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Immer wieder zurück zu dir

Die erste Liebe wird immer ein Teil von uns sein. Doch was, wenn das Schicksal andere Pläne hat?

Charlotte ist 22, als sie Tom das erste Mal begegnet. Er ist Drummer in der Band ihres Bruders, und die Anziehungskraft zwischen ihnen ist offenkundig: Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Tom ist vergeben, und die Band löst sich nach einem Streit auf – die beiden verlieren sich aus den Augen.
Fünf Jahre später: Charlotte arbeitet als Lehrerin in Dublin, als sich ihre Wege erneut kreuzen. Dieses Mal nutzen sie ihre Chance. Es ist die ganz große Liebe. Tom will Charlotte mit zurück in sein Heimatland USA nehmen, weil er sich dort den musikalischen Durchbruch erhofft. Doch kurz bevor sie ihm folgen kann, passiert eine schreckliche Tragödie, die die beiden erneut auseinanderreißt. Kann ihre Liebe trotz allem Bestand haben?


  • Erscheinungstag: 26.10.2021
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679466
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine wunderbaren Kinder.

Sie sind die Tapfersten und die Besten.

I

Dublin, Dezember 2010

Ich war zweiundzwanzig Jahre und neun Monate alt, als ich mich zum ersten Mal in Tom Farley verliebte.

Ich stand an der Spüle, die Arme bis zu den Ellenbogen im Schaum, und beobachtete, wie er mit meinem Bruder Matthew durch die Hintertür in unsere WG-Küche kam, mit lässigem Gang wie ein Rockstar, und mir im Vorbeigehen mein Herz stahl, und ich wusste, dass mein Leben nie wieder so sein würde wie zuvor.

Meine Mutter spottete früher gerne, ich sei als Zynikerin auf die Welt gekommen, und ich glaubte definitiv nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber das bloße Erscheinen von Tom Farley traf mich wie ein Blitzschlag.

Er verdrehte mir den Kopf wie kein anderer Mann zuvor und wie kein anderer Mann danach es jemals wieder tun würde.

Tom Farley mit seinem 1000-Watt-Lächeln, seinen verstrubbelten braunen Haaren, seinem dunklen Drei-Tage-Bart, dem markanten Kinn, den frechsten Wangengrübchen, die die Welt jemals gesehen hatte, und den hellgrünen Augen, die mich verwegen-verschmitzt anschauten, verwandelte meine Knie in Wackelpudding. Vielleicht lag es daran, dass er Musiker war. Vielleicht lag es an seinem rauen, zerzausten, kantigen guten Aussehen, oder vielleicht existierte Liebe auf den ersten Blick tatsächlich und ich war nun der lebende Beweis dafür und das jüngste Opfer dieses alten Klischees.

Jedenfalls war ich sofort Feuer und Flamme für ihn.

»Wie läufst du denn rum?«, sagte Matthew spöttisch, eindeutig um sich vor seinem neuen Freund wichtigzutun. Dabei hätte er sich an die eigene Nase fassen müssen in seiner knallengen lila Röhrenjeans und dem scheußlichen transparenten Leinenhemd in Zitronengelb, das sich mit dem Cranberryrot seiner gefärbten Haare biss. Wir sahen beide aus, als wären wir aus dem Zirkus weggelaufen.

Ich starrte eingeschnappt auf die Ziegelmauer vor dem Fenster, die unser Haus von den anderen in der Reihensiedlung trennte, stellte James Blunt leiser, der passenderweise gerade seinen Nummer-eins-Hit »You’re beautiful« sang, und suchte fieberhaft nach einer schlagfertigen Antwort, aber mein Kopf schwirrte vor purer Lust.

Es hatte mir die Sprache verschlagen.

Zugegeben, mein Pyjama mit Disney-Motiven, die im Dunkeln leuchteten, kombiniert mit Doc-Martens-Stiefeln, und das um drei Uhr nachmittags, war eine ziemliche Beleidigung fürs Auge, aber ich war Studentin und hatte heute frei, und woher zum Teufel hätte ich wissen sollen, dass mein ultimativer Traummann nach Leder und Tabak duftend durch unsere Küche schlendern würde, wenn ich gerade wie ein Clown angezogen war?

Ja, Tom Farley mit seiner atemberaubenden Superstar-Ausstrahlung hatte mich total umgehauen, und ich brannte darauf, was als Nächstes passieren würde, also ignorierte ich meinen modischen Ausfall, trocknete rasch meine Hände ab, holte tief Luft und ging ihm nach, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Setz Wasser auf, ja, Charlie?«, sagte Matthew, als ich unser kleines Wohnzimmer betrat, wo die beiden es sich gemütlich machten. Mein Bruder nannte mich Charlie, was bedeutete, dass er sich nun richtig aufspielte. Niemand nannte mich Charlie. Niemand durfte mich jemals Charlie nennen.

Ich schluckte und versuchte, mich vor diesem unwiderstehlichen Objekt brennender Begierde zusammenzureißen, dessen Blick nun genauso gespannt war wie meiner. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig, er trug keinen Ehering, was für den Anfang schon mal gut war, und er strahlte nicht nur eine innere Gelassenheit aus, sondern auch eine leise Schüchternheit, die ihn sogar noch attraktiver erscheinen ließ. Ich spürte, wie seine Augen mich durchbohrten, also ließ ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen, statt ihn direkt anzusehen, um nach außen hin cool zu bleiben.

»Nun, ich würde ja Wasser aufsetzen, aber ich wollte gerade los …«

»Wohin?«

Nirgendwohin war die Antwort. Ich hatte nichts vor, aber ich würde unter keinen Umständen die Teeköchin spielen, ohne unserem Gast richtig vorgestellt zu werden.

Ein Stapel Schallplatten von Interpreten, deren Namen ich nie gehört hatte, lag mitten auf dem braunen Teppichboden, das Zimmer stank nach abgestandenem, verschüttetem Bier und nach Cannabis, und unser Kaktus, den wir Jarvis Cocker getauft hatten (wegen der Stacheln), wirkte genauso trist wie das Winterwetter draußen – aber Tom Farley hellte diese ganze trübe Welt auf. Wer war er? Warum war er hier? Mein Bruder war gerade dabei, eine professionelle Indie-Rock-Band zu gründen, also vermutete ich, dass er quasi geschäftlich hier war.

»Für mich keinen Tee, danke … Willst du uns nicht miteinander bekannt machen, Matt?«, fragte der Leckerbissen auf dem Sofa, und mir klappte die Kinnlade herunter, als ich zum ersten Mal seine Stimme hörte.

Sie hatte das herrlichste raue, tiefe, amerikanisch gefärbte Timbre und einen sehr geheimnisvollen Klang, verglichen mit meinem schlichten nordirischen Akzent. Dieser Mann hier, dieses absolut umwerfende Geschöpf, wurde von Sekunde zu Sekunde reizvoller.

»Oh, sorry. Charlie, das ist Tom Farley, der neue Drummer von Déjà Vu«, sagte Matthew, der sich auf seine Manieren besann. »Wahrscheinlich der beste Drummer in Dublin.«

Wahrscheinlich der bestaussehende Drummer in Dublin, korrigierte ich in Gedanken. Nicht dass ich viele Drummer in Dublin oder sonst wo gekannt hätte.

Tom hob bescheiden die Hände.

»Und das ist meine Schwester Charlotte. Das herrische Familienküken, von dem ich dir erzählt habe«, fuhr Matthew fort.

Ich nickte Tom zu und wusste nicht, ob ich meinem Bruder eine reinhauen sollte, weil er mich »herrisch« nannte, obwohl er mir gerade noch befohlen hatte, Wasser aufzusetzen, oder ob ich ihn umarmen sollte, weil er dieses Stück Himmel in mein Leben gebracht hatte. Ich stammelte ein Hallo und kicherte auf eine so mädchenhafte Art, dass ich mir am liebsten selbst eine reingehauen hätte.

