten uns diese Momente gar nicht.« Sie lag da und ballte die Fäuste. »Irgendwann wird sie sie zurückfordern. Und wenn sie sie aus unseren Herzen schneiden muss.«

Ich ließ meine Finger in ihrem Haar, bemühte mich, langsam, maßvoll zu atmen – schluckte die Wut, die jedes Mal hochkam, wenn ich an Morgane dachte, herunter. Dann umfasste ich Lous Kinn und zwang sie, mich anzuschauen, meine Worte zu fühlen. Mein Versprechen. »Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben. Wir werden nicht zulassen, dass dir etwas passiert.«

»Iiich?«, sagte sie selbstironisch. »Ich habe keine Angst vor ihr. Ich …« Plötzlich wand sie ihr Kinn aus meinem Griff. »Ach, egal. Es ist erbärmlich.«

»Lou.« Ich massierte ihren Nacken, um sie zu entspannen. »Du kannst es mir sagen.«

»Reid, mein Schatz.«

Sie nahm meinen sanften Ton auf und warf mir über die Schulter ein zuckersüßes Lächeln zu. Ich erwiderte es und nickte ermutigend. Und dann stieß sie mir, nach wie vor lächelnd, kräftig den Ellbogen in die Rippen.

»Hau bloß ab.«

»Lou …«, rief ich empört.

»Lass es einfach, ja?«, blaffte sie. »Ich will nicht darüber reden.«

Eine Weile starrten wir uns an, wobei ich mir meine geprellte Rippe rieb.

Schließlich atmete sie tief aus. »Hör zu, vergiss, was ich gesagt habe. Das ist im Moment nicht wichtig. Die anderen werden bald aufstehen, dann überlegen wir uns einen Plan. Es geht mir gut. Wirklich.«

Aber das stimmte nicht, es ging ihr nicht gut. Uns beiden nicht.

Gott, ich wollte sie einfach nur im Arm halten.

Mit zitternder Hand strich ich mir übers Gesicht, dann sah ich zu Madame Labelle hinüber. Sie schlief. Auch Beau lag wieder unter seiner Decke verborgen und hatte die Welt ringsum vergessen. Gut. Ehe ich meine Meinung ändern konnte, zog ich Lou hoch und in meine Arme.

Bis zum Bach war es nicht weit. Wir konnten hingehen und zurück sein, ehe jemand unsere Abwesenheit bemerkte. »Es ist noch nicht morgen.«

EINE ALARMGLOCKE

Reid

Faul und zufrieden trieb Lou auf dem Wasser – die Augen geschlossen, die Arme weit ausgestreckt. Ihr Haar schwamm dicht und schwer um sie herum. Schneeflocken betupften sanft die Oberfläche, sammelten sich in ihren Wimpern, auf ihren Wangen. Von Wasserfeen hatte ich bisher nur auf den alten Grabsteinen von Saint-Cécile gelesen und noch nie eine gesehen, doch so mussten sie aussehen, stellte ich mir vor. Wie Lou in diesem Moment. Wunderschön. Ätherisch.

Nackt.

Wir hatten unsere Kleider am gefrorenen Ufer des Teichs abgelegt. Kurz darauf hatte Absalon sich materialisiert und sich darin eingemummelt. Wir wussten nicht, wohin er ging, wenn er seine körperliche Erscheinung ablegte. Lou sorgte sich deshalb mehr als ich.

»Magie hat auch Vorteile, hm?«, murmelte sie und ließ einen Finger durchs Wasser streichen, aus dem Dampf emporkräuselte. »Normalerweise wären wir längst tiefgefroren, da unten vor allem.« Sie grinste und öffnete träge ein Auge. »Soll ich’s dir zeigen?«

Ich hob eine Braue. »Ich hab von hier einen ganz guten Überblick.«

Sie feixte. »Ferkel. Wie man zaubert, meinte ich.«

Da ich nichts sagte, ließ sie sich nach vorn kippen und trat Wasser, denn sie konnte dort nicht stehen. Ich schon, mir reichte es nur bis zum Hals. »Möchtest du lernen, wie man Wasser erhitzt?«, fragte sie.

Diesmal war ich bereit. Ich schreckte nicht zurück, zögerte nicht. Überwindung kostete es mich trotzdem. »Klar.«

Sie musterte mich streng. »Das kommt nicht gerade begeistert rüber, Ritterlein.«

»Tut mir leid.« Ich sank tiefer ins Wasser und schwamm langsam auf sie zu. Wolfsmäßig. »Oh du Strahlende, bitte offenbare mir deine großen magischen Fähigkeiten. Keinen Moment länger ertrage ich die Unwissenheit, sonst muss ich gewiss sterben … So besser?«

»Sehr viel besser.« Sie prustete und reckte ihr Kinn. »Also, was weißt du über Magie?«

»Genauso viel wie letzten Monat.« War es erst einen Monat her, dass sie mir diese Frage zuletzt gestellt hatte? Es kam mir vor wie in einem anderen Leben. Alles hatte sich geändert. Manchmal wünschte ich, es wäre nicht so. »Nichts.«

»Unsinn.«

Sie öffnete ihre Arme, und ich legte sie um meinen Nacken. Ihre Beine schlossen sich um meine Taille. Eine Stellung, die weniger sinnlich war als … intim. So nah waren wir uns, dass ich jede Sommersprosse auf ihrer Nase zählen konnte. Ich sah die Wassertropfen, die an ihren Wimpern klebten. Ich musste all meine Entschlossenheit zusammennehmen, um sie nicht wieder zu küssen.

»Du weißt mehr, als du denkst. Immerhin reist du seit zwei Wochen mit deiner Mutter, mit Coco und die meiste Zeit auch mit mir, und an Modraniht …«

Sie stoppte brüsk und täuschte einen ausgeklügelten Hustenanfall vor. Mir rutschte das Herz in die Hose. Und an Modraniht hast du mit deiner Zauberkraft den Erzbischof getötet.

Sie räusperte sich. »Ich weiß nur, dass du sehr aufmerksam warst. Du hast einen messerscharfen Verstand.«

»Messerscharf«, echote ich und zog mich in meinen Panzer zurück.

Sie wusste ja nicht, wie recht sie hatte.

Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, dass sie eine Erwiderung erwartete. Ich sah weg, unfähig, in diese Augen zu schauen. Sie schimmerten blau, fast grau. So vertraut. So … verraten.

Als könnten sie meine Gedanken lesen, rauschten plötzlich die Blätter an den Bäumen um uns herum, und ich hätte schwören können, dass ich ihn über dem Wind flüstern hörte …

Du warst wie ein Sohn für mich, Reid.

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.

»Hast du das gehört?« Panisch sah ich mich um und presste Lou fest an mich. Ihre Haut war glatt, von Gänsehaut keine Spur. »Hast du ihn gehört?«

Sie erstarrte. Ihr Körper verkrampfte sich, und sie sah sich mit großen Augen um. »Wen gehört?«

»Ich … ich dachte, ich hätte …« Ich schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Der Erzbischof war tot. Meine Fantasie hatte mir einen Streich gespielt. Von einem Augenblick zum anderen waren die Blätter völlig still, und die Brise – falls es überhaupt eine gegeben hatte – erstarb. »Nichts«, sagte ich, schüttelte noch einmal bekräftigend den Kopf und wiederholte dieses Wort, als ob es dadurch wahr würde. »Es war nichts.«

Und doch … in der würzigen, nach Kiefern duftenden Luft blieb etwas zurück. Eine Vorahnung. Etwas, das uns beobachtete.

