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Königreich der Schatten - Rückkehr des Lichts

Seit Jahren herrscht Finsternis über dem Königreich Relhok. Doch Luna, die wahre Königin des Reiches, ist es mithilfe des Waldläufers Fowler gelungen, aus Relhok zu fliehen. Der Mörder ihrer Eltern droht, auch sie zu töten. Auf der Flucht wird ihr Verbündeter lebensgefährlich verletzt. Nur die fremden Soldaten des Königs Lagonia können ihnen helfen. Doch kann sie ihnen vertrauen? Um endlich der Dunkelheit zu entkommen und ihre Feinde zu besiegen, müssen sich Luna und Fowler ihrer Bestimmung stellen.

"Fesselnd geschrieben!"
lovelybooks.de

"Sophie Jordan hat einen unglaublich intensiven Schreibstil"
leser-welt.de

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"Suchtpotenzial"
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  • Erscheinungstag: 05.02.2018
  • Aus der Serie: Königreich Der Schatten
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 352
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677417

Leseprobe

Für jedes Mädchen, das Hoffnung in den Seiten eines Buches findet.
Hör nicht auf zu lesen. Hör nicht auf zu träumen. Dein Tag wird kommen.

Kapitel 1

LUNA

Dies war Dunkelheit.

Natürlich, ich war blind, und das Dunkel war alles, was ich je gekannt hatte. Es lebte in mir, auf mir, wie Narben auf meiner Haut. Aber diese Dunkelheit reichte tiefer. Sie war dicker. Dichter. Sie erstickte mich. Sie war zäh wie Teer, und ich ertrank in ihr, während ich mit den Armen ruderte und mich nach Luft sehnte, um meine leeren Lungen zu füllen.

Ich tauchte Fowler nach, hinab unter die Erde, und ich wusste genau, was ich tat. Selbst wenn ein Grab aus Lehm wahrscheinlich meine Gruft werden würde, war dies doch, was ich tun musste. Fowler war fort. Finsterirdische hatten ihn geraubt. Irgendwo in diesem Schlamm war er verloren gegangen. Vielleicht sogar schon gestorben. Wahrscheinlich. Ich entließ die Luft aus meinen gequälten Lungen. Nein. Such ihn. Such Fowler.

Ich fiel, fiel in einen zähen Tümpel aus Schlamm. Ich schwamm durch den Morast und holte tief Luft; es fühlte sich an, als würden scharfe Klingen meinen Rachen ausschaben. Mit den Händen schlug ich gegen wasserdurchtränkten Lehm, um nicht unterzugehen. Ich war bereits unter der Erdoberfläche. Wer konnte wissen, was danach kam? Die Eingeweide der Erde vermutlich.

Ich zog die Finger zurück, die ich in einen Grund gekrallt hatte, der unter ihrem Zugriff nur bröckelte und zerfiel.

Einen Augenblick lang schwankte ich auf den Knien und verlor das Gleichgewicht. Meine Brust wurde weit, und ich holte erneut tief Atem, während ich mich auf Händen und Knien Stück für Stück über die nasse Erde weiterschob. Der Boden wurde abschüssig, deshalb setzte ich mich auf den Po und rutschte hinab.

Feuchte Erde rauschte an mir vorbei, blieb an jedem Zentimeter von mir haften. Schlamm verklebte mein Haar und verklumpte meine Wimpern. Ich versuchte, ihn loszuwerden, indem ich blinzelte. Satter, stechender Lehm drang in meine Nase. Ich saugte Luft ein und schluckte Erde. Hustend spuckte ich den Morast wieder aus und presste die Lippen aufeinander, entschlossen, hier unten nicht mehr allzu tief einzuatmen.

Irgendwann ging es nicht mehr weiter, ich landete auf dem Grund. Ihrem Grund und Boden. Ich war Fowler in ihr Reich gefolgt. Zum ersten Mal war nun ich der Eindringling.

Ich saß eine ganze Weile reglos da, lauschend und flach atmend, um mein rasendes Herz in der tropfenden Stille zu beruhigen. Ich war mir sicher, dass die Finsterirdischen mich hören konnten. Erschrecken konnten sie aus dem wilden Schlagen in meiner Brust heraushören, dem Schlagen eines Organs, das ich für tot gehalten hatte. Fowler hatte es zerstört, vernichtet mit der schrecklichen Wahrheit, aber das dumme Ding wusste, wie es weitermachen, weiterkämpfen musste, obwohl es doch abgestorben war. Fowler war Cullans Sohn. Der Sohn jenes Cullan, der meine Eltern umgebracht hatte und mich jetzt jagte. Jenes Mannes, der jedes Mädchen im Land für das Verbrechen töten ließ, dass es vielleicht ich sein könnte. Dieses Monstrum war Fowlers Vater. Fowlers Vergangenheit, sein Erbe, war in dieses Böse gehüllt.

Ich erschauerte und verschob den Gedanken daran auf später. Jetzt konnte ich nicht daran denken. Wollte es nicht. Ich konnte nur daran denken, Fowler zu retten und uns beide lebendig hier herauszubringen. Nichts anderes zählte im Augenblick.

Ich krümmte die Finger und bemerkte, dass ich noch immer meinen Dolch umklammert hielt. Es tröstete mich, ihn in meiner Hand zu spüren. Wasser troff herab, und das Aufkommen der Tropfen hallte rings um mich herum wider. Ich fröstelte in der betäubenden Kälte, die meine nassen Sachen durchdrang. Ich rutschte hin und her und zupfte an meinem Hemd und meiner Jacke. Sinnlos. Es gab keine Erleichterung, keine Möglichkeit, mich wieder warm oder trocken oder sicher zu fühlen.

Ich war hier nicht zu Hause, so wie ich es sonst im Dunkeln war. Hier gab es nichts Tröstliches. Nichts Vertrautes. Ich wäre am liebsten zurückgekrochen und aus dem Tümpel entwischt. Nur, dass Fowler hier irgendwo sein musste.

Mein Atem ging schneller. Es fühlte sich an, als würde mir gleich das Herz aus der zugeschnürten Brust springen. Fowler war in dieser Welt unter unserer Welt gefangen. Es erschien mir ganz und gar unmöglich, dass der starke, tüchtige, unverwüstliche Fowler hier sein könnte – dass dies sein Schicksal war, dass er es auf sich genommen und sich selbst den Finsterirdischen geopfert hatte, um mich zu retten.

Ich schüttelte den Kopf, schüttelte die entsetzliche Möglichkeit ab, dass ich zu spät kommen könnte. Er war noch am Leben. Ich würde es wissen, wenn nicht. So etwas … hätte ich gespürt.