»Hübsche Schuhe«, sagte Tom der Drummer, während er mich von oben bis unten musterte. »Genau wie meine.«

Er zog den Saum seiner ausgeblichenen Jeans ein kleines Stück hoch, um seine identischen dunkelroten Doc Martens zu zeigen, und mein Herz jubilierte. Das war Bestimmung. Es musste Bestimmung sein. Er strich mit der Hand durch sein verwuscheltes braunes Haar. Kann sein, dass ich vor Verzückung laut aufseufzte. Meine eigenen leeren Hände ballten sich zu Fäusten, während ich mir wünschte, ich könnte ihm auch in die Haare greifen.

»Wir haben hier gleich ein Meeting«, sagte Matthew mit einem lauten Räuspern zu mir. »Du weißt schon, ein Bandmeeting.«

»Ach ja, richtig«, sagte ich, als hätte ich es vergessen. Wie könnte ich? Matthew redete seit Monaten von nichts anderem und hatte nichts unversucht gelassen, um die richtigen Leute für seine neue Band zu finden. »Kann ich sonst noch was für euch tun, außer Tee zu kochen?«

Matthew sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ȁh, nein

Ich wusste, das war der Code für »Verpiss dich, Schwesterchen, oder bring uns einfach was zu trinken«, aber ich ignorierte den Wink.

»Weißt du, Tom, ich wollte selbst immer Schlagzeugerin werden, seit ich diese Werbung für Schokolade gesehen habe, in der ein Gorilla diesen Phil-Collins-Song trommelt«, sagte ich und lehnte mich an den Türrahmen. Ich sah Tom lasziv an und machte sogar einen kleinen Schmollmund. Junge, so hatte ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr geflirtet.

Tom lachte auf eine einnehmende Art.

»Und natürlich Larry Mullen von U2«, fügte ich hinzu, um mich zu rehabilitieren. »Er ist auch absolut traumhaft, äh, an den Drums.«

Matthew knirschte mit den Zähnen. »Ich wusste gar nichts von deiner verborgenen Schlagzeugleidenschaft, Charlotte«, bemerkte er spitz. Er war eindeutig kurz davor, etwas nach mir zu werfen.

»Doch, doch, schon immer«, log ich und ging bewusst bis an die Schmerzgrenze. »Gibst du zufällig Schlagzeugunterricht, Tom?«

Tom starrte mich unverwandt an, lächelnd, mit glänzenden Augen, und ich spürte, dass ich ihm auch gefiel. Er glitt aus seiner schweren Lederjacke, und beim Anblick seiner gebräunten, muskulösen Arme in dem khakigrünen T-Shirt musste ich schlucken. Er löste seinen Blick nicht für eine Sekunde von mir, und sein Lächeln ließ Schmetterlinge in meinem Bauch umherschwirren.

»Ich kann gerne versuchen, dir ein paar Basics beizubringen«, erwiderte er mit leicht heiserer Stimme. »Dann bist du also die aufstrebende Songwriterin? Matthew hat mir erzählt, dass du –«

Ich legte mir bereits eine Antwort zurecht, als wir unsanft unterbrochen wurden.

»Ich habe dir erzählt, dass sie Countrysongs schreibt, über Typen mit Cowboyhüten, die zu viel Bier trinken und zu viele Herzen brechen«, grätschte Matthew schroff dazwischen, genervt von der knisternden Atmosphäre und meinem unverhohlenen Flirtversuch. »Sie ist keine richtige –«

»Ich bin keine richtige Songwriterin«, ergriff ich rasch wieder das Wort. Offenbar empfand Matthew schon meine reine Anwesenheit als Beleidigung, also versuchte er, mich bloßzustellen, während Tom, der unseren Kampf beobachtete, abwechselnd vom einen zum anderen sah. Das hier würde später noch ordentlich Zoff zwischen mir und meinem Bruder geben.

»Ich würde mir deine Songs gerne mal anhören«, sagte Tom zu meiner großen Freude und Überraschung. Er beugte sich vor und stützte seine Schlagzeugerarme auf die Knie. Das erlaubte mir einen Blick in den Ausschnitt seines T-Shirts, und ich sah eine leichte, sehr männliche Brustbehaarung, die in mir sofort das Bedürfnis auslöste, ihn zu berühren. Gut möglich, dass ich laut seufzte. Wieder.

»Alter, das willst du dir nicht wirklich antun«, sagte Matthew mit einem höhnischen Kichern. Ich hätte mich am liebsten auf ihn gestürzt, so wie früher, als wir uns prügelten, weil wir uns nicht einigen konnten, wer die lustigste Figur in Friends war, oder als wir uns zur großen Beschämung unserer Mutter im Supermarkt um die letzte Mango rauften.

»Doch, will ich«, bekräftigte Tom. »Ich finde, wir sollten alle mehr darüber erfahren, wie man Bier in rauen Mengen trinkt und reihenweise Herzen bricht. Vielleicht kannst du mir ja auch was beibringen … Charlie?«

Er lehnte sich zurück und trommelte mit den Händen auf seinen Oberschenkeln, passend zu meinem unruhig galoppierenden Herzschlag, und brachte mich in meinem alten Disney-Pyjama zum Schwitzen. Ich strich eine Haarsträhne hinter mein Ohr und bereute, dass ich nicht vorzeigbarer aussah, aber Tom Farley schien trotz meiner skurrilen Aufmachung ähnlich hingerissen von mir zu sein wie ich von ihm.

Und er nannte mich Charlie.

Wir starrten uns einen Moment still an, nur unsere Atemzüge waren zu hören, und wir mussten kein Wort sagen, während das Universum seinen Zauber um uns herum entspann.

»Warum gehst du nicht hoch und holst deine Gitarre, Charles?«, brach Matthew Sekunden später das Schweigen und grinste mich provozierend an. Offenbar hatte er das Recht, meinen Namen beliebig zu verstümmeln, aber wehe, ein anderer tat das, vor allem, wenn es auf eine nette Art gemeint war. »Na los. Spiel uns einen deiner Countrysongs vor. Oder traust du dich nicht?«

Ich atmete tief durch und schürzte meine Lippen, während ich die Herausforderung in Betracht zog. Mein Bruder gab echt alles, um mich loszuwerden.

»Aber ich dachte, ihr habt gleich ein Meeting?«, sagte ich. »Mit der ganzen Band?«

»Das kann warten«, erwiderte Matthew. Er hatte mich in die Enge getrieben, und er wusste es. »Du hast doch sicher Zeit für einen Song, oder, Tom?«

Tom schenkte mir wieder sein strahlendes Lächeln. »Natürlich«, sagte er, ohne zu wissen, ob es die richtige Antwort war. »Die anderen haben sich ohnehin verspätet, also wenn es dir nichts ausmacht, Charlie, würde ich mir gerne etwas von dir anhören.«

Beide grinsten mich an, nur dass das Grinsen meines Bruders breit und schadenfroh war, Toms hingegen erwartungsvoll.

Ich überlegte, wie ich aus der Nummer wieder herauskommen konnte. Es war ausgeschlossen, dass ich mich vor dem neuen heißen Bandmitglied meines Bruders zum Gespött machte, indem ich ihm meine kitschigen Texte über meine verlorenen Jugendlieben (wenn man sie so nennen konnte) vorträllerte. Ich hatte ohnehin nur eine Handvoll Lieder geschrieben, und das meiste davon war ausschließlich für meine Ohren bestimmt. Aber dann kam mir plötzlich ein Gedanke. Dies wäre die Gelegenheit, mich entweder zum Vollhorst zu machen oder diesen göttlichen Mann hier nachhaltig zu beeindrucken. Mein Gefühl sagte mir, dass ich es versuchen sollte, dass ich im Grunde nichts zu verlieren hatte, und ich glaube, dieses Gefühl speiste sich aus der Energie zwischen mir und Tom Farley. Trotz der abfälligen Haltung meines Bruders konnte ich mir vorstellen, dass Tom meine musikalischen Gehversuche gefallen würden, auch wenn sie einer Musikrichtung angehörten, die mein Bruder zum Kotzen fand.

»Also gut, ich mach’s«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung. »Ich werde euch einen Song vorspielen.«

»Was?« Matthew gackerte los und sah zu Tom, aber der lachte kein bisschen. Er strahlte mich nur an, was mich in dem Glauben bestärkte, dass das plötzliche Selbstvertrauen, das ich in mir spürte, tatsächlich von ihm herrührte. Er gab mir die Kraft, über meinen Schatten zu springen, mich im übertragenen Sinn nackig zu machen und das Risiko einzugehen, dass meine Musik nur ein müdes Gähnen bei ihm hervorrief.

