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Jil Sander. Eine Annäherung

Als Buch hier erhältlich:

ÜBER ENTWÜRFE, DIE NICHT NUR DIE MODEWELT REVOLUTIONIERTEN

Jil Sander ist die bekannteste Modedesignerin Deutschlands. In einer Zeit, in der Frauen nur mit Erlaubnis ihrer Ehemänner ein Konto eröffnen und arbeiten durften, begann sie Mode zu entwerfen, die nichts mehr mit den biederen Rollenbildern der Fünfziger- und Sechzigerjahre gemein hatte. Mit ihren minimalistischen Entwürfen schuf Jil Sander den neuen Look der modernen berufstätigen Frau: lässig, erfolgreich, selbstbewusst.

1989 brachte Jil Sander ihre Firma an die Börse und wurde damit in Deutschland die erste Frau im Vorstand eines Aktienunternehmens. Sie selbst stand immer für die Glaubwürdigkeit ihrer Marke, deren Botschaft sich bis heute trägt. Ihre Entwürfe sind zeitlose Klassiker; Jil Sander selbst beindruckt durch ihre anhaltende Unaufgeregtheit und zielsicheres Understatement. Was können wir von ihr lernen?

Mit Respekt und Bewunderung nähert sich die Journalistin Maria Wiesner Jil Sander und ihrem Lebenswerk. Ein Buch über eine Visionärin, die ihresgleichen sucht.


  • Erscheinungstag: 24.10.2023
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004616

Leseprobe

»Schönheit ist ein Versprechen, dass es jenseits der Mittelmäßigkeit etwas gibt, wo Ruhe herrscht. Schönheit besänftigt die Nerven, Schönheit ist keine gute Absicht, sondern eine Tatsache.«

– aus dem Film »In einem Land, das es nicht mehr gibt« von Aelrun Goette

DIE TÜR INS PRIVATE IMMER NUR EINEN SPALT ÖFFNEN

Jil Sander steht nicht gern vor großem Publikum. Wer sie in Frankfurt 2017 bei der Eröffnung ihrer Ausstellung »Präsens« im Museum Angewandte Kunst sah, wie sie vor die anwesenden Presseleute und Fotografen trat, konnte das ahnen. Sander erschien in Frankfurt in ihrer bewundernswert stilsicheren Uniform: in schmalen schwarzen Hosen und einem marineblauen Pullover aus dickem Strick, der ihren Oberkörper wie ein Schutzschild umgab, eine Farb- und Materialkombination, die man von vielen ihrer Presseauftritte in den vergangenen Jahren her kennt. Ihre Augen hatte die Designerin hinter einer dunklen Brille versteckt.

Für die Pressefotos an der Seite von Ausstellungskurator Matthias Wagner K war ein genaues Zeitfenster abgesteckt. Und obwohl die Fotografen sie wie einen Filmstar belagerten, beließ sie es bei kurzem Winken und Nicken. Die Eröffnung ihrer Ausstellung hatte den Sinn, sie als Ausnahmemodemacherin, als Designerin und als Künstlerin zu würdigen, nicht als Medienstar. Jil Sander nahm die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hin, als gehöre sie zu den Pflichten ihres Daseins, nicht zur Kür, in der man schwelgt. Im Rampenlicht zu stehen, das mochte sie nie. Auch bei ihren Modenschauen auf der Mailänder Fashion Week spähte sie immer nur wie zur Vergewisserung am Ende ins Publikum. Wo andere, vor allem männliche, Designer sich gern groß feiern ließen, den ganzen Laufsteg entlangliefen und Promis mit Handschlag begrüßten, winkte Sander kurz und verschwand wieder im Backstage-Bereich, weil es ihr um etwas anderes geht als den Rummel.

In Frankfurt stand sie irgendwann in den Ausstellungsräumen vor der Kamera des ZDF und beantwortete die Fragen der Reporter. Dabei ließ sie kurz durchblicken, wie unangenehm ihr solche Aufmerksamkeit ist: »Mode kann stark machen und hilft in Situationen, in denen man sich vielleicht unwohl fühlt«, sagte Sander den Fernsehreportern, »wie zum Beispiel jetzt, wenn man ein Interview machen muss.« 1 Dabei lachte sie schüchtern, fast entschuldigend.

Zu entschuldigen gibt es aber eigentlich gar nichts, denn Sander kann auf eine Karriere und ein Werk zurückblicken, die in dieser Form in Deutschland einmalig sind. Sie hat mit vierundzwanzig Jahren beschlossen, ihre eigene Boutique zu eröffnen. Sie hat in einer Zeit, als in der Bundesrepublik Frauen nur mit Erlaubnis ihrer Ehemänner ein Konto eröffnen und arbeiten gehen durften, Mode für jene aufstrebenden jungen Frauen entworfen, die mehr wollten, die sich nicht mit den biederen Rollenbildern, die die Fünfziger- und Sechzigerjahre für sie bereithielten, zufriedengeben mochten. Sie hat, als Düfte noch exklusiv aus Frankreich kamen, ihre Marke in Kooperation mit Lancaster um ein Beautysegment erweitert, das in den Achtziger- und Neunzigerjahren aus keinem Badezimmer wegzudenken war (bis heute gilt der Flakon des Parfüms Jil Sander Sun als ikonische Flasche im Stil neuer Sachlichkeit – und ich traf bei meinen Recherchen fast keine Person, die ihn nicht zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Badezimmer stehen hatte. Vor allem aber hat sie eine Mode entworfen, deren Grundlinien und -ideen sie über Jahrzehnte in immer neuen überraschenden und zugleich stimmigen Variationen treu blieb: klare Schnitte, höchste Qualität der Materialien und Verarbeitung und ein Design, das so zeitlos ist, dass man dreißig bis vierzig Jahre alte Kleider aus dieser Werkfülle noch heute tragen kann, ohne darin unzeitgemäß auszusehen. Auch das ist den meisten Interviewpartnern, die in diesem Buch zu Wort kommen, gemein: Sie alle haben noch mindestens ein original Jil-Sander-Lieblingsstück im Schrank hängen, das sie regelmäßig tragen und niemals hergeben würden.

Ein Anhaltspunkt, ein möglicher Schlüssel dieser Erfolgsgeschichte lässt sich in der eingangs erwähnten Schüchternheit finden. Denn sie ist nicht die einzige Designerin, die sich lieber durch Taten als durch repräsentatives Winken zeigt. Ähnlich wie Sander winkten auch ihre Konkurrentinnen von der italienischen Modeminimalistin Miuccia Prada bis zur deutschen Designerin Gabriele Strehle am Ende ihrer Fashion Shows nur kurz ins Publikum. Ist es eine typische weibliche Eigenschaft, sich nicht in den Mittelpunkt zu stellen? Lieber das Werk sprechen zu lassen? Die Lorbeeren bevorzugt in Lobesform der Käuferinnen zu ernten, als im Applaus der Presse zu baden?

Typisch für Sander ist, dass sie bei ihren Geschäftsideen und im Umgang mit ihren Mitarbeitern und Teams keineswegs über Gebühr zurückhaltend oder durchsetzungsschwach war, das erzählen jedenfalls Menschen, die mit ihr im Laufe von mehr als fünfzig Jahren im Modebusiness zusammengearbeitet haben, immer wieder. Im Atelier war sie selbstbewusst, im Umgang mit Schneidern, Stoffhändlern, Designern voller Energie. Sie konnte Menschen mit ihren Ideen mitreißen, forderte ein Höchstmaß an Können und lebte diese Perfektion selbst. Die Mitarbeiter, die sie mit ihren Ideen mitunter regelrecht herausforderte, schätzten diese Energie, die gewiss auch ihre anstrengenden Momente hatte, so sehr, dass sie auch nach Jahren immer wieder mit ihr zusammenarbeiteten.

