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Lichterzauber in Whispering Heights

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An Weihnachten leuchtet die Liebe

Whispering Heights, Yorkshire: Jedes Jahr findet in der malerischen Kleinstadt ein großer Weihnachtsdekowettbewerb statt. Besonders für die junge Illustratorin Maggie ist der Wettbewerb mehr als nur ein kleiner Spaß im Advent. Obwohl sie wenig Kontakt zu Anderen hat, freut sie sich immer sehr, wenn während der Vorweihnachtszeit glückliche Familien und Kinder zu ihrem Haus kommen und sich an den Lichtern erfreuen. Aus der Sicherheit ihres Heims kann sie diese beobachten und so die leuchtenden Kinderaugen sehen, ohne selbst Teil von der Welt vor ihrer Haustür werden zu müssen. Kein Wunder, dass sie in den vergangenen Jahren stets als Siegerin des Wettbewerbs hervorgegangen ist. Dieses Jahr verspricht allerdings alles anders zu werden, denn ausgerechnet Maggies neuer Nachbar wird zu ihrem ärgsten Rivalen. Passend zum Fest der Liebe kommen bald auch noch Gefühle ins Spiel - und das macht alles erst richtig kompliziert.


  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008423

Leseprobe

Für Lena

1

Es hatte geschneit! Maggie Thornton spürte es, bevor sie die Augen aufschlug. Die Luft war erfüllt von dieser besonderen Stille, die nur dann entstand, wenn Schnee die Welt in eine weiße Decke hüllte. Sie schlug die Bettdecke zurück, tappte zum Fenster. Nicht oft prickelte Vorfreude durch ihre Adern, wenn sie am Morgen die Vorhänge zurückzog, um die Welt auf der anderen Seite des Fensters in Augenschein zu nehmen, doch jetzt fühlte sie diese Vorahnung in sich, dass etwas Wunderbares geschehen sein musste.

Ein Ruck, ein Ratschen, und tatsächlich! Kaum versperrten die dicken Samtvorhänge nicht mehr Maggies Blick, breitete sich vor ihr ein verschneites Winterwunderland aus. Natürlich war es nicht viel Schnee, sie hatten gerade einmal Oktober, aber das wenige genügte, um die Stadt zu ihren Füßen vollkommen zu verändern. Eine feine weiße Zuckerschicht puderte die Hausdächer. Wo die Bäume noch Laub trugen, zierten nun winzige Stacheln aus Eis die Äste und Zweige. Kinderlachen drang durch ihr Fenster. Im Tal stach der Fluss aus dieser Welt in Weiß wie ein glänzender Onyx hervor. Schwarz schimmerte die Wasseroberfläche, die Lichter der Straßenlaternen, die immer noch angeschaltet waren, spiegelten sich darauf wie in einem Zauberglas. Maggie lächelte. Was für ein wundervoller Tag! Von allen Jahreszeiten liebte sie den Winter am meisten. Es war die Zeit im Jahr, in der es nicht seltsam war, sich zu Hause einzuigeln und es sich mit einem guten Buch gemütlich zu machen, während im Kamin ein Feuerchen prasselte und der Duft der brennenden Scheite sich mit dem Aroma eines Wintertees mischte. Die richtige Mixtur für den Tee, der ihr vorschwebte, hatte sie bereits im Kopf: Sie würde getrocknete Apfelstücke, Zimt und Nelken mit einer Prise Muskatnuss mischen. Der Duft würde sie den ganzen Tag begleiten und die Vorfreude auf die kalte Jahreszeit, die sich beim Aufwachen in ihr breitgemacht hatte, über die nächsten Stunden retten. Wie gut, dass sie von zu Hause aus arbeitete. So konnte sie den Tag genießen, ohne nach draußen zu müssen und sich die Freude durch rutschige Straßen, Verkehrschaos oder eingefrorene Zehenspitzen trüben zu lassen.

Sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, da fiel ihr das zweite Wunder des heutigen Tages auf: Aus dem Schornstein des Nachbarhauses stieg Rauch! Nicht, dass es etwas Besonderes war, an einem frostigen Tag Anfang Oktober zu heizen. Gerade hatte sie selbst von einem knisternden Feuerchen geträumt – es war aber bemerkenswert, dass überhaupt jemand nebenan zu sein schien. Seit sie in Whispering Heights lebte, stand die andere Hälfte ihres Doppelhauses leer. Bei ihrem Einzug vor gut dreieinhalb Jahren hatte die Besitzerin des Nachbarhauses Maggie versichert, dass das höchstwahrscheinlich so bleiben würde. Whispering Heights war nicht die Art von Stadt, die viele Fremde anzog. Wer in den äußersten Norden Englands zog, ließ sich entweder in den größeren Städten oder gleich direkt auf dem Land nieder. Whispering Heights war keines von beidem – es war klein und beschaulich und gerade weit genug von York entfernt, um nicht mehr als Vorort durchzugehen. Die Menschen, die hier lebten, taten dies meist seit Generationen. Die Vorfahren der Vorfahren der Vorfahren hatten oft schon den Edelleuten gedient, die im dreizehnten Jahrhundert auf dem Gipfel des Hügels, der heute die Stadt war, die Burg erbaut hatten. Die alten Burggemäuer prägten noch heute das Stadtbild und verliehen ihm einen romantischen Touch. Die meisten Wohnhäuser von Whispering Heights stammten allerdings aus der Zeit der Industrialisierung. Damals erlebte das Städtchen dank einer mittlerweile zur Ruine verkommenen Baumwollmühle einen kurzen Aufschwung. Maggie hatte es hierhergezogen, weil es ruhiger war als York und Tante Anne ihr das Haus vermacht hatte. Ihr Cottage war ursprünglich ein Anbau zu dem etwas größeren Haus gewesen, mit dem sie sich nicht nur eine Mauer, sondern auch den Garten teilte. Genau das etwas größere Haus, aus dessen Schornstein auf einmal Rauch stieg!

Eine alte Legende aus dieser Gegend besagte, dass sich jedes Jahr am Tag des ersten Schnees ein Wunder ereignete. Dann brachte der Frost einen Engel in Menschengestalt auf die Erde, um Licht und Liebe in das Leben von jemandem zu bringen, dessen Seele in Traurigkeit versank.

