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Magic Circle – Zusammen sind wir magisch

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Einer für alle, alle für einen

Als die 12-jährige Lucy eines Tages mit ihren Mitschülern Franzine, Bennet und Tom nachsitzen muss, stellen die vier fest, dass sie zaubern können. Allerdings nur gemeinsam, einvernehmlich und mit Unterstützung einer magischen Sanduhr. Tippel, der Hausmeister ihrer Schule, hat sie bewusst zu diesem Zauberkreis zusammengeführt, damit sie gegen einen zweiten Kreis vorgehen, der gar nichts Gutes im Schilde führt. Denn seine korrupten erwachsenen Mitglieder haben herausgefunden, dass es irgendwo in der Stadt einen vergrabenen Gegenstand gibt, mit dem sie fortan auch einzeln zaubern könnten. Das müssen Tippel und die Kinder unbedingt verhindern.

Magische Freundschaftsgeschichte über die Kraft des Zusammenhalts


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Seitenanzahl: 256
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505151507

Leseprobe

Prolog

»Jaja, ich wünsche mir ja auch, dass wir endlich etwas gegen sie unternehmen können«, brummte der alte Tippel vor sich hin, während er versuchte, einen kleinen, doppelbauchigen Glaskolben in eine Metallhalterung zu schieben. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob das wirklich der richtige Weg ist … Ölige Rohrzange, warum klappt das bloß nicht?« Ungeduldig ruckelte er an dem Kolben herum, der einfach nicht einrasten wollte. »Du weißt ja selbst, wie gefährlich das ist, was wir vorhaben. Vielleicht tun wir damit genau das Falsche? Dann wäre alles verloren …«

Niemand antwortete ihm. Das war nicht verwunderlich, denn außer dem alten Mann befand sich kein weiterer Mensch in dem geräumigen Schuppen. Nur ein zerzauster Uhu, der mindestens genauso alt zu sein schien wie Tippel selbst, saß auf einer windschiefen Stange und starrte ihn aus einem bernsteingelb leuchtenden Auge an. Das andere hielt er geschlossen.

Tippel hantierte weiter an dem Kolben herum.

»Ich mein ja nur«, fing er schließlich wieder an. »Was, wenn ich mich irre und sie nicht die Richtigen sind? Dann wird es nicht funktionieren … Vielleicht sind sie sogar noch schlimmer als sie? Stell dir das mal vor, Wolckel! Das wäre doch furchtbar!«

Aufgewühlt blickte er hoch und sah den Uhu an. Dieser schaute aus seinem geöffneten Auge zurück und blinkerte ein paar Mal. Dann plusterte er sein an einigen Stellen schon ziemlich gelichtetes, weiß-braun geflecktes Federkleid auf, legte den Kopf schief und stieß ein paar leise, hohe Töne aus.

Tippel seufzte. »Jaja, ich weiß schon. Wir haben keine andere Wahl«, sagte er und sank auf seinen Drehhocker zurück. Er war ein dünner, kleiner Mann, der in seinem viel zu großen grauen Hausmeisterkittel beinahe verschwand. »Du hast ja recht, wir müssen etwas tun. Denn wenn sie ihr Ziel erst einmal erreicht haben, kann niemand sie mehr aufhalten.«

Als wolle er sich selbst bestätigen, nickte Tippel noch ein paarmal vor sich hin. Dann griff er mit neuer Entschiedenheit zu dem kleinen Glaskolben und schaffte es schließlich mit einem kräftigen Ruck, ihn zum Einrasten zu bringen. »Na also! Nun müsste es funktionieren.«

Er trat einen Schritt zurück und strich sich nervös die schulterlangen schneeweißen Haare aus dem Gesicht, während er sein Werk betrachtete.

Vor ihm auf dem Tisch stand ein seltsames Gerät. Es war ungefähr so groß wie drei übereinandergestapelte Schuhschachteln und hatte die Form eines Zylinders. Oben war ein goldener Ring angebracht, der als Tragegriff diente. In seiner Mitte befand sich eine Sanduhr aus Glas, deren unterer Kolben zu etwa zwei Dritteln mit einem feinen hellgrauen Material gefüllt war. Um die Sanduhr herum rankte sich ein zartes Metallgestell, über das vier kleinere, drehbare Sanduhren mit der großen verbunden waren, die ihren Inhalt in diese abgeben beziehungsweise deren Inhalt in sich aufnehmen konnten.

Fahrig strich sich Tippel mit den Händen über seinen Kittel, während er das Gerät anstarrte. Auch der Uhu fixierte es – nun mit beiden Augen.

Minuten verstrichen.