Ich schob entschlossen die Erinnerung an die Worte beiseite, die er zu mir gesagt hatte, jenes Geständnis, jene schreckliche Wahrheit, die immer zwischen uns gewartet hatte wie eine Schlange im Gras, bereit, zuzustoßen, bereit, mit ihren gewaltigen Zähnen Gift in einen Körper zu spritzen.

Ich bewegte mich auf wackeligen Beinen weiter. Dabei ließ ich die Hände über die Wand aus Erde zu meiner Linken gleiten, tastete mich Stück um Stück voran und rechnete jederzeit damit, auf einen Finsterirdischen zu treffen. Aber nein, ich war ja immer gut darin gewesen, sie zu spüren, zu wissen, wo sie waren, bevor sie wussten, wo ich war.

Die meisten Finsterirdischen waren gerade über der Erde auf der Jagd, mit Ausnahme derjenigen, die Fowler mitgenommen hatten. Hoffentlich hatten sie ihn einfach irgendwo abgeladen und waren nach oben zurückgekehrt, um die Hatz fortzusetzen. Schließlich schien ihr Hunger keine Grenzen zu kennen.

Ich schlich vorwärts, wobei ich mit den Händen über die irdenen Wände strich und dabei versuchte, den Gestank von Brackwasser und Fäulnis zu verdrängen. Ich setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf; ich suchte mir lieber tastend den Weg, als kopfüber einen weiteren Abhang hinunterzufallen. Mit etwas Glück würde der Boden eben bleiben. Ich durfte die Orientierung nicht verlieren.

Aus der Ferne drang der Schrei eines Finsterirdischen durch den unterirdischen Irrgarten aus Tunneln heran. Ich erstarrte, neigte zum Lauschen den Kopf zur Seite und hielt den Atem an. Es folgten keine weiteren Schreie. Durch die Stille tropfte Wasser.

Ich setzte mich erneut in Bewegung, und als ich mich nach links wandte, griff meine Hand dort, wo sich ein neuer Tunnel öffnete, in die Luft. Ich konzentrierte all meine geschärften Sinne und prägte mir die Entfernung, die ich zurückgelegt hatte, und jede Abzweigung, die ich genommen hatte, ein, damit ich den Weg zurück zu jener Stelle finden würde, an der ich heruntergekommen war.

Ein weiterer Schrei ertönte, und diesmal war es kein Finsterirdischer. Er klang durch und durch menschlich. Ich beschleunigte meine Schritte und folgte der Richtung des Schreis, während Hoffnung in mir pulste. Lass es Fowler sein.

Kapitel 2

FOWLER

Ich hatte immer schon im Dunkeln gelebt. Mit den Finsterirdischen und dem Tod, dem Tod und den Finsterirdischen. Die beiden waren gewissermaßen ein und dasselbe, doch wie durch ein Wunder war ich noch am Leben.

Irgendwann hatte ich das Bewusstsein verloren, aber ich war nicht tot. Noch nicht. Ich erinnerte mich an den Schwall Adrenalin, der mich durchströmte, als ich mich vom Baum herab direkt in die Arme der wartenden Finsterirdischen warf. Ich tat es für Luna. Das konnte ich ohne Reue akzeptieren. Solange sie am Leben blieb, war es in Ordnung.

In dieser vollkommenen Abwesenheit von Licht atmete ich verloren Luft ein, die so dick wie Tinte war.

Meine Ohren kribbelten, während ich angestrengt lauschte. Nicht weit entfernt weinte jemand. Panik schnürte mir die Brust zu. War das Luna? Hatten sie sie auch mit sich genommen? Sie konnte nicht hier unten sein. So grausam war das Schicksal nicht. Ich versuchte, mich zu befreien, aber meine Arme waren fest eingeklemmt.

Vielleicht war das die Strafe für all meine Verfehlungen. Ich hatte Luna verschwiegen, wer ich war – was ich war –, lange über den Zeitpunkt hinaus, an dem ich es ihr hätte sagen müssen. Angst hatte mich zurückgehalten, und dies war nun der Preis dafür. Falsche Logik, vielleicht, aber das war eben alles, was ich zustande brachte.

Mein Kopf und meine Schultern waren frei, und ich sah mich um, indem ich ruckartig den Kopf bewegte, damit mir das Haar von den Augen glitt. Ich blinzelte in die Dunkelheit, dorthin, woher dieses Weinen kam.

»Hallo?«, rief ich in die Finsternis. Die Laute brachen sofort ab, als meine Stimme durch die kalte Nacht hallte. »Wer ist da? Luna?«

»Wer bist du?«, kam es zurück. Nicht Luna.

Erleichterung überkam mich. »Fowler«, erwiderte ich und musste fast lachen. Welche Rolle spielte schon mein Name? Ich steckte mit dieser anderen unglücklichen Seele hier unten fest, und wir beide waren todgeweiht.

Einen Augenblick lang waren ihre abgerissenen Atemzüge die einzige Antwort. »Ich bin Mina. Sie haben mich geholt … und meine Leute. Vor ein paar Tagen, glaube ich. Ich weiß es nicht genau. Wir waren sieben. Ich bin die Letzte, die übrig ist.« Ihre Stimme brach, und sie schluchzte wieder. »Hier unten sind noch andere. Aber ich kenne sie nicht.«

Ein paar Tage? Sie hatten sie so lange am Leben gelassen? Und es gab andere. Vielleicht bedeutete das, dass ich mehr Zeit hatte. Zeit, um dem Überleben eine zweite Chance zu geben.

Entschlossen, nicht aufzugeben, versuchte ich wieder, meine Arme zu bewegen. Ich hoffte, mich losreißen zu können. Stoßweise kam mein Atem, während ich Druck aufbaute. Wenn ich mich befreien konnte, würde ich vielleicht einen Weg zurück nach oben finden. Es gab einen Weg herunter, also musste es auch einen hinauf geben.

Es musste einen geben.

Kapitel 3

LUNA

Ich jagte dem Echo des Schreis nach, noch lange nachdem er verklungen war. Selbst als die Luft um mich herum nur noch aus Wassertropfen zu bestehen schien, blieb ich nicht stehen. Ich schlich so lange Tunnel und Gänge hinab, dass ich besorgt dachte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis ich einem Finsterirdischen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde. Ich verlor jeden Sinn für Zeit in dieser Welt, in der jeder Augenblick zählte.

Der Raum um mich herum war leer. Ich bewegte mich, spitzte die Ohren. Blähte die Nasenflügel, denn der Finsterirdischengestank hier unten war intensiv: Lehm und Kupfer. Metall in meinem Mund.

Doch obwohl es überall so stark nach ihnen roch, waren sie nicht in der Nähe. Dies war ihr Hoheitsgebiet. Ihr Gestank klebte noch im letzten Winkel dieses unterirdischen Grabs.

Endlich wurde die Stille wieder durch einen Schrei unterbrochen. Einen menschlichen Schrei.