Maggie schluckte schwer. Schon als Kind hatte sie aufgehört, an Wunder zu glauben. Zu grausam konnte die Welt außerhalb ihres sicheren Heims sein. Und dennoch – da gab es einen Ort tief in ihr, an dem lebte Hoffnung. Und diese Hoffnung war es nun auch, die sie immer wieder veranlasste, aus dem Fenster zu schauen und nachzusehen, wer an diesem viel zu frühen Schneetag im Oktober am nördlichsten Zipfel Englands in ihr Leben treten würde.

Schon in der ersten Kurve schlitterte das Taxi. Vincent hielt die Luft an und klammerte sich an den Haltegriff in der Tür. Am Flughafen hatte er sich extra für eines der traditionellen schwarzen Fahrzeuge entschieden. Eines von denen, die eigentlich für London bekannt waren, die aber auch in York eine außerordentlich gute Figur machten – vor allem vor dem Hintergrund der pudrig verschneiten Landschaft. Schon beim Landeanflug hatte er sein Glück kaum fassen können. Seit über zwanzig Jahren – seit er als fünfjähriger Knirps eine illustrierte Ausgabe von Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte geschenkt bekommen hatte – träumte er von einem Winter in England. Von tanzenden Flocken und knisterndem Schnee, von Kerzenduft und Lichterschein hinter viktorianischen Sprossenfenstern. Doch auf gar keinen Fall hatte er damit gerechnet, all diese Wunder schon am Tag seiner Anreise zu erleben. Das Trimester fing im September an. Unglücklicherweise hatte sich etwas mit seinem Arbeitsvisum verzögert. Er konnte von purem Glück sprechen, dass das Dekanat seine Stelle bis jetzt frei gehalten hatte. Aber auch zu diesem Zeitpunkt war Schnee auf der Insel eine absolute Seltenheit. Die zweite Sache, die er kolossal unterschätzt hatte, war, wie verdammt … kalt der Schnee war. Genauer gesagt, wie eisig die Luft war, wenn es kalt genug war, um zu schneien. Wie ein Biest mit spitzen Zähnen hatte sie ihm auf den wenigen Metern von der Flughafenhalle zum Taxi in die Haut an Wangen und Fingern gebissen. Bis in die Lunge hinein konnte er die Kälte spüren.

Er war so abgelenkt von der plötzlichen Herausforderung, einfach nur zu atmen, gewesen, dass er die Eisglätte auf dem Gehweg vollkommen unterschätzt hatte. Keine zwei Schritte auf englischem Boden, und er wäre um ein Haar unsanft auf dem Allerwertesten gelandet. Und jetzt geriet auch noch das Taxi auf der eisglatten Fahrbahn ins Schlingern?

»Mince alors!« Wenn sein Leben schon aufgrund einer sentimentalen Entscheidung im Begriff war, frühzeitig ein Ende auf den eisglatten Straßen Yorkshires zu nehmen, hatte er jedes Recht, in seiner Muttersprache zu fluchen.

Im Rückspiegel tauchten die Augen seines Taxifahrers auf. »Keine Sorge, hier in dem alten Mädchen passiert Ihnen nichts. Die Gute und ich passen schon auf Sie auf, versprochen.« Es dauerte einige Sekunden, bis Vincent erkannte, dass der Taxifahrer englisch sprach. Während die As in dem Englisch, das Vincent gelernt hatte, lang gezogen und weich waren, klangen sie bei diesem Mann, als würde als nächstes ein R folgen.

Der Fahrer stieß ein kehliges Lachen aus. »Das erste Mal in der Gegend, was? Nun, Junge, wirst dich schon dran gewöhnen. s’ geht schneller als man anfangs glaubt. Wo kommst du denn her?«

Der Verkehr kam wieder in Gang. In einem Tempo, das, wenn es nach Vincent ging, alles andere als angemessen für die Witterungsverhältnisse war, ließ das Taxi den Flughafenzubringer hinter sich und fuhr auf die A59. Um seinen Händen etwas zu tun zu geben, nahm Vincent die Brille ab und putzte die Gläser. Für genau diesen Zweck steckte stets ein Stofftaschentuch in der Tasche seines Jacketts. Mit etwas Verspätung beantwortete er schließlich die Frage des Taxifahrers: »Aus La Réunion.«

Die Augen im Rückspiegel verengten sich zu fragenden Halbmonden.

»Das ist im Indischen Ozean. In der Nähe von Mauritius, wenn Ihnen das was sagt.«

»Ah.« Der Fahrer nahm eine Hand vom Lenkrad und kratzte sich das Kinn. »Das erste Mal in Europa?«

»Ja. Und nein.« Himmel, hatte die Kälte sein Hirn lahmgelegt? »Es kommt wohl darauf an, ob Sie Kontinentaleuropa oder Wirtschaftseuropa meinen. Wirtschaftlich gehört La Réunion zur Europäischen Union und damit streng genommen mehr zu Europa als Großbritannien. Rein geografisch gesehen …« Er stoppte sein Geplapper. Der Fahrer hörte ihm längst nicht mehr zu.

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Rechts und links der Autobahn wuchsen Hecken und Bäume und verdeckten den Blick auf die Landschaft. Sie kamen an ein paar Vororten vorbei. Backsteinhaussiedlungen, in denen sich die Gebäude nur durch die Hausnummern unterschieden. In einem kleinen Gewerbegebiet reihte sich ein Supermarkt an den nächsten. Ein paar Kurven noch, ein paar Kreisverkehre, dann verengte sich die Straße, führte zwischen zwei Häusern hindurch, und plötzlich war alles anders.

Vor ihm lag eine Stadt wie aus einer illustrierten Ausgabe von Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Dicht an dicht drängten sich die Sandsteinhäuser in mehreren Reihen einen Hügel hinauf. Ganz oben thronte majestätisch eine Burg, während der Hügel nach unten hin von einem Fluss begrenzt wurde. An dessen Ufer führten Bahngleise entlang. Dieselben Bahngleise, die ihn ab Montag Tag für Tag in die Arbeit bringen würden. Schnee lag auf den Zinnen und Türmchen der Festung und bepuderte die Dächer der Häuser. Umgeben war die Stadt von dichtem, dunklem Wald. Nebel stieg zwischen den Bäumen auf, legte sich wie ein Schleier über die Szenerie, wirkte wie ein Spiegel der Wolkenstreifen auf dem cyanblauen Himmel.