»Rostige Raspel!«, rief Tippel schließlich. »Da stimmt was nicht. Warum aktiviert sie sich nicht?«

Der Uhu blickte noch ein paar Sekunden auf das Gerät, als wolle er sich erst ganz sicher sein, dann stieß er einen hohen Schrei aus und breitete die Flügel aus. Unter heftigem Flattern erhob er sich mühsam in die Luft, flog in die hintere rechte Ecke des Schuppens und landete dort.

»Aber Wolckel, was hast du denn vor?«, rief Tippel ihm erstaunt nach.

Leises Geraschel drang aus der Dunkelheit zu Tippel herüber, plötzlich gefolgt von einem lauten Geprassel, das klang, als ob viele kleine Gegenstände herunterfallen würden.

»Das war jetzt aber nicht meine Knopfsammlung, oder?«, rief der alte Mann. »Es dauert Tage, bis ich die wieder richtig sortiert habe!«

Er machte einen Schritt in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war, da kehrte der Uhu schon wieder zurück. Mit viel Geflatter und unter dem Verlust einiger Federn landete er auf dem Tisch neben dem Gerät. Jetzt sah Tippel, dass er etwas im Schnabel hielt: ein Säckchen aus schwarzem Samt. Es schien sehr alt zu sein, denn der Stoff wirkte brüchig, und die goldene Kordel, die es verschloss, war glanzlos und abgestoßen.

»Ist das dein Ernst?«, rief Tippel. »Das ist unser eiserner Vorrat! Nein, nein, den sollten wir nicht leichtfertig verwenden.« Er trat einen Schritt zurück und schüttelte so entschieden den Kopf, dass seine Haare hin und her flogen.

Doch der Uhu ließ sich davon nicht beirren. Er legte das Säckchen vor Tippel auf dem Tisch ab und sah ihn aus seinen leuchtenden Augen auffordernd an.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte der alte Mann aufgewühlt. »Das ist unser letzter Wünschelsand. Wenn er verbraucht ist, können wir nichts mehr gegen sie ausrichten!«

Der Uhu schob den samtenen Beutel mit dem Schnabel noch ein Stück näher an Tippel heran.

Dieser starrte unschlüssig darauf. Das Säckchen lag nun so dicht vor ihm, dass er die mit rotem Faden gestickte Aufschrift lesen konnte. Friedebert Gunzelmann stand da.

Der Uhu blinkerte erneut.

»Meinst du wirklich?«, fragte Tippel noch immer zögerlich, griff aber doch nach dem Säckchen.

Wolckel stieß einen hohen Schrei aus und nickte.

Tippel atmete tief ein und nickte ebenfalls. »Nun gut, dann soll es so sein.«

Nachdem er den Beutel mit einem Zug an der Kordel geöffnet hatte, trat er zu dem Gerät und schob eine kleine Klappe an der oberen Abdeckung auf. Nach einem letzten Blick zu dem Uhu hielt er das Säckchen darüber. Goldfarbener Sand rieselte in den Glasbehälter.

Einen Moment lang geschah gar nichts, dann begannen die goldenen Körnchen, die sich in dem Gefäß auf die grauen gelegt hatten, zu flimmern. Es sah aus, als würde der goldene den grauen Sand gleichsam tanzend zum Leben erwecken. Kurz darauf sirrte und flirrte es in der gesamten Sanduhr wie goldenes Schneegestöber.

Gebannt beobachteten Tippel und der Uhu, wie die ganze Apparatur für einen Augenblick wie ein Stern erstrahlte. Dann verebbte das Leuchten langsam, bis der Sand, der nun in Gänze eine goldene Farbe angenommen hatte, ganz ruhig in dem Glasbehälter lag.

Während Wolckel sich erleichtert aufplusterte und sein rechtes Auge wieder zuklappte, nickte der alte Tippel zufrieden. »Jetzt ist sie bereit.«

Kapitel 1

Spaghetti mit Tomatensoße und jede Menge Ärger

»Es ist auch möglich, die Dezimalzahlen in Brüche umzuwandeln und anschließend zu subtrahieren«, leierte Herr Fuchsbinder vorn an der Tafel vor sich hin.

Lucy hörte ihm nicht zu. Sie drehte ihren Bleistift zwischen den Fingern und dachte sehnsüchtig an Schoko-Minz-Eis. Nicht weil sie hungrig war, sondern weil sie in ihrem früheren Leben genau jetzt zwei Kugeln davon bestellt hätte. Und zwar im Café Eisbrecher in Berlin, in das sie jeden Mittwoch nach der Schule mit ihrer Mutter gegangen war.