Ich folgte ihm, während sich meine Lippen in einer stummen Beschwörungsformel bewegten. Lass es Fowler sein. Lass es Fowler sein.

Es gab keine Möglichkeit, Sicherheit darüber zu erlangen, wie lange ich schon hier unten war, aber ich spürte, dass die Zeit bis Mitterlicht rasch verflog – jener kurze Zeitraum, in dem das pechschwarze Dunkel sich zu einem Hauch von schwachem Licht erhellte und die Finsterirdischen nach unten verbannte. Auf eine seltsam verdrehte Weise war Mitterlicht auf einmal etwas, von dem ich nicht wollte, dass es eintrat. Die Vorstellung, dass die Finsterirdischen zurückkehren und in ebendiesen Tunneln umherschleichen könnten, in denen ich mich aufhielt, beschleunigte trotz aller Selbstbeschwichtigungen meine Schritte.

Plötzlich begann die Decke über mir zu beben und zu brodeln, Schlamm regnete herab und fiel mir auf den Kopf. Brach jetzt der Gang zusammen? Ich rannte los, um mich vor der herabstürzenden Erde in Sicherheit zu bringen, ohne je die Hand von der Wand zu meiner Linken zu nehmen. Ich lief gebückt, während meine Brust sich schwer hob und senkte.

Dann, irgendwann, drückte ich mich an die Wand, wandte mein Gesicht empor und streckte die Hand aus. Es kam nichts mehr von oben. Die irdene Decke hielt. Ich war so still, wie ich nur konnte, und lauschte.

Der nasse, rasselnde Atem eines Finsterirdischen drang an meine Ohren. Seine schlurfenden Schritte fühlten sich wie das Schaben einer Klinge auf meinem Fleisch an. Mit jeder Bewegung dröhnte und stampfte das Gewicht seines Körpers auf dem feuchten Boden. Mein Herz schlug so hart, dass meine Brust schmerzte. Ich hörte das wispernde Geräusch, mit dem die Fühler in der Mitte seines Gesichts durch die Luft tasteten, und roch das heraussickernde Gift.

Das Monstrum war nicht allein. Ein Mensch kämpfte gegen die scharfen Klauen des Finsterirdischen, schluchzend und verstümmelte Bitten ausstoßend. Worte ohne Hoffnung. Mit diesen Kreaturen konnte man nicht verhandeln. Kein Mitleid von ihnen erwarten. Keine Hilfe. Keine Rettung.

Sie näherten sich dem kleinen Tunnel, in dem ich mich versteckte, und ich dachte fieberhaft darüber nach, was ich als Nächstes tun sollte. Erstarren oder loslaufen? Mit angehaltenem Atem wartete ich darauf, hoffte darauf, dass sie vorübergingen. Wenn sie in diesen Tunnel abbogen, war alles vorbei. Dann war ich verloren.

Den unglückseligen Menschen mit sich schleifend, ließ der Finsterirdische die Tunnelöffnung links liegen, und ich schluckte gegen die Trockenheit in meinem Mund an. Zum Glück war der Finsterirdische so sehr mit seinem Opfer beschäftigt, dass er meinen Geruch nicht wahrnahm. Vielleicht trug die Schlammkruste, die mich vom Kopf bis zu den Füßen bedeckte, aber auch das Ihre dazu bei, meinen Geruch zu verbergen.

Ich wartete weitere lange Minuten, bevor ich wieder losging. Ein Teil von mir wollte sich hinkauern und verstecken, aber je länger ich mich versteckte, desto näher rückte Mitterlicht. Und wenn Mitterlicht einmal da war … Ich erschauerte. Dann würden die Finsterirdischen heimkehren. Ich musste in Bewegung bleiben. Fowler und ich mussten vorher von hier entkommen.

Ich tat einige tiefe Atemzüge, um Kraft zu schöpfen und mein wild schlagendes Herz zu beruhigen, während ich weiter durch den engen Gang schlitterte. Den Finsterirdischen hörte ich nicht mehr, ebenso wenig seine arme Beute. Von fern drang menschliches Stöhnen durch die feuchte Luft. Hier unten war es kälter als oben. Meine Zähne klapperten leise, während ich im Weitergehen mit der Hand über die unebene Wand neben mir strich und den menschlichen Lauten dabei immer näher kam. Der Tunnel mündete in einen großen Raum, wo die Luft lebhafter strömte – es fühlte sich an, als würde ich mitten auf einem Feld stehen, wo der Wind mir das Haar von den Schultern wehte.

An der Öffnung blieb ich fröstelnd stehen. Es war ein Eingang zu … zu einer Art großem Schlund, in dem sich Menschen befanden. Sie saßen in der Falle. Ihr Stöhnen klang mir in den Ohren, ihre leisen, qualvollen Schreie, denen man anhörte, dass sie bezwungen waren. Ihre Hände klatschten auf den Boden und verkrallten sich in der Erde bei dem Versuch, sich zu befreien. Einige waren verletzt. Ich roch die widerliche Süße ihres Bluts. Ich hob schnuppernd, lauschend, prüfend das Gesicht.

Es war ein Nest, eine weite Fläche mit Löchern darin, in denen Menschen gefangen gehalten wurden.

»Fowler?«, rief ich gedämpft durch all das klägliche Schluchzen und Flehen um Hilfe. Ich schluckte und wiederholte etwas lauter: »Fowler! Bist du hier drin?«

Seine Antwort kam fast sofort, zusammen mit den Schreien anderer, die um ihre Befreiung bettelten. »Luna! Was machst du hier?«

Unbändige Freude packte und schüttelte mich, sodass ich fast ins Taumeln geriet. »Fowler!« Ich machte einen Schritt nach vorn, aber sein Warnschrei ließ mich innehalten.

»Vorsicht, sonst fällst du auch hinein! Geh auf die Knie und krieche.«

Ich sank auf die Knie und krabbelte los, indem ich prüfend den Boden vor mir abtastete. Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, warum ich besser kroch: Der ebene Boden war unterbrochen von Erdlöchern. Ich bewegte mich vorsichtig zwischen ihnen hindurch. Überall stieß ich auf klebrige Rückstände. Ich musste meine Hände förmlich von den schmalen Graten zwischen den Löchern losreißen.

Weitere Menschen flehten mich an, riefen um Hilfe, aber ich kroch unbeirrt auf Fowlers Erdloch zu. Seine Stimme war eine stetige Lautspur der Ermunterung, der ich folgte, bis ich ihn erreicht hatte. Meine Hand landete auf seiner Schulter.

»Bist du verletzt?« Ich fuhr die Wölbung seiner Schultern nach und begriff rasch, dass er tief in dem Loch festklemmte und die Arme nicht bewegen konnte. Das musste der Grund sein, warum ich von keinem von ihnen eine Bewegung wahrnahm.