»Tu es, Charlie«, sagte er. Seine vollen Lippen wirkten so einladend. Ich sah, wie sein Adamsapfel sich bewegte, während er hart schluckte. »Genau das sehe ich am liebsten: guter, alter Stolz, gepaart mit Entschlossenheit. Ich bin schon richtig gespannt und bereit, wenn du es bist.«

Ich straffte meinen Körper, und statt wie eine verängstigte Maus Reißaus zu nehmen, worauf mein Bruder spekuliert hatte, stemmte ich eine Hand in die Hüfte, holte tief Luft und beschloss, es darauf ankommen zu lassen.

»Kein Problem«, sagte ich. »Matthew, kümmere du dich um die Getränke, ich gehe kurz meine Gitarre holen. Gebt mir nur ein paar Minuten Zeit, dann kommt ein Countrysong, der eure kleinen Herzen brechen wird.«

Tom Farley zwinkerte mir zu und nickte zustimmend.

Es war offiziell. Ich hatte mich bis über beide Ohren verknallt.

II

Zwanzig Minuten später, nun in meiner hellblauen Lieblingsjeans mit Schlag und einem sauberen grauen Trägerhemd, meine langen blondierten Locken offen über der Schulter tragend, schlug ich den Schlussakkord auf meiner Gitarre an.

Das Lied, das ich mit Bedacht ausgewählt hatte, um es Tom vorzuspielen, hieß »By Myself« (es handelte von meiner allerersten Trennung, aber das brauchte er nicht zu wissen), und ich hatte es aus meiner bescheidenen Sammlung herausgepickt, weil man sich seinem intensiven Rhythmus und dem sinnlichen Text nur schwer entziehen konnte.

Während um uns herum das letzte Schwingen der Gitarrensaiten in dem kleinen Raum verhallte, wartete ich auf Toms Reaktion. Ich hob langsam meinen Kopf, schloss halb die Augen, und als ich sie wieder richtig aufmachte, wurde mir bewusst, dass meine Hände zitterten.

»Kaum zu glauben, dass ich den Text noch wusste«, sagte ich, und eine Reihe von Entschuldigungen ging mir durch den Kopf, weil ich Toms Ohren zum Bluten gebracht hatte, aber meine Sorge war unbegründet, denn als ich zu ihm sah, wirkte er keineswegs enttäuscht oder gelangweilt. Vielmehr starrte er mich ehrfürchtig an, schüttelte ungläubig den Kopf, sah auf meine Hände, dann auf meinen Mund und wieder in meine Augen.

»Wow«, sagte er schließlich und begann langsam zu applaudieren. »Ich meine, wow! Ich bin richtig geflasht! Das war echt gut, Lady!«

Wir brachen in ein erleichtertes Lachen aus – beide gleichzeitig. Im nächsten Moment hielten wir ungläubig inne – wieder gleichzeitig. Matthew lachte nicht.

»Matthew Taylor, meine Fresse!«, fuhr Tom fort. »Deine kleine Schwester hat es voll drauf. Der Song ist magisch. Ernsthaft!«

Ich schenkte Matthew ein süffisantes Grinsen und spürte seinen Ärger und sein Unbehagen über die greifbare Harmonie und das intensive Zusammentreffen zweier Seelen. Sein Plan war dermaßen nach hinten losgegangen.

»Nun, ich … Schön, dass du so denkst«, stammelte er. »Aber du hast noch nie mit ihr unter einem Dach gewohnt. Sie ist –«

»Sie ist unglaublich«, sagte Tom, und ich spürte kurz Mitleid mit Matthew, der von diesem besonderen Moment zwischen uns so weit entfernt war. »Matt, du hast mir gesagt, dass sie singen kann, aber nicht, dass wir hier die nächste Stevie Nicks haben! Sie sieht ihr sogar ähnlich. Und dann die Lyrics! Hast du die selbst geschrieben, Charlie? Wirklich?«

Er hatte mich wieder Charlie genannt.

»Ja, die habe ich selbst geschrieben. Alles von mir, alles by myself«, zitierte ich meinen eigenen Text. Ich setzte mich aufrecht hin, legte meine Gitarre zur Seite und warf meine Haare nach hinten. Schon toll, was eine Katzenwäsche, eine Schicht Wimperntusche, ein Spritzer Parfüm und das richtige Outfit so bewirken, außerdem zehrte ich von Toms Euphorie und Energie. »Oh, und danke für den Vergleich mit Stevie Nicks. Den nehme ich gerne an, Tom.«

Ich sollte erwähnen, dass ich es richtig gut fand, dass er mich Charlie nannte, und ich fand es auch gut, seinen Namen zu sagen. Tom. Das klang männlich genug, um mein Herz zum Flattern zu bringen, und wenn ich für ihn Stevie Nicks war, erschien er mir als eine leicht abgerockte, zerzauste jüngere Ausgabe von Bradley Cooper. Diese Augen konnten die Welt zum Stehen bringen.

Später googelte ich den Namen Thomas und fand heraus, dass er biblischen Ursprungs war und »Zwilling« bedeutete, was ich zuerst nicht besonders romantisch fand, aber dann beschloss ich, dass Tom mein Zwilling im Geiste war. Ja, das gefiel mir. Wir waren seelenverwandt, füreinander bestimmt.

»Ich würde sehr gerne weitere Songs von dir hören«, sagte er, noch immer mit ehrfürchtigem Ausdruck. »Bitte sag mir, dass es mehr davon gibt.«

Seine Bewunderung verschlug mir den Atem. Noch nie hatte jemand meine Musik so gewürdigt. Noch nie hatte sich jemand meine Songs richtig angehört, nicht einmal meine Mutter, die, obwohl sie in vielerlei Hinsicht ziemlich cool war, in der festen Überzeugung lebte, dass die Musik für mich nur ein Hobby war, das ich hinter verschlossenen Türen ausübte, und nicht etwa eine Berufung, der ich jemals ernsthaft folgen würde. Mit einem supertalentierten großen Bruder wie Matthew und einer perfekt geratenen großen Schwester wie Emily hatte ich es schwer, auf meine Eltern Eindruck zu machen, und man könnte sagen, dass meine Anstrengungen sich nicht immer zu meinen Gunsten auswirkten.

»Bist du sicher?«, fragte ich Tom. Ich zitterte innerlich, aber ich gab mein Bestes, um nach außen hin cool und selbstbewusst zu wirken.

»Na sicher bin ich sicher!«, erwiderte er und stand vom Sofa auf. »Weißt du, Charlie, du musst diesen Song unter die Leute bringen, unbedingt.«

Ich spürte, wie mein Bruder jedes Mal zusammenzuckte, wenn Tom mich Charlie nannte. Zu Hause und für alle, die mich kannten, war ich Charlotte Jane Taylor, benannt nach der Brontë-Schwester und dem absoluten Lieblingsroman meiner Mutter, Jane Eyre. Meine Schwester hieß Emily Maria, mein Bruder Matthew James, was ihn oft scherzen ließ, dass er als Erstgeborener gerade noch davor verschont geblieben war, auf den Namen Heathcliff getauft zu werden, da unser Vater einen Namen für ihn ausgesucht hatte.

»Ich meine, warum machst du dir überhaupt die Mühe und gehst studieren?«, fuhr Tom fort. »Du hast echt Talent. Du brauchst kein Diplom! Deine Qualifikationen sind alle schon hier drin.« Er tippte sich an die Schläfe.

»Aber ich werde Lehrerin«, wandte ich ein. »So sehr ich mich auch über dein Lob freue, aber in der richtigen Welt ist man ohne Zeugnisse aufgeschmissen.«

Tom ging vor mir in die Hocke, legte seine Hände rechts und links auf die Armlehnen meines Sessels und sah mir fest in die Augen. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren. Ich roch sein holziges, würziges Eau de Cologne. Ich glaubte, gleich zu explodieren.