Aber jetzt nicht mehr. Jetzt hockte sie in diesem öden Klassenzimmer in dieser öden Kleinstadt, in der es weder anständiges Eis gab noch ein halbwegs cooles Klamottengeschäft, ein richtiges Kino oder irgendetwas anderes, was wichtig war! Ganz zu schweigen von ihrer Mutter.

Lucys Mutter war Raumfahrtwissenschaftlerin und richtig gut in ihrem Job. Vor ein paar Wochen hatte sie eine Anfrage von der NASA bekommen, ob sie Lust hätte, für ein Jahr in einem Forschungszentrum in Kalifornien zu arbeiten, um da irgendwas über Rote Riesen und Weiße Zwerge herauszufinden.

Lucy schnaubte abfällig. Wegen dieser blöden Riesen und Zwerge saß sie, Lucy, jetzt in diesem Kaff fest!

»Am besten machen wir zusammen eine Übungsaufgabe«, tönte die einschläfernde Stimme von Herrn Fuchsbinder weiter. »In einem Labor befinden sich in einem Gefäß 4,374 Gramm einer sehr gefährlichen Substanz. Ab einer Menge von 5,5 Gramm würde diese Substanz sich selbst entzünden und explodieren. Wie viel fehlt also noch, um …«

Für ihre Eltern war gleich klar gewesen, dass ihre Mutter diese Riesenchance auf jeden Fall ergreifen sollte. Ewigkeiten hatten die beiden hinter verschlossenen Türen herumdiskutiert und ihr dann einfach so – rumsdibums – das Ergebnis präsentiert: Ihre Mum würde in die USA fliegen und ein Jahr lang dort arbeiten und ihr Papa mit Lucy für diese Zeit zu seiner Mutter nach Wünschelhort ziehen.

Warum nicht gleich auf einen von diesen bescheuerten Weißen Zwergen?

Natürlich war sie auf die Barrikaden gegangen. Nichts gegen ihre Oma Moni. Die hatte sie echt gern, und sie machte einen super Pflaumenkuchen – aber hallo? In Wünschelhort wohnten vielleicht fünfzigtausend Leute! Das konnten sie ihr doch nicht ernsthaft zumuten? Warum konnten Papa und sie nicht einfach in Berlin bleiben? Oder sie alle zusammen nach Kalifornien gehen? Unter Palmen Kokosmilch zu schlürfen wäre ja auch okay. Aber nein, weil es Oma Moni nach ihrer Schulter-OP nicht so gut ging und Papa sie nicht allein lassen wollte, musste es jetzt Wünschelhort sein!

»Als Erstes müsst ihr wie immer die Kommas untereinanderschreiben. Dann füllt ihr die Nullen auf …«

Und deshalb war sie jetzt seit drei Wochen hier und langweilte sich abends in ihrem Zimmer in Oma Monis Haus und tagsüber im Klassenzimmer der 7b in der Friedebert-Gunzelmann-Schule.

Wütend drehte Lucy eine ihrer lockigen roten Haarsträhnen auf ihrem Finger auf, zog sie etwas in die Länge und ließ sie los. Sie schnellte wieder nach oben.

Wenn sie ihre Mutter wiedersah, konnte die echt was erleben …

Ein schrilles Kichern in der rechten Ecke des Klassenzimmers riss Lucy aus ihren Gedanken. Es kam von Cheryl, einem Mädchen mit blassem Gesicht, das immer Lila trug, obwohl es ihr gar nicht stand. Lucy sah zu ihr hinüber. Wie immer hing Cheryl an den Lippen von Franzine, die gerade irgendwas erzählte. Lucy verdrehte die Augen. Franzine mochte sie von den Mädchen in der neuen Klasse am allerwenigsten. Sie musste einfach immer und überall die Beste sein! Okay, mit ihren langen honigblonden Haaren und den blauen Augen sah sie tatsächlich ziemlich gut aus. Außerdem war sie Kapitänin der Volleyballmannschaft, ein Ass im Schwimmen und Vorsitzende des Theaterclubs. Und neben alldem schaffte sie es irgendwie auch noch, richtig gute Noten zu haben.

Ekelhaft.

Wieder kicherte Cheryl, und diesmal lachten die anderen Mädchen, die um sie herumsaßen, mit. Anscheinend ging es um Franzines Geburtstagsparty, die in ein paar Wochen stattfinden sollte. Lucy war das egal. Sie würde sowieso nicht eingeladen werden. Und selbst wenn, würde sie ganz sicher nicht hingehen!