Das ist lächerlich, tadelte ich mich.

Ich ließ Lou nicht los.

»Die Bäume in diesem Wald haben Augen«, wiederholte sie nachdenklich, was Madame Labelle am Tag zuvor gesagt hatte. Immer noch misstrauisch, sah sie sich um. »Sie können … Dinge in deinem Kopf wahrnehmen und sie verdrehen. Ängste in Ungeheuer verwandeln.« Sie erschauerte. »Als ich das erste Mal geflohen bin, in der Nacht meines sechzehnten Geburtstags, da dachte ich, ich würde den Verstand verlieren. All die Dinge, die ich damals wahrgenommen habe …«

Sie verstummte, ihr Blick richtete sich nach innen.

Ich wagte nicht zu atmen. Darüber hatte sie zuvor nie gesprochen. Nie hatte sie etwas über die Zeit erzählt, bevor sie nach Cesarine gekommen war. Ihre nackte Haut berührte meine, und doch trug sie ihre Geheimnisse wie eine Rüstung und legte sie für niemanden ab. Nicht einmal für mich. Besonders nicht für mich. Die Szenerie um uns herum – der Teich, die Bäume, der Wind – verschwand, da war nur noch Lous Gesicht, ihre Stimme, während sie sich in der Erinnerung verlor. »Was hast du wahrgenommen?«, fragte ich sanft.

Sie zögerte. »Deine Brüder und Schwestern.«

Jemand hielt hörbar die Luft an.

Ich selbst.

»Es war schrecklich«, fuhr sie nach kurzem Zögern fort. »Ich war blind vor Panik, und überall war mein Blut. Meine Mutter war hinter mir her. Ich hörte ihre Stimme aus den Bäumen – ihren Spionen, hatte sie einmal im Scherz gesagt –, aber ich wusste nicht, was real war und was nicht. Ich wusste nur, dass ich immer weiter fliehen musste. Dann setzten die Schreie ein. Grauenhafte Schreie. Eine Hand schoss aus dem Boden und packte mich am Knöchel. Ich fiel hin, und dieser … dieser Leichnam kletterte auf mich.«

Bei der Vorstellung wurde mir übel, doch ich ließ es mir nicht anmerken, denn ich wagte nicht, sie zu unterbrechen.

»Er hatte goldenes Haar, und seine Kehle … sah aus wie meine. Er krallte sich an mich und flehte mich an, ich solle ihm helfen … aber seine Stimme war merkwürdig, wegen des …« Sie berührte die Narbe an ihrem Hals. »Wegen des Bluts natürlich. Es gelang mir, mich von ihm loszureißen, doch es kamen mehr und mehr, ein nicht enden wollender Strom.« Sie ließ meinen Nacken los, sodass ihre Hände zwischen uns schwebten. »Ich erspare dir die blutigen Details. War ja sowieso nichts davon Wirklichkeit.«

Ich starrte auf ihre zum Himmel gerichteten Handflächen im Wasser. »Du hast gesagt, die Bäume seien Morganes Spione.«

»Das hat sie mal behauptet.« Wie abwesend hob sie eine Hand. »Aber keine Sorge. Madame Labelle hat unser Lager unsichtbar gemacht, und Coco …«

»Sie haben uns jetzt eben gesehen. Die Bäume, meine ich.« Ich griff nach ihrem Handgelenk und betrachtete die verschmierten Blutmale. An einigen Stellen hatte das Wasser sie bereits fortgewaschen. Ich sah auf meine … »Wir müssen gehen. Sofort.«

Entsetzt starrte Lou auf die blitzsaubere Haut an meinen Gelenken. »Verdammt. Ich hab dir doch gesagt, du sollst darauf aufpassen.«

»Ob du’s glaubst oder nicht, ich hatte anderes im Kopf«, blaffte ich und trug sie ans Ufer. Dumm. Wir waren so dumm. Zu abgelenkt, zu sehr aufeinander konzentriert – im Hier und Jetzt –, um die Gefahr zu erkennen. Lou wand sich, um sich aus meinem Griff zu befreien. »Halt still!« Ich versuchte, ihre um sich schlagenden Glieder zu bändigen. »Halt deine Handgelenke und deine Kehle über Wasser, sonst sind wir beide …«

Sie beruhigte sich und überließ sich meinen Armen.

»Danke …«

»Leise«, zischte sie und starrte wachsam über meine Schulter hinweg.

Mir blieb kaum die Zeit, mich umzudrehen und einen flüchtigen Blick auf die blauen Mäntel zwischen den Bäumen zu erhaschen, da hatte sie schon meinen Kopf unter Wasser gedrückt.

Am Boden des Teichs war es zu dunkel, um etwas anderes zu erkennen als Lous Gesicht, stumm und blass im Wasser. Sie umklammerte meine Schultern so fest, dass es mir das Blut abdrückte. Als ich versuchte, mich aus dem schmerzhaften Griff zu befreien, hielt sie mich nur noch fester und schüttelte den Kopf. Mit weit geöffneten Augen starrte sie leer über mich hinweg in die Ferne. Mit ihrer blassen Haut und dem schwebenden Haar wirkte sie geradezu unheimlich.

Ich rüttelte sie leicht. Ihre Augen reagierten nicht.

Als ich sie noch einmal rüttelte, machte sie ein finsteres Gesicht und krallte ihre Finger tiefer in meine Haut.

Am liebsten hätte ich erleichtert aufgeatmet. Aber das konnte ich ja nicht.

Meine Lunge schrie.

Mir war keine Zeit zum Luftholen geblieben, bevor Lou mich unter Wasser gedrückt hatte, und so hatte ich mich nicht wappnen können, auch nicht gegen die plötzlich schneidende Kälte. Eisige Finger schienen über meine Haut zu kratzen und betäubten meine Sinne. Was immer Lou vorher angestellt hatte, um das Wasser zu erwärmen – der Zauber war verschwunden. Lähmende Taubheit kroch in meine Finger und Zehen, rasch gefolgt von Panik.

Und plötzlich konnte ich nichts mehr sehen.

Die Welt um mich wurde schwarz.

Verzweifelt versuchte ich, mich aus Lous Griff zu befreien, setzte die wenige Atemluft ein, die mir blieb, doch sie hielt mich unerbittlich fest, schlang ihre Glieder unlösbar um meinen Oberkörper und verankerte uns am Grund des Teichs. Um uns herum explodierten Luftblasen. Lou hielt mich mit unnatürlicher Kraft fest und rieb ihre Wange an meiner, als wollte sie mich … beruhigen. Oder trösten.