Joe McKenna, der für Sander in den Neunzigerjahren als Stylist gearbeitet hatte und unter anderem berühmte Kampagnenbilder mit dem Fotografen David Sims gestaltete, kam 2020 noch einmal zu ihr zurück, als die Designerin gerade ihre zweite Kooperation mit dem japanischen Fast-Fashion-Konzern Uniqlo realisierte. Er war auch hier für das Styling der Werbekampagne verantwortlich und stellte nach einigen Anproben, die Sander an den Models persönlich vornahm, fest: »Das ist noch immer die gleiche Exaktheit, die gleiche Disziplin.« 2

So beschreiben es auch ehemalige Mitarbeiter, die die Marke Sander zu ihrer Glanzzeit in den Neunzigerjahren begleiteten. Noch heute schwärmen sie von der beflügelnden Euphorie, die damals herrschte, von der Anziehungskraft dieser Person, die die Umsetzung ihrer Ideen mit angemessen unermüdlichem Perfektionismus verfolgte. Immer wieder fallen in Interviews, die für dieses Buch geführt wurden, die Worte, man sei so vertraut miteinander umgegangen wie »in einer Familie«. Im Umgang mit ihren Models sei sie nett, fast schon mütterlich gewesen. Die jungen Models, die sie in ihren Kleidern auf den Laufsteg schickte, verkörperten das Image, das Sander mit ihren Entwürfen den Frauen mitgeben wollte: stolz, mit gestärktem Rückgrat, auf dem Weg in eine bessere Zukunft, in der niemand ihnen ihren Platz streitig machen könnte.

»Pure« sei ihr Design, so betonte sie immer wieder, geradlinig, rein, nach einem höchsten Maß an Schönheit strebend. Dabei hatte sie ihre ersten Inspirationen aus einer ganz anderen Moderichtung erhalten. In den frühen Siebzigerjahren war sie oft in London und fasziniert von den Punks, die hier das Modephänomen der Stunde waren, bevor sie zur Inspiration einer weltweiten Jugendbewegung wurden. Im Januar 2023 zog Jil Sander selbst eine erstaunliche Modeparallele. In ihrem Nachruf auf die britische Designerin Vivienne Westwood, die Königin der Punk-Mode, schrieb sie: »Im Modedesign war sie das Gegenprojekt zu meiner Aussage, aber in der Motivation habe ich mich ihr verwandt gefühlt.« 3 Beide hätten zu Beginn ihrer Karriere in den Siebzigerjahren nach Authentizität gesucht. »Ich habe nur eine andere Richtung eingeschlagen und bin dafür eingetreten, dass Frauen als sie selbst wahrgenommen werden, nicht als rückständigen Traditionen verhaftetes Phantasma.« 4 Welche Hindernisse eine Frau dabei vor fünfzig Jahren zu überwinden hatte, betont Sander noch einmal, das könne man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Auch um diese Hindernisse soll es in diesem Buch gehen, denn der Blick auf die Person Jil Sander und ihren Lebensweg kann nicht ohne den Blick auf die gesellschaftlichen Umstände erfolgen, in denen und gegen die sie sich durchsetzen musste.

2023 wird Jil Sander achtzig Jahre alt. Ans Aufhören denkt sie bis heute nicht. Wie stark ihr Name mit ihrem Design verbunden ist, was für eine unzerstörbare Attraktivität diese Vision von klaren Linien und zeitloser Schönheit noch immer hat, zeigte zuletzt die erwähnte Kollaboration mit dem japanischen Fast-Fashion-Konzern Uniqlo. Die Kunden rissen sich um die schöne Ware – im wahrsten Sinne des Wortes. Im Jahr 2020 blieb im Uniqlo-Geschäft in Tokio nicht eine Schaufensterpuppe heil, weil sich japanische Modefans die Entwürfe der deutschen Designerin sichern wollten. Kaschmirpullover lösten Chaos aus. Was genau macht dieses Design aus? In welcher Tradition steht es? Und warum gilt es noch heute als zeitlos? Auch diesen Fragen will das Buch nachgehen.

© F.A.Z-Fotos / Helmut Fricke

Jil Sander bei der Eröffnung ihrer Werkschau »Jil Sander. Präsens« im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am 2. November 2017.

Und da Sander es stets abgelehnt hat, groß vor die Öffentlichkeit zu treten, soll es auch darum gehen, diesen Teil ihrer Person zu respektieren und sich auf die Dinge zu konzentrieren, die sie mit dem Publikum geteilt hat. Jil Sander ist wahrscheinlich die letzte klassische Unternehmerpersönlichkeit der Kulturwelt im weitesten Wortsinn, die Öffentliches und Privates streng voneinander getrennt hat. Mode ist eine Kunst, aber von Kunstschaffenden erwartet man heute, dass sie für ihr Werk auch an der Klatsch-, Tratsch- und Menschelei-Front werben. Jil Sander hat das keinen Augenblick lang getan. Über ihr Leben, ihre Familie, ihre Hobbys sprach sie fast nie, und wenn, dann nur in kurzen, knappen Antworten. Es gab eine Seite ihres Lebens, die nur ihr gehörte. Auch und gerade wenn es in Zeiten, in denen Prominente auf Instagram intimste Einblicke in ihre Schlafzimmer gewähren und von einem eigenen PR-Team TikTok-Accounts führen lassen, unvorstellbar scheint, gilt es umso mehr, dies zu respektieren.

Von der Privatperson Sander, ihren Vorlieben und Hobbys, weiß man nur, was sie in Interviews über Jahrzehnte hat fallen lassen: Im Juli 1995 sagte sie der International Herald Tribune, sie lese gerade »Of Love and other Demons« (»Von Liebe und anderen Dämonen«) von Gabriel García Márquez. 5 Im Juli 1981 sagte sie dem Frankfurter Allgemeinen Magazin, ihre Lieblingslyrikerin sei Else Lasker-Schüler, ihre Heldin der Geschichte sei Jeanne d’Arc und sie verabscheue nichts so sehr wie Langeweile. 6 Und aus einer Homestory der Vogue aus dem Jahr 1998 wissen wir, dass sie ihre Villa an der Alster vom italienischen Star-Architekten Renzo Mongiardino völlig im Gegensatz zu ihrer Kleiderphilosophie einrichten ließ: barocke Opulenz, schillernder Samt, goldbestickte Paisley-Stoffe – und dazwischen ihre Kunstsammlung mit Werken der modernen Künstler Cy Twombly und Jannis Kounellis. 7

Jil Sander mochte also magischen Realismus aus Kolumbien, expressionistische Dichterinnen aus Deutschland, moderne und abstrakte Kunst aus Amerika und Griechenland – und hatte eine Vorliebe für starke Frauen, die sich ihr Leben nicht von den Vorgaben der Riten und Bräuche ihrer Zeit bestimmen ließen, sondern die Konventionen einfach ignorierten (indem sie zum Beispiel wie Jeanne d’Arc Männerkleidung anlegten), um das zu tun, woran sie glaubten. All diese Informationen öffnen die Tür ins Private nur einen kleinen Spalt, derlei gibt nur einen streng kuratierten Blick auf das Innenleben Jil Sanders frei.

So streng, wie sie diese Häppchen der Presse präsentierte, so streng hielt sie auch alles unter Verschluss, was ihrer Meinung nach aus dem Bereich der Firmeninterna nicht an die Öffentlichkeit gehörte. Nicht einmal, als sie 1999 ihr Unternehmen im Joint Venture mit Prada zusammenführte und es bereits fünf Monate später komplett verließ, sollten interne Aussagen darüber nach draußen dringen, was vorgefallen war, welche harten Worte man sich vielleicht zwischen den Firmenzentralen in Mailand und Hamburg an den Kopf geworfen hatte. Der Mantel des Schweigens liegt über dieser Episode, und es spricht für die Loyalität der ehemaligen Sander-Mitarbeiterschaft, dass bis heute niemand daraus das Schweigen gebrochen hat.