»Luna, du musst weg.« Panik verlieh seiner Stimme Schärfe. »Du hast nicht mehr lange. Verschwinde von hier, bevor sie zurückkommen!«

»Ich lasse dich nicht zurück. Ich bin hier. Jetzt hilf mir, dich hier herauszubekommen.« Ich tastete mit den Händen umher, um irgendetwas zu finden, mit dessen Hilfe ich ihn herausziehen konnte.

»Ich stecke fest, und dieses klebrige Zeug überall hilft auch nicht gerade. Es ist wie in einem riesigen Spinnennetz.«

»Dann schneide ich dich heraus«, erklärte ich.

»Was machst du …?« Er brach ab, als ich begann, mit meinem Dolch vom Rand des Lochs her in den Schlamm zu hacken. Ich arbeitete fieberhaft und geriet schnell ins Keuchen, während ich mit Dolch und Händen die klebrige Erde von ihm fortschaufelte.

»Luna, wir haben nicht genug Zeit.«

Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass mir die schlammverschmierten Strähnen ins Gesicht klatschten. Ich war so weit gekommen. Ich würde nicht ohne ihn gehen.

Er knurrte frustriert und begann dann, sich selbst gegen den Schlamm ins Zeug zu legen. Offenbar hatte er begriffen, dass ich nicht aufzugeben gedachte und dass er ebenso gut mithelfen konnte, sich zu befreien.

Meine Arme brannten, während ich weiter den Boden bearbeitete. Fowler warf sich ruckweise gegen sein Gefängnis, krümmte und wand seinen Oberkörper, während ich die Öffnung Stück um Stück erweiterte.

»Es reicht nicht …« Was auch immer er sagen wollte, ging unter, als plötzlich einer seiner Arme freikam. Er drückte sich zur Seite und konnte auch den anderen Arm befreien. Ich packte ihn am Hemd und half ihm, sich herauszuziehen; nun, da er seine Arme gebrauchen konnte, schaffte er es fast allein.

Die anderen wurden aufmerksam und begannen zu rufen; ihre Stimmen waren überall um uns herum und bettelten um Hilfe.

Fowler achtete nicht darauf. Er ergriff meine Hand und zog mich kriechend hinter sich her.

»Fowler«, sagte ich. Ich hörte eine Frau neben ihm weinen und um Rettung flehen. »Wir müssen ihnen doch helfen!«

»Dafür haben wir keine Zeit.« Seine Finger schlossen sich fester um meine Hand, als fürchtete er, ich würde sie ihm entziehen.

Ich wandte den Kopf in die Richtung, aus der ihr Schluchzen kam.

»Bitte, bitte helft mir auch. Lasst mich nicht hier. Lasst mich nicht hier sterben!«

Ich stemmte mich gegen den Zug von Fowlers Hand.

»Luna!«, knurrte er. Er drehte sich um und packte mich bei den Schultern. »Wir müssen jetzt weg! Sie sind verloren. Die meisten von ihnen sind von oben bis unten mit Gift bedeckt, und es ist fast schon Mitterlicht!«

Zum ersten Mal in meinem Leben bedeutete Mitterlicht für mich das Ende der Sicherheit, nicht der Gefahr. Die Ironie daran entging mir nicht.

Ich schüttelte den Kopf, doch dann begann alles zu beben. Der Boden, über den wir krochen, vibrierte. Die unterirdische Höhle erzitterte, und große Erdbrocken stürzten von der Decke.

»Finsterirdische«, raunte er durch den Lärm ihrer Rückkehr, als wüsste ich das nicht selbst. Als wäre ihr Gestank nicht ohnehin schon erstickend. »Sie kommen.«

Diesmal wehrte ich mich nicht mehr, als er mich hinter sich herzog.

Eine Frau schrie. Dieser Laut der Verzweiflung hallte in meinem Kopf wider, während wir aus dem Nest krabbelten und zu laufen begannen. Meine Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen bei den Schreien der anderen, die wir zurückließen, und ich war mir sicher, dass sie mich auf ewig umtreiben würden.

Wir duckten uns in den Tunnel, durch den ich zum Nest gelangt war. Die Erde bebte noch immer, während wir weiterliefen, und feuchte Brocken regneten auf uns heran. Ich spürte den verräterischen Luftzug und wusste, dass wir die Kreuzung erreicht hatten. Fowler wollte mich nach rechts zerren, aber ich ruckte heftig nach links. »Hier entlang!«

Ich umklammerte seine Hand, verließ mich auf mein Gedächtnis und übernahm die Führung.

»Es ist nicht mehr weit«, sagte ich über die Schulter, während ich den Weg zurückging, auf dem ich gekommen war. »Wir sind schon fast da.« Ich konnte das Brackwasser riechen, das den abschüssigen Kanal hinabrann, welcher mich vor Kurzem ausgespuckt hatte.

Das Gepolter wurde stärker. Noch mehr Erde krachte in dicken Klumpen herab. Nur dass es diesmal nicht nur Erde war. Finsterirdische. Leiber bahnten sich wie Neugeborene den Weg in die Welt. Ihre Welt. Wir waren die Eindringlinge hier. Noch nie hatte ich das deutlicher gespürt.

»Es sind zu viele«, murmelte ich mit betäubten Lippen. Ruhe überkam mich, während ich vor der Flut aus Schlamm und Finsterirdischen das Gesicht senkte.

»Nein! Weiter!« Fowler riss mich in einen anderen Tunnel. Seine starken Finger krallten sich schmerzhaft in meine. Das Ziel hieß Flucht. Verzweiflung und Angst trieben ihn an. Seine Gefühle drangen durch die Luft in meine Nase wie brennende Federn.

Sein Klammergriff tat mir weh, jeder Finger hinterließ einen glühend heißen Abdruck auf meiner Haut. Er würde sich nicht ergeben. Es war nicht wie vorhin. Er würde nicht mehr kopfüber hinabtauchen. Er würde seinen Tod nicht mehr hinnehmen.

Aber wir würden ihnen nicht entkommen. Sie näherten sich mit beißendem Gestank aus allen Richtungen, mit keuchendem, feuchtem Atem begannen sie, den Raum um uns zu füllen. Fowler stieß einen Fluch aus, während immer mehr von ihnen sich von oben herabfallen ließen und mit einem satten Klatschen überall um uns herum landeten. Klauenbewehrte Finger krallten sich in den Boden, als sie sich erhoben.

Er riss mich mit sich, als er herumfuhr. Mir war einen Augenblick schwindelig, während er mich zuerst hierhin, dann dorthin zerrte und uns in einem wilden Zickzackkurs vorwärtsbugsierte.