Aber sie ertränkte uns beide, meine Brust war zu eng, meine Kehle verschlossen. Da war kein Raum für Ruhe. Da war kein Raum für Trost. Mit jeder Sekunde, die verging, wurden meine Glieder schwerer. In einem letzten, verzweifelten Versuch stieß ich mich mit aller Kraft vom Boden nach oben ab. Durch Lous Körper ging ein Ruck, und der weiche Schlamm um meine Füße gefror. Ich war gefangen.

Dann schlug sie mir auf den Mund.

Verwirrt wich ich zurück, alles blieb schwarz. Ich bereitete mich darauf vor, Wasser in mich fluten zu lassen, auf dass es meine Lungen füllte und diese Qual beendete. Ertrinken – vielleicht ein friedlicher Tod. Ein völlig neuer Gedanke. Wenn ich mir meinen eigenen Tod vorgestellt hatte, dann immer durch das Schwert. Oder durch die Hand einer Hexe durch die Luft gewirbelt und am Boden zerschellt. Gewaltsame Tode voller Schmerz. Ertrinken wäre besser, leichter.

Schließlich konnte ich nicht länger widerstehen und atmete unwillkürlich ein. Ich schloss meine blinden Augen, schlang meine Arme um Lou und schmiegte meine Nase an ihren Nacken. Wenigstens würden wir nicht Morgane in die Hände fallen. Wenigstens würde ich nicht lernen müssen, ohne Lou zu leben. Kleine, wichtige Siege.

Die Flut blieb jedoch aus. Stattdessen strömte unwahrscheinlich reine Luft in meinen Mund und mit ihr köstliche Erleichterung. Obwohl ich immer noch nichts sah und die lähmende Kälte anhielt, konnte ich wieder atmen, wieder denken. Mein Bewusstsein kehrte schlagartig zurück. Erneut holte ich tief Luft. Dann noch mal und noch mal. Aber … das war doch unmöglich. Ich konnte unter Wasser atmen. Wie Jonas Walfisch. Wie die Wasserfeen. Wie …

Wie durch Zauberei.

Die Enttäuschung versetzte mir einen Stich in der Brust. Ungeachtet all des Wassers fühlte ich mich … irgendwie beschmutzt. Erbärmlich. Mein Leben lang hatte ich Zauberei verabscheut, und jetzt … jetzt war allein sie es, die mich vor den Männern rettete, die einst meine Brüder gewesen waren. Wie hatte es so weit kommen können?

Stimmen ertönten und unterbrachen meine Gedanken. Laut und deutlich. So deutlich, als wären wir nicht untergetaucht, sondern stünden neben dem Sprecher am Ufer. Noch mehr Zauberei.

»Mann, muss ich pissen.«

»Nicht in den Teich, du Idiot! Stell dich stromabwärts!«

»Und mach hinne.« Eine dritte Stimme, ungeduldig. »Hauptmann Toussaint erwartet uns bald im Dorf. Eine letzte Runde hier, und bei Tagesanbruch brechen wir auf.«

»Gott sei Dank kann er es nicht erwarten, zu seinem Mädchen zurückzukehren.«

Der Mann rieb seine Handflächen aneinander, um sich zu wärmen. Ich stutzte. Sein Mädchen?

»Also, mir tut’s nicht leid, diesen elenden Ort zu verlassen. Tagaus, tagein auf Patrouille gehen, und was hat es uns gebracht? Frostbeulen …«

Eine vierte Stimme. »Sagt mal … sind das da Kleider?«

Unter Lous Fingernägeln quoll nun Blut hervor. Ich spürte ihren Klammergriff kaum noch. Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Wenn sie die Kleidung untersuchten, würden sie meinen Mantel und mein Hemd hochheben und meinen Gurt finden.

Sie würden mein Balisarda entdecken.

Die Männer kamen näher, ihre Stimmen wurden lauter.

»Sieht aus wie zwei Bündel.«

Pause.

»Also, da im Wasser können sie schlecht sein. Ist doch viel zu kalt.«

»Da wären sie schon erfroren.«

Hinter blinden Augen stellte ich mir vor, wie sie sich ans Wasser vorwagten und im seichten Blau nach Lebenszeichen suchten. Wegen der Bäume lag der Teich im Schatten, und Schlamm trübte das Wasser. Unsere Fußspuren musste inzwischen der Schnee bedeckt haben.

Schließlich murmelte der Erste: »Kein Mensch kann so lange den Atem anhalten.«

»Eine Hexe schon.«

Wieder eine Pause, länger als die letzte. Unheilvoller. Ich hielt den Atem an, zählte jeden schnellen Schlag meines Herzens.

Bu-bumm.

Bu-bumm.

Bu-bumm.

»Aber … das ist Männerkleidung. Seht nur. Hosen.«

Ein roter Schleier durchzog die unendliche Schwärze. Wenn sie mein Balisarda entdeckten, würde ich, Schlamm hin oder her, meine Füße losreißen. Und wenn ich sie dabei verlieren würde.

Bu-bumm.

Bu-bumm.

Mein Balisarda würde ich nicht hergeben.

Bu-bumm.

Ich würde sie alle außer Gefecht setzen.

Bu-bumm.

Ich würde es nicht verlieren.

»Glaubst du, sie sind ertrunken?«

»Ohne Kleider?«

»Stimmt. Logischer wäre, dass sie nackt im Schnee rumirren.«

Bu-bumm.

»Vielleicht hat eine Hexe sie unter Wasser gezogen.«

»Dann geh doch rein und schau nach.«

Ein empörtes Schnauben. »Bei der Scheißkälte? Außerdem, wer weiß, was da drin lauert? Jedenfalls, falls eine Hexe sie runtergezogen hat, müssen sie längst ertrunken sein. Wozu mich auch opfern?«

»Toller Chasseur bist du.«

»Ach ja? Dann meld du dich doch freiwillig.«

Bu-bumm.

Wie aus weiter Ferne spürte ich, wie mein Herz langsamer schlug, wie die klirrende Kälte an meinen Armen und Beinen hinaufkroch. Die Alarmglocken schrillten. Ich merkte, wie Lous Griff um meine Brust sich allmählich lockerte, und reagierte sofort, indem ich sie fest in meine Arme schloss. Was immer sie tat, damit wir atmen konnten, damit unser Gehör alles mitbekam – es raubte ihr die Kraft. Vielleicht lag es auch an der Kälte. Jedenfalls spürte ich, wie sie dahinschwand. Ich musste etwas unternehmen.

Instinktiv suchte ich die Dunkelheit, die ich bisher erst einmal wahrgenommen hatte. Den Abgrund. Die Leere. Jenen Ort, an den ich gefallen war, als Lou im Sterben lag, und den ich sorgfältig weggeschlossen und nicht mehr beachtet hatte. Jetzt tastete ich blind danach, um ihn aus meinem Unterbewussten zu befreien. Doch er zeigte sich nicht. Er wollte sich nicht offenbaren. Mit zunehmender Panik legte ich Lous Kopf nach hinten und drückte meinen Mund auf ihren, um meinen Atem in ihre Lunge zu pressen. Ich suchte weiter, aber da waren keine goldenen Stränge. Keine Muster. Da war nur eiskaltes Wasser, Augen, die nichts sahen, und als Lou matt in meinem Arm hing, rutschten ihre Hände von meinen Schultern, ihre Brust hob sich nicht mehr.