Geräuschvoll schnappte Vincent nach Luft. Er hatte Bilder gesehen. Natürlich hatte er sich über die Gegend informiert, ehe er via Internet einen Mietvertrag unterzeichnet hatte. Doch kein Foto der Welt hatte ihn auf die Realität vorbereiten können. Auf das Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein, das ihn überkam, als er auf dieses Städtchen blickte, in dem seit Jahrhunderten Menschen ihrem Leben nachgingen, liebten, lachten, stritten und sich wieder versöhnten. Für diese Idylle nahm er die tägliche Pendelei nach York gerne in Kauf.

Noch besser wurde das Ganze, als das Taxi vor dem pittoresken Cottage anhielt, das er von den Fotos auf der Immobilienwebseite kannte. Das Haus war aus Backstein errichtet, mit einem Spitzdach, aus dem gleich mehrere Kamine ragten. Ein weiß gerahmtes Giebelfenster blickte aus dem Dach zu ihnen hinab. Direkt darunter gab es ein zweites Fenster, ebenfalls weiß gerahmt und mit romantischen Sprossen im Glas. Die Haustür befand sich in einem nach vorne versetzten Windfang mit eigenem kleinen Spitzdach. Unter der dünnen Schneeschicht ragten Efeublätter hervor, und auch die großen Terracottatöpfe entlang der Wand und neben dem Eingang versanken unter einer Haube Schnee. Ein beinah baugleiches, etwas kleineres Cottage war leicht zurückversetzt direkt an sein Haus gebaut. Die beiden Gebäude teilten sich eine Mauer, doch während sich die Haustür zu seinem Domizil in Richtung Straße befand, lag die seiner Nachbarn auf der schmalen Seite des Gebäudes.

Das Navigationssystem des Fahrers verkündete die Ankunft am Ziel. Das Taxi wurde langsamer, direkt vor dem Gartentor blieb es stehen. Das Grundstück der Cottages wurde durch einen gemeinsamen Zaun von der Straße abgegrenzt. Dort, wo der Garten aufhörte, fiel der Hügel steil zum Fluss hin ab, während nicht einmal einhundert Meter hinter der Straße der Wald begann. In der Wohnungsannonce war von dem atemberaubenden Ausblick die Rede gewesen, der sich vor dem Küchen- und Schlafzimmerfenster ausbreitete. Was für eine Untertreibung! Schon jetzt erfüllte die Vorstellung, jeden Morgen zum Anblick der Stadt zu seinen Füßen aufzuwachen, mit kribbeliger Vorfreude.

Der Fahrer stoppte das Taxameter. »Das macht dann siebenunddreißig Pfund zwanzig.«

Aus seiner Aktentasche holte Vincent die Geldbörse. Noch zu Hause hatte er sich mit Britischen Pfund eingedeckt, doch die Scheine waren ihm fremd und seine kalt gefrorenen Finger ungeschickt. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er die richtigen gefunden hatte.

Durch die Trennscheibe reichte ihm der Fahrer das Rückgeld. »Passen Sie beim Aussteigen auf, es ist glatt.«

»Mach ich. Natürlich.« Er schnappte seine Tasche und stieg aus. Von der anderen Seite des Taxis holte der Fahrer Vincents Trolley. Er fuhr den Griff aus und hielt ihn so in Vincents Richtung, dass er nur zugreifen musste. Was er machte. Ganz unfallfrei. Alles kein Problem.

»Danke.« Er nickte dem Fahrer zu. »Von hier aus komme ich allein zurecht. Wirklich, danke für Ihre Mühe.«

Mit dem Zeigefinger tippte sich der Fahrer an die nicht vorhandene Mütze und wandte sich um, um wieder einzusteigen.

Den Träger der Aktentasche über der Schulter und den Trolley im Griff, machte sich auch Vincent auf den Weg. Die Haustür zu seinem Cottage war vielleicht noch zwanzig Schritte entfernt. In genau demselben Moment, als eines der Trolleyräder in einem Klumpen Schnee stecken blieb, öffnete sich die Haustür. Vincent war abgelenkt, sein Blick schnellte nach oben. Er wollte sehen, wer aus seinem Haus kam, und achtete eine Sekunde lang nicht auf den Untergrund. Der stockende Trolley riss ihn nach hinten. Vincent verlor das Gleichgewicht, musste ausbalancieren. Auf dem nass gefrorenen Untergrund fanden die Ledersohlen seiner Schuhe keinen Halt. Gerade noch rechtzeitig fand er seine Balance wieder, doch bei seinem Tänzchen hatte er die Pfütze nicht bemerkt, die sich unter einer Schneeschicht mitten auf dem Weg befand. Das Eis, das die Wasseroberfläche schützte, brach. Bis zum Knöchel landete sein Fuß im Wasser. Augenblicklich strömte die Nässe in seinen Schuh, wanderte das Hosenbein empor und biss in seine Haut.

Auf den Laut, der ihm aus der Kehle kam, war Vincent nicht stolz. Es klang, als wäre er einer Katze auf den Schwanz getreten. Hektisch zog er den Fuß zurück. Dabei ließ er den Trolleygriff los. Beim Packen hatte er nicht auf eine gleichmäßige Gewichtsverteilung geachtet, was nun zur Folge hatte, dass das blöde Ding umfiel. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit machte er sich zum absoluten Affen. Als Archetyp in romantischen Komödien mochte der zerstreute Professor funktionieren, als Hauptrolle in seinem eigenen Leben wäre Vincent tausendmal lieber souverän und cool statt hemmungslos tollpatschig.