Ich packte ihn an der Schulter, aber er arbeitete sich weiter vor, indem er ihren eiskalten Leibern auswich. »Fowler! Bleib stehen!« Ich grub meine Finger tiefer in seinen Arm. »Bleib stehen!«

Endlich zog er mich in eine Nische in der Wand und erstarrte. Er schirmte mich mit seinem Körper ab, und ich spürte seinen Atem stoßweise gehen. Ich wandte ihm mein Gesicht zu und genoss die Empfindung seines Blicks, der auf mir ruhte. Er hörte nicht auf zu keuchen. Es war hoffnungslos.

»Fowler«, flehte ich, während ich das Geräusch der sich nähernden Finsterirdischen auszublenden versuchte – das Kratzen ihrer Fühler, das Schlurfen ihrer schweren Füße. Wir hatten nicht mehr viel Zeit, bevor sie über uns herfallen und uns das Fleisch von den Knochen reißen würden. Ich konnte mir schon ihre erdrückende, tödliche Last auf mir vorstellen. »Ich will nicht auf der Flucht sterben.«

»Luna«, presste er hervor und drückte meine Hand. »Warum musstest du auch hier herunter…«

»Schsch.« Ich nahm sein Gesicht in meine Hände. »Du bist nicht der Einzige, der den Retter in glänzender Rüstung spielt, weißt du.« Meine Daumen strichen ihm über die Wangen, und ich ließ alle Wut los. Worum ging es in diesem Moment? »Ich will schließlich auch ein bisschen Spaß.« Das war leichter, als wütend zu sein, und leichter, als ihm Vorwürfe dafür zu machen, dass er mich hintergangen hatte.

Er senkte den Kopf, bis seine Stirn an meiner ruhte. »Du sollst überleben.«

Ich schluckte den Drang hinunter, ihm die Wahrheit zu sagen. Ich würde kein Leben haben. Es war nur eine Frage der Zeit. Das hatte er mir gesagt, als Sivo damals darauf bestanden hatte, dass ich den Turm Fowler verließ. Diese Welt voller Dunkelheit und Ungeheuern und Gewalt war nicht für die Lebenden gemacht. Fowler hatte so oft versucht, mir das klarzumachen.

Seitdem ich entdeckt hatte, dass unschuldige Mädchen sterben mussten, weil Cullan mich vernichten wollte, war mein Schicksal besiegelt. Ich bedauerte nur, dass ich nicht in der Lage war, ihn davon abzubringen. Dass er weiter um meinetwillen Mädchen töten würde.

»Kein Weglaufen mehr«, flüsterte ich, während ich versuchte, die Geräusche der Finsterirdischen auszublenden und all meine Sinne auf den jungen Mann vor mir zu richten. Die schweren Schritte und der lehmige Verwesungsgestank der Finsterirdischen, die uns umringten, ihr schrecklicher gurgelnder Atem – all das verschwand. »Ich will nicht, dass meine letzten Augenblicke so sind.«

»Na gut.« Er nickte unter meinen Fingern. »Kein Weglaufen mehr.« Sein Atem strich über meine Lippen, und ich stellte mich auf die Zehenspitzen.

Sein Mund begegnete meinem, und er raubte mir den Atem. Blut schoss in meinen Kopf, was genau das war, was ich wollte – es erzeugte ein Rauschen in meinen Ohren, sodass ich nicht mehr hören würde, wie die Armee der Finsterirdischen uns holen kam.

Er schlang den Arm um meine Hüfte und zog mich an sich. Alles andere fiel von uns ab. Fowlers Brust verschmolz mit meiner, und ich vergaß sogar das ekelhafte Gefühl, dass meine durchweichte Kleidung wie eine zweite Haut an mir klebte.

Ich spürte sein Herz gegen meine Rippen hämmern. Er vergrub die Finger in meinem schlammigen Haar, während er mich küsste; während seine Lippen mich so gierig verschlangen, wie ich es mir wünschte, wie ich es brauchte, um seine Lügen und mein gebrochenes Herz und die Ungeheuer zu vergessen, die uns zu Leibe rückten.

Kapitel 4

FOWLER

Ich küsste sie heftiger, als ich es je zuvor getan hatte. Das war keine sanfte Begegnung von Lippen zu geflüsterten Koseworten. Nichts, was langsam oder ohne Eile vonstattenging. Ich eroberte ihren Mund, entschlossen, dass er alles für mich war. Alles, was ein letzter Kuss sein sollte.

Der Kuss brannte und wühlte sich an Fleisch und Gewebe vorbei bis in unser Mark – hinein in das, was übrig bleiben würde. Er hinterließ seinen Stempel auf unseren Seelen. Auch wenn die Finsterirdischen uns zerrissen, würde dieser Kuss überdauern.

Ich brachte meine Lippen in eine neue Position über ihren, um tiefer zu gehen. Ich packte mit meinen Händen fester zu, und ich achtete nicht auf den Schmerz, der in meinem Arm pochte … achtete nicht auf die Finsterirdischen, die nun schon so nahe waren. Ich hielt die Augen geschlossen und verlor mich in ihrem Geschmack, ihrem Fleisch. Ihre Hand umfasste meinen Hinterkopf, umfloss die Rundung meines Schädels, und ich spürte ihren Puls im Druck ihrer Handfläche. Lunas Leben verschmolz mit meinem.

Meine Gedanken überstürzten sich. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie schoss einen Pfeil auf einen Finsterirdischen ab und rettete damit mein Leben – sie, ein kühnes Mädchen, das sich bewegte, als würde es in den Wald gehören. Als würde es in diese Welt gehören, so natürlich wie die Dunkelheit selbst. Ich hatte ihr widerstanden, gegen ihre Anziehungskraft gekämpft, aber jetzt wusste ich es besser. Ihr konnte ich nicht widerstehen. Nicht dem, worum sie bat, wenn auch nicht mit vielen Worten. Kein Weglaufen mehr.

Ich atmete die kalte Luft durch die Nase ein und tauchte tief in Lunas Geschmack ein, während ich die Finger in ihrem schlammverkrusteten Haar vergrub.

Plötzlich zerriss ein Kreischen die Luft, lang und gespenstisch wie Nägel, die über Glas kratzen. Wir fuhren auseinander. Der Laut erinnerte an ein Horn oder eine Trompete, aber noch nie hatte ein Instrument diesen Klang hervorgebracht. Er war tierisch und laut genug, um Ohren bluten zu lassen, lang und tief plärrend und voller Ungeduld.

Mit einem Aufschrei geriet Luna ins Wanken und fiel gegen die lehmige Wand. Ich stützte sie, während sie sich die Ohren zuhielt. Die Finsterirdischen erstarrten mitten in der Bewegung. Die Fühlernester in ihren klotzigen Gesichtern krümmten und wanden sich, doch es war ihre einzige Regung. Dutzende von ihnen umstanden uns wie in einer Art Frostzauber erfroren. Einer war so nahe, dass er nur den Arm hätte heben und seine klauenbewehrten Finger hätte ausstrecken müssen, um mich zu berühren. Aus dieser Nähe konnte ich dunkle Blutflecken an seinen kräftigen Krallen ausmachen, geronnenes Blut und Fetzen von Menschenfleisch, die dort saßen wie Fleisch an einem Knochen.