»Nein, nein und nochmals nein!«, widersprach er vehement. »Du, Charlie Taylor, wirst keine Lehrerin. Du wirst ein großer Countrystar!«

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Tom hatte Charme, und die knisternde Atmosphäre zwischen uns elektrisierte mich und machte mich gleichzeitig schwach. Er war so dicht vor mir, dass seine Arme beinahe meine Beine berührten.

Und du wirst meine Muse sein, hätte ich am liebsten erwidert, während ich mir wünschte, er würde einfach für immer dort vor mir knien.

Er stand auf, strich seine Haare aus dem Gesicht und kehrte auf die Couch zurück, und ich dankte im Stillen meinem Bruder dafür, dass er Tom Farley in mein Leben gebracht hatte. Tom verkörperte alles. Die Art, wie er mich ansah, die Art, wie er mich behandelte, versetzte mich in einen Zustand, den ich nie zuvor erlebt hatte. Ich war benommen vor Lust und atemlosem Staunen. Mein Selbstbewusstsein ging durch die Decke, war stärker als je zuvor in meinen fast dreiundzwanzig Jahren auf diesem Planeten.

»Mach schon, Charlie, spiel uns noch einen Song«, sagte Tom und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Er legte ein Bein über das andere, um zu zeigen, dass er es nicht im Geringsten eilig hatte.

Matthew riss der Geduldsfaden. »Tom, es ist gleich halb vier«, sagte er mit säuerlicher Miene. »Wir könnten schon mal anfangen, bis die anderen kommen. Ich will unbedingt ein paar Plakatentwürfe für unsere Auftritte durchgehen, und wir müssen eine Pressemappe zusammenstellen.« Er schaute demonstrativ auf seine Uhr, aber Tom hatte nach wie vor ausschließlich Augen für mich.

»Ich finde, wir sollten auf die anderen warten, sonst musst du nur alles wiederholen, Matt«, antwortete er und grinste in meine Richtung. »Außerdem möchte ich gerne sehen, ob Charlie eine musikalische Eintagsfliege ist oder ob sie mehr potenzielle Hits geschrieben hat. Na los, Charlie, spiel noch mal für uns.«

Und so spielte ich ein weiteres Lied und dann noch eins, und weder Tom noch ich nahmen wahr, dass Matthew aus dem Zimmer ging und uns allein ließ, so sehr verloren wir uns in der Musik. Ich sang für Tom. Ich sang tatsächlich meine eigenen Songs für diesen schönen Fremden, der mir das Gefühl gab, im Moment die wichtigste Person auf der Welt zu sein.

»Augenblick«, unterbrach er mich plötzlich. »Spiel den Refrain noch mal.«

Er schnappte sich die Gitarre meines Bruders, die in der Ecke stand, und stimmte sich auf mich ein, bis er die Akkordfolge raushatte und wir auch stimmlich harmonierten. Während wir gemeinsam sangen und spielten, sahen wir uns die ganze Zeit in die Augen, und mein Herz fühlte sich an, als würde es gleich platzen.

»Sing einfach weiter«, sagte er irgendwann. »Ich möchte was ausprobieren.«

Ich tat, was er sagte, und es war unglaublich. Wir ergänzten uns musikalisch perfekt. Es war der aufregendste Kick, den ich jemals erlebt hatte, und es begann sich abzuzeichnen, dass dies der beste Tag meines Lebens sein würde.

»Du haust mich um, Charlie«, sagte Tom nach dem dritten Song. Er legte die Gitarre zur Seite und schüttelte den Kopf. »Ich könnte dir den ganzen Tag zuhören und zusehen. Du hast es drauf, Charlie. Du hast es einfach drauf!«

Seine Begeisterung war echt. Ich kam gar nicht damit hinterher, diese ganzen unverhofften Worte der Anerkennung zu verarbeiten.

»Und weißt du, was das Beste ist? Dir ist überhaupt nicht bewusst, wie gut du bist!«

Ich schnappte nach Luft. Das winzige, miefige Wohnzimmer hier in unserer Studentenbude, die mein Bruder, ich und unsere Freundin Kirsty uns von Montag bis Freitag teilten, hatte in den letzten vier Jahren zu vielen feuchtfröhlichen Partys und langen Nächten eingeladen, aber nie hatte ich eine solche Elektrizität in der Luft erlebt wie mit Tom.

»Du spielst nicht nur Schlagzeug, du kannst auch singen und Gitarre spielen«, brachte ich schließlich heraus. »Du hast es musikalisch selbst voll drauf.«

Er wollte nichts von meinem Versuch, sein Kompliment zurückzugeben, wissen. »Nein, Charlie Taylor. Ich bin musikalisch nicht unbegabt, das stimmt, aber du hast echte Starqualitäten. Du bewegst dich auf einem ganz anderen Level, und das sage ich nicht einfach nur so. Du bist grandios.«

Meine Unterlippe zitterte, und ich streifte meine Haare hinter die Ohren. »Findest du wirklich?«

»Ich weiß es sicher«, antwortete er und hielt meinem Blick stand.

Ich wusste nicht, ob ich über diese enorme Anerkennung eines derart schönen und talentierten Menschen, der mich mit dem höchsten Respekt betrachtete, lachen oder weinen sollte.

In unserer Familie hatte immer Matthew als der Kreative gegolten. Er war der Vielseitigste von uns, derjenige, der zielstrebig an seiner musikalischen Karriere arbeitete und zudem Architektur studierte, zu ihm blickten wir alle auf, ihn feuerten wir an. Ich würde später Kinder unterrichten, und meine musikalischen Ambitionen waren zu keinem Zeitpunkt ernst genommen worden. Sie entsprachen einfach nicht dem Bild, das meine Eltern von mir hatten. Matthew war der Coole mit dem großen Talent, Emily war die Ruhige und Vernünftige, die sich an die Regeln hielt, und ich war das wunderliche, abgedrehte Nesthäkchen, das rebellische Kind mit einem scharfen Verstand, das gut mit Worten umgehen konnte und daher am besten in ein Klassenzimmer passte, wo andere von seiner Weisheit profitieren konnten. Ich hatte einen merkwürdigen Kleidungsstil und geriet manchmal in Teufels Küche, aber das alles konnte man in Ordnung bringen. Oder zumindest hofften das meine Eltern.

»Ich habe diese Songs noch nie jemandem vorgespielt«, gestand ich Tom. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und ich ging an ihm vorbei zum Fenster und zog die Vorhänge zu.

Als ich zu ihm zurückkehrte, nahm er sanft meine Hand in seine. »Du besitzt eine ganz besondere Magie, ernsthaft«, sagte er leise. »Bitte glaub mir, Charlie. Du kannst nicht ignorieren, was gerade passiert ist.«

Wir standen da, eingefroren im Moment. Ich konnte kaum atmen.

»Ich glaube, ich bringe dich in Schwierigkeiten«, sagte ich.

Seine Augen weiteten sich. »Ich glaube auch«, sagte er.

»Wegen der Band!«, fügte ich rasch hinzu. »Ich meine, ich will nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst. Es hört sich nämlich an, als wären die anderen jetzt da.«

Wir lösten unsere Hände, und er rieb nachdenklich seine Stirn.

»Ja, klar, die Band. Das meintest du«, sagte er, dann sah er an die Decke und atmete tief aus.

Sein Akzent war einfach zum Niederknien. Ich schloss für eine Sekunde meine Augen. Ich wünschte, er würde wieder meine Hand nehmen, würde mir sagen, dass es ihn nicht kümmerte, ob er Schwierigkeiten bekam. Er hatte gesagt, ich besäße eine ganz besondere Magie. Dass ich grandios sei. Er hatte so viele Dinge gesagt, die mir noch nie zuvor jemand gesagt hatte, und ich hätte am liebsten die Zeit angehalten, damit wir es nicht dabei belassen mussten.

Ich wollte mehr von Tom Farley, und als ich meine Augen öffnete, sah ich ihm an, dass auch er noch nicht genug von mir hatte.

»Ich schätze, ich sollte zu den anderen gehen«, sagte er, aber seine Augen verrieten mir, dass er nicht gehen wollte. Ich wollte das auch nicht.