Aus Richtung der Haustür ertönte ein herzhaftes Lachen. Das machte es nicht besser. Vincent kratzte das letzte bisschen Würde zusammen, das er aufbringen konnte. In seinem Nacken kribbelte es, als würde ihn jemand beobachten. Nicht die Frau in der Haustür, die aller Wahrscheinlichkeit nach seine Vermieterin war und die sich ganz ohne Scham über seinen Kampf mit Schnee und Eis amüsierte – sondern ein anderer Blick. Er sah sich um. Da war niemand. Das Taxi war abgefahren, die Straße war leer, im Nachbarhaus brannte Licht und … Moment. Hatte sich da nicht der Vorhang bewegt? Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Der Schemen hinter dem Glas verschwand. Alles, was Vincent hatte ausmachen können, war ein Schopf knallorangefarbener Locken und die Ahnung eines Lächelns gewesen.

Sein Herz machte einen Satz.

»Sie müssen Mr. Laurent sein.« Die Frau im Türrahmen sprach seinen Nachnamen auf die englische Art aus. Ihr Lorrent klang ungewohnt hart im Vergleich zu dem französischem Lorohh, das er von zu Hause kannte. Weil er neben ungeschickt nicht auch noch als besserwisserisch durchgehen wollte, korrigierte er sie nicht. Es war ohnehin besser, er gewöhnte sich schnell an diese Art der Aussprache. Sicher würde er von jetzt an öfter damit konfrontiert werden.

»Kommen Sie erst mal rein. Ich habe den Kamin angemacht, dann können Sie sich aufwärmen. Das ist ein verrücktes Wetterchen, das Sie da heute begrüßt, was?«

»Ja, danke. Ein Feuer klingt gut. Ich bin ganz durchgefroren.«

»Ich bin Beth Saunders.« Damit bestätigte sie seine Vermutung, seiner Vermieterin gegenüberzustehen. Sie machte einen Schritt rückwärts und bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Nennen Sie mich gerne Beth.«

»Ich bin Vincent.« Er trat zu ihr in den Windfang und schüttelte sich Schneeflocken aus den Haaren. Wie weich sie sich an seinen Händen anfühlten! Pures Staunen verzog seine Lippen zu einem Lächeln. »Das ist mein erster Schnee.«

»Du hast noch nie Schnee gesehen? Sag bloß!« Beth machte große Augen.

»In der Nähe des Äquators schneit es nicht so oft.«

»Da hast du wohl recht.« Sie lachte. »Aber ganz ehrlich? So früh im Jahr ist Schnee auch bei uns alles andere als üblich. Willst du dir die Schuhe ausziehen? Sonst bringst du die ganze Nässe ins Haus. Die Kisten von der Spedition sind schon angekommen. Hoffentlich hast du da was Wärmeres zum Anziehen dabei.«

Wie ihm geheißen, streifte er sich die Lederslipper von den Füßen und hing seinen Trenchcoat an einen der Haken im Windfang. Prüfend sah er an sich herab. »Ich dachte eigentlich, mit Pullover und Hemd sei ich auf das Wetter vorbereitet.«

Diese Aussage würdigte Beth nur mit einem Schnauben.

Er folgte ihr ins Innere des Hauses. Er hatte es möbliert gemietet. Wie versprochen prasselte im Kamin im Wohnzimmer schon ein Feuer. Der Fußboden bestand aus in Schachbrettmuster verlegten Steinfliesen in Braun und Schwarz. Ein großer Teppich im persischen Stil sorgte für Gemütlichkeit. Die Möbel – ein dreisitziges Sofa, ein Ohrenbackensessel und ein Sofatisch aus dunklem Holz – wirkten wie aus der Zeit gefallen, passten aber gerade deshalb in das Haus. Der meiste freie Raum war mit seinen Umzugskisten vollgestellt. Während die anderen Einrichtungsgegenstände lediglich gemütlich aussahen, zog ihn das Bücherregal magisch an. Es füllte eine gesamte Wohnzimmerwand.

Er trat näher, strich mit einem Zeigefinger über die Buchrücken. Das meiste waren günstige Taschenbuchausgaben, aber auch ein altes, ledergebundenes Lexikon war dabei sowie etliche Sachbücher, deren Informationen zweifelsfrei heillos überholt waren.

»Da ist noch genug Platz für deine eigenen Bücher.« Beth nickte zu einem der Kartonstapel. »Bei manchen Kisten haben die Jungs von der Spedition ganz schön geflucht, weil die so schwer waren. In der Bewerbung für das Haus hast du geschrieben, du seist Literaturprofessor?«

»Post-Doc-Student«, korrigierte er. Die wenigsten Menschen wussten wirklich, was das zu bedeuten hatte, die akademische Welt war eine in sich abgeschottete Blase. »Aber dazu gehört auch, dass ich unterrichte. In gewisser Weise stimmt es also.«

Beth winkte ab und wandte sich wieder der Hausbesichtigung zu. »Der Rest der Kartons steht im Salon.« Ihm voran ging sie durch einen bogenförmigen Durchbruch ins nächste Zimmer. Auch hier stapelten sich Kisten. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er so viel eingepackt hatte. Die Stapel waren so hoch, dass sie beinah den Stutzflügel verdeckt hätten, der sich hinten im Raum befand. Noch mehr als das Bücherregal eben zog ihn nun das Instrument an.

Er klappte den Deckel hoch, entfernte den Klavierläufer von den Tasten.

»Wenn du willst, kannst du ruhig drauf spielen«, ermutigte ihn Beth. »Nur möglich, dass es schrecklich verstimmt ist. Sonst hätten es die Vormieter sicher nicht dagelassen.«

»Der Flügel stammt von den Vormietern?« Vincent traute seinen Ohren kaum.

»Ja, genauso wie die restliche Einrichtung. Das Haus stand jetzt eine ganze Weile leer. Zuletzt hat ein älteres Ehepaar hier gewohnt. Sie haben sich entschieden, ihren Lebensabend in Teneriffa zu verbringen, in einem Hotel. Angeblich ist das günstiger, als sich hier um alles kümmern zu müssen. Kann man so etwas glauben?«

Das war wohl keine echte Frage, also sparte sich Vincent eine Antwort.