Links von ihr zeigte Tom Fotos vom neuen Schlitten seines Vaters herum. Jannis, Marco und seine anderen Kumpels waren total begeistert und überboten sich darin, was sie alles machen würden, um mal in dem Ding mitzufahren. Toms Eltern arbeiteten beide in hohen Positionen bei Devil’s Liquid, einem Unternehmen in Wünschelhort, das mit verschiedenen Alkopops richtig groß rausgekommen war. Daher hatte er Kohle bis zum Abwinken. Lucy schnaubte abfällig durch die Nase. In der Schule war Tom nicht gerade gut, wie seine Noten bewiesen. Gestern erst hatte er in Französisch wieder eine Fünf kassiert. Und in Mathe sah es auch nicht rosig aus für ihn. Dafür riss er ständig seine Riesenklappe auf, egal, worum es ging. Seine Kumpels schnallten nicht, dass er nur heiße Luft produzierte. Dabei konnte eigentlich jeder sehen, dass er um einiges cooler tat, als er war.

Hinter Lucy war es ruhig. Kein Wunder, denn dort saß bloß noch Bennet. Er war der Einzige, der noch weniger Anschluss hatte als sie. Das lag wohl an der großen Narbe, die seinen Hals und seine linke Gesichtshälfte bedeckte. Auf jeden Fall verhielt er sich die meiste Zeit so, als wäre er gar nicht da.

»Vier bis zehn sind sechs, merke eins«, redete Herr Fuchsbinder weiter, der von dem Trubel in der Klasse nichts mitzubekommen schien. »Also sieben plus gemerkte eins sind acht, das macht …« Während er rechnete, lächelte er verträumt vor sich hin, so als wäre er gar nicht hier, sondern auf einer einsamen Insel.

Oder in Berlin.

Lucy seufzte sehnsüchtig.

Was gäbe sie dafür, jetzt dort zu sein! In der Tourismusbroschüre von Wünschelhort stand unter einem Bild der strahlenden Bürgermeisterin Sylvia Bleibart in großen Buchstaben: Hier werden Ihre Wünsche wahr!

Also gut. Dann sollte das Kaff doch mal zeigen, was es draufhatte …

Lucy starrte auf den Bleistift in ihren Fingern und stellte sich vor, dass sie nicht mehr hier im Klassenzimmer war, sondern an ihrem und Mamas Lieblingstisch im Café Eisbrecher. Mit aller Kraft wünschte sie sich, dort am Fenster zu sitzen und sich einen großen Löffel Schoko-Minz-Eis in den Mund zu schieben. Sie wünschte es sich so sehr, dass sie vor Anstrengung die Augen fest zusammenpresste und den ganzen Körper anspannte …

Natürlich passierte nichts.

Nur der Bleistift in ihren Fingern zerbrach mit einem lauten Knacken.

Verdutzt blickte Lucy auf die zersplitterten Stifthälften und merkte, dass es plötzlich ganz still im Klassenzimmer geworden war.

Ups.

Unsicher sah sie hoch. Alle hatten sich zu ihr umgedreht und starrten sie an.

Plötzlich wünschte sich Lucy ganz dringend, im Boden zu versinken – und zwar durch alle drei Stockwerke hindurch bis in den Heizungskeller. Aber natürlich ging auch dieser Wunsch nicht in Erfüllung. Also legte sie betont cool die Reste des Bleistifts auf den Tisch und versuchte, so zu gucken, als hätte sie damit gar nichts zu tun. Leider zitterten ihre Finger dabei.

»Ich hab ja gleich gesagt, dass die voll creepy ist«, flüsterte Franzine deutlich hörbar in die Stille hinein, und diesmal lachten nicht nur ihre Freundinnen, sondern auch der Rest der Klasse.

Nur Herr Fuchsbinder hatte wieder nichts mitbekommen. »Und schon haben wir das Ergebnis«, sagte er und drehte sich zur Klasse um. »1,126 Gramm der sehr gefährlichen Substanz müssen wir der jetzt vorhandenen Menge noch hinzufügen, damit der ganze Laden in die Luft geht – bumm!« Er strahlte zufrieden in die Runde.

Und dann klingelte die Schulglocke zum Mittagessen.

Als Lucy eine Viertelstunde später die Schulkantine betrat, sah sie sich an der Tür verstohlen um, bevor sie sich eins der orangenen Tabletts nahm und sich in die Reihe stellte. Die meisten Tische in dem großen, hellen Raum waren bereits besetzt. Rechts konnte sie Tom und seine Freunde ausmachen und am Fenster einige andere aus ihrer Klasse.