Meine Panik verwandelte sich in rohe, lähmende Angst, ich schüttelte Lou und forschte fieberhaft in meinem Gehirn nach etwas, das ich tun konnte – irgendwas. Gleichgewicht, hatte Madame Labelle gesagt. Vielleicht … vielleicht könnte ich …

Ehe ich den Gedanken zu Ende dachte, stach der Schmerz durch meine Lunge, und ich rang nach Atem. Jetzt schoss Wasser in meinen Mund. Meine Sehkraft kehrte schlagartig zurück, der Schlamm um meine Füße löste sich, und das bedeutete …

Lou musste das Bewusstsein verloren haben.

Ich überlegte nicht lange, hielt mich nicht bei den goldenen Mustern auf, die in meinen Augenwinkeln Gestalt annahmen. Ich packte ihren schlaffen Körper und schoss hinauf, über Wasser.

PÜPPCHEN HÜBSCH

Lou

Wärme strahlte durch meinen Körper. Erst langsam, dann mit voller Kraft. Meine Glieder kribbelten schmerzhaft und zwangen mich ins Jetzt zurück. Verfluchte Nadelstiche – verfluchter Schnee, verfluchter Wind, verfluchter Kupfergestank. Ich stöhnte und öffnete die Augen. Meine Kehle fühlte sich rau an, eng. Als hätte mir jemand einen heißen Schürhaken in den Hals gesteckt, während ich schlief. »Reid?«, krächzte ich. Ich hustete – schreckliche Geräusche, die meine Brust schüttelten –, dann versuchte ich es erneut. »Reid?«

Weil er sich nicht rührte, drehte ich mich um. »Verdammt noch mal …« Ich stieß einen erstickten Schrei aus und schrak zurück.

Ein lebloser Chasseur starrte mich an. Mit bleichem Gesicht lag er am eisigen Ufer des Teichs, sein Blut hatte den Schnee unter ihm geschmolzen, war in die Erde und ins Wasser gesickert. Seinen drei Gefährten war es nicht viel besser ergangen. Ihre Leichen lagen am Ufer verstreut, um sie herum Reids Messer.

Reid.

»Scheiße!« Ich rappelte mich auf die Knie und betastete die riesenhafte Gestalt mit dem kupferbraunen Haar neben mir. Reid lag mit dem Gesicht im Schnee, die Hose nur halb zugeschnürt, Kopf und einen Arm durch das Hemd gesteckt, als wäre er zusammengebrochen, ehe er sich fertig anziehen konnte.

Ich fluchte wieder und rollte ihn auf den Rücken. Haarsträhnen waren an seinem blutbespritzten Gesicht festgefroren, seine Haut hatte eine aschgraue Färbung angenommen.

Himmel!

Verzweifelt presste ich ein Ohr an seine Brust und weinte fast vor Erleichterung, als ich sein Herz schlagen hörte. Schwach, aber es schlug. Mein eigenes hingegen klopfte gesund und stark mit verräterischer Heftigkeit in meinen Ohren, mein Haar war vollkommen trocken, meine Haut warm. Das gab’s doch nicht …

Da dämmerte es mir, und bei der Erkenntnis wurde mir ganz anders. Der Tollpatsch hatte sich bei dem Versuch, mich zu retten, fast selbst umgebracht.

Ich legte meine offenen Hände an seine Brust, und sofort erstand vor mir ein goldenes Netz, das unendlich viele Möglichkeiten barg. Ungeachtet eventueller Folgen ging ich sie hastig durch – panisch vor Angst, es könnte jeden Moment zu spät sein. Bei einer Erinnerung hielt ich inne: meine Mutter, die mir am Abend vor meinem sechzehnten Geburtstag die Haare bürstet, die Zärtlichkeit in ihrem Blick, die Wärme ihres Lächelns.

Wärme.

Sei vorsichtig, mein Liebling, wenn wir uns trennen. Sei behütet, bis wir uns wiedersehen.

Wirst du dich an mich erinnern, Maman?

Ich könnte dich nie vergessen, Louise. Ich liebe dich.

Ich zuckte zusammen und riss an dem goldenen Faden, der sich bei meiner Berührung verdrehte. Die Erinnerung änderte sich. Ihre Augen verhärteten sich, wurden zu Splittern aus Eissmaragden, und sie spöttelte über die Hoffnung in meiner Mimik, die Verzweiflung in meiner Stimme. Mein sechzehnjähriges Gesicht fiel in sich zusammen. Tränen schossen mir in die Augen.

Natürlich liebe ich dich nicht, Louise. Du bist die Tochter meines Feindes. Du wurdest für einen höheren Zweck empfangen, und ich werde diesen Zweck nicht mit Liebe vergiften.

Natürlich.

Natürlich hat sie mich nicht geliebt, selbst damals nicht. Ich schüttelte den Kopf, versuchte, mich zu orientieren, und ballte eine Hand zur Faust. Die Erinnerung zerfiel zu goldenem Staub, strömte als Wärme in Reids Körper. Im Nu waren Haar und Kleider getrocknet, Farbe kehrte in seine Haut zurück, und seine Atmung vertiefte sich. Als ich dabei war, seinen anderen Arm durch den Ärmel zu schieben, öffnete er die Augen.

»Hör gefälligst auf, mir deine Körperwärme einzuflößen«, blaffte ich ihn an und zerrte böse das Hemd an seinem Bauch herunter. »Du bringst dich noch um.«

»Ich …«

Benommen und verwirrt betrachtete er die blutige Szene ringsum. Beim Anblick seiner toten Brüder erbleichte er erneut.

Ich nahm sein Gesicht in die Hände, drückte seine Wangen und zwang ihn, mich anzuschauen. »Konzentrier dich auf mich, Reid. Nicht auf sie. Du musst das Muster durchbrechen.«

Er starrte mich mit großen Augen an. »Ich … ich weiß nicht, wie.«

»Entspann dich«, ermunterte ich ihn und strich ihm die Haare aus der Stirn. »Visualisiere das Band, das uns in deinem Geist verbindet, und lass es einfach los.«

»Einfach loslassen.« Er lachte kurz auf. Ohne Fröhlichkeit. »Aha.«

Kopfschüttelnd schloss er die Augen und konzentrierte sich. Nach einer Weile brach die pulsierende Hitzebrücke zwischen uns ab, an ihre Stelle trat der bittere Biss der eisigen Winterluft. »Sehr gut«, sagte ich und spürte der Kälte tief in meinen Knochen nach. »Jetzt erzähl mir, was passiert ist.«

Er riss die Augen auf, und in dieser kurzen Sekunde blitzte roher, unverfälschter Schmerz auf. Mir stockte der Atem.

»Sie wollten einfach nicht verschwinden.« Er schluckte schwer und wandte den Blick ab. »Du warst fast schon tot. Ich musste dich an die Oberfläche bringen. Sie haben uns erkannt und nicht mit sich reden lassen …«

Genauso schnell, wie er gekommen war, verschwand der Schmerz aus seiner Miene, erlosch wie die Flamme einer Kerze. An seine Stelle trat beunruhigende Leere.