»Na, jedenfalls findest du oben im Speicher auch noch allerhand von ihren Sachen. Dekozeug und Gebrauchsgegenstände. Ich wusste nicht, was du mitbringst, und hab deshalb alles einfach dagelassen.« Sie blieb stehen, fasste sich seitlich an die Stirn. »Ach, und bevor ich es vergesse: Falls du bei dem Weihnachtslichterzauberwettbewerb mitmachen willst, wirst du auch im Speicher fündig. Martha und Arthur waren sehr fleißige Teilnehmer.«

»Entschuldige bitte, aber …« Er nahm die Brille ab, begann sie zu putzen. Langsam aber sicher holte die Anstrengung der Reise ihn ein. Von allem, was Beth sagte, verstand er höchstens die Hälfte. »Was ist ein Lichterzauberwettbewerb?«

»Oh, davon hast du noch nicht gehört? Das ist eine alte Tradition hier in Whispering Heights. Schon im November beginnen alle, ihre Häuser und Gärten weihnachtlich zu schmücken, damit unser Städtchen im Dezember dann ein richtiges Schmuckstück ist. Das hat sich mittlerweile so weit herumgesprochen, dass sogar das Fernsehen berichtet. An Weihnachten krönt ein Lokalsender jedes Jahr den Garten mit der inspirierendsten Dekoration.«

»Und da macht wirklich die ganze Stadt mit?«

Beth zuckte mit den Schultern. »Na ja, nicht absolut alle. Archibald Snickersby zum Beispiel nimmt den ganzen Wettbewerb Jahr für Jahr zum Anlass, nach Herzenslust zu meckern. Lichtverschmutzung, unnötiger Stromverbrauch und Müllverursachung – der findet an allem ein Haar in der Suppe. Aber die meisten haben Freude an dem Ganzen. Die Lichter und so, das sieht ja auch einfach wunderschön aus.«

»Und was ist der Preis? Wenn es ein Wettbewerb ist, gibt es doch sicher einen Preis.«

Beth winkte lächelnd ab. »Darüber mach dir keine Gedanken. Du wirst sowieso nicht gewinnen.« Wie freundlich. Ihr brüskes Urteil traf ihn unerwartet hart. Sie kannte ihn schließlich kaum. Gut, im Schnee hatte er sich ein bisschen ungeschickt angestellt, aber schließlich war das alles neu für ihn.

Er senkte den Kopf.

Sie musste seine Kränkung bemerken, denn augenblicklich ruderte sie zurück. »Das hat gar nichts mit dir zu tun«, versicherte sie ihm. »Seit drei Jahren haben wir immer dieselbe Gewinnerin.« Sie trat näher zu ihm heran, beugte sich zu ihm, sodass sie ihm ins Ohr flüstern konnte. »Manche behaupten, sie sei eine Hexe.«

Meinte sie das wirklich? Immerhin klang sie ernst.

»Andere sagen, sie sei ein Vampir. Weil sie doch immer nur aus dem Haus geht, wenn es dunkel ist. Ich halte von diesem Gerede ja nichts, aber ganz mit rechten Dingen geht es bei ihr womöglich wirklich nicht zu. Auch wenn ihre Weihnachtsdekorationen in der Tat jedes Jahr absolut einmalig sind.«

»Und wo wohnt diese vermeintliche Hexe? Nur, damit ich gerüstet bin.« Er zwinkerte ihr zu, doch Beth blieb ernst. Offenbar glaube sie mehr von dem Gerede, als sie zuzugeben bereit war.

»Direkt neben dir, Vincent. Sie ist deine Nachbarin.«

Sein Atem stockte. Ein Bild schoss ihm durch den Kopf. Feuerrote Haare, schneeblasse Haut und die Ahnung eines Lächelns. Auf einmal konnte er es noch viel weniger erwarten, seine neue Nachbarin kennenzulernen, als vor wenigen Sekunden.

Was vom Tage übrig blieb, nachdem Beth sich verabschiedet hatte, verbrachte Vincent damit, sich in seinem neuen Zuhause einzugewöhnen. Er packte die ersten beiden Umzugskartons aus, nahm eine heiße Dusche, öffnete sich eine Dose Champignoncremesuppe aus den Vorräten, die Beth ihm freundlicherweise in die Küche gestellt hatte. Kaum setzte die Sättigung ein, schlug auch der Jetlag zu. Im Oktober war La Réuinion drei Stunden voraus. Was seine Eltern wohl gerade machten? Im Hotel war das Abendessen bereits serviert worden. Die meisten Gäste hatten sich mit Sicherheit entweder auf ihre Zimmer zurückgezogen oder genossen einen Drink an einer der Bars. Dort spielten Musikerinnen und Musiker Sega und Maloya für die Gäste. Egal, wo auf dem weitläufigen Gelände des Ferienresorts man sich befand, immer trug der Wind die Klänge der Insel vermischt mit dem Aroma wilder Vanille zu einem. In seinem neuen Haus hörte er nur seinen eigenen Atem, so still war es.

Eine plötzliche Sehnsucht ergriff ihn, trieb ihn aus der Küche ins Arbeitszimmer zu dem Klavier. Er klappte den Deckel auf, ließ die Finger vorsichtig über die Tasten gleiten, schob die Klavierbank zurecht. Die Noten kamen zu ihm, kaum, dass er die Augen schloss. »Habanéra« hieß das Stück aus den »Cinq mélodies populaires grecques« von Maurice Ravel, zu dem sich die Klänge formten. Sinnlich und fließend, exotisch und voller Sehnsucht. Lourdes hatte das Stück gemocht. Was dachte er da? Sie hatte alles gemocht, was er spielte. Stunde um Stunde hatte sie ihm zugehört, seit er als vierjähriger Knirps zum ersten Mal Unterricht genommen hatte. Sie hatte Tonleitern über sich ergehen lassen, endlose Fingerübungen und Wiederholungen. Wenn ihn als Teenager die Lust zum Üben verlassen hatte, hatte sie ihn daran erinnert, dass kein Erfolg ohne Preis kam, und später dann, als er zum ersten Mal ein Vorspiel in der Schule gewonnen hatte, war sie es gewesen, die eine Hand auf seine Schulter gelegt und gesagt hatte: »Es ist, wie es sein soll.«