Gut so. Ihr Bedarf an Kontakt mit ihren Mitschülern war für heute eindeutig gedeckt. Deshalb war sie nach der Mathestunde auch erst mal auf die Toilette gegangen und hatte auf dem zugeklappten Klodeckel ein paar Minuten abgewartet. Mit etwas Glück hatten Tom, Franzine und ihre Fanclubs sich ihr Essen dann schon geholt, sodass sie sich in aller Ruhe etwas abseits an einen Tisch setzen konnte …

»Hey, es gibt Eier in Senfsoße. I like!«, ertönte da hinter ihr Franzines helle Stimme.

»Nice. Nehme ich auch.« Das kam natürlich von Cheryl.

Na toll. Heute lief aber auch wirklich gar nichts so, wie sie es sich wünschte.

Ohne sich umzudrehen, hielt Lucy ihr Tablett starr vor sich und blickte auf die Tafel mit den Tagesgerichten. Eier in Senfsoße. Igitt! Spinatlasagne. Lecker, aber die machte niemand so gut wie ihre Oma Moni. Blieb nur noch der Klassiker: Spaghetti mit Tomatensoße.

»Einmal die Spaghetti«, sagte Lucy zu der Frau hinter dem Tresen und nahm einen Moment später einen gut gefüllten Teller entgegen. Sie stellte noch einen abgepackten Kakao und einen Schokopudding dazu und wollte schon einen Tisch in der Ecke ansteuern, an dem nur Bennet und ein einsamer Fünftklässler saßen – da spürte sie plötzlich einen heftigen Stoß im Rücken. Sie stolperte einen Schritt nach vorn und schaffte es gerade noch, ihr Tablett festzuhalten. Allerdings geriet es dabei ein wenig in Schieflage, sodass die Tomatensoße großflächig auf ihr weiß-blau gestreiftes Shirt suppte.

»Ey, was soll das?«, rief sie und drehte sich um.

Vor ihr stand Cheryl, die ebenfalls ein Tablett vor sich trug. Darauf die Eier mit Senfsoße.

»Huch. Wo kommst du denn so plötzlich her?«, quiekte sie. »Ich hab dich gar nicht gesehen.«

»Dann solltest du vielleicht mal die Augen aufmachen!«, gab Lucy aufgebracht zurück.

Also wirklich. Wie doof konnte man denn sein?

»Hey, chill mal«, schaltete sich da Franzine ein, die mit ihrem Tablett neben Cheryl getreten war. »Ist doch gar nichts passiert.«

»Nichts passiert?«, wiederholte Lucy fassungslos. »Bist du blind, oder was? Mein ganzes Shirt ist versaut!«

Franzine verzog ihren hübschen Mund zu einem fiesen Lächeln, während sie Lucy von oben bis unten musterte. »Echt? Und ich dachte, das soll so sein. Passt doch farblich super zu deinen Haaren.«

Während Cheryl in Gelächter ausbrach, sah Lucy Franzine perplex an. Sie fasste es einfach nicht.

»Oh, oh. Achtung, Franzine!«, sagte Tom, der sich noch einen zweiten Schokopudding geholt und alles mitbekommen hatte. »Der Tomatenkopf sieht aus, als würde er gleich wieder irgendwas crashen.«

Franzine kicherte.

Und dann passierte etwas Merkwürdiges. Als würde ihre Hand von einer fremden Macht gesteuert, griff Lucy ganz locker in Franzines Teller – mitten hinein in die Eier in Senfsoße mit Kartoffelbrei – und schmierte die Matsche über deren weißes Sweatshirt. »Wow«, rief sie dabei. »Das passt ja farblich richtig gut zu deinen Haaren!«

Tatsächlich traf das Gelb der Senfsoße ziemlich genau das Honigblond von Franzines Mähne.

Franzine schnappte nach Luft. »Das … das ist doch …«, stammelte sie. »Na warte!« Sie langte ebenfalls in ihren Teller, bekam eine Handvoll Kartoffelbrei mitsamt einem Ei zu fassen und warf die ganze Ladung nach Lucy. Doch die drehte sich blitzschnell zur Seite, sodass nur ein wenig Senfsoße ihren Ärmel traf. Der Kartoffelbrei samt dem Ei klatschte Tom, der hinter ihr stand, mitten ins Gesicht.

Volltreffer.

Lucy hätte fast gegrinst, da traf sie schon Toms Antwort: der Schokopudding. Er erwischte sie am anderen Ärmel, flog aber größtenteils an ihr vorbei und traf den arglosen Bennet. Der sprang erschrocken auf und sah auf die braune Pampe, die an seinem grauen Hoodie mit dem grünen Hulk darauf herunterlief. »Hey, hört doch auf mit dem Quatsch.«

»Klappe, Two-Face!«, schnauzte Tom zurück. »Du hast hier überhaupt nichts zu melden.«

Während Bennet getroffen zur Seite blickte, wandte sich Tom wieder Lucy zu.