Aus der Küche hörte ich die Stimmen der anderen. Matthew würde mir den Hals umdrehen. Nicht nur, dass ich Toms Aufmerksamkeit für längere Zeit beansprucht hatte, ich hatte außerdem das Wohnzimmer in Beschlag genommen und mit unserer spontanen Musikeinlage meinem Bruder die Show gestohlen.

Tom beugte sich leicht zu mir vor. »Hör zu, Charlie«, sagte er eindringlich, »unter uns: Ich kenne einige Leute aus der Szene, die alles dafür geben würden, um auch nur ein Gramm von deinem Talent zu besitzen. Du darfst deine Songs nicht länger verstecken oder diese besondere Gabe, die du hast, einfach ignorieren. Du musst ein Demo an die richtigen Plattenfirmen rausschicken. Glaub mir, die würden dich sofort unter Vertrag nehmen.«

Plattenfirmen? Auf diesen Gedanken war ich nie gekommen, trotzdem begann meine Fantasie sofort zu blühen. Ich lachte laut auf bei der Vorstellung.

»Du meinst, ich soll mit meiner Musik Geld verdienen?«, sagte ich. »Indem ich Songs schreibe? Als Beruf?«

Ich lachte wieder, aber er nickte, als wäre es genau so simpel. »Als Karriere«, sagte er mit Nachdruck. »Langfristig. Geh nach London, Charlie! Geh nach New York oder an irgendeinen anderen Ort in den USA, nach Texas oder Nashville. Dort werden sie sich um dich reißen, das weiß ich einfach. Ich sage dir, das Songwriting liegt dir im Blut. Ich glaube total an dich. Deine Musik und deine Texte sind der absolute Hammer. Du bist der absolute Hammer.«

Das Zimmer fing an, sich leicht zu drehen, und mir wurde richtig heiß bei der Vorstellung, wie mein kleines Ich in eine große Stadt zog, weit entfernt von Irland und von allem, was ich im Leben kannte. Ich malte mir für einen kurzen Augenblick aus, wie ich in einem großen Fenster saß und auf eine Mischung aus Sonne und bunten Farben und Geräuschen hinausschaute, die mir völlig fremd waren. Der bloße Gedanke machte mich benommen und versetzte mich gleichzeitig in Erregung. Ich spürte ein Kribbeln von Kopf bis Fuß, wenn ich mir vorstellte, dass jemand meine Songs spielte, meine Texte, in einem brechend vollen Saal, mit einem Schlagzeuger wie Tom Farley, der den Rhythmus vorgab und –

»Okay, Zeit für unser Meeting!«, verkündete Matthew und brachte mit seiner lauten Stimme meine Seifenblase zum Platzen. »Habe ich richtig gehört, Lexi ist gerade gekommen?«

Mein Blick richtete sich auf die Tür, wo nun das schönste und exotischste Geschöpf erschien – zierlich, blass, im orientalisch angehauchten Gothic-Look –, und Toms Augen schweiften zum ersten Mal, seit er hier war, von mir ab.

Mein himmlischer Nachmittag war drauf und dran, sich in einen höllischen Abend zu verwandeln, als die Realität mir direkt ins Herz boxte.

»Süßer!«, sagte Lexi mit einem heiseren, vornehmen Dubliner Akzent. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme, Baby, aber ich habe eine Ewigkeit nach dem richtigen Haus gesucht. Du hättest mir sagen sollen, dass es das mit dem kaputten Briefkasten ist – typisch Studenten-WG!«

Sie zog eine Grimasse, die bei jedem anderen sehr unattraktiv ausgesehen hätte, aber verglichen mit meiner Schockstarre über ihr Erscheinen war sie immer noch umwerfend schön wie ein Supermodel. Mir fiel die Kinnlade herunter, als sie direkt an mir vorbeischwebte, ihre Arme um Tom schlang und ihn vor aller Augen auf den Mund küsste, was mir gerade ausreichend Zeit gab, um mir meine Gitarre zu schnappen und einen schnellen Abgang zu machen, bevor mein Bruder mir mit selbstgefälliger Miene ein »Ich habe dich gewarnt!« mitgeben konnte.

»Charlie!«, rief Tom mir nach und schob seine Freundin so sanft wie möglich von sich weg.

Ich versuchte, nicht hinzuschauen, was natürlich nicht klappte. Also musste ich mit ansehen, wie sie ihm etwas ins Ohr flüsterte und es dabei fast auffraß. Sie warf ihr schulterlanges, schwarz glänzendes Haar zurück und entblößte ein Tattoo aus asiatischen Schriftzeichen an ihrem langen, schlanken Hals, und ich berührte meinen eigenen Hals, der sich im Vergleich dazu langweilig und nackt anfühlte.

»Ich heiße Charlotte und nicht Charlie!«, rief ich zu Tom zurück und hörte meine Stimme zittern. Unsere Blicke trafen sich, und ich spürte, dass meine Lippen zuckten, dann stürmte ich mit meiner Gitarre in der Hand und meinen dämlichen Texten im Kopf die Treppe hoch, während mein Stolz hinter mir über den Boden schleifte und mir Tränen in die Augen schossen.

»Schreib einen Song darüber, Schwesterherz!«, hörte ich Matthew gefühlt Stunden später rufen, als sie endlich alle gegangen waren. »Und keine Sorge, Charlotte, jeder, der Tom Farley begegnet, verliebt sich auf Anhieb in ihn. Wahrscheinlich bin ich sogar selbst ein bisschen in ihn verknallt.«

»Oh, lass es gut sein, Matthew!«, brüllte ich zurück und trat meine Zimmertür zu.

Falls er gerade versuchte, mich zu trösten, funktionierte es nicht. Ich hatte mich Hals über Kopf in Tom Farley verliebt, ohne zu ahnen, dass er eine Freundin hatte. Wie konnte ich so dumm und überheblich sein? Wie konnte es eine solche Magie zwischen zwei Menschen geben, wie er selbst gesagt hatte, und dann ging einer davon einfach weg und sank in die Arme einer anderen Person? Ich konnte es nicht begreifen. Ich war jung und naiv und machte zum ersten Mal die Erfahrung, dass man unverhofft dem wunderbarsten Menschen begegnen konnte, nur um gleich darauf in eine andere Richtung geschubst zu werden.

Ich versuchte, die Erinnerung an Tom Farley abzuschütteln, aber es gelang mir nicht, und obwohl ich ihn danach nur noch aus sicherer Entfernung sah, hinter seinem Schlagzeug auf der Bühne, ging er mir von diesem Tag an nie wieder aus dem Kopf.

Ich träumte morgens, mittags und abends von ihm, und obwohl es ein bisschen abgedroschen und vorhersehbar erscheint, schrieb ich tatsächlich einen Song über ihn, wie mein Bruder es mir empfohlen hatte. Na ja, um ehrlich zu sein, schrieb ich rund zwanzig Songs über ihn.

Ich war zweiundzwanzig Jahre und neun Monate alt, als ich mich zum ersten Mal in Tom Farley verliebte, und ich war genauso alt, als er mir zum ersten Mal das Herz brach.

Das Leben war danach nie wieder dasselbe, für keinen Einzigen von uns.

KAPITEL 1

Dublin, Dezember 2015

Heute war der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien, was bedeutet, dass die Festzeit offiziell eingeläutet ist, und ich bin in Festlaune.

Ich trage einen Lamettakranz um den Hals und eine Nikolausmütze auf dem Kopf und feiere mit meinen Lieblingsmenschen in einer Kneipe. Das Leben ist schön.

»Bin gleich wieder da«, sage ich zu dem hübschen Mann an der Bar, der mir ein Bier bestellt hat.

Meine Schwester Emily tanzt, ganz untypisch für sie, auf einem wackeligen Tisch und kann sich nur mithilfe ihres Ehemanns aufrecht halten, meine Mitbewohnerin Kirsty knutscht in der Ecke mit irgendeinem Fremden, und die Black Eyed Peas erklären mir, dass heute Abend ein richtig guter Abend wird. In meiner bescheidenen kleinen Welt sieht also alles ziemlich rosig aus, und ich stehle mich kurz davon, um draußen im Hinterhof der Kneipe eine zu qualmen. Eigentlich bin ich Nichtraucherin, aber eine heimliche Zigarette ist das Höchste an Rebellion, was in meinem Leben momentan stattfindet.