Seine Finger stockten, stolperten über eine besonders heikle Tonfolge. Er spielte weiter. Ihretwegen und für sich. Weil er nicht wusste, wie er weiteratmen sollte, wenn er jetzt aufhörte zu spielen. Straucheln durfte ihn nicht aufhalten. Auch das hatte er von ihr gelernt. Er vermisste sie so sehr. Viel mehr als jeder Ort war seine alte Kinderfrau seine Heimat gewesen. Ein Leben ohne sie konnte er sich kaum vorstellen, auch noch Monate nach ihrem Tod. Sie war seine beste Zuhörerin gewesen, hatte alles über seine Forschung gewusst und ihn ermutigt, seinen Weg zu gehen. Seine Eltern waren viel beschäftigte Leute. Selbst als er noch ein Kind gewesen war, hatten sie selten Zeit für ihn gefunden. Bei Lourdes war das genaue Gegenteil der Fall gewesen. Auch als er erwachsen geworden und ihrer Fürsorge längst entwachsen war, hatte sie immer ein offenes Ohr für ihn gehabt und ihm niemals das Gefühl gegeben, mit Entscheidungen oder Problemen allein dazustehen. Doch er würde lernen müssen, ohne diesen Halt in seinem Leben auszukommen. Auch deshalb war er nach England gekommen. Vielleicht war genau dieser Ort der richtige Platz dafür.

2

Maggie lehnte sich zurück und betrachtete ihr Werk mit ein bisschen Abstand. Was sie auf dem Bildschirm sah, gefiel ihr. Aeliana Wintergalen hieß die Frostelfe, der sie für eine bekannte Autorin ein Gesicht verlieh. Ihre Auftraggeberin hatte Maggie ein umfangreiches Briefing geschrieben. Aeliana hatte rabenschwarzes Haar und Haut so weiß wie Schnee. Ihre Augen leuchteten blau wie der Winterhimmel an einem frostigen Sonnentag. Im Laufe des Romans würde Aeliana von einer Außenseiterin zur Königin der Frostelfen aufsteigen. Als Kind zu ihrer eigenen Sicherheit zu den Menschen gebracht, führte sie erst die Begegnung mit dem Prinzen des Sommerreichs, Valorian Sommerglanz, zurück in ihre eigene Welt, wo sich ihr Schicksal erfüllen konnte.

In ihrer Illustration hatte Maggie Aeliana eine reich mit schillernden Mondsteinen besetzte Knochenkrone aufgesetzt. Silberketten schmückten ihre Stirn und waren in ihr Haar geflochten. Wie ein Schal schmiegte sich ein Schneefuchs um ihren Hals. Nur über dem Schlüsselbein erkannte man Details ihrer Kleidung: eine cremeweiße Rüschenbluse, deren Spitzenmuster bei genauerer Betrachtung aus winzigen Schneeflocken und Eiskristallen bestand. Schneeverklebte Eibenzweige, auf denen zwei Rotkehlchen saßen, umrankten die Frostelfe. Das Federkleid der Vögel sowie die leuchtend roten Eibenbeeren brachten etwas Farbe in die ansonsten eher monochrome Illustration.

Vielleicht sollte Maggie noch ein paar Schneeflocken in den Hintergrund einfügen, um der Arbeit noch mehr Winterfeeling zu verleihen. Die meisten Winterwesen, die Maggie bisher für ihre Kundinnen und Kunden illustriert hatte, sollten silberweiße Haare haben. Ihr gefiel es, dass ihre momentane Auftraggeberin in dieser Beziehung einen anderen Weg einschlug. Es war immer wieder spannend, mit Konventionen brechen zu dürfen und wenigstens in der Welt der Fantasie Schönheit aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Sie seufzte. Wie aufregend wäre es erst, wenn Maggies Kreativität nicht bei den dunklen Haaren aufhören müsste! Natürlich war auch auf ihrer Illustration Aeliana groß und feingliedrig, mit einem schmalen, eleganten Gesicht, zu dem die spitzen Ohren passten und auf dem sich die Wangenknochen deutlich abzeichneten. Natürlich hatte Aeliana reine Haut, ihre Lippen waren voll und ihre Wimpern lang und gebogen. Schließlich hatte die Autorin bei Maggie Charakterkarten ihrer beiden Hauptfiguren in Auftrag gegeben, weil sie den Verkauf ihres kommenden Romans ankurbeln wollte, nicht um ein politisches Statement zu setzen.

Maggie griff nach der Teetasse. Bei der Arbeit bevorzugte sie eine Mischung aus Zitronenmelisse, Ingwer und Ginkgo. Die Wirkstoffe der verschiedenen Kräuter regten die Durchblutung an, hoben die Stimmung und verbesserten die kognitive Funktion und Kreativität. Genau das Richtige, wenn sie stundenlang auf den Bildschirm schauen musste. Gerade war ihre Tasse allerdings leer. Auch gut. Dann hatte sie wenigstens eine Entschuldigung dafür, aufzustehen und sich die Beine zu vertreten. In der Küche schaltete sie den Wasserkocher an und gab die korrekte Menge Teemischung in das Sieb.

Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, blickte sie aus dem Fenster. Der kurze Wintereinbruch gehörte der Vergangenheit an. Jetzt, zwei Wochen später, zeigte sich der November von der Seite, die den Gothic Novels des neunzehnten Jahrhunderts die düster-morbide Stimmung verlieh. Nicht umsonst hieß die Stadt, in der sie lebte, Whispering Heights. Tag für Tag jaulte der Wind über die umliegenden Hügelkuppen. Zwar hatte es schon einige Tage lang nicht mehr geregnet, aber die Luft war so feucht vom Nebel, dass sich jeder Gang nach draußen anfühlte wie ein Bad in Eiswasser. Selbst am Mittag schaffte die Sonne es kaum, die Herbstkälte zu vertreiben. Die Welt versank in einer Studie aus Grau. Der einzige Lichtblick war der kommende Lichterzauberwettbewerb. Damit ihr Garten pünktlich zum ersten Advent ein weihnachtliches Bild abgeben würde, war es höchste Zeit, mit den Dekorationen zu beginnen. Für dieses Jahr hatte sie sich ein ganz besonderes Konzept ausgedacht. Ein Auftrag hatte sie auf die Idee gebracht: Die Marketingabteilung eines großen Verlags hatte Maggie beauftragt, die Coverillustration für eine kommende Steampunk-Romance zu entwerfen. Es hatte Spaß gemacht, mit dem düster-romantischen Look zu experimentieren. Da dieses Subgenre der Fantasy nicht zu ihren üblichen Steckenpferden gehörte, hatte sie im Vorfeld zum Thema recherchiert. Die Bezeichnung setzte sich aus den Begriffen Steam – Dampf – und Punk zusammen. Markenzeichen des Steampunk war die Verbindung von futuristischen, auf Dampf basierenden Technologien mit dekorativen Elementen und dem Design der viktorianischen Ära. Heraus kam eine einzigartige Mischung aus Nostalgie und spekulativer Zukunft – etwas, das sich ganz hervorragend auch für Weihnachten nutzen lassen könnte. Und so würde ihr diesjähriges Konzept für den Lichterzauberwettbewerb A Steampunk Christmas Carol lauten.