In der Zwischenzeit blickten alle Anwesenden zu ihnen herüber. Manche kicherten, andere tuschelten. Sogar der Hausmeister, ein kleiner Mann mit schulterlangen weißen Haaren, der an einem Fenster herumhantierte, betrachtete das Geschehen interessiert.

Lucy bekam davon kaum etwas mit. Sie griff in ihre Spaghetti, um sich für den Schokopudding zu revanchieren. Schwungvoll holte sie aus und zielte auf Tom – als hinter ihm die Tür aufging und eine dürre, große Dame im dunkelbraunen Kostüm hereinkam.

»Was ist denn hier …?«, setzte sie mit schneidender Stimme an, während ihre eisblauen Augen die Kantine scannten. Weiter kam sie nicht, da klatschten ihr schon die Nudeln direkt auf die weiße Schluppenbluse, wo sie nicht nur einen beeindruckenden Fleck hinterließen, sondern auch viele kleine und größere rote Sprenkel, die bis hoch zu ihrem Gesicht reichten. Sie sah ein bisschen aus wie aus einem Horrorfilm.

Vor Schreck ließ Lucy fast ihr Tablett fallen.

Das war Frau Kaltwasser, die Schuldirektorin!

Lucy hatte sie bei ihrem Aufnahmegespräch vor ein paar Wochen kennengelernt. Ihr lief jetzt noch ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte. Am Anfang des Gesprächs war alles ganz normal gewesen. Frau Kaltwasser hatte sie und ihren Vater recht freundlich empfangen, obwohl sich Lucy wirklich keine große Mühe gegeben hatte zu verbergen, wie wenig Lust sie auf den bevorstehenden Wechsel auf die Friedebert-Gunzelmann-Schule hatte.

»Sie wird sich schon daran gewöhnen, wenn sie erst einmal miterlebt, wie schön wir es hier haben. Dies ist immerhin eine der ehrwürdigsten und bestausgestatteten Schulen des Landes«, hatte Frau Kaltwasser mit einem stolzen Lächeln zu ihrem Papa gesagt und dann Lucy einen Blick aus ihren Eisaugen zugeworfen, der sie frösteln ließ. Vorsicht, Fräulein! hatte dieser Blick gesagt. Du benimmst dich hier besser, sonst kriegst du es mit mir zu tun. Und das willst du ganz bestimmt nicht!

Schon da wäre Lucy am liebsten schreiend aus dem Büro gerannt. Aber das war noch nicht alles gewesen: Am Ende des Gesprächs hatte die Direktorin ihre Sekretärin per Freisprechanlage aus dem Vorzimmer hereingebeten.

»Ja, bitte?«, hatte die junge Frau gefragt, die einen Moment später den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte.

»Frau Liebelt, das ist Lucy Himmel«, hatte Frau Kaltwasser geantwortet. »Sie wird ab sofort in die siebte Klasse gehen. Machen Sie doch bitte alle Unterlagen fertig.«

So weit, so normal.

»Mach ich. Willkommen, Lucy!«, hatte Frau Liebelt geantwortet und Lucy angelächelt, bevor sie, wieder an die Direktorin gewandt, hinzugefügt hatte: »Ach, noch etwas, Frau Kaltwasser: Vor einer Stunde hat Herr Gall angerufen und um Rückruf gebeten.«

Lucy hatte schon gedacht, dass sie jetzt endlich gehen könnten – als sie sah, wie sich Frau Kaltwassers Augen gefährlich verengten. Gleichzeitig beugte sich die Direktorin nach vorne wie ein Raubtier, das bereit zum Sprung war. »Vor einer Stunde?«, hatte sie die Sekretärin angefaucht. »Herr Gall hat vor einer Stunde angerufen? Und Sie sagen mir nicht Bescheid?«

Die arme Frau Liebelt hatte ausgesehen, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Aber … aber Sie wollten doch nicht gestört werden.«

»Das gilt doch nicht für Herrn Gall!«, hatte die Direktorin zurückgeschnappt. »Wenn er anruft, hat das immer Vorrang! Das habe ich Ihnen doch gesagt!«

»Jaja«, hatte sich die junge Frau zu versichern beeilt, der nun wirklich die Tränen kamen. »Entschuldigung.« Damit war sie zurück ins Vorzimmer geeilt.