Die Recherchen zu diesem Buch stützen sich auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern und Weggefährtinnen, mit Modeexperten, Journalistinnen, Kritikerinnen, PR-Beraterinnen, Stylisten und Designerinnen und auf Besuche der Orte, an denen die wichtigsten Meilensteine der Geschichte Jil Sanders gelegt wurden: Paris, Hamburg, Mailand, Frankfurt.

Wo Sander selbst zu Wort kommt, habe ich sie aus Dokumenten offizieller Auftritte, Interviews und Porträts zitiert, die sie im Laufe der vergangenen Jahrzehnte der internationalen Presse ermöglicht hat. Wo die Quellenlage unsicher ist, versuche ich das deutlich zu machen.

Der englische Schriftsteller Julian Barnes erklärte in seinem Belle-Époque-Porträt »Der Mann im roten Rock«, die Wendung »We cannot know« (wir können es nicht wissen) gehöre zu einem der wichtigsten Instrumente der Biografie. Oder wie der amerikanische Komponist Lin-Manuel Miranda es in seinem Musical »Hamilton« über eine Schlüsselszene der amerikanischen Befreiungskriege formulierte: »Nobody’s been in the room when it happened« – niemand war im Raum, als es geschah. Was uns die Lektüre großer Biografen lehrt, ist, dass man niemals alles wissen kann. Absolute Wahrheiten gibt es nicht. Deshalb wird auf den folgenden Seiten klar markiert, wo der Raum fürs Raten und die Fantasie beginnt – ein wichtiger Raum, wo es, wie hier, um Schönheit und Geheimnisse geht.

»MEINE PERSÖNLICHKEIT IST TIEF IN NORDDEUTSCHLAND VERWURZELT.«

WO ALLES BEGANN

Wer die Geschichte von Jil Sander erzählen will, muss in der norddeutschen Heide anfangen. Ästhetik, Stilempfinden und Bedürfnisse der meisten großen Kreativen sind geprägt von den Eindrücken der Kindheit. Für Sander hieß das: flaches Land, raues Wetter und ein weiter, unverstellter Blick auf das Meer. So wie die französische Designerin Gabrielle »Coco« Chanel sich zeit ihres Lebens an der strengen, asketischen Schlichtheit der Kleider orientierte, die die Nonnen im Waisenhaus trugen, in dem sie aufwuchs (und ihren Schmuck in den leuchtenden Farben der Kirchenfenster und Monstranzen gestaltete), so lässt sich Jil Sanders moderner, schlichter Stil nicht ohne die nüchterne Lebensart ihrer norddeutschen Heimat erklären. Doch schon bei der Suche nach dem Ort, an dem diese Heimat tatsächlich zu finden ist, beginnt eines der Rätsel, mit denen sich diese Frau im Laufe der Jahrzehnte umgeben hat.

GEBURTSORT

»Geboren in Wesselburen«, diese Angabe fand sich über Jahrzehnte in allen gängigen Lebensläufen Jil Sanders. Ich habe sie bei meinen Recherchen etwa auf den Unterlagen für die Hochschule für Angewandte Kunst in Wien gesehen, gedruckt auf Papier mit Sander-Logo, wo die Designerin Mitte der Achtzigerjahre eine Gastprofessur innehatte. Die Angabe kann damit als »offiziell« gelten, steht sie doch sogar im umfangreichen Begleitkatalog ihrer Ausstellung »Präsens«, die sie 2017 im Frankfurter Museum Angewandte Kunst eröffnete: »Jil Sander, mit bürgerlichem Namen Heidemarie Jiline Sander, wird am 27. November 1943 als mittleres von drei Geschwistern kriegsbedingt im schleswig-holsteinischen Wesselburen geboren.« 1

2013 machte sich der Journalist Christian Meurer auf Spurensuche und stellte fest, dass sich in der Stadt an der schleswig-holsteinischen Westküste zwar noch einige Frauen der Kriegsgeneration an »so eine Blonde, Niedliche« 2 zu erinnern meinten, diese Erinnerung jedoch im Zuge der Legendenbildung überarbeitet und angepasst wurde. Denn: »Im fraglichen Zeitraum von Dezember 1943 bis Mitte 1944 findet sich weder im Taufregister Wesselburen-West noch Wesselburen-Ost eine passende Angabe.« 3 Wo also liegt der tatsächliche Geburtsort?

Meurer erzählt es in seiner Recherche so 4 : Am 2. August 1943 kam Erna-Anna Sander schwanger im Örtchen Heide an. Ihr Mann Walter war als Soldat an der Front, die Wohnung im Hamburger Stadtteil Wandsbek dem Feuersturm der britisch-amerikanischen Luftangriffe zum Opfer gefallen. Seit dem 24. Juli 1943 wütete die sogenannte Operation Gomorrha. Britische und amerikanische Flieger warfen über Hamburg Bomben ab. Wohnviertel brannten aus. Die Flucht in Schutzräume und Keller gehörte für die Anwohner plötzlich zum Alltag. Erna-Anna Sander suchte also wie viele andere Hamburger vor den Angriffen Zuflucht auf dem Land.

Ihre Eltern stammten aus dem Städtchen Heide, hatten den Ort mit seinen knapp 10.000 Einwohnern jedoch nach dem Ersten Weltkrieg verlassen, um in der Großstadt Hamburg ihr Glück zu suchen. Wo genau Erna, wie die meisten Quellen ihren Namen verkürzen, ihren Mann Walter Sander kennenlernte, wissen wir nicht. Auf undatierten Hochzeitsfotos 5 ist das Paar jedoch auf einer Wiese zu sehen, umgeben von rund dreißig Verwandten, die alle mit aufs Bild drängen. Für die Braut- und Bräutigameltern hat man Stühle herangerückt. Links sitzt also Ernas Mutter, trägt ein langes, glänzendes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln fällt, am Fuß einen dunklen Pump mit extravaganter Schleife. Daneben ihr Mann im dunklen Dreiteiler mit Krawatte und steifem weißen Kragen, die Hände in kleinen Fäusten auf den Oberschenkeln abgelegt, im Gesicht ein kleines, etwas steifes Lächeln. Auch Walters Eltern blicken eher ernst in die Kamera, sein Vater durch runde Brillengläser, die Hände auf einem Spazierstock gefaltet, der Mutter wischt leichter Wind durchs Haar. Erna hat sich bei Walter untergehakt, ihr Schleier formt eine kleine Krone über dem blonden Haar. Im rechten Arm hält sie ein großes Blumengebinde aus weißen Blüten. Keine Rosen, so viel lässt sich auf der grobkörnigen Aufnahme erkennen, auf der die Zeit einige Spuren und Knicke hinterlassen hat. Die Blüten aus Ernas Brautstrauß gehen fast kontrastlos in das Weiß des Hochzeitskleids über. Die dichten Knospen mit den vielen kleinen zackigen Blütenblättern legen nahe, dass es sich um Nelken handeln könnte, umgeben von einigen fiedrigen Stängeln Spargelgrün. Walter trägt ein kleines weißes Schleierkrautsträußchen am spitzen dunklen Revers. Blumen in dieser Farbe, in unschuldigstem Weiß, wird Jil Sander später lieben. Die ist selbstverständlich noch nicht auf dem Bild zu sehen, auch wenn vor den Füßen des Brautpaars vier blonde Mädchen in weißen Kleidern mit Blumenkränzen auf einer Decke Platz genommen haben. Trotz aller Festlichkeit lächeln Erna und Walter nicht.