»Ich hatte keine Wahl«, endete er mit einer Stimme, die so hohl war wie sein Blick. »Sie oder du, darum ging es.«

Er schwieg, und mir dämmerte langsam, was geschehen war.

Nicht zum ersten Mal war er gezwungen, zwischen mir und einem anderen zu wählen. Nicht zum ersten Mal hatte er seine Hände mit dem Blut der Seinen befleckt, um mich zu retten. Verdammt.

»Natürlich«, sagte ich zu hastig, meine Stimme zu unbeschwert, mein Lächeln zu strahlend. »Alles in Ordnung. Alles bestens.« Ich stand auf und hielt ihm eine Hand hin. Er betrachtete sie eine Weile, zögerte, und mir wurde flau. Ich strahlte ihn noch mehr an. Selbstverständlich zögerte er, mich zu berühren. Mich oder irgendwen. Er hatte gerade Traumatisches erlebt. Zum ersten Mal seit Modraniht hatte er seine Zauberkräfte benutzt, und ausgerechnet, um seine Brüder zu töten. Natürlich war er hin- und hergerissen. Natürlich wollte er mich nicht …

Ich zuckte zusammen und wischte den ungebetenen Gedanken beiseite, als hätte er mich gebissen. Aber es war zu spät. Das Gift war bereits eingedrungen. Zweifel sickerte aus den Löchern, die seine Fangzähne gerissen hatten, wie ferngesteuert sah ich zu, wie meine Hand herabsank. Reid bekam sie in letzter Sekunde zu fassen und hielt sie fest.

»Tu das nicht«, sagte er.

»Tu was nicht?«

»Was immer du grad vorhattest. Tu’s nicht.«

Ich lachte hart und suchte nach einer geistreichen Antwort, aber mir fiel keine ein. Also half ich ihm auf die Füße. »Lass uns zurück ins Lager gehen. Ich enttäusche deine Mutter nur ungern. Wahrscheinlich kann sie es kaum erwarten, uns beide aufzuspießen und über dem Feuer zu braten. Ich hätte nichts dagegen. Ist scheißkalt hier draußen.«

Er nickte, jedoch erschreckend teilnahmslos, und zog schweigend seine Stiefel an. Wir wollten uns gerade auf den Rückweg zur Höhle machen, als ich aus dem Augenwinkel eine leichte Bewegung mitbekam und innehielt.

Aufgeschreckt schaute Reid sich um. »Was ist los?«

»Nichts. Warum gehst du nicht weiter?«

»Du flunkerst doch.«

Noch eine Bewegung, diesmal eindeutiger. Mein falsches Lächeln, das ich die ganze Zeit aufgesetzt hatte, verschwand. »Ich muss mal«, sagte ich rundheraus. »Möchtest du zuschauen?«

Reids Wangen wurden puterrot, er hustete und zog den Kopf ein.

»Äh … nein. Ich … ich warte da drüben.«

Ohne sich noch einmal umzudrehen, floh er hinter die dichten Zweige einer Tanne. Ich sah ihm nach, bis ich sicher war, dass er außer Sichtweite war, dann drehte ich mich um und ging nachsehen, woher die Bewegung kam.

Am Teichufer sah mich einer der Chasseure mit flehendem Blick an. Er lebte und hielt sein Balisarda fest umklammert. Die aufkommende Übelkeit bekämpfend, kniete ich mich neben ihn und entwand es seinen steif gefrorenen Fingern. Natürlich hatte Reid ihm sein Balisarda nicht abgenommen – keinem von ihnen. Es hätte gegen den Kodex verstoßen. Dass schon bald Hexen diese Körper heimsuchen und die verzauberten Klingen an sich nehmen würden, spielte für ihn keine Rolle. Er sah nur den undenkbaren Verrat, wenn er seine Brüder in ihren letzten Momenten ihrer Identität beraubt hätte. Es wäre noch schlimmer gewesen, als sie zu töten.

Die bleichen Lippen des Chasseurs bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus. Vorsichtig rollte ich ihn auf den Bauch. Morgane hatte mir schon früh beigebracht, wie man einen Menschen augenblicklich tötet. »An der Basis des Kopfes, wo die Wirbelsäule auf den Schädel trifft«, hatte sie mir erklärt und mit der Spitze ihres Messers die Stelle an meinem Hals berührt. »Wenn du diese Verbindung durchtrennst, kann ihn keine Macht der Welt wiederbeleben.«

Ich erinnerte mich, wie Morgane es mir gezeigt hatte, und führte das Balisarda an den Hals des Chasseurs. Seine Finger zuckten vor Aufregung und Furcht. Aber es war sowieso zu spät für ihn, und selbst wenn nicht – er hatte unsere Gesichter gesehen. Vielleicht hatte er auch gesehen, wie Reid seine Zauberkraft einsetzte. Mehr konnte ich für einen von ihnen nicht tun.

Ich atmete tief ein und stach zu. Seine Finger hörten abrupt auf zu zucken. Nach einer Weile drehte ich ihn wieder um, legte seine Hände über der Brust zusammen und bettete das Balisarda hinein.

Als wir zur Höhle zurückkehrten, empfing uns wie erwartet eine fuchsteufelswilde Madame Labelle mit geröteten Wangen und einem Zorn im Blick … es hätte mich nicht gewundert, wenn sie aus den Nasenlöchern Feuer gespien hätte.

»Wo zum Teufel kommt ihr …«, begann sie, verstummte aber gleich wieder und betrachtete mit zunehmendem Erstaunen unser zerzaustes Haar und unsere schlampigen Kleider. Reid, der seine Hose immer noch nicht ordentlich zugeschnürt hatte, holte das nun eilig nach. »Ihr Schwachköpfe!«, rief Madame Labelle so schrill und unangenehm, dass ein Paar Turteltauben entsetzt gen Himmel floh. »Ihr dummen, eseligen Kinder. Könnt ihr vielleicht einmal auch euer Anhängsel da oben benutzen, oder habt ihr wirklich gar nichts anderes im Sinn?«

»Das machen wir, wie’s uns passt.« Reid hinter mir herziehend, marschierte ich zu meinem Lager und legte ihm meine Decke über die Schultern. Seine Haut war für meinen Geschmack immer noch zu fahl, seine Atmung zu flach. Er legte einen Arm um mich und bedankte sich, indem er mit seinen Lippen über mein Ohr strich. »Obwohl ich schon staune, wie eine Puffmutter so prüde sein kann.«

»Na, ich weiß ja nicht.« Beau, der noch nicht aufgestanden war, setzte sich auf und versuchte, sein zerzaustes Haar mit der Hand zu bändigen, das Gesicht noch ganz verschlafen. »Im vorliegenden Fall würde ich es weniger prüde nennen als vielmehr weise. Und das aus meinem Munde will schon was heißen.« Er reckte das Kinn in meine Richtung. »Hat’s wenigstens Spaß gemacht? Warte – vergiss das. Mit meinem Bruder …«

»Ach, halt die Klappe, Beau, und fach lieber die Glut an«, fuhr Coco ihm über den Mund und suchte besorgt Zentimeter für Zentimeter meine Haut ab.