Um ihre Dekovision zu verwirklichen, hatte sie sich einiges vorgenommen. Schon vor Wochen hatte sie im Speicher mit den Vorarbeiten begonnen. Anfangen würde sie mit einem viktorianischen Türkranz, der mit metallischen Elementen und kleinen mechanischen Details verziert sein sollte. Seit Monaten sammelte sie Altmetall beim Wertstoffhof und versah es mit künstlichem Rost, doch als ehemalige Floristin brachte sie es nicht übers Herz, bei ihrer Deko komplett auf Pflanzen zu verzichten. Sie hatte an getrocknete Hortensien und Disteln gedacht. Ihre Farbtöne würden gut zu den metallischen Elementen des Schmucks passen, dazu braune und goldene Ziergräser und natürlich Tannengrün. Die Blumen würden ihr Konto vor beträchtliche Herausforderungen stellen, aber das war einer der Vorteile davon, eine passionierte Stubenhockerin zu sein: Mit Ausnahme des jährlichen Dekowettbewerbs hatte sie kaum Hobbys.

Ihr Handy gab einen Signalton von sich. Fast gleichzeitig kochte das Teewasser. Sie goss den Tee auf, dann zückte sie das Smartphone. Grace, ihre beste Freundin aus Schulzeiten, hatte ihr geschrieben.

»OMG, Maggie, ich glaube, ich hatte gestern das schlimmste Date aller Zeiten.«

Mit ihrem Überschwang gelang es Grace immer, Maggie gute Laune zu machen. Grinsend tippte sie zurück: »Erzähl alles! Die besten Abenteuer erlebe ich grundsätzlich durch dich.«

»Okay, also er hat mich ins Celestial Bites eingeladen. Du weißt schon, diesen Nobelschuppen, der vor ’nem halben Jahr oder so in der Innenstadt aufgemacht hat. Die machen Isländisch-Hawaiianische-Fusion-Küche. Von Insel zu Insel nennen die das. Er hat das vorgeschlagen, und mir kann niemand nachsagen, ich sei nicht für Experimente zu haben.«

»Nein, das kann man dir ganz sicher nicht vorwerfen. Aber eigentlich klingt das doch ganz gut. Was war also das Problem?«

»Er hatte ein Spinatblatt zwischen den Zähnen.«

»LOL. Hast du ihm was gesagt?«

»Nein!!!! Ich wollte ihn doch nicht beschämen. Ich hab nur die ganze Zeit versucht, nicht hinzusehen.«

»Und das hat das Date zu einer Katastrophe gemacht?« Maggie sog die Unterlippe zwischen die Zähne. Grace war ein Herz von einem Menschen. Loyal bis zum Gehtnichtmehr, freundlich und herzlich, doch gerade bewies sie scheinbar, dass selbst sie der Versuchung erliegen konnte, andere anhand ihrer Missgeschicke zu bewerten. Maggie überlegte noch, ob sie etwas dazu sagen sollte, da kam schon Grace’Antwort.

»Natürlich nicht! So oberflächlich bin ich nun wirklich nicht.«

»Was ist denn dann noch passiert?«

»Der Kellner hatte uns gerade den Aperitif serviert, da hat Tony, mein Date, angefangen, von seiner Ex zu reden. Er hat mir jedes Detail erzählt. Bis hin zur Farbe ihrer Lieblingssocken.«

»Ist nicht wahr.«

»Ist wohl wahr. Ich hab abgelenkt und ihn gefragt, was seine Hobbys sind. Rate mal, was er geantwortet hat?«

Sie überlegte, aber eine passende Antwort fiel ihr nicht ein. »Ich habe absolut keine Ahnung.«

»Taubenfüttern im Park. Spinatblatt-Tonys Lieblingshobby ist Taubenfüttern im Park. Mit seiner Ex!«

Maggie grinste. »Na gut, ich gebe zu, das ist ziemlich seltsam.«

»Das ist eine Katastrophe.«

»Ich gehe davon aus, aus dir und Tony wird keine Liebesgeschichte?«

»Ganz sicher nicht. Aber so habe ich wenigstens Grund, weiter nach dem Traummann zu suchen. Und weißt du, was echt komisch ist? Jetzt, wo ich das Ganze noch mal erzählt habe, habe ich echt Lust auf Spinat.«

»Haha, ich hab dich lieb, Grace. Danke für den Lacher. Deine nächste Verabredung wird sicher besser, da wette ich drauf.«

»Und wenn nicht, habe ich dich, um darüber zu lachen.«

»Immer, beste Freundin!«

Seufzend legte Maggie das Handy weg. Wann war sie zuletzt auf einem Date gewesen? Es war Jahre her. An den meisten Tagen gelang es ihr, sich einzureden, dass sie alles hatte, was sie brauchte. Warum also fühlte es sich in letzter Zeit immer häufiger so an, als würde ihr etwas im Leben fehlen? Als wäre die kleine, sichere Welt, die sie sich geschaffen hatte, noch viel mehr wert, wenn sie sie mit mehr Menschen teilen könnte?