Im Sommer 1943 hat der Krieg das Paar getrennt. Der gelernte Schlosser 6 Walter muss nach Osten, an der Front gegen die Sowjetunion als Soldat kämpfen. Und Erna flieht mit der gemeinsamen Tochter Ingrid vor den Fliegerbomben nach Heide. Dass sie in der Stadt noch Verwandte hatte, mag ein weiterer Grund für sie gewesen sein, wieder hierher zurückzukehren. Sie war nicht die einzige Hamburgerin, die an diesen Ort geflohen war. In Heide bringt man die vielen Kriegsflüchtlinge zunächst in einer Holzbaracke am Kleinbahnhof unter. Auf einer Aufnahme des Stadtarchivs aus dem Jahr 1957 ist das flache Gebäude noch zu sehen, die Karteikarte zeichnet es damals als »Abbruchobjekt« aus: Hinter einer staubigen Sandstraße blicken windschiefe, wetterverfärbte Holzbaracken in die Landschaft, die Wände aus groben Platten gezimmert, jeweils ein viergeteiltes Fenster pro Wohneinheit, kleine Schornsteine ragen aus den flachen Dächern. In der Hitze des trockenen Sommers 1943 muss die Sonne die kleinen Behausungen entsetzlich aufgeheizt haben.

Falls Erna Sander die ersten Tage hier wie die anderen aus Hamburg Geflohenen verbringen musste, so dauerte das zum Glück nicht lang. Bereits am 2. August meldet sie sich im Einwohnermeldeamt von Heide als »in der Harmoniestraße 14 in Heide zugezogen« 7 an. Während der trockene Sommer des Jahres 1943 zu Ende ging und einem frostigen Spätherbst wich, wurde Erna Sander klar, dass sie ihr Baby hier zur Welt bringen würde. Das Mädchen kam zu früh. Am 27. November fand sich Erna Sander also im Feldlazarett der Luftwaffe in Hedwigenkoog, rund 22 Kilometer von Heide entfernt, wieder.

Es war ein klarer Tag, den Blick über das Marschland – Hedwigenkoog war 1696 mit Deichen dem Meer abgetrotzt worden – verdüsterten ab dem Mittag einige Wolken, das Thermometer war gegen ein Uhr mittags auf acht Grad geklettert, um sofort wieder gen Gefrierpunkt zu fallen. 8 Nicht die besten Bedingungen für die Geburt eines Frühchens. Obendrein hatte das Lazarett keine geburtshilfliche Abteilung. 9 Erna gelang es dennoch, ihre Tochter gesund zur Welt zu bringen. Sie gab ihr zwei Namen, einen, der für ein Kind aus dem Norden wie gemacht war, und einen, der schon von Eleganz, Schönheit und Weltläufigkeit raunte: Heidemarie Jiline Sander.

Schon dieses enigmatische »Jiline« stößt die Tür zu der Möglichkeit auf, dass aus dem Mädchen mehr wird, als der für die meisten Kinder ihrer Generation vorgezeichnete Lebensweg zulassen würde. Jiline ist einzigartig, denn zu diesem Namen finden sich weder in Vornamensbüchern Bedeutungen, noch tauchte er im Zweiten Weltkrieg in Deutschland häufiger auf. Im Gegenteil: Während Heidemarie, oder kurz Heidi, einen der vorderen Plätze in deutschen Vornamenstatistiken des Jahres 1943 belegte, muss man feststellen: Von einer anderen Jiline als dieser hier fehlt jede Spur. Da Mütter gern an die Kraft der Namen glauben, die sie ihren Kindern geben, könnte man Erna Sander die Vorahnung unterstellen, dass ihre Tochter eine Persönlichkeit werden mochte, die alle anderen weit überstrahlen und einen nicht an Konventionen gebundenen, insofern also rebellischen Geist haben würde. Den brauchte sie später auch, denn die Konstitution des blonden Kindes war zart und zerbrechlich. In den frühen Jahren blieb sie lange anfällig für Krankheiten. 10

GESCHWISTER

Über Jil Sanders Geschwister gibt es zahlreiche, einander mitunter widersprechende Angaben. Der Journalist Christian Meurer berichtet in einem Sander-Porträt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von einer älteren Schwester, Ingrid, die Mutter Erna bereits auf der Flucht von Hamburg mit nach Heide gebracht hat. Ein jüngerer (Halb-)Bruder kam im März 1948 hinzu 11 . Der Soziologe Tilman Allert hingegen schreibt in einem Geburtstagsartikel über Jil Sander für das Frankfurter Allgemeine Magazin davon, dass Sander das älteste von drei Geschwistern gewesen sei. 12 Die britische Modejournalistin Suzy Menkes wiederum berichtet mehrdeutig von sowohl jüngeren wie älteren Geschwistern. 13

Bis hierher ist nur klar: Heidemarie Jiline Sander war kein Einzelkind. In einem Gespräch mit der Welt am Sonntag 2015 sorgte die Designerin selbst ein für alle Mal für Klarheit. Über ihre Kindheit in Hamburg erzählte sie: »Meine fünf Jahre ältere Schwester wohnte nicht bei uns, sie war durch die Scheidung beim Vater geblieben, aber mit meinem viereinhalb Jahre jüngeren Bruder war ich sehr eng – das ist auch ein Leben lang so geblieben. Um uns herum waren damals Trümmer, abgebrochene Häuser, Wände. Aber wir hatten es eigentlich gut.« 14

Der Fakt, dass Heidemarie Jiline Sander nicht als Einzelkind aufwuchs, ist wohl genauso wichtig wie der Umstand, dass sie ihre ersten Jahre in Dithmarschen verbrachte, zwischen Meer, Mooren und flachem Land, wo die Häuser sich in die Landschaft schmiegen und Schafe dem Wind trotzen. So idyllisch das klingen mag, darf man doch auch die Schattenseiten dieses Landstrichs nicht aus den Augen verlieren, das Herbe und wenig Einladende. Dithmarschen war bis zum Zweiten Weltkrieg noch überwiegend bäuerlich geprägt; wer hier lebte, konnte mit den Errungenschaften der Moderne, wie sie die Weimarer Eliten in den Dreißigerjahren in den Großstädten gefeiert hatten, nicht viel anfangen. Gegen Ende der Weimarer Republik stimmten 60 Prozent der Einwohner Dithmarschens für die Nationalsozialisten, der Landkreis zählte damit zu jenen mit der höchsten Zustimmung für die Nazis im Deutschen Reich. Seit 1927 wurde in Dithmarschen »seitens der Gauleitung gezielt der Aufbau von Ortsgruppen vorangetrieben und durch Versammlungen, Propaganda und Gewalttaten gegen den politischen Gegner der Parteiausbau befördert« 15 , schreibt Frank Omland in seiner Untersuchung zur historischen Wahlforschung »Hitlers Wähler – Das Beispiel Dithmarschen«. Er führt zudem in einer weiteren Studie den Wahlerfolg der NSDAP vor allem auf die Einstellung der Bevölkerung, allen voran die große Zahl der Nichtwähler, zurück, die die Nationalsozialisten für sich zu mobilisieren verstanden: Die Wähler der Dorfgemeinschaften seien antimodernen, antiparlamentarischen und antidemokratischen Vorstellungen gegenüber aufgeschlossen gewesen und konnten nur durch Parteien angesprochen werden, die einen entsprechenden Kurs einschlugen, so Omland. 16 Die Bevölkerung darf also auch 1943 noch getrost als massiv konservativ bezeichnet werden. Eine junge Frau mit zwei Töchtern, die sich kurz nach der Geburt der zweiten Tochter scheiden lassen will, hatte es hier sicherlich nicht einfach.

Es ist also nicht verwunderlich, dass es Erna Sander auch nach Kriegsende nicht allzu lange in Dithmarschen hielt. Im Mai 1951 geht sie mit den Kindern zurück nach Hamburg. Die älteste Tochter Ingrid bleibt beim leiblichen Vater, Heidemarie Jiline bei der Mutter. Der 1948 geborene Heino ist bereits mit von der Partie.