Plötzlich stutzte sie. »Ist das Blut? Bist du verletzt?«

Jetzt schaute Beau, der ihre Aufforderung, das Feuer zu schüren, geflissentlich überhört hatte, genauer hin und nickte bestätigend. »Hast auch schon mal besser ausgesehen, Schwesterherz.«

»Sie ist nicht deine Schwester«, schnauzte Reid.

»Und außerdem sieht sie an ihrem schlimmsten Tag immer noch hundertmal besser aus als du«, ergänzte Coco.

Beau kicherte und schüttelte den Kopf. »So falsch eure Ansichten auch sind, ich nehme an, ihr wollt nicht davon ablassen.«

»Genug!« Madame Labelle, ermüdend in ihrer Verzweiflung, warf die Hände in die Luft und sah uns an. »Was – ist – da – vorgefallen?«

Mit einem Blick hinauf zu Reid, dessen Körper so angespannt war, als würde Madame Labelle mit einem Schwert nach ihm stechen, berichtete ich rasch, was am Teich abgelaufen war. Obwohl ich die intimeren Ereignisse überging, ließ Beau sich mit einem theatralischen Stöhnen nach hinten fallen und zog sich die Decke übers Gesicht. Madame Labelles Gesichtsausdruck versteinerte mit jedem Wort mehr.

»Ich habe versucht, vier Muster auf einmal aufrechtzuerhalten«, sagte ich und wich, so gut es ging, ihrem wütenden Blick aus. Die immer dunkler werdenden Farbflecken, mit denen sich ihre Wangen überzogen, bemühte ich mich, zu ignorieren. »Zwei Muster fürs Atmen und zwei fürs Hören. Deshalb konnte ich die Temperatur des Wassers nicht regeln. Ich hatte gehofft, lang genug durchzuhalten, bis die Chasseure fort wären.« Widerstrebend schaute ich zu Reid, der entschlossen auf seine Füße starrte. Obwohl sein Balisarda wieder im Messergurt steckte, hielt er den Griff so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß waren. »Tut mir leid, dass ich das nicht auch noch geschafft habe.«

»War nicht deine Schuld«, murmelte er.

Madame Labelle, die sich weniger für unsere Empfindungen interessierte, ließ nicht locker. »Was ist mit den Chasseuren geschehen?«

Wieder sah ich zu Reid und legte mir für alle Fälle eine Notlüge zurecht.

Er antwortete mit hohler Stimme für mich: »Ich habe sie getötet. Sie sind tot.«

Da endlich – endlich! – wurden Madame Labelles Gesichtszüge weicher.

»Danach hat er mich am Ufer mit seinem Körper gewärmt«, beeilte ich mich, die Geschichte fortzusetzen. Ich wollte jetzt nur noch eins, dieses Verhör beenden und Reid aus der Schusslinie ziehen, um ihn irgendwie zu trösten. Er wirkte so … so hölzern. Wie einer der Bäume, die um uns standen, seltsam, fremd und unbeweglich. Ich verabscheute es. »Das war allerbeste Zauberkunst, nur dass er wegen der Kälte beinah selbst draufgegangen wäre. Ich musste aus einer meiner Erinnerungen Wärme saugen, um ihn wiederzube…«

»Du hast was?«, fuhr Madame Labelle auf und schaute über ihre Nasenspitze auf mich herab, die Fäuste in einer so vertrauten Geste geballt, dass ich verdutzt innehielt. »Du törichtes kleines Mädchen …«

Trotzig reckte ich das Kinn. »Wär’s dir lieber gewesen, ich hätte ihn dort verrecken lassen?«

»Natürlich nicht! Trotzdem, ein solcher Leichtsinn muss überprüft werden, Louise. Du weißt doch ganz genau, wie gefährlich es ist, in Erinnerungen rumzupfuschen …«

»Ach was«, zischte ich zurück.

»Warum ist das eigentlich so gefährlich?«, fragte Reid leise.

Ich drehte mich zu ihm um und senkte meine Stimme, um mich ihm anzupassen: »Erinnerungen sind sozusagen heilig. Erst die Erfahrungen, die wir im Leben machen, formen uns zu den Menschen, die wir sind. Wenn wir unsere Erinnerungen manipulieren, verändern wir möglicherweise auch unsere Persönlichkeit.«

»Man weiß nicht, wie diese Erinnerung, die Lou manipuliert hat, ihre Werte, ihre Überzeugungen, ihre Erwartungen beeinflusst hat.« Immer noch wütend, ließ Madame Labelle sich auf ihrem Lieblingsbaumstumpf nieder. Sie atmete tief durch, streckte sich und legte die Hände zusammen, als wollte sie sich auf etwas anderes konzentrieren. »Die Persönlichkeit eines Menschen hat viele Facetten. Manche glauben, die Natur – unsere Herkunft, unsere ererbten Eigenschaften – bestimmt, wer wir sind, unabhängig davon, wie wir unser Leben führen. Diese Leute glauben, dass von Geburt an festgelegt ist, was einmal aus uns wird. Vielen Hexen, auch Morgane, dient diese Weltsicht dazu, ihre abscheulichen Taten zu rechtfertigen. Aber das ist natürlich Unsinn.«

Alle in der Höhle lauschten ihr gebannt. Selbst Beau konnte sich nicht entziehen und streckte interessiert seinen Kopf aus den Decken.

Reid runzelte die Stirn. »Du glaubst also, die Umwelt hat größeren Einfluss als die Natur.«

»Selbstverständlich. Die kleinsten Veränderungen im Gedächtnis können tiefgreifende Folgen haben, die man nicht auf den ersten Blick erkennt.« Madame Labelle sah zu mir, ihre so vertrauten Augen schienen sich zu verfinstern. »Ich habe so etwas schon erlebt.«

In die unbehagliche Stille hinein, die folgte, ergriff unvermittelt Ansel das Wort: »Ich wusste gar nicht, dass Hexerei so gelehrt sein kann«, warf er schüchtern lächelnd ein.

»Was du über Zauberei weißt, würde nicht mal eine Walnussschale füllen«, erwiderte Madame Labelle gereizt.

Das konnte Coco nicht so stehen lassen und blaffte zurück, und schon beteiligte sich auch Beau an dem Gezänk. Ich klappte meine Ohren zu und widmete mich lieber Reid, der eine Hand auf meinen Rücken gelegt hatte, sich zu mir herunterbeugte und flüsterte: »Das hättest du nicht für mich tun sollen.«

»Ich würde noch ganz andere Dinge für dich tun.«

Mein Tonfall ließ ihn stutzen, forschend sah er mich an.

»Wie meinst du das?«

»Ach, nichts. Mach dir keine Sorgen.« Ich streichelte seine Wange und war überaus erleichtert, als er sich nicht dagegen sträubte. »Was geschehen ist, ist geschehen.«

»Lou.« Er umfasste meine Finger, drückte sie sanft und nahm sie von seiner Wange. »Sag es mir.«

So höflich sie sein mochte, die Zurückweisung machte mich unendlich traurig.