Wie aufs Stichwort schälte sich eine dunkle Gestalt aus dem Nebelgrau vor dem Küchenfenster. Die Schultern zu den Ohren gezogen, den Kragen seines für das Wetter viel zu dünnen Trenchcoat nach oben geschlagen, eilte ihr neuer Nachbar den Bürgersteig entlang auf das Gartentor zu. Wie jeden Tag, wenn er das Haus verließ, war er tadellos gekleidet: klassische Wollhose, Lederschuhe, Pullover. Manchmal blitzte unter dem Kragen des Mantels sogar eine Krawatte hervor. Stets klemmte eine braune Lederaktentasche unter seinem Arm. Trotz Novemberkälte trug er weder Mütze noch Schal. Der Wind spielte mit seinen Locken. Sie waren einen Ton heller als der Rahmen seiner Hornbrille und betonten die Konturen des ohnehin markanten Gesichts mit dem kräftigen Kinn und der kantigen Kieferlinie.

Maggies Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Wenn es im wahren Leben Buchspringer gäbe, müsste sie nicht lange überlegen, aus welchem Roman er sich in ihre Welt verirrt hatte. Mit seiner Ausstrahlung würde er perfekt zu den Welten der Brontë-Schwestern passen, und auch wenn das nicht ihr bevorzugtes Genre war, konnte sie verstehen, warum Generationen von Leserinnen dem dunklen Charme von Heathcliff aus Sturmhöhe oder der geheimnisvollen Aura eines Mr. Rochester aus Jane Eyre verfallen waren. Was hielt sie davon ab, nach draußen zu gehen und ihn in der Nachbarschaft zu begrüßen, wie es sich für normale Menschen gehörte? Warum hatte sie nicht längst bei ihm geklingelt und ihm einen kleinen Willkommens-Blumengruß gebracht? So schwer konnte es doch nicht sein! Mit Sicherheit würden sich sogar Beispiel-Dialoge im Internet finden lassen. Typische Fragen, mit denen man ohne Probleme ein paar Minuten Small Talk füllen konnte. Beinah wäre sie so weit gewesen, sich selbst einen Ruck zu geben und ihren Plan in die Tat umzusetzen, da wandte der Mann sein Gesicht und sah direkt in ihre Richtung.

Maggie gefror. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, dann raste es in ihrem Brustkorb davon. Ganz sicher konnte er hinter der Fensterscheibe keine Details ausmachen, aber er hatte sie gesehen, da war sie sich ganz sicher. Und nicht nur das! Er hatte sie angesehen. Sie bewertet. Sich eine Meinung gebildet. Schon hörte sie in ihrem Kopf die Stimmen, denen sie auch nach so vielen Jahren regelmäßiger Therapie und ihren Medikamenten nicht entkommen konnte: Gnom. Zwerg. Rotkappe. Goblin. Ein paar ihrer Peiniger waren kreativ geworden und hatten sich ganze Reime ausgedacht: In einer Ecke, klein und krumm, der Goblin lacht, so dumm, dumm, dumm.

Sie schloss die Augen, machte ihre Atemübungen. Was sie hörte, war nicht wahr. Nicht mehr. Sie war nicht dumm, nur weil sie Probleme hatte, die richtigen Worte zu finden, wenn sie angestarrt wurde. Ihr Leben heute war anders als früher. Sie war anders. Sie hatte einen Job, der sie glücklich machte und in dem sie erfolgreich war, sie wohnte in einem Haus, in dem sie sich wohlfühlte, und zahlte jeden Monat pünktlich ihre Rechnungen. Sogar Freunde, auf die sie zählen konnte, gehörten zu ihrem Leben. Doch egal, wie gut sie sich auch zuredete, nach draußen gehen und den neuen Nachbarn begrüßen, kam nicht mehr infrage.

Als am Abend Klaviermusik durch die gemeinsame Wohnzimmerwand drang und Maggie daran erinnerte, dass sie die Außenwelt zwar aussperren konnte, diese deshalb aber nicht aufhörte zu existieren, fragte sie sich immer noch, ob ihre Entscheidung vernünftig gewesen war oder ein Verlust.

Mit seinem allerfreundlichsten »Guten Morgen« schob sich Vincent auf den mittlerweile vertrauten Sitzplatz im Northern-Zug von Whispering Heights nach York. Auch die Gesichter, die seinen Gruß wie jeden Morgen in den letzten vier Wochen ignorierten, kannte er mittlerweile.

Da war das Mädchen im Teenageralter mit den blond gefärbten, schulterlangen Haaren und dem Fransenpony, der ihrem Gesicht etwas Aufmüpfiges verlieh. Neben Fransenpony saß gewöhnlich ein junger Mann, den Vincent insgeheim als Techgenie bezeichnete. In der Regel trug er enge Jeans und farbenfrohe Strickpullover unter einer Daunenjacke. Seinen dunklen Locken schien die Feuchtigkeit des morgendlichen Nebels nichts auszumachen, und er nutzte die Pendlerfahrt stets zum Arbeiten an einem Laptop. Außerdem gehörte zu seiner Morgencrew Santa, ein älterer Herr mit weißem Haar und Rauschebart, sowie Ihre Majestät, eine Frau, die seiner Schätzung nach in den späten Fünfzigern sein musste, stets tadellos gekleidet war und so aufrecht saß, dass ihr Rücken niemals die Sitzlehne berührte. Einen kleinen Moment wartete Vincent, ob nicht doch einer seiner Freunde den Gruß erwidern würde, dann gab er auf. Aus seiner Messenger-Bag zog er eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Mary Shelleys Frankenstein. Das Buch hatte er so oft gelesen, dass er die Geschichte beinah Wort für Wort auswendig kannte. Aber ihm ging es ja nicht um neue literarische Erkenntnisse, sondern um Trost und Zugehörigkeit.

Wie erbärmlich und einsam musste man sein, um Menschen, mit denen man nicht einmal einen ganzen Satz gewechselt hatte, als »Freunde« zu bezeichnen?

Dieser ganze Neustart im Land seiner Träume erwies sich als viel schwieriger als erwartet. Seufzend lehnte er die Wange gegen das Zugfenster, schreckte jedoch sofort wieder zurück. Alles hier war kalt. Allerdings nicht mehr das romantische Schneekristallkalt vom Tag seiner Ankunft. Längst war der Schnee weggetaut und hatte grauem Matsch Platz gemacht. Nicht einmal tagsüber wurde es richtig hell, selbst die Tage blieben grau und duster. Er presste die Lippen zusammen, atmete zitternd aus. Plötzlich kämpfte er mit den Tränen.

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