Heidemarie Jiline ist siebeneinhalb Jahre alt, als die Sanders zunächst in Parzelle 63, Block II des Wandsbeker Gartenvereins Quartier aufschlagen. 17 Man wechselt noch einige Male die Wohnung, bis es 1954 in den Nordosten der Stadt geht. In Hamburg-Bramfeld ist ein Neubauviertel entstanden, »in einem Wohnblock in der Elbinger Kehre hat Jil Sander dann ihre Jugendjahre verlebt«. 18

DER STIEFVATER, EINE PRÄGENDE FIGUR

Nicht nur die Großstadt ist für das Mädchen neu, auch die Familiensituation hat sich geändert. Noch bevor die Mutter die Kleinstadt Heide verließ, hatte sie sich von ihrem ersten Mann und Jil Sanders leiblichem Vater scheiden lassen. »Schuldig geschieden«, wie Sander später einmal betont, »das war damals sehr heikel.« 19

Das Recht der Bundesrepublik Deutschland sah bis 1977 vor, dass wenn die (auf Lebensdauer angelegte) Ehe geschieden werden sollte, die »Schuldfrage« geklärt werden musste. 20 Das hieß: Der am Scheitern der Ehe schuldige Partner hatte mit erheblichen rechtlichen Nachteilen zu leben. Das betraf Unterhaltszahlungen ebenso wie die Frage nach der Verteilung des Sorgerechts. Dieses verblieb für die gemeinsamen Kinder zumeist komplett beim »nicht-schuldigen« Partner. Für Erna Sander war es also ein glücklicher Umstand, immerhin die jüngste Tochter aus der Ehe mit Werner »behalten« zu dürfen. Sander wird ihren leiblichen Vater niemals kennenlernen. Obwohl er bis in die Neunzigerjahre leben wird, hatte sie offenbar nie den Drang, ein Treffen mit ihm herbeizuführen. 21

Der neue Lebensgefährte der Mutter heißt Erich Libuda und ist der Vater von Heino, Sanders viereinhalb Jahre jüngerem Stiefbruder. Der Stiefvater akzeptiert sie als seine Tochter, und sie wird ihn zeitlebens ihren Vater nennen. 22 Libuda ist Autohändler, spezialisiert auf Lastwagen. Die Liebe zum Automobil, das Auge für technisches Design und den mit diesem Fahrzeug verbundenen Gedanken von Freiheit wird Jil Sander hier mitnehmen. 1979 kauft sie sich zur Belohnung für den erfolgreichen Geschäftsabschluss mit dem Beautyunternehmen Lancaster einen dunkelgrünen Rolls-Royce Corniche 23  – an dem interessiere sie aber vor allem die »Feinfühligkeit des Designs«, schwärmt sie einmal vor Journalisten: »Dieses Innenleben, wie liebevoll es gemacht ist, oder diese Türgriffe, ich könnte Ihnen einen Vortrag über so einen Türgriff halten.« 24

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Der bescheidene Luxus, den sich die Familie in den Fünfzigerjahren leisten kann, findet sich in kleineren Dingen. Libudas Autobetrieb hatte sein Quartier mitten in einem Hamburger Industriegebiet. Direkt gegenüber befand sich eine Schokoladenfirma. Manchmal brachte der Autohändler den Kindern Pfefferminzschokoladenbruch mit. 25

Sander erinnert den Vater als einen begabten, aber auch strengen Mann »mit klaren Prinzipien und Disziplin, der keine Mittelmäßigkeit ertrug«. 26 Sie verehrt ihn, und seine Lebenseinstellung wird sie für ihre eigenen großen Pläne übernehmen.

»Der Stiefvater verfügt mit seinem Beruf in der Zeit des Aufbaus und der erst allmählich wieder erwachenden Mobilität über ein begehrtes Privileg« 27 , schreibt der Soziologe Tilman Allert – und gibt damit schon einen Hinweis darauf, wie und wovon Sanders Jugend in Hamburg geprägt war. Die beiden Eltern versuchten, aus der schwierigen Situation im Nachkriegsdeutschland das Beste zu machen. Erna Sander als »Trümmerfrau« zu bezeichnen, würde wohl zu weit gehen, dennoch trifft das Bild etwas von dem Geist, mit dem Sander aufgewachsen ist, in einem Hamburg, das noch deutlich die Spuren des Krieges und der Verwüstung trug, in dem durch Tod und Flucht zerrissene Familien lebten und Frauen sich allein darum kümmern mussten, Struktur, Halt und Ordnung wiederzufinden. Allert geht so weit, die Familienverhältnisse psychologisch auszudeuten: »Die seelisch herausfordernde Familiensituation lässt nun in der frühen Kindheit von Jil Sander ein komplexes Motiv entstehen: Sensibel geworden für das Brüchige menschlicher Beziehungen, entsteht der Wunsch, der Erfahrung der Vergänglichkeit etwas entgegenzustellen. Die Unbehaustheit eines jungen Lebens in der Trümmerlandschaft Hamburgs gilt es zu korrigieren.« 28 An Allerts Gedanken anschließend stellt sich also die Frage, ob es tatsächlich der Wunsch nach Korrektur war, der daraus erwuchs, oder ob es nicht viel eher eine praktische Haltung war, die sie von der Mutter und dem Stiefvater mit auf den Weg bekam? Das heißt, es fragt sich, ob beide ihr nicht vielmehr vorlebten, was sie später zum Umsetzen ihrer eigenen Ziele brauchen wird, nämlich: Wer etwas an seiner Situation ändern will, muss sich selbst daraus hervorkämpfen, mit Disziplin, Eigeninitiative und Mut zu Neuem. Aus dem Wenigen, was Sander später öffentlich über ihre Familie verlautbaren lässt, können wir schließen: Das Verhältnis war eng und innig.

HOSEN STATT ROCK

Ihre Mutter gibt ihr auch allerhand praktische Ratschläge mit. Nicht alle Vorschläge und Stylingversuche seitens der Mutter jedoch gefallen der Tochter. So scheitert etwa der Versuch, die wilden blonden Locken in ordentliche Zöpfe zu flechten, immer wieder. Wie ihre Haare wollte sich auch Heidemarie Jiline insgesamt nicht zähmen lassen. Später wird sie erzählen, dass sie dieses Flechten hasste. 29 Recht schnell fallen in der Jugend die langen Haare sowieso der Schere zum Opfer, eine moderne Kurzhaarfrisur wird bevorzugt.

Überhaupt hat Jil Sander schon als Kind eine sehr genaue Vorstellung davon, wie bestimmte Dinge zu sein und auszusehen haben. In einem Interview erzählte sie einmal: »Zum Beispiel hatte ich ganz bestimmte Ideen, wie die Brotschnittchen aussehen sollten, die ich essen wollte. Der optische Anspruch war bei mir schon sehr früh ausgeprägt.« 30

Die Mutter war nicht nur beim Haarstyling nachgiebig. Sie kam auch Sanders anderen Wünschen entgegen, nähte der Tochter beispielsweise Kleidung. Besonders Hosen wünscht sie sich; für Röcke hatte Jil Sander schon als Kind nichts übrig. Damit war sie bereits in den Fünfzigerjahren eine junge Rebellin. Denn der Rock war für die Frau, die etwas auf sich hielt und wollte, dass man sie respektierte, damals noch immer das Kleidungsstück der Wahl.

Sanders Entschluss, sich gegen diese Konvention aufzulehnen, eckte bereits in der Schule an, aber daraus machte sie sich nichts. Später wird sie sich erinnern: »Ich hatte eine Lehrerin, die stets einen bunten Kittel trug. Ich liebte Hosen. Sie mochte das nicht.« 31 Nur wenn Sander in einem Rock oder Kleid zur Schule kam, huschte der Lehrerin ein anerkennendes Lächeln über die Lippen. 32 Doch auf diese Anerkennung verzichtet das Mädchen. Lieber will sie sich in ihren Sachen wohlfühlen und bittet ihre Mutter um andere Kleidung. Die setzt sich also an die Nähmaschine und fertigt der Tochter Sachen nach Wunsch an. »Meine Mutter nähte mir Cordhemden in Rot und Blau«, erzählt Sander. »Dazu trug ich schwarze Hosen.« 33

Schon damals bringt Erna Sander ihr bei, auf Qualität zu achten. »Meine Mutter sagte immer, wir seien zu arm gewesen, um billig einzukaufen« 34 , erinnert sich Sander später gegenüber der britischen Modejournalistin Suzy Menkes. Sander begreift also früh, was die Fast-Fashion-Generationen nach ihr erst mühsam wieder lernen müssen: Wer billige Kleidung kauft, zahlt am Ende mehr, da sie schneller verschleißt, schneller aus der Form gerät und letzten Endes mit mehr Aufwand für die Pflege der Garderobe beziehungsweise kostenintensiven Neuanschaffungen verbunden ist. Sander wird diese Lektion im Herzen tragen; sie ist einer der Stützpfeiler ihres späteren Erfolgs: Qualität statt Quantität.