Im nächsten Moment hatte Frau Kaltwasser ihr Lächeln wieder angeknipst, als wäre nichts gewesen, und sich an Lucy und ihren Papa gewandt. »Na, dann wünsche ich dir einen guten Start in Wünschelhort, Lucy!«

Beim Verlassen des Büros hatte Lucy gehofft, dass sie in dem einen Jahr, das sie hier verbringen musste, nie mehr mit dieser Frau zu tun haben würde.

Tja. Schon wieder falsch gedacht!

In der Zwischenzeit war es in der Kantine so still, dass man die Neonröhren an der Decke sirren hören konnte. Alle starrten auf die völlig perplexe Frau Kaltwasser und warteten auf das große Donnerwetter.

Doch das blieb aus. Stattdessen presste die Direktorin ihren ohnehin schon schmalen Mund noch mehr zusammen und schaltete ihren Eisblick an. Er glitt von der vor Senfsoße triefenden Franzine über den mit Kartoffelbrei bekleckerten Tom zu dem puddingverklebten Bennet bis hin zu Lucys in allen Farben schillerndem Streifenshirt. Lucy gefror das Blut in den Adern, als Frau Kaltwasser ihr schließlich direkt in die Augen sah.

Dann hob die Direktorin ihren knochigen rechten Zeigefinger und deutete nacheinander auf Lucy, Bennet, Tom und Franzine. »Du, du, du und du. Sofort in mein Büro!«

Geknickt folgte Lucy Frau Kaltwasser, die sich im Laufen mit einem feuchten Tuch Gesicht und Hals säuberte, durch die langen Schulgänge. Hinter ihr lief mit gesenktem Kopf Bennet. Franzine und Tom hingegen rannten links und rechts neben der Direktorin, die ein ordentliches Tempo vorlegte.

»Frau Kaltwasser, Sie müssen mir glauben! Das ist alles nur ein riesengroßes Missverständnis«, rief Franzine aufgeregt. »Ich habe gar nichts gemacht. Das war die Neue! Die hat plötzlich angefangen, mit Essen zu werfen!«

Tom pflichtete ihr von der anderen Seite bei: »Genau. Die ist schon die ganze Zeit voll aggro drauf!«

Frau Kaltwasser schien die beiden nicht zu hören. Sie eilte mit großen Schritten weiter. Als sie ihr Büro erreicht hatten, setzte sich die Direktorin hinter ihren gewaltigen Mahagoni-Schreibtisch und wies die vier Schüler mit einer einzigen Handbewegung an, sich davor aufzustellen. Und dann folgte doch noch das erwartete Donnerwetter – und zwar in Form einer Strafpredigt, in der Frau Kaltwasser sich lang und breit über die Austragung von Meinungsverschiedenheiten auf dem Schulgelände, die Bedeutung der Einhaltung der Schulregeln und den angemessenen Umgang mit Nahrungsmitteln ausließ.

Kurz gesagt: Wenn ihr euch schon zoffen müsst, dann gefälligst nicht in meinem Verantwortungsbereich und ohne mit Essen zu werfen!

Während Franzine der Direktorin aufmerksam zuhörte und immer wieder reumütig nickte, gab sich Tom gewohnt cool. Bennet guckte eingeschüchtert auf seine Fußspitzen. Offenbar versuchte er mal wieder, sich unsichtbar zu machen. Lucy konnte ihn verstehen. Frau Kaltwasser konnte einem wirklich Angst machen …

Während die Direktorin redete und redete, schweiften Lucys Gedanken ab.

Was war da eben in der Kantine bloß in sie gefahren? Klar war sie gerade ein klitzeklein wenig auf Krawall gebürstet, weil sie gegen ihren Willen in dieses Kaff verbannt worden war. Okay, vielleicht auch etwas mehr. Und dass Franzine sich über ihre Haare lustig gemacht hatte, hatte sie nicht friedlicher gestimmt. Aber dass sie so komplett durchgedreht war, war eigentlich gar nicht ihre Art.

»… und daher ist es wichtig, dass ihr lernt, dass so eine Einstellung Konsequenzen hat«, drängelte sich Frau Kaltwassers schneidende Stimme in Lucys Bewusstsein nach vorne. »Ihr werdet also heute den ganzen Nachmittag in der Schule verbringen und euch Gedanken über euer absolut inakzeptables Verhalten machen!«

Lucy sah entgeistert hoch.

Was?

Auch Tom, Franzine und Bennet schnappten nach Luft. Offenbar hatten sie dazu genauso wenig Lust.