So abrupt, wie es begonnen hatte, brach das Kreischen wieder ab. Doch die Finsterirdischen bewegten sich immer noch nicht. Ich hielt den Atem an, weil ich annahm, dass sie sich gleich wieder in Bewegung setzen würden. Den, der mir am nächsten stand, fasste ich argwöhnisch ins Auge. Ihm stand das Maul offen, von den Fühlern tropfte glänzendes Gift. Aber er rührte sich nicht.

Ich packte Luna fester. »Komm«, wisperte ich.

Sie nahm die Hände von den Ohren, als ich sie wieder an meine Seite zog. Sie atmete aus, und ich spürte, wie ihr Atem mich durchfuhr.

»Fowler«, sagte sie. »Was ist los? Warum bewegen sie sich nicht mehr?«

Ich kannte Luna gut genug, um zu wissen, dass sie auch ohne Augenlicht so zurechtkam, als könnte sie sehen. Es gab nur sehr wenige Gelegenheiten, zu denen man bemerkte, dass sie blind war.

Ich betrachtete die Armee aus Finsterirdischen, die uns umringte, und öffnete den Mund, um zu antworten, da erhob sich das wilde Kreischen erneut mit unverminderter Kraft.

Ich fuhr zusammen, und Luna schlug wieder die Hände über die Ohren. In der Dunkelheit konnte ich kaum ihre Augen ausmachen, die sie zusammenkniff, als könnte das irgendwie helfen, den Schreckenslaut abzuwehren. Ich schüttelte den Kopf, doch das schien meine Ohren nur noch mehr zu schmerzen.

Die Finsterirdischen drehten sich fast wie ein einziger Körper um; sie ignorierten uns immer noch. Einige von ihnen gingen an uns vorbei, und ihre kalten, teigigen Leiber streiften uns sogar, langsam und schleppend. Es war fast unerträglich, ihnen so nahe zu sein. Sie zu spüren, ihren Gestank zu riechen. Es schnürte mir die Kehle zu, als einer vorbeikam, von dessen haarlosem Schädel ein Stück fehlte; an der Stelle steckte noch ein Beil, das ihm jemand hineingerammt haben musste.

Sie bewegten sich alle in dieselbe Richtung, weg von Luna, in der strammsten Gangart, die ich je an ihnen gesehen hatte. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie zu dieser Geschwindigkeit fähig waren. Meistens wankten sie, was vielen Menschen das Leben rettete.

»Sie gehen weg.« Fassungslos hielt ich Luna an mich gedrückt, während die Finsterirdischen sich wie eine Flutwelle um uns herum teilten und uns passierten. Wir standen ihnen im Weg, aneinandergeklammert und unerschütterlich wie zwei Felsbrocken. Es war, als würden sie uns nicht mehr sehen. Wir waren unsichtbar … bedeutungslos.

Was auch immer das Kreischen war, woher auch immer es kam, es zog sie an. Wie gelähmt sah ich einen Augenblick lang zu, wie sie vorbeischlurften, verschwanden und uns allein zurückließen in dem engen Tunnel. Das ohrenbetäubende Kreischen hielt an, unterbrochen von kurzen Pausen, die es nur noch gellender machten, und ich fragte mich, ob dies ihre Sprache war oder eine Art der Verständigung, die nur Finsterirdische entschlüsseln konnten. Ich hatte lange gedacht, dass sie miteinander über ihre schrillen Schreie kommunizierten … und dieses Kreischen war die Mutter dessen, was ich in all den Jahren, die ich nun schon draußen umherstreifte, gehört hatte.

Es war nur eine Vermutung. Ich wusste nicht, was vor sich ging, und ich wusste nicht, wie lange es dauern würde. Nicht allzu lange wahrscheinlich.

Luna stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte mir ins Ohr: »Sie folgen dem Kreischen.« Sie drückte eine Hand an die Lehmwand, spreizte ihre schlanken Finger, wie um sich abzustützen. »Und es ist mehr als das. Da sind Vibrationen. Ich spüre sie in der Erde. In der Luft.« Sie reckte das Kinn, als würde sie jetzt erst diese Schallwellen bemerken. Ihre nächsten Worte bestätigten, was ich argwöhnte. Mein Frösteln war nicht nur der Kälte zuzuschreiben. Ein krankes Grauen ergriff Besitz von mir – der Verdacht, dass hier unten noch etwas war, etwas Größeres, Mächtigeres als ein einzelner Finsterirdischer. Etwas, das stark genug war, eine Armee von Finsterirdischen zu befehligen. Was es auch war, wir mussten weg von ihm.

»Es ist noch etwas hier unten. Und es hat Macht über sie«, sagte Luna.

Ich schüttelte den Kopf, als spielte es keine Rolle. Dann ließ ich die Hand über ihren Arm nach unten gleiten und ergriff ihre Hand. Wunderbarerweise bekamen wir eine Chance, und wir mussten sie ergreifen, bevor sich das Fenster dieser günstigen Gelegenheit wieder schloss. »Los jetzt.«

Ich ging voraus. Sie zog einmal an meinem Arm, als ich nach rechts abbiegen wollte. »Hier entlang«, sagte sie und übernahm die Führung.

Natürlich würde sie den Weg nach draußen finden. Ich folgte ihr. Luna vergaß niemals einen Weg, den sie schon einmal gegangen war. Ich wusste kaum noch, dass ich hier heruntergezerrt worden war. Es war nicht mehr als eine verschwommene Erinnerung aus Lärm und Schmerz.

Sie blieb stehen, als der glitschige Tunnel plötzlich nach oben führte, und begann hinaufzuklettern, indem sie ihren Dolch in den rutschigen Untergrund rammte und ihn als Haltegriff benutzte. Ich blieb dicht hinter ihr und schob sie an. Es ging langsam voran, zwei Schritte vor und einen zurück. Ich knurrte, während ich gegen den Sog der Erschöpfung ankämpfte, Luna nach oben schubste und mich mühte, sie in Bewegung zu halten. Ich war so verflucht schwach.

Indem sie den Impuls meines Schubs von hinten nutzte, um sich in den Hang zu krallen, wand sie sich höher und höher, bis ich ihren Kopf und ihre Schultern nicht mehr sehen konnte.

Ich folgte ihr nach, ohne auf den Schmerz in meinen Muskeln und das Brennen in meinem Arm zu achten. Die Freiheit war so nah. Ich hörte sie tief Luft holen und durch den Sumpf über unseren Köpfen hindurch auftauchen. Ihre Beine verschwanden aus meinem Sichtfeld, dann die Füße, bis sie vollends in dem Morast dort oben verschwunden war.