AUSBILDUNG ZUR TEXTILINGENIEURIN

Den zweiten Pfeiler entdeckt sie nach der Schule. Nach der zehnten Klasse verlässt sie das Gymnasium in Hamburg, das sie mit der mittleren Reife abschließt, und beginnt eine Ausbildung zur Textilingenieurin. 35 Wann genau das war, ist in den Lebensläufen, die Sander später an die Öffentlichkeit gab, nicht vermerkt. Geht man aber davon aus, dass sie mit etwa sechs Jahren eingeschult wurde und die Schule eben nach der zehnten Klasse verlassen hat, muss das ungefähr im Jahr 1959 gewesen sein. Sie geht zur Ausbildung nach Krefeld an die Ingenieurschule für Textilwesen. Heute gibt es sie nicht mehr, 1963 wurde die Ingenieurschule für Textilwesen nach Mönchengladbach-Rheydt verlegt. 36 »Die zu diesem Zeitpunkt in Krefeld existierende Ingenieursausbildung, mit einigen traditionsreichen Lehrgebieten, wurde zum Unmut von Krefeld in die Ausbildung in Mönchengladbach integriert«, heißt es im historischen Überblick auf der Webseite der heutigen Hochschule Niederrhein. 37 Anfang der Siebzigerjahre erfolgte dann der Umbau zur Fachhochschule, der die Institution 1971 in der »Fachhochschule Niederrhein« am Standort Mönchengladbach aufgehen ließ.

Gibt es trotz all der Umzüge und Reformen noch Unterlagen aus Sanders Studienzeit, Broschüren, die Auskunft über die Lehrinhalte geben könnten, oder gar ehemalige Kommilitonen, die sich noch an die gemeinsame Zeit erinnern? Ich rufe die Hochschule Niederrhein an und lande bei der sehr hilfsbereiten Leiterin des Alumnibüros, Karla Kaminski. So herzlich, wie sie auf der Hochschul-Webseite vom Foto lächelt, ist sie auch am Telefon. Trotzdem ist sie selbst ganz überrascht, als ich den Namen Jil Sander erwähne. Der ist nicht in ihrer Datenbank. Und dann erzählt sie mir die Geschichte mit den Umzügen und Umbenennungen der Hochschule. Heute sei es normal, dass Studienunterlagen fünfzig Jahre aufgehoben werden. Selbst diese Frist wäre im Falle Sanders ja längst überschritten, rechne ich kurz im Kopf durch.

Immerhin kann sie mir einige Details zu den Zulassungsbedingungen Anfang der Sechzigerjahre erzählen. Bevor in Deutschland zehn Jahre später die Fachhochschulen gegründet wurden, sei es an Schulen wie derjenigen in Krefeld möglich gewesen, auch ohne Abitur oder der heute geltenden Fachhochschulreife zu studieren. Das heißt, Sanders Abschluss der mittleren Reife genügte allemal für die Zulassung in Krefeld. Dann verspricht mir Kaminski, auf die Suche zu gehen, macht mir aber wenig Hoffnung, dass sich noch etwas finden lassen könnte.

Einige Tage später ruft sie bereits zurück. »Schlechte Nachrichten«, beginnt sie das Gespräch. In den Archiven lasse sich nichts mehr finden. Zur Fünfzigjahrfeier der Hochschule habe man 2021 einen Historiker beauftragt, doch auch der habe damals nur feststellen können, dass irgendwann jemand gründlich alte Unterlagen aussortiert habe.

Was wir aber wissen, ist, dass Krefeld eine lange Tradition im Textilbereich hat und Anfang der Sechzigerjahre der ideale Ort für eine umfassende Bildung im Bereich des Designs war. Im 18. Jahrhundert hatte sich die Stadt am Niederrhein zu einer preußischen Seidenmetropole entwickelt. Die Seidenindustrie ließ das Handwerk florieren. Krefeld wurde zur Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern. Der Einfluss der Seidenbarone und ihrer Nachfahren hielt sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1927 und 1930 errichtete der Architekt Ludwig Mies van der Rohe hier für die Gründer der Vereinigten Seidenweberei zwei Häuser im von ihm mitgeprägten Bauhaus-Stil. Neben ihm waren mehr als zwanzig weitere Bauhausarchitekten von den Zwanziger- bis in die Sechzigerjahre in der Stadt tätig und gestalteten das Stadtbild. Bis heute gilt Krefeld als die Bauhaus-Stadt im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Wir werden auf diesen Umstand später noch einmal zurückkommen, denn die Ideen der Bauhäusler beeindruckten und beeinflussten Sander zutiefst, prägten sie doch nicht nur die städtische Architektur, sondern fanden sich auch bei den Lehrern ihrer Hochschule wieder. »Der Bauhaus-Ansatz war immer noch stark vertreten, als ich an die Hochschule kam«, sagte Sander später in einem Interview. 38

Die Hochschule kümmerte sich in Krefeld seit 1855 um die Ausbildung des Nachwuchses für die Textilindustrie. Schwerpunkte lagen hier nicht nur auf Handwerk und Kunstgewerbe, sondern explizit auf der Textilingenieursbildung. Da im Zweiten Weltkrieg mehrere Gebäude zerstört worden waren, begann man 1951 mit der Neugestaltung des Campus. Der Architekt und Mies-van-der-Rohe-Schüler Bernhard Pfau, der zeitgleich im Düsseldorfer Architektenstreit mit neun weiteren Mitstreitern gegen ein Netzwerk von Stadtplanern mit NS-Vergangenheit vorgeht, gewinnt 1951 den Entwurfswettbewerb für die Neugestaltung des Hauptgebäudes der Hochschule. Hier kann er seine Vision umsetzen, dass der Mensch mit all seinen Bedürfnissen als verbindlicher Ausgangspunkt für alle Gebäudeplanungen betrachtet werden sollte.

Rund um den Krefelder Frankenring entsteht der neue Campus mit hellen Gebäuden, deren Optik geprägt ist von Glasfassaden, Stützpfeilern und moderner Linienführung. Der Geist des Bauhaus weht über diesen Campus.

Jil Sander lernt hier also nicht nur Handwerk kennen und Materialbeschaffenheiten und Textilfertigung zu meistern, sie nimmt hier auch die Ideen zu Funktionalität des Bauhaus-Designs in sich auf, sowohl in ihrer Lehre wie beim Spazieren durch die Stadt. Die Leitideen des Bauhaus, dass Form immer einer Funktion folgen sollte und dass es keines Ornaments bedarf, um einen ästhetisch ansprechenden Entwurf zu kreieren, prägen sich ihr ein. »Ich fühlte mich in meinen Instinkten bestätigt, in meinen Entwürfen zu reduzieren und mich auf wohlgearbeitete, pure Formen zu konzentrieren«, so Sander. 39

SURFIN’ USA

Das Textilingenieurstudium schließt Sander erfolgreich ab. Die Ausbildung dauerte nach Auskunft der heutigen Hochschule Niederrhein zwischen drei und vier Jahren. Da es aufgrund der aussortierten und somit fehlenden Unterlagen keine genauen Daten mehr gibt, können auch hier nur näherungsweise Rechnungen angestellt werden. Geht man also davon aus, dass Sander 1959 das Studium in Krefeld aufnahm und es nach drei Jahren beendete, so müsste ihr Abschluss etwa im Jahr 1962 liegen.