»Nein.«

»Sag’s mir.«

»Nein.«

»Bitte«, flehte er mich an.

Während ich überlegte, was ich tun sollte, eskalierte die Keiferei zwischen Coco und Beau. Das war keine gute Idee, wirklich nicht. »Du kennst das doch schon«, sagte ich schließlich. »Du bekommst etwas und gibst etwas. Vorhin am Ufer habe ich eine Erinnerung manipuliert, um dich wiederzubeleben. Ich habe unsere Sehkraft eingetauscht, damit wir besser hören, und ich …«

Ganz ehrlich, ich hätte ihn am liebsten angelogen. Wie schon so oft. Hätte fröhlich gegrinst und ihm gesagt, alles komme in beste Ordnung. Aber wozu verheimlichen, was ich getan hatte? Es lag in der Natur der Sache. Wer zaubert, muss Opfer bringen. Die Natur verlangt nach Gleichgewicht. Eine Lektion, die Reid selbst bald würde lernen müssen, wenn wir überleben wollten.

»Und du – was?«, drängte er ungeduldig.

Ich stellte mich seinem harten, unnachgiebigen Blick. »Ich habe ein paar Momente aus meinem früheren Leben gegen diese Momente unter Wasser eingetauscht. Wir mussten weiteratmen, und etwas anderes fiel mir nicht ein.«

Er schreckte vor mir zurück, im wahrsten Sinne des Wortes, doch in diesem Augenblick sprang Madame Labelle auf und erhob ihre Stimme, um Coco und Beau zu übertönen. Unübersehbar besorgt beobachtete Ansel, wie sich das Chaos immer mehr entfaltete.

»Genug, habe ich gesagt!« Zornesrot und bebend stand sie da. Offensichtlich hatte Reid sein Temperament von ihr geerbt. »Beim fehlenden Eckzahn der greisen Göttin, hört endlich auf, euch wie Kinder zu benehmen, alle miteinander! Sonst tanzen die Dames Blanches nämlich bald auf eurer Asche.« Sie warf Reid und mir einen schneidenden Blick zu. »Seid ihr sicher, dass die Chasseure tot sind? Alle?«

Reids Schweigen sprach Bände. Da Madame Labelle nicht lockerließ und auf eine Bestätigung wartete, sagte ich düster: »Ja. Sie sind tot.«

»Gut«, fauchte sie.

Reid schwieg noch immer. Er zeigte keinerlei Reaktion auf ihre grausame Haltung. Er versteckte sich, wurde mir klar. Vor den anderen, vor sich selbst … vor mir.

Madame Labelle riss drei zerknitterte Blatt Pergament aus ihrem Mieder und hielt sie mir hin. Ich erkannte Cocos Handschrift, es waren die Bitten, die sie an ihre Tante gerichtet hatte. Unter die letzte hatte eine unbekannte Hand gekritzelt: Dein Jäger ist hier nicht willkommen. Eine schroffe Abweisung, mehr nicht. Keine weiteren Erklärungen oder Höflichkeiten. Unmissverständlich.

Wie’s aussah, hatte La Voisin endlich geantwortet.

Ich knüllte das letzte Pergament in meiner Faust zusammen, ehe Reid es lesen konnte. Mir dröhnte das Blut in den Ohren.

»Sind wir uns jetzt alle einig, dass es an der Zeit ist, den Ungeheuern gegenüberzutreten«, fragte Madame Labelle in die Runde, »oder wollen wir weiterhin die Augen davor verschließen und hoffen, dass schon alles gut wird?«

Langsam verwandelte sich der Ärger, den Madame Labelles Auftreten bei mir auslöste, in offene Abneigung. Mutter von Reid hin oder her. Den Tod wünschte ich ihr vielleicht nicht gerade, aber … ein Jucken. Ja. Ein anhaltendes Jucken im Unterleib, das sie nicht einfach so in aller Öffentlichkeit wegkratzen konnte. Das wäre die passende Strafe für eine, die mir ständig alles miesmachte.

Trotzdem – so grausam sie in ihrer Gefühllosigkeit auch war, tief im Inneren wusste ich, dass sie recht hatte. Unsere gestohlenen Momente gingen zu Ende.

Es war an der Zeit weiterzuziehen.

»Gestern hast du gemeint, wir bräuchten Verbündete.« Ich nahm Reids Hand und drückte sie fest. Mehr Trost hatte ich ihm jetzt nicht zu bieten. Doch er erwiderte den Druck nicht, und in meinem Herzen öffnete sich ein alter Riss. Bittere Worte sprudelten heraus, bevor ich sie zurückhalten konnte: »Und wen hast du da im Auge? Die Bluthexen ja wohl nicht mehr, die stehen eindeutig nicht auf unserer Seite. Und die Bevölkerung in Belterra wird sich bestimmt nicht für unsere Sache einsetzen. Wir sind Hexen. Wir sind böse. Wir haben ihre Schwestern, Brüder und Mütter auf der Straße erhängt.«

»Morgane hat diese Dinge getan, nicht wir«, wandte Coco ein. »Wir haben nichts getan.«

»Aber genau darum geht es ja, oder? Wir haben es geschehen lassen.« Ich hielt inne und holte tief Luft. »Ich habe es geschehen lassen.«

»Ach, hör doch auf«, entgegnete Coco heftig und schüttelte den Kopf. »Dein einziges Verbrechen ist, dass du leben wolltest.«

»Was die Leute denken, ist unerheblich.« Madame Labelle kehrte nachdenklich zu ihrem Baumstumpf zurück.

Ihre Wangen waren noch immer gerötet, aber immerhin schrie sie jetzt nicht mehr rum – zum Glück. Meine Ohren freute es.

»Wohin der König sich wendet, dahin folgt ihm das Volk«, sagte sie.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, mein Vater würde sich mit euch verbünden«, sagte Beau von seinem Lager aus. »Der hat doch schon eine Belohnung auf Lous Kopf ausgesetzt. Die Vorstellung ist absurd.«

Madame Labelle rümpfte die Nase. »Wir haben einen gemeinsamen Feind, nämlich Morgane. Möglicherweise steht dein Vater einem Bündnis aufgeschlossener gegenüber, als du denkst.«

Beau verdrehte die Augen. »Ich weiß, du glaubst, dass er dich nach wie vor liebt oder was auch immer, aber …«

»Er ist nicht der einzige Verbündete, auf den wir setzen«, unterbrach Madame Labelle ihn schroff. »Natürlich wären unsere Erfolgschancen weitaus größer, wenn wir König Auguste dazu überreden könnten, sich uns anzuschließen, weil zweifellos er das Kommando über die Chasseure führen wird, solange die Kirche keinen neuen Erzbischof ernannt hat. Aber es gibt noch andere, ebenso mächtige Akteure in dieser Welt. Der Werwolf und sein Rudel zum Beispiel oder die Wasserfeen. Und unter den richtigen Umständen wäre vielleicht sogar Josephine zugänglicher.«

Coco lachte. »Meine Tante hat sich doch schon geweigert, uns Unterschlupf zu gewähren, weil ein ehemaliger Chasseur unter uns ist. Wie kommst du bloß darauf, sie könnte sich unserer Sache anschließen? Und mit Werwölfen oder Wasserfeen hat sie es auch nicht so.«

Reid horchte auf – es war das einzige äußerliche Zeichen, dass er begriff, was La Voisin auf unsere Bitten geantwortet hatte.