Pip’s Bar liegt in einer Seitenstraße nahe dem Haus, das Kirsty und ich uns im Norden Dublins teilen, und ist die Art von Lokal, wo man normalerweise nichts aus dem Glas trinken würde, sondern nur aus der Flasche. Aber die dichte Schneedecke auf den Straßen und die Möglichkeit, zu Fuß nach Hause zu gehen und uns das Taxi zu sparen, haben uns hierhin verschlagen, und je mehr Bier floss, umso lustiger wurde der Abend.

»Woo-hooo!«, singe ich laut mit Fergie und fische tänzelnd nach einer Zigarette in meiner Handtasche, ignoriere die anzüglichen Blicke eines zwielichtigen alten Knackers, der neben dem Hinterausgang am Pokerautomaten spielt.

Es macht mir Spaß, und ich finde es erfüllend, Lehrerin zu sein, aber in den Ferien gibt es nichts, was ich lieber tue, als es ordentlich krachen zu lassen und einfach Charlotte Taylor zu sein, die gerne lauthals mitsingt, statt »Miss Taylor«, die manchmal lauthals schreien muss, um ihre Erstklässler zur Räson zu bringen.

»Zum Klo geht’s da lang, Schätzchen«, sagt der Alte an der Pokermaschine mit einem starken Dubliner Akzent, und ich halte meine Zigarette hoch, um ihm zu zeigen, dass ich heute Abend einem ungesunden Laster fröne, ohne mich darum zu kümmern, dass wir draußen ungefähr minus siebzehn Grad haben. Ich stoße die schwere graue Tür mit dem Notausgang-Schild auf und fange in der eisigen Kälte, die mich draußen empfängt, sofort an zu zittern. Kurz frage ich mich, ob es sich wirklich lohnt, der Wärme den Rücken zu kehren – und der Aussicht auf eine heiße Knutscherei mit dem schönen Jimmy oder Johnny oder wie auch immer das Schnuckelchen heißt, das ich drinnen mit einem Bier für mich in der Hand stehen gelassen habe.

Die Tür knallt hinter mir zu, und ich realisiere, dass ich mich ausgeschlossen habe, aber ich bin nicht in der Stimmung, um in Panik zu verfallen. Mr. Pokerspieler wird mir hoffentlich zur Rettung kommen, wenn ich laut genug an die Tür hämmere, sobald ich aufgeraucht habe.

Ich kann die Musik drinnen hören, ich bin mehr als nur ein bisschen beschwipst, und ich habe beschlossen, dass dieses Weihnachten das beste aller Zeiten wird, also tanze ich weiter, als wäre ich allein. Und das bin ich ja auch, schließlich ist außer mir niemand hier, kurz vor Mitternacht in einem kleinen Hof hinter einer schäbigen Kneipe, in die normalerweise niemand meines Alters einen Fuß setzen würde. Ich suche in meinen Jackentaschen nach einem Feuerzeug.

»Verfluchte Scheiße, jetzt sind wir beide ausgesperrt! Weißt du, wie lange ich hier draußen schon warte, dass mir jemand die verdammte Tür aufmacht?«

»Mein Gott, hast du mich erschreckt!«, keuche ich und nehme erst jetzt die Umrisse einer Gestalt wahr, die im Schatten sitzt.

»Ja, sorry, aber nun müssen wir auf den nächsten Raucher warten, um reinzukommen.«

Mein Puls fährt wieder runter, und ich wende mich in die Richtung, aus der der heisere amerikanische Akzent kommt. Meine unangezündete Zigarette tanzt in der Luft und zeigt in den Himmel, meine Füße können noch immer nicht aufhören zu zappeln. Ich trage meine stahlblauen Cowboystiefel, nicht gerade das sicherste Schuhwerk, wenn draußen so viel Schnee liegt, aber ich sollte mir eher Gedanken darüber machen, dass ich mit einem Fremden, der im Moment ganz schön sauer klingt, in einem verlassenen Hinterhof festsitze.

»Du solltest anderen Leuten wirklich nicht so einen Schreck einjagen«, sage ich und blinzele angestrengt in die Dunkelheit, um mehr von dem Typen zu erkennen, während ich mich seiner gereizten Stimmung anpasse. »Ich hätte hinfallen und mir den Fuß brechen können, und das wäre sicher nicht –«

»Charlie?«

Mein Herz bleibt abrupt stehen. Dieser Kerl hat mich gerade Charlie genannt. Niemand nennt mich so, außer mein Bruder, wenn er sich aufspielen möchte, oder …

»Tom? Tom Farley

Ich muss mir das einbilden. Er kann nicht echt sein. Ich lege eine Hand auf meine Brust und bete, dass dies hier nicht irgendein Streich ist oder eine Halluzination wie so oft in all den Jahren, seit ich das letzte Mal seine Stimme gehört habe.

Ich nähere mich langsam der Gestalt, und als ich sein Gesicht sehe, verschlägt es mir den Atem.

Diese Stimme – warum habe ich sie nicht sofort erkannt? Schließlich lief sie jahrelang in einer Endlosschleife in meinem Kopf. Diese Augen, in denen ich nur ein einziges Mal wieder versinken wollte, diese Lippen, diese Haare, diese Arme, von denen ich gehalten werden wollte.

Er ist es tatsächlich. Das kann nicht sein. Ich verstehe es nicht.

»Tom Farley, sage ich wieder.

Er nickt. »Wie zum Teufel ist das möglich?«, erwidert er, genauso verblüfft wie ich.

Ich kann nicht glauben, dass das hier gerade passiert. So betrunken bin ich nicht, oder doch?

Ich habe mich aus einer abseits gelegenen Kneipe ausgesperrt, in einer bitterkalten Dezembernacht, und treffe dort im Hinterhof ausgerechnet den Menschen, auf den ich volle fünf Jahre meine ganze imaginäre Zukunft ausgerichtet habe, obwohl ich tief im Innern nicht daran glaubte, dass wir uns jemals wiedersehen würden.

»Das ist einfach unfassbar«, sagt er, noch immer völlig perplex, und lässt ein sehr, wirklich sehr süßes Lächeln aufblitzen. »Charlie Taylor! Mann, und ich dachte, wenn ich dich das nächste Mal wiedersehe, wird das auf einer großen Bühne sein, über der in riesigen Lettern dein Name leuchtet, und nicht in einem finsteren Hinterhof.«

Er schüttelt ungläubig den Kopf, so wie damals vor all den Jahren, und starrt mich mit demselben staunenden und hungrigen Ausdruck an.

»Ich verstehe das nicht«, murmele ich. »Was um alles in der Welt tust du hier? Wo zum Teufel hast du all die Jahre gesteckt? Ich kann nicht einmal –«

»Brauchst du Feuer?«

Haltet die Welt an und lasst mich aussteigen. Stoppt alle Uhren, Klaviere sollen schweigen und so weiter. Es ist wirklich Tom Farley – nur er und ich in einem gottverlassenen Hinterhof. Wie kann das sein?

Ich schaue auf meine Zigarette und stelle fest, dass ich tatsächlich Feuer brauche. Ich habe aufgehört zu tanzen, aber innerlich hüpfe ich weiter zu »Boom Boom Pow«, dem nächsten Lied von den Black Eyed Peas, das nun drinnen läuft.

Ich fühle mich, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, während sich ein ganzes Kaleidoskop von Emotionen in mir dreht. Mein Mund formuliert Worte, aber mein Verstand denkt nicht darüber nach. Es ist, als wäre ich in lauter Einzelteile zerlegt worden und versuchte nun verzweifelt, alles wieder zusammenzufügen und den Sinn zu verstehen.

»Eigentlich rauche ich gar nicht, verrate also Matthew bitte nichts.«

Ich bin hypernervös, und ich habe keine Ahnung, warum ich das sage, als wäre ich erst vierzehn oder so und würde mit meinen Eltern oder meinem großen Bruder Ärger bekommen, wenn man mich beim Rauchen erwischte. Ich glaube, ich stehe kurz vor einem Herzinfarkt, und das hat nichts mit dem Konsum von Tabak zu tun.