Als sie mit dem Studium fertig ist, hat Sander große Pläne. Sie will raus aus Deutschland, die Provinz hinter sich lassen, auch die Großstadt Hamburg kann sie nicht mehr halten. Sander will nach Amerika. Die Eltern sind nicht begeistert von den wilden Plänen der Tochter. Der Stiefvater Erich Libuda bietet Sander sogar an, ihr ein Auto zu schenken, wenn sie nur vernünftig sei und sich Amerika aus dem Kopf schlage. Die politische Situation zwischen den beiden deutschen Staaten sowie zwischen Amerika und der Sowjetunion ist gerade dabei, sich bedrohlich aufzuheizen. Am 13. August 1961 beginnt in Berlin der Mauerbau. Im Oktober 1962 verschärft sich das nukleare Wettrüsten der beiden Großmächte zur Kubakrise. Wann genau Sander beschließt, auf ihren Träumen zu beharren, ist unklar. In einem Interview 2020 ließ sie nebenbei fallen: »Ich war erst achtzehn Jahre alt, als ich in die USA reiste.« 40 Damit würde ihre Reise, vorausgesetzt, unsere Berechnungen mit der dreijährigen Ausbildung in Krefeld sind korrekt, irgendwo in die Jahresmitte oder den späten Sommer 1962 fallen. Auf jeden Fall dürfte es nach dem Mauerbau, denn im August 1961 war sie noch siebzehn Jahre alt, und um die Kubakrise herum gewesen sein.

Fakt ist: Sie nimmt den VW Käfer zunächst an, gibt ihn jedoch nach wenigen Monaten dem Vater zurück. 41 Der Traum von Amerika ist stärker als das Freiheits- und Mobilitätsversprechen des eigenen Automobils. Sander kauft zum Missmut der Eltern ein Flugticket. Ihr Ziel ist Los Angeles, denn dort haben die Sanders Bekannte, und Kalifornien lockt mit der Aussicht auf Sonne, Strand und ein komplett anderes Lebensgefühl.

Einen Direktflug von Hamburg gibt es nicht. Doch seit 1959 fliegt die amerikanische Fluggesellschaft Pan Am mit dem neuen Düsenflugzeug Boeing 707 von Hamburg über London nach New York, ein Ticket der Touristenklasse kostet 2324 D-Mark. 42 Die reine Flugzeit des Transatlantikflugs von Hamburg aus beträgt neuneinhalb Stunden. Durch den Zwischenstopp in London aber real wohl länger. Es ist eine Zeit, als an Bord von Flugzeugen noch geraucht werden darf, nach dem Start servieren die Stewardessen warmes Frühstück. In New York heißt es dann umsteigen, von hier gehen Inlandsflüge an die amerikanische Westküste.

In Los Angeles angekommen, wohnt Sander bei Freunden ihrer Familie und schreibt sich als Gasthörerin an der UCLA 43 , der Universität von Kalifornien in Los Angeles, ein. Sie besucht dort zwei Jahre 44 lang Kurse in Geschichte und englischer Sprache und vertieft ihre ästhetischen Theorien in Seminaren und Vorlesungen zu Design und Formgebung. 45

Vor allem aber schärft sie ihr Auge für neue Formen und Moden, lernt ein neues Lebensgefühl kennen. »Ich kam aus einem Land, das noch tief in der Nachkriegsdepression steckte, so war Kalifornien für mich ein Ort voller Optimismus«, erinnert sich Sander später. 46 In den frühen Sechzigerjahren von Hamburg nach Los Angeles zu kommen, muss einer Achtzehnjährigen einen kleinen Kulturschock versetzen. »Ich erlebte Amerika zu Beginn der Sechziger, als der Zeitgeist auf Jugendrebellion stand. Das tägliche Leben war von einer allgemeinen Euphorie geprägt, das machte auf mich großen Eindruck«, so Sander. 47

Wie diese Euphorie aussah, die die junge Frau so sehr beeindruckte, führt am besten vielleicht die Popkultur vor Augen. Hatte in der Bundesrepublik gerade der biedere Freddy Quinn mit der Beschwörung von Sehnsucht nach Exotik und seinem Lied »La Paloma« einen Nummer-eins-Hit, so feierten am Sunset Strip in Los Angeles 1961 die Beach Boys in ihren Songs das unbeschwerte Jugendleben in Kalifornien. 48 Surfen, Schwimmen und am Strand abhängen dürften auch bei den Studienkameraden Sanders an der UCLA hoch im Kurs gestanden haben. Außerdem genießt Sander es, zum ersten Mal allein unterwegs zu sein, ohne Zugriff und Kontrolle der Eltern: »Das Leben hier war viel entspannter, niemand hat überprüft, ob ich immer pünktlich war, wie mein Vater das in Hamburg getan hatte«, sagt Sander. 49

Die junge Frau lässt ihren Blick über die Menschen am kalifornischen Strand gleiten und lernt ein neues Frauenbild kennen: »Es gibt ja das ikonische All American Sports Girl, das in den 1920er-Jahren auch Frauen in Europa beeinflusst hat, denken Sie nur an die amerikanischen Tennisspielerinnen und Pilotinnen. Dieses lichte, dynamische Frauenbild war durch den Krieg verschüttet worden, aber am kalifornischen Strand gab es all diese jungen, unbeschwerten, sportlichen Frauen«, erinnert sich Sander Jahrzehnte später. 50 Sie vermutet, dass hier ein großer Einfluss auf die Wahl ihrer späteren Models liegt. Die natürliche Schönheit und Sportlichkeit der unbeschwerten Amerikanerinnen fasziniert sie.

Die Jugendkultur fand gerade zu Beginn der Sechzigerjahre auf dem langsam wiederbelebten Sunset Strip statt. Die Musikbars hier waren ein Treffpunkt der jungen Menschen, die neue Bands hören wollten. Hier lernte Sander einen Hedonismus 51 kennen, wie es ihn in Hamburg so nicht gab. Und sie fuhr viel mit dem Auto herum, genoss die Weite der Stadt und der Landschaft drum herum, durch die man Stunden unterwegs sein konnte. Die amerikanischen Autos jener Zeit waren riesig und hatten spitze Haifischflossenhecks, wie man sie heute noch etwa in alten Folgen der Krimiserie »Columbo« bewundern kann, die ebenfalls in Los Angeles gedreht wurde. In einer der ersten Folgen unterhält der Inspektor mit dem zerknitterten Trenchcoat sich mit einer jungen Frau in Ausbildung bei einer Schönheitsklinik, die ihn mit dem damals vieldiskutierten Konzept der Innen- und Außengeleiteten Personen vertraut machen will, das sie in der Lebenshilfeliteratur und Talkshowwelt aufgeschnappt hat. Auch dies gehörte mit zum Zeitgeist der Sechzigerjahre in Amerika: Man machte sich darüber Gedanken, ob man eher aus eigenem inneren Antrieb und eigener Motivation heraus handelte oder ob einem der soziale Radar wichtiger war, man sich also eher nach Urteilen von Gruppen oder Freunden (heutzutage wohl Influencer und Social Media) richtete. 52 Entsprechend ausgerichtet waren die Kampagnen von Werbeagenturen. Die neuen Marketingstrategien, Konsumgüter als Trend zu verkaufen, als Produkt, das alle (die zu »meiner« Gruppe gehören) wollen, entstand hier als Idee.

Sander nahm während ihres Amerikaaufenthalts so viele Eindrücke wie möglich aus diesem großen Land mit. Nach zwei Jahren Studium an der UCLA zog es sie von der Westküste bald an die Ostküste. In New York arbeitete sie für das Modemagazin McCall’s, das Anfang der Sechzigerjahre unter dem Herausgeber John Mack Carter mit einer Auflage von 8,4 Millionen das drittbeliebteste Magazin des großen Landes war – auf den ersten Plätzen lagen Reader’s Digest und die Fernsehzeitschrift TV Guide.