»Unsinn.« Madame Labelle schüttelte den Kopf. »Wir müssen Josephine einfach aufzeigen, dass ein Bündnis ihr mehr bringt, als wenn sie kleinkariert auf ihrer ablehnenden Haltung beharrt.«

»Kleinkariert?« Coco verzog den Mund. »Die ablehnende Haltung meiner Tante bedeutet für mein Volk Leben oder Tod. Als die Dames Blanches meine Ahninnen aus dem Chateau vertrieben, verweigerten beide, Werwolf und Wasserfeen, ihnen Hilfe. Das hast du nicht gewusst, hm? Die Dames Blanches haben nur ihr eigenes Wohl im Sinn. Dich selbstverständlich ausgenommen, Lou«, fügte sie hinzu.

»Schon gut.« Ich ging zur nächsten freiliegenden Wurzel, hievte mich rauf und sah zu Madame Labelle hinunter. Weil meine Füße ein gutes Stück über dem Boden baumelten, wirkte meine Pose allerdings wenig bedrohlich. »Wenn wir im Land der Fantasie leben, warum fügen wir dann unserer Liste nicht den Wilden Mann und Tarasque hinzu? Ein legendärer Hirschmann und ein Drache würden sich in der großen Schlacht, die du dir ausmalst, bestimmt sehr gut machen.«

»Ich male mir nichts aus, Louise. Auch wenn wir von deiner Mutter nichts mehr gehört und gesehen haben, wird sie nicht untätig gewesen sein, das weißt du so gut wie ich. Sie heckt etwas aus, und was immer es ist, wir sollten vorbereitet sein.«

»Eine Schlacht wird es nicht sein.« Betont lässig ließ ich meine Füße hin und her schwingen, um die Beklemmung zu verbergen, die sich unter meiner Haut als Kribbeln bemerkbar machte. »Nicht im herkömmlichen Sinn. Das ist nicht ihr Stil. Meine Mutter bevorzugt Anarchie, sie ist kein Soldat. Sie greift aus dem Hinterhalt an, verbirgt sich in der Menge. Auf diese Weise verbreitet sie Panik – Chaos durch Furcht. Das Risiko, durch einen direkten Angriff ihre Feinde zu vereinen, wird sie nicht eingehen.«

»Trotzdem«, sagte Madame Labelle kühl, »bisher sind wir lediglich sechs gegen eine Übermacht von Dames Blanches. Wir brauchen dringend Verbündete.«

»Nehmen wir mal an, all diese Parteien würden sich auf wunderbare Weise zu einem Bündnis zusammenschließen.« Ich schwang meine Füße heftiger hin und her. »Der König, die Chasseure, die Dames Rouges, Werwolf und Wasserfeen würden alle zusammenarbeiten wie eine einzige große, glückliche Familie und Morgane besiegen. Aber was, wenn wir sie getötet hätten? Würden wir uns dann nicht mehr gegenseitig niedermetzeln? Wir sind Feinde, Helene. Selbst wenn wir Seite an Seite kämpfen würden, Werwölfe und Wasserfeen werden niemals Freunde sein. Chasseure werden nicht aufgeben, was ihnen über Jahrhunderte eingetrichtert wurde, und sich mir nichts, dir nichts mit Hexen anfreunden. Der Schmerz ist auf allen Seiten zu alt und zu groß. Eine Krankheit heilt man nicht mit einem Verband.«

»Ihr könnt ihnen die Heilung geben«, sagte Ansel leise. Der standhafte Blick, mit dem er mich ansah, zeugte von einer Reife, die ich ihm nicht zugetraut hätte. »Du bist eine Hexe. Er ist ein Chasseur.«

»Jetzt nicht mehr«, warf Reid matt ein.

»Aber du warst einer«, beharrte Ansel. »Als ihr euch ineinander verliebt habt, wart ihr Todfeinde.«

»Er hat nicht gewusst, dass ich seine Feindin war …«, wandte ich ein.

»Aber du hast gewusst, dass er dein Feind war.« Ansel schaute mit seinen whiskeybraunen Augen von mir zu Reid. »Und hätte es überhaupt eine Rolle gespielt?«

Es ist mir egal, dass du eine Hexe bist, hatte Reid nach Modraniht zu mir gesagt. Seine Hände hatten meine gehalten, aus seinen Augen waren Tränen gequollen. Voller Liebe waren sie gewesen, voller Gefühl. Die Art und Weise, wie du die Welt siehst – ich möchte sie auch so sehen.

Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass er es noch einmal sagte – vergeblich.

Stattdessen sprach Madame Labelle: »Ich glaube, so ähnlich könnte es auch bei den anderen funktionieren. Wenn sie sich gegen den gemeinsamen Feind vereinigen, wenn sie zur Zusammenarbeit gezwungen sind, könnte das bewirken, dass sie sich mit anderen Augen sehen. Es könnte der Anstoß von außen sein, den wir alle brauchen.«

»Und du nennst uns Schwachköpfe.« Um meine Skepsis zu betonen, ließ ich die Beine so heftig schwingen, dass ein Stiefel, den ich in der Eile am Ufer nur provisorisch zugebunden hatte, mir vom Fuß rutschte. Zu meiner allergrößten Verwunderung flatterte dabei ein Zettel heraus. Ich sprang hinunter, um ihn aufzuheben. Anders als das billige, mit Blut besprenkelte Pergament, das Coco aus dem Dorf gestohlen hatte, handelte es sich um frisches, sauberes Leinen, das nach Eukalyptus roch. Darauf stand eine Nachricht. Als ich sie las, gefror mir das Blut in den Adern.

Püppchen hold, Bild aus Porzellan, wie die Nacht das Haar,

Weint allein in ihrem Sarg, die Tränen grün und klar.

Coco kam und beugte sich über mich, um mitzulesen. »Das kommt aber nicht von meiner Tante.«

Das Leinen entglitt meinen tauben Fingern.

Ansel bückte sich, hob es auf und überflog den Text. »Ich wusste gar nicht, dass du Gedichte magst.« Er sah mich an, und sein Lächeln erstarb. »Ein schönes Gedicht. Irgendwie traurig, finde ich.«

Er wollte mir das Leinen zurückgeben, doch meine Finger waren immer noch wie gelähmt. Da nahm Reid es ihm ab.

»Du hast das nicht geschrieben, oder?«, sagte er, meinte es jedoch nicht als Frage.

Ich schüttelte trotzdem den Kopf.

Er musterte mich kurz, dann wandte er sich wieder der Nachricht zu. »Sie steckte in deinem Stiefel. Wer immer sie verfasst hat, muss dort am Teich gewesen sein.« Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer, und er reichte den Stofffetzen Madame Labelle, die ungeduldig danach griff. »Meinst du, einer der Chasseure …?«

Autor