»Im Moment siehst du nicht so aus, als würdest du nicht rauchen.«

»Was ich meinte, ist, dass ich normalerweise nicht rauche, nur hin und wieder, wenn ich was trinke, und nach Silvester werde ich keine Zigarette mehr anrühren«, schwafele ich.

Er ist es tatsächlich.

»Ich denke nicht, dass ich Matthew was davon sagen werde, keine Angst.«

»Genau genommen werde ich nach Silvester auch keinen Alkohol mehr anrühren«, plappere ich weiter. »Das sind meine guten Vorsätze für das neue Jahr. Ich kann wirklich nicht glauben, dass du es bist. Du bist es doch, oder?«

»Ja, ich bin es«, antwortet er lachend. »Leibhaftig. Immer noch derselbe Tom.«

Immer noch derselbe umwerfend schöne Tom. Immer noch die Liebe meines Lebens. Immer noch der Mann, der vor Jahren von der Bildfläche verschwand und mich sehnsüchtig von einem Wiedersehen träumen ließ. Alles, was ich über ihn weiß, habe ich von meinem Bruder aufgeschnappt, und das ist nicht wirklich viel. Sicher ist nur, dass die beiden nicht mehr befreundet sind, nachdem ihre Band sich im Streit auflöste.

Ich beuge mich über die Flamme in seinen gewölbten Händen, froh über die kurze Wärme, sauge am Filter meiner Zigarette und paffe, bis die Glut an der Spitze hellrot aufleuchtet, dann werfe ich effektvoll meine Haare zurück und stoße eine lange Rauchfahne aus. Tom riecht nach einer Mischung aus Pfefferminzkaugummi, Eau de Toilette, Tabak und Leder, genau wie an jenem Tag, an dem wir uns kennenlernten.

»Du riechst noch immer so gut«, sage ich zu ihm. »Derselbe Moschusduft.«

»Und du redest noch immer so viel«, erwidert er mit seinem strahlenden Lächeln. »Dieselbe Plaudertasche.«

Ich würde ihm ja widersprechen, aber das haben mir schon viele, viele andere Leute gesagt.

»Singst du noch so gerne, wie du quasselst?«, fragt er. »Bitte sag jetzt nicht, dass du meinen Rat ignoriert hast, Lehrerin geworden bist und deine Songs unter dem Bett verstauben.«

Meine Songs über dich verstauben unter dem Bett, würde ich ihm am liebsten offenbaren. Mein Puls geht nun wieder normal, trotzdem kann ich einfach nicht glauben, dass dieser Moment hier real ist.

»Ich schreibe und singe immer noch gerne«, antworte ich mit einem Lächeln und ziehe den Kragen meiner Jacke ein Stück höher. »Aber es stimmt schon, inzwischen spiele ich hauptsächlich Lieder wie ›Die Affen rasen durch den Wald‹ und andere Schulhofhits.«

»Dann bist du also doch Lehrerin geworden«, sagt er. Es klingt enttäuscht. »Ich meine, versteh mich nicht falsch, das ist ein toller Beruf, aber ich dachte immer, du wärst zu Höherem bestimmt.«

Ich zittere. Plötzlich fühle ich mich stocknüchtern. Ich schaue mich um und vergewissere mich, dass wirklich niemand anders hier ist, dann bohre ich meine Fingernägel fest in meine Handflächen, um endgültig auszuschließen, dass ich träume. Am liebsten würde ich vor Freude laut schreien. Am liebsten würde ich in die Luft springen und gleichzeitig weinen vor Glück.

»Ja, ich bringe Grundschülern das Abc bei, und ich liebe es«, sage ich schließlich, während ich versuche, nicht auszuflippen. »Heute beginnen die Weihnachtsferien, darum bin ich mit den anderen feiern gegangen, aber ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich dir über den Weg laufen würde.«

Er lacht und zündet sich selbst eine Zigarette an, als wüsste er nicht, was er als Nächstes sagen soll. Er hat den Schock noch nicht verarbeitet, genauso wenig wie ich. Wir starren uns gegenseitig an, lassen die Situation auf uns wirken, versuchen, zu begreifen, dass wir nach all der Zeit, die vergangen ist, noch einmal diesen atemberaubenden Moment erleben, der uns direkt ins Herz getroffen hat. Na ja, zumindest empfinde ich es so.

»Und du? Spielst du noch Schlagzeug?«, frage ich.

»Nicht mehr so viel, seit dein Bruder mich vor vier Jahren aus der Band geworfen hat«, antwortet er mit einem nervösen Lachen. Er senkt seine Stimme. »Wie geht es Matt? Kommt er zurecht?«

Es entsteht eine lange Pause, und die Stimmung wechselt abrupt. Ach, würde Matt doch nur zurechtkommen. Ich wünsche mir nichts mehr für meinen Bruder.

»Matthew geht es den Umständen entsprechend«, sage ich und sehe auf den Boden. Ich könnte so viele schreckliche Details darüber erzählen, wie dreckig es Matthew in Wahrheit geht, aber Blut ist dicker als Wasser, und ich würde meinem einzigen Bruder niemals in den Rücken fallen. »Er spricht nicht mehr über früher, Tom. Über keinen von der Band.«

»Das dachte ich mir«, sagt Tom und kickt imaginäre Steine über den matschigen Boden.

»Ich habe lange Zeit versucht, ihn über die Band auszufragen«, gestehe ich, »aber schließlich musste ich einsehen, dass er mit dem Thema mehr oder weniger abgeschlossen hat. Ich habe den Eindruck, er will nicht mehr über euch sprechen. Tut mir leid.«

Tom presst die Lippen zusammen und wendet den Blick ab. »Es ist alles total schiefgelaufen«, sagt er und hebt sein Gesicht in den Schneehimmel, was mir die Gelegenheit gibt, ihn zu mustern. In seiner Bikerjacke, dem schwarz-weißen Hahnentrittschal, der ausgewaschenen Jeans und den schweren Stiefeln sieht er noch immer wie ein richtiger Rockstar aus. Er riecht auch noch immer so, dass ich ihn am liebsten ganz nah an mich heranziehen würde. Und er klingt noch immer wie der Mann, der mir direkt aus der Seele spricht und den ich nach unserer ersten und einzigen kurzen Begegnung vor fünf Jahren nie wieder aus dem Kopf gekriegt habe.

»Also, wo bist du gewesen?«, frage ich, und der alte Schmerz schwingt in meiner Stimme mit. So viele Jahre sehnte ich mich nach diesem Mann, verzehrte mich nach ihm. Ich reiste um die halbe Welt, um seinen Geist abzuschütteln, und begrub ihn schließlich im hintersten Winkel meines Gedächtnisses, aber in meinem Herzen lebte er weiter. Das erkenne ich nun deutlicher denn je.

»Ich war …« Er lacht kurz auf und kratzt sich am Kopf. »Ich war überall und habe paradoxerweise versucht, das zu wiederholen, was Matt und ich uns vor all den Jahren erarbeitet haben. Ich wollte als Musiker groß rauskommen, aber jedes Mal, wenn sich für mich irgendwo eine Tür auftat, schlug mir die nächste vor der Nase zu. Vielleicht war es richtig, dass du nicht auf meinen Rat gehört hast, in die Musik zu gehen. Ich freue mich für dich, Charlie. Du wirkst glücklich. Und du siehst noch genauso umwerfend aus wie damals mit deiner Gitarre, deinen wunderbaren Songs, deinem albernen Pyjama und den gleichen Doc Martens wie meinen.«

Er erinnert sich an alles. Mein Gott, er weiß es tatsächlich noch, aber er ahnt nicht, wie sehr mich dieses Wiedersehen mitnimmt. Er hat sich äußerlich kein bisschen verändert, trotzdem wirkt er ganz anders. Seine Augen sehen ein bisschen müde aus, aber ihr Ausdruck ist noch immer verträumt genug, um mich fortzuspülen. Es verschlägt mir auch jetzt wieder den Atem, wenn ich beobachte, wie seine Lippen sich beim Sprechen bewegen. Seine Haare sind inzwischen kürzer, aber noch immer würde ich am liebsten hineingreifen, ihn überhaupt berühren. So viele Fragen schießen mir durch den Kopf. Hat er jemals an mich gedacht, so wie ich an ihn? Hat er an jenem Tag vor fünf Jahren in unserem bescheidenen Wohnzimmer dasselbe gespürt wie ich, oder habe ich mir in meinem Überschwang der Gefühle alles nur eingebildet?