McCall’s liebten die amerikanischen Frauen wegen seiner Mischung aus Schnittmusterbögen, Schönheitstipps und Modestrecken. Zudem schrieben prominente Frauen dort Kolumnen mit Ratschlägen und Lebensweisheiten. Die frühere First Lady Eleanor Roosevelt etwa steuerte bis zu ihrem Tod im November 1962 die Ratgeberkolumne »If You Ask Me« bei, Mitte der Sechziger konnte das Magazin die berühmte amerikanische Filmkritikerin Pauline Kael als Kolumnistin für sich gewinnen, bis man sich über einen Verriss des Films »The Sound of Music« überwarf.

Während sich in der Bundesrepublik also gerade noch Zeitungen und Zeitschriften etablierten, die unlängst von den Besatzungsmächten ihre Medienlizenzen erhalten hatten, sammelte Sander bereits Erfahrung in einem langjährig bestehenden Verlagshaus. Doch dann erreicht sie eine schockierende Nachricht von zu Hause: Ihrem Stiefvater ginge es nicht gut, im jungen Alter von zweiundfünfzig wird er kurz darauf sterben. Mit einundzwanzig Jahren kehrt Sander also nach Hamburg zurück. 53 Ob sie ihn noch einmal lebend sehen oder nur noch zur Beerdigung heimkehren konnte, darüber hat sie sich nie öffentlich geäußert. Doch sie wird nach der Beerdigung nicht nach Amerika zurückkehren. Stattdessen bleibt sie in der Stadt und bei ihrer Familie.

ZURÜCK AN DER ELBE

Nach dem Tod Erich Libudas stellten sich die nächsten Herausforderungen: Sander musste eine Arbeit suchen. Sie fand sie 1963 54 bei den deutschen Modezeitschriften Constanze und Petra.

Hinter der Constanze steckten die Verleger Axel Springer und John Jahr, die von der englischen Militärregierung die Lizenz erhalten hatten, ein Magazin für Frauen herauszubringen. 55 Als Chefredakteur setzten sie Hans Huffzky ein, der Constanze schnell zum Erfolg führte. Schon im Gründungsjahr 1949 lud er Christian Dior ein, der gerade in Paris dabei war, die französische Nachkriegsmode mit eleganten Entwürfen zu altem Glanz zu führen. Er kam zwar nicht persönlich, schickte dafür aber seine Entwürfe, die mit Applaus aufgenommen wurden. Wenig später widmete Dior der Zeitschrift einen eigenen Entwurf, wie der FAZ-Modekritiker Alfons Kaiser in seiner Biografie Karl Lagerfelds schreibt: Ein »hellblaues Tageskleidchen aus reiner Seide« trug den Namen ›Constanze‹. 56

Für diese Zeitschrift zu arbeiten, hieß für Sander also, in der ersten Riege der deutschen Modemagazine tätig zu sein. Als 1964 vom Constanze-Verlag (der ein Jahr darauf zu Gruner + Jahr fusionierte) mit Petra eine weitere Modezeitschrift ins Leben gerufen wurde, für die ebenfalls Hans Huffzky das inhaltliche Konzept entwarf, heuerte Sander auch in dieser Redaktion an. Innerhalb von vier Jahren stieg sie zur leitenden Redakteurin auf. 57 Doch musste sie recht schnell merken, dass es für sie erst einmal nicht weitergehen würde. »Ich hatte es satt, mich als Moderedakteurin irgendwelchen Supertypen von Chefredakteuren anzupassen«, sagte Sander. 58 Und über diesem Frust reifte in ihr langsam der Entschluss, dass das Angestelltendasein nichts für sie sei.

© ullstein bild / Jochen Blume

Kurze Haare, kein Rock. Schon früh verfolgte Jil Sander eine klare Linie. Das Foto stammt vom 1. Januar 1968.

Trotzdem nutzte sie die Gelegenheit, um hier Erfahrungen zu sammeln, wie man Mode für die Öffentlichkeit präsentiert. Und sie lernte, worauf es Journalisten bei Modestrecken ankam: »Als Moderedakteurin habe ich auch das Missionarische erlernt, nicht nur gegenüber dem Konsumenten, auch im Gespräch mit den Herstellern. So bin ich überhaupt zum Design gekommen«, sagt sie später. 59

Sie nimmt nicht nur diese Lektion in Vermittlungsgeschick mit. Auch »graphisches Denken« und »ein Gefühl für visuelle Aussagen« wird sie im Rückblick auf diese Redaktionstätigkeit zurückführen. 60

Und sie sah mit ihrem scharfen, kritischen Blick die Schwachstellen der Entwürfe und ihrer Präsentation. »Als Moderedakteurin bei ›Constanze‹ und ›Petra‹ Ende der Sechzigerjahre konnte ich die Fotos, die ich mir wünschte, nicht mit den Kleidern verwirklichen, die man mir gab«, sagt Sander. 61

Das Frauenbild der Modezeitschriften entsprach kaum Sanders Vorstellungen. Der Designer Wolfgang Joop beschreibt es in seinen Memoiren so: »Mitte 1967 wirkten die Köpfe puppenhaft, proportional zu groß, zu groß auch die Frisuren, übergroß die Puppenaugen, mit Pelzwimpern oben und unten, dazu ein heller Strich auf dem Lid, ein schwarzer über den Wimpern. Auf allen Abbildungen glotzten die Cover-Models den Betrachter an, als wären sie zu Tode erschrocken.« 62 Auch die Körperideale huldigten eher kindlichen Proportionen: »langer, dünner Hals, flacher, hoher Busen, tiefgezogene Taille bis hin zu fast gleich schmalen Hüften; dann endlos gerade Beine, in kindlicher Pose gekreuzt oder unschlüssig einen Ausfallschritt machend«, schreibt Joop. 63 Lolita, die Kindfrau, sei das »image du jour« gewesen. Entsprechend sahen die Modeentwürfe der Designer aus, mit denen Sander in der Zeitschrift arbeiten musste.

Wenn sie mit diesem Material Bilderstrecken für die Zeitschriften organisieren sollte, stießen sie die Schwachstellen der Designs mitunter so stark ab, dass sie zum Telefonhörer griff: »Ich habe Modeshootings organisiert. Vorher nahm ich Kontakt mit den Herstellern auf, um ihnen Verbesserungen vorzuschlagen«, so Sander. 64 Sie nahm sich sogar die Freiheit heraus, um Änderungen nach ihren Wünschen und Vorstellungen zu bitten. Und ihre Hartnäckigkeit und eigene Vision in modischen Dingen sprach sich herum. Eines der so kritisierten Unternehmen rief sie zurück und fragte, ob sie nicht gleich eine eigene Kollektion entwerfen wolle, wenn sie so genaue Vorstellungen habe. »Daraus ergab sich meine erste Trevira-Trendkollektion für die Farbwerke Hoechst«, erinnerte sich Sander 2017. 65

Die Marke Trevira, heute mit Hauptsitz nahe Augsburg, wurde 1956 als Teil der Fasersparte der Farbwerke Hoechst AG gegründet und war in den Sechzigerjahren der weltweit größte Anbieter von Polyesterfasern und -geweben. Die neuartigen Chemiefasern bestimmten in den Sechziger- und Siebzigerjahren schnell die Mode, Trevira stellte zunächst vor allem Bekleidungsstoffe her, später kamen auch Heimtextilien hinzu. Das Unternehmen entwarf eigene Looks mit den neuen Chemiefasern. 1959 zeigte die Marke auf einer Berliner Modenschau weite Mäntel in A-Linie, ausgestellte Kleider und gestreifte Kostüme, alle hergestellt mit Stoffen aus Polyesterfasern. 66 Einige der jungen Frauen, die die Kleider in Berlin präsentierten, entsprachen schon dem kindlichen Bild, das Joop einige Jahre darauf so treffend spitz beschreiben wird.

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