Ich pumpte so viel Luft in meine Lungen, wie sie aufnehmen konnten, bevor ich mich kopfüber in die eisige Brühe stürzte. Ich half mit Armen und Beinen dem Auftrieb nach, der mich hinauf an die Wasseroberfläche zog, wo das Wasser um einiges wärmer war.

Keuchend kam ich nach oben, warf den Kopf zurück und füllte meine Lungen mit süßer, belebender Luft. Ich badete mein Gesicht in den dürftigen Strahlen von Mitterlicht.

»Fowler! Hier entlang!«, rief mir Luna, die gerade aus dem Sumpf stieg, über die Schulter zu.

»Ich komme«, sagte ich und erkannte meine Stimme kaum, weil sie so heiser war.

Ich schwamm durch den Morast und musste dabei meine bleiernen Glieder zwingen, sich zu bewegen. Meine Kraft schwand. Am Rand des Sumpfs stemmte ich mich hoch; ich bekam die Beine frei und brach auf dem durchweichten Boden zusammen, wo ich einen Augenblick liegen blieb und mich mit dem Gesicht nach unten keuchend vor Anstrengung ausruhte.

Wir hatten es geschafft. Wir waren noch am Leben.

»Fowler.« Sie hauchte meinen Namen irgendwo über meinem Kopf. »Hier können wir nicht bleiben.«

Ich rappelte mich mühsam auf meine zitternden Beine; ich wusste, dass sie recht hatte, und versuchte, nicht gleich wieder umzufallen. Nicht nach allem, was sie getan hatte, um mich zu retten. Ich musste in Bewegung bleiben. »Natürlich.«

Die Stunde würde enden, und Dunkelheit würde sich wieder über uns herabsenken. Mit ihr würden auch die Finsterirdischen zurückkehren. Wir konnten uns nicht darauf verlassen, dass das Ding, das sie da unten gerufen hatte, sie uns auf ewig vom Leib hielt. »Wir suchen uns einen Unterschlupf.« Sie nickte, als wäre das ein Leichtes. »Komm hier entlang.«

Wir stapften Seite an Seite durch das Marschland und umgingen alle Stellen, wo das Wasser tiefer wurde. Ich heftete den Blick auf Luna, um mich auf sie zu konzentrieren und nicht auf die unerträglichen Qualen, die meinen Körper heimsuchten.

Sie sah zum Fürchten aus. Das schlammverkrustete Haar stand wie schwarzes Stroh von ihrem Kopf ab. Die milchige Farbe ihrer Haut war nirgendwo mehr zu sehen. Es gab keinen Flecken ihres Körpers, der nicht mit Dreck und dem grünlichen Schleim aus dem Nest der Finsterirdischen bedeckt war.

Sie war das Schönste, was meine Augen jemals erblickt hatten.

»Du hast mir das Leben gerettet«, stieß ich mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht in der Stimme aus. Ich bezweifelte, dass schon einmal jemand nach unten gegangen und unbeschadet wiedergekehrt war.

»Dann sind wir jetzt quitt. Du hast mich zuerst gerettet, als du vom Baum gesprungen bist und dich von ihnen hast fangen lassen, um sie von mir abzulenken.« Sie beschleunigte ihre Schritte. Ich musste schneller werden, um mit ihr mitzuhalten. »Was für ein Leichtsinn! Was hast du dir dabei gedacht?«

»Ich habe dabei an dich gedacht. Ich habe keinen Sinn darin gesehen, dass wir alle beide sterben sollten. Was aber passiert wäre, wenn ich nicht von diesem Baum gesprungen wäre.«

Der Boden unter unseren Füßen wurde fester – felsig und uneben. Ich suchte die dunstige Umgebung ab und entdeckte vor uns Anhöhen und Felszungen. Vielleicht fanden wir dort Unterschlupf.

»Du hast also geglaubt, dass du ein großes Opfer bringst?«, blaffte sie. »Niemand hat dich darum gebeten! Ich auch nicht! Ich will nicht, dass irgendjemand für mich stirbt. Nicht einmal du.«

»Dabei sollte dir das doch bekannt vorkommen, oder etwa nicht?«, schoss ich zurück. Sie sollte ruhig meine Wut spüren. Vorbei war der Augenblick des Kusses, in dem wir Zorn und Verrat verdrängt hatten. Wir waren am Leben und vorläufig in Sicherheit, und die Differenzen zwischen uns traten wieder zutage, ohne die Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken. »Oder bist du etwa nicht wild entschlossen, dich sinnlos für andere aufzuopfern?«

Ihr Körper wurde steif. »Das ist nicht sinnlos«, flüsterte sie.

»Denken wir doch mal darüber nach. Nach Relhok zurückzukehren und dich Cullan zu Füßen zu werfen, damit er seinen Befehl aufhebt, alle Mädchen umzubringen – inwiefern ist das besser, als wenn ich mich für dich opfere?«

Sie hielt einen Moment inne und wandte mir ihr Gesicht zu; kurz sah ich Verblüffung in ihrer Miene, bevor sie sie verbarg und weiterging. Sie war so zornig, dass sich ihre Stiefel knirschend in den Untergrund gruben. »Das ist nicht dasselbe. Kein bisschen.«

»Doch«, beharrte ich zwischen zwei keuchenden Atemzügen, während ich Mühe hatte, nicht zurückzufallen. Ich schluckte und rang um Durchhaltevermögen und verfluchte diese unerträgliche Schwäche, die mich auslaugte und aussaugte.

»Also schön«, sagte sie schnippisch. »Wenn es dasselbe ist, dann weißt du ja, was ein notwendiges Opfer ist. Du solltest verstehen, warum ich nach Relhok will. Warum ich Cullan aufhalten muss.« Sie blieb stehen, und ich versuchte, nicht vor Erleichterung zu seufzen. Ihr Tempo brachte mich um.

Ich krümmte die Finger, um wieder Gefühl in meine Hand zu bekommen. Ein anderes Gefühl als diese ätzende Höllenqual. Sie bedachte mich mit einem Blick, als könne sie mich sehen, und ihre dunklen Augen huschten blind über mein Gesicht. Es war gespenstisch, wie nackt ich mir immer vor ihr vorkam. Vielleicht jetzt mehr denn je zuvor. Ich hatte nichts mehr vor ihr zu verbergen. Keine Geheimnisse zu hüten. So, wie ich war, stand ich vor ihr.

»Cullan«, wiederholte sie. »Du weißt doch – dein Vater.«

Die Anklage war deutlich. Offenbar würden wir dieses Gespräch jetzt führen. Ich holte gequält Luft. »Luna, lass uns nicht …«

»Warum nicht? Es ist die Wahrheit. Er ist ein Tyrann. Brutal. Böse.«

Alles Wahrheiten, für die ich ungern kostbare Zeit verschwendete. »Er ist kein Vater für mich …«

»Nur, dass er dein Vater ist. Eine hübsche kleine Tatsache, die du für dich behalten hast.« Sie nickte, als wollte sie, dass diese schmerzliche Wahrheit endlich bei mir ankam und Wurzeln schlug.