»Was zum Teufel machst du hier, Tom?«, frage ich. Es ist die mutigste Frage, die ich über die Lippen bringe. »Ich meine, ernsthaft, was hat dich ausgerechnet an diesen Ort hier verschlagen?«

Er lacht über meine Verwunderung.

»Niemand unter vierzig geht freiwillig in Pip’s Bar«, füge ich hinzu, »schon gar nicht so kurz vor Weihnachten, wenn überall so viel los ist. Es ist wirklich extrem seltsam, dass wir uns ausgerechnet hier begegnen.«

Meine Zigarette schmeckt mir nicht so gut, wie ich dachte, und ich würde sie am liebsten schon nach wenigen Zügen ausmachen, aber das wäre sehr uncool.

»Das stimmt. Ist nicht gerade Las Vegas hier, nicht wahr?«, erwidert er scherzhaft.

Er sieht mich an mit seinen verträumten, strahlenden Augen, die seitlich Fältchen werfen. Sie tanzen und flirten nicht mehr mit mir wie damals, aber sie haben noch immer etwas an sich, das mich benommen macht, mehr als der Alkohol, den ich getrunken habe. Das Knistern zwischen uns ist auch jetzt noch vorhanden. Ich wusste, dass ich es mir vor all den Jahren nicht eingebildet habe.

Er atmet tief durch. »Es ist eine längere Geschichte, warum ich hier bin«, sagt er und stößt eine Rauchfahne in meine Richtung aus. »Eigentlich habe ich nach jemandem gesucht.«

Ich hätte es wissen müssen.

»Vielleicht nach dir?«, fügt er hinzu.

Meine Augen werden groß. Ich kann nicht sagen, ob er es ernst meint oder nicht, aber ich habe zu viel Angst, ihn zu fragen.

»Ich hätte nie gedacht, dass heute mein Glückstag ist, und siehe da, hier stehe ich und unterhalte mich mit dir, und du unterhältst dich mit mir, während wir uns in der wahrscheinlich kältesten Nacht des Jahres zusammen den Arsch abfrieren«, sagt er. »Außerdem hast du uns ausgesperrt. Das ist wahrscheinlich eine glückliche Fügung des Schicksals.«

Seine Stimme klingt tiefer als früher, richtig erwachsen, und lässt ihn deutlich älter wirken, als er aussieht. Er muss jetzt Anfang dreißig sein, da ich selbst inzwischen stolze siebenundzwanzig bin.

»Das gefällt mir sehr«, sage ich.

»Was? In der Kälte ausgesperrt zu sein?«

»Sehr witzig.« Ich kichere nervös. »Nein, ich meine die Fügung des Schicksals.«

»Gefällt mir auch.«

»Weißt du, ich glaube an die Vorsehung … daran, dass man auf sein Bauchgefühl hören sollte … dass die Dinge vorherbestimmt sind. Tatsächlich hast du mich gerade an meinen dritten und wichtigsten Vorsatz für das neue Jahr erinnert.«

»Und der wäre?«, fragt er.

Für den dramatischen Effekt rücke ich ein kleines Stück näher, achte jedoch darauf, dass nicht zu offensichtlich wird, wie verrückt ich all die Jahre nach ihm war – und immer noch bin. Ich möchte ihn so gerne berühren, wenigstens seine Jacke. Die Anziehungskraft, die er auf mich ausübt, nimmt ein Ausmaß an, das ich nie für möglich gehalten hätte, und ein Wirrwarr von Gefühlen blockiert meinen Verstand.

»Mein Vorsatz lautet, mehr im Leben zu wagen«, verkünde ich, und meine Augen glänzen bei der Vorstellung, obwohl meine Mutter ausflippen würde, wenn sie mich jetzt hören könnte. In ihren Augen war ich immer jemand, der gern am Abgrund entlangtänzelte. »Weißt du, ich werde mein Leben in die Hände des Schicksals legen. Mehr riskieren. Mich von der Strömung treiben lassen. Mir selbst treu sein und mein wahres Ich nicht unterdrücken, um anderen zu gefallen.«

Er wirft einen Blick zur Hintertür, dann über seine Schulter zum Außentor.

»Hast du Lust, unsere Unterhaltung woanders fortzusetzen?«, fragt er und blickt sich zwischen den schneebedeckten Müllcontainern und Bierfässern im Hof um, als suchte er nach einer Eingebung. »Wie du schon gesagt hast, die Kneipe hier ist nicht gerade der Brüller. Außerdem kann es sein, dass wir wegen der Sperrstunde gar nicht mehr reinkommen.«

Lieber Gott im Himmel … habe ich gerade richtig gehört? Er möchte, dass wir woandershin gehen, um zu reden? Nur wir beide? Das hier kann nur ein Traum sein.

Ich wüsste nichts auf der Welt, was ich im Moment lieber täte, als seinen Vorschlag anzunehmen, aber dann wird mir schwer ums Herz. Selbst wenn die Versuchung, mit Tom abzuhauen, riesengroß ist, kann ich Emily, Kevin und Kirsty nicht einfach im Stich lassen. Oder doch? Und was, wenn ich nicht mit ihm gehe? Werde ich es dann für den Rest meines Lebens bereuen? Werde ich ihn dann niemals wiedersehen?

»Wir könnten es vorne versuchen und an die Scheibe klopfen«, schlage ich als Kompromiss vor. »Eigentlich sollte ich zurück zu meinen Freunden. Sie fragen sich bestimmt schon, wo ich bin.«

Ernüchtert lässt er die Schultern hängen. »Kein Problem, Charlie. Ich respektiere das. Ich begleite dich noch eben zum Vordereingang.«

Ich hadere mit meiner Entscheidung. Was zum Teufel ist in mich gefahren? Vielleicht werde ich ja endlich vernünftig.

»Danke«, sage ich, aber ich mache keinerlei Anstalten zu gehen. Vielleicht bin ich doch nicht so vernünftig.

Sein Blick wandert über mein Gesicht, meine Haare, meine Gestalt. Er betrachtet mich so wie an jenem Tag in unserem Studentenwohnzimmer, als wir die gleichen Schuhe trugen und die Luft von Bewunderung und Musik erfüllt war. Ich spüre, wie das Blut in meinen Adern brodelt und mich von innen wärmt.

In seinen hungrigen Augen kann ich praktisch seine Gedanken lesen, und mein Magen hüpft inzwischen auf und ab zu den Black Eyed Peas. Tatsächlich fährt alles in mir Achterbahn, wenn ich so nah vor ihm stehe.

Ich schlucke. Ich will nicht, dass er geht. Ich will unsere zweite Chance nicht auch noch verpassen.

»Ich würde dieses Mal gerne die Gelegenheit nutzen, dich näher kennenzulernen, Charlie«, sagt er. »Es muss ja nicht heute Nacht sein, vielleicht können wir uns in den nächsten Tagen mal treffen. Ohne Druck, einfach nur, um zu schauen, was passiert. Um zu schauen, ob es tatsächlich Schicksal ist, dass wir uns heute wiederbegegnet sind.«

Die Achterbahn in mir kommt abrupt zum Stehen. Mein Herz klopft wie wild. Ich sehe ihn an. Er ist wirklich unheimlich sexy, besonders aus unmittelbarer Nähe. Er ist Tom Farley. Ich habe in den letzten Jahren viel Zeit damit verbracht, mir genau diesen Moment hier auszumalen und meine Gefühle in meinen Songs zu verarbeiten.

Ich atme.

Er atmet.

Es schneit nun ziemlich stark, und hier draußen gibt es nichts, um sich richtig unterzustellen.

Ich muss wieder an die anderen drinnen denken. Emily und Kevin fragen sich wahrscheinlich, wo ich bin, und Kirsty ist vermutlich mit ihrer neuen Eroberung beschäftigt, in Gedanken schon bei einer heißen Nacht, ohne dass es sie kümmert, dass sie ursprünglich mit uns feiern wollte. Wenn sie keine Rücksicht nimmt, warum soll ich dann nicht auch meinen Spaß haben?

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