Ich starrte sie eine Weile an, während nutzlose Worte in mir aufkeimten, die ihr nichts bedeuten würden. Das Einzige, was sie im Augenblick spürte, war Verrat. Mein Verrat. Er war zu bitter. Nichts, was ich sagen konnte, würde daran etwas ändern. Jedenfalls nicht jetzt. Es würde Zeit brauchen. Zeit, die ich nicht hatte. Ich hob meinen Arm und zuckte zusammen. Ich konnte meine Finger nicht mehr bewegen.

»Du hast mich verlassen, Luna. Du bist weggelaufen, um zu Cullan zu gehen«, flüsterte ich heiser. Ich war entschlossen, sie daran zu erinnern, wie es gewesen war, damit es ihr wieder wichtig wurde. Erst dann konnte ich sie von dem Weg abbringen, den sie für sich gewählt hatte. »Hast du eine Ahnung, wie das für mich war – aufzuwachen und festzustellen, dass du weg bist?«

»Tu das nicht. Er ist dein Vater. Nenn ihn nicht Cullan, als wäre er es nicht.«

»Wer mein Vater ist, macht nicht zunichte, was wir zusammen haben.«

»Hatten«, verbesserte sie mich ruhig. »Hatten, Fowler. Wir haben es nicht mehr. Es ist zu Ende. Es gibt Wichtigeres. Angelegenheiten des Herzens sind nebensächlich. Das hast du mir beigebracht. Weißt du noch? Jeder muss sterben. Niemand überlebt in dieser Welt, und es hat keinen Zweck, sich an jemanden zu binden.«

»Luna, ich habe nicht …«

Sie fuhr herum und ging schnellen Schrittes weiter. Den schmerzenden Arm eng an meine Seite haltend, holte ich sie ein.

Ich wies mit dem Kopf auf eine Felszunge nicht weit von uns auf der rechten Seite. »Da sind Felsen. Lass uns eine Rast einlegen.«

»Wir sollten in Bewegung bleiben.«

»Ich muss mich ausruhen.« Es war mir zutiefst zuwider, diese Worte sagen zu müssen. Die meiste Zeit über, die wir zusammen unterwegs gewesen waren, hatte ich uns den Weg gebahnt. Ich hatte mich nie über Müdigkeit oder Schwäche beklagt. Es verletzte meinen Stolz, dass ich es jetzt tun musste.

Sie sandte mir einen befremdeten Blick, weil sie offenbar dasselbe dachte. »Na gut.«

Wir steuerten die Felsen an. Ich kletterte die Steigung vor ihr hinauf; dabei stieß ich kalte Atemwölkchen aus. Oben angelangt, bemerkte ich eine Spalte zwischen zwei Felsbrocken. Ich griff nach Lunas Hand und bekam ihre Finger kurz mit meiner guten Hand zu fassen, bevor sie sie mir wieder entzog. Die Zurückweisung versetzte mir einen Stich. Nicht einmal das wollte sie mir lassen.

Sie reckte das Kinn vor und schüttelte sich das von Schlamm steife Haar aus dem blassen Gesicht. »Ich kann das allein.«

Ich zuckte die Achseln, als würde es mir nichts ausmachen, als würde ich ihre Distanziertheit nicht wie einen körperlichen Schmerz empfinden. Ich zwängte mich durch die Öffnung der Felsspalte in den kalten Raum dahinter und stellte erleichtert fest, dass er sich in eine breite Höhle öffnete. Wir konnten darin beide aufrecht mit ausgestreckten Armen stehen. Ich ließ mich auf den nackten Felsen fallen und begrüßte die Kälte in meinem Rücken als willkommenen Kontrast zu dem brennenden Feuer in meinem Arm.

Sie ließ sich ebenfalls nieder, wobei sie auf Distanz blieb, und faltete die Hände auf den gebeugten Knien. Es fühlte sich an, als wäre die Nähe, die unter der Erde zwischen uns geherrscht hatte – dieser Kuss –, ein ganzes Leben her. Nicht vergessen, aber tief zwischen den Finsterirdischen und Knochen der Toten vergraben. Ich streckte mich auf dem Rücken aus und ließ den Kopf mit einem dumpfen Geräusch auf den festen Boden fallen.

Jetzt, da wir entkommen waren, ließ mein Körper alle Schmerzen zu, die großen wie die kleinen. Ich schloss die Augen, ohne mich darum zu scheren, dass ich auf blankem Stein schlafen würde. Mir tat alles weh – nicht nur der Arm. Mein Kopf hämmerte und glühte. Mein Arm brannte so sehr, dass ich mich zu fragen begann, ob es nicht besser wäre, ihn einfach abzuhacken. Ich kicherte leise bei diesem makaberen Gedanken. Es hatte Tage gegeben, an denen ich den Tod für wünschenswerter gehalten hatte als dieses Dasein. Dann hatte ich Luna getroffen, die mich davon überzeugte, dass es noch mehr im Leben geben musste. Dass wir zusammen mehr haben konnten. Und jetzt hatte sie beschlossen, dass sie sich geirrt hatte.

Lunas Stimme wühlte sich durch den dichter werdenden Nebel des Schmerzes. »Du kannst mich in die Hauptstadt bringen, Fowler. Du kennst die Stadt. Du musst Leute dort kennen. Vielleicht hast du noch Freunde, die …«

Wieder musste ich lachen, unwillkürlich und so rostig wie eine vergessene Pflugschar auf einem der zahllosen brachliegenden Felder im ganzen Land.

»Wie kannst du in einer Zeit wie dieser noch lachen?«, wollte sie wissen.

»Weil der einzige Grund, warum du mich noch um dich haben willst, darin besteht, dass ich dir bei deiner Selbstmordmission helfen soll – einer Mission, die mich an jenen Ort zurückführen würde, den ich geschworen habe, nie wiederzusehen.«

»Du kannst nicht vor dem hier davonlaufen.«

Das ernüchterte mich, und als ich den Kopf schüttelte, war die Leichtigkeit verflogen. »Alles, was ich tue, ist davonlaufen. Das ist das Einzige, was ich kann.«

Sie nickte.

Ich fügte tonlos hinzu: »Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Du musst diesen Wahnsinn lassen.«

»Was meinst du damit – selbst wenn du es könntest? Du sagst, du kannst es nicht, aber sei ausnahmsweise mal ehrlich. Sag mir die Wahrheit. Was du wirklich meinst, ist, dass du nicht willst.«

Ich wünschte, dass es nur das wäre.

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