»Wir müssen nachsitzen?«, entfuhr es Franzine. »Aber ich habe heute Nachmittag Volleyball! Es ist das letzte Training vor dem großen Spiel morgen, da muss ich dabei sein. Im Interesse der Schule!«

»Ich kann auch nicht«, schloss sich Lucy an. »Ich … ähm, ich muss dringend meiner kranken Oma helfen!«

Okay, in Wahrheit hatte sie nur vorgehabt, wie immer in ihrem Zimmer zu sitzen und auf ihrem Handy zu daddeln, aber in der Not …

»Ich muss auch nach Hause«, zog Tom hastig nach. »Ich habe Nachhilfe! Französisch und Mathe. Die kann ich auf keinen Fall ausfallen lassen!«

Lucy rollte mit den Augen. Diese Ausrede glaubte sie sofort.

Bennet sagte nichts.

Frau Kaltwasser wischte alle Einwände mit einer knappen Handbewegung beiseite. »Außerdem muss ich natürlich eure Eltern über diesen Vorfall in Kenntnis setzen.«

Lucy verzog das Gesicht.

Das würde ihrem Vater nicht gefallen. Oma Moni auch nicht. Und ihrer Mutter? Hm, sie konnte nur hoffen, dass sie nichts davon erfuhr.

Während sie genau wie Tom und Franzine leise murrte, protestierte diesmal Bennet. »Nein, bitte nicht!«, rief er und schob, als sei er selbst erschrocken, weil er etwas lauter geworden war, fast flüsternd hinterher: »Es ist nur, weil meine Mutter sich dann Sorgen macht. Und das ist doch gar nicht nötig …«

Lucy hatte Bennet noch nie so laut reden hören. Es musste ihm sehr wichtig sein, dass seine Eltern nichts erfuhren. Plötzlich tat er ihr leid.

»Das stimmt!«, platzte es aus ihr heraus. »Überhaupt ist Bennet ganz zu Unrecht hier! Er hatte mit unserem Streit gar nichts zu tun. Er saß nur zufällig in der Schusslinie, als Tom den Pudding nach mir geworfen hat!«

»Vielen Dank auch«, zischte Tom ihr empört zu.

Bennet hingegen sah Lucy überrascht an, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Frau Kaltwasser hob eine ihrer messerscharf abgezirkelten Augenbrauen und musterte sie. »Wie selbstlos, Lucy.« Sie verzog ihre Lippen zu einem grimmigen Lächeln. »Leider erscheint mir eine Fürsprache ausgerechnet aus deinem Mund nicht sehr überzeugend.« Ihr Lächeln erstarb. »Es bleibt dabei: Ihr werdet alle nachsitzen. Und zum Beweis, dass ihr eure Lektion auch wirklich verstanden habt, werdet ihr einen Aufsatz schreiben, in dem ihr genau erklärt, was falsch an eurem Verhalten war. Fünf Seiten lang!«

Alle vier holten bestürzt Luft.

»Und von dir«, Frau Kaltwassers Zeigefinger schnellte in Lucys Richtung, »bekomme ich zehn Seiten!«

Lucy schluckte.

Das war die Strafe dafür, dass ihre Nudeln die Direktorin getroffen hatten. Und jetzt musste sie mit diesen Schwachköpfen auch noch den Rest des Tages verbringen! Schlimmer konnte es wohl kaum werden.

Oder doch?

Kapitel 2

Vier Wünsche und ein Halleluja

»Im Ernst? Hier sollen wir nachsitzen?«, quiekte Franzine. »In diesem Loch? Hier gibt es bestimmt Ratten!«

Hinter den anderen betrat Lucy den fensterlosen, muffigen Kellerraum, der, wie an den Stuhlreihen und der großen Tafel an der Stirnseite erkennbar war, früher offenbar zum Unterricht genutzt worden war.

»Entspann dich, Prinzessin«, gab Tom zurück und strich sich seine schwarzen Haare zurück. »Die Viecher werden dich schon nicht anknabbern. Die mögen nämlich keine Senfsoße.«

Franzine warf Tom einen bitterbösen Blick zu.

»Ihr könnt euch beide beruhigen«, erwiderte Frau Bießmann. »Es gibt keine Ratten an dieser Schule.«

Frau Bießmann, die die Schüler wegen ihrer Pausbacken heimlich Hamsterbacke nannten, unterrichtete in Lucys Klasse Deutsch und Geschichte.

»Och, da wär ich mir nicht so sicher«, brummte der Hausmeister Tippel, der ihnen den Raum aufgeschlossen hatte, und kicherte. »Auf der Toilette neben dem Lehrerzimmer hab ich erst letztes Jahr ein ganzes Nest ausgehoben.«

»Ach ja?«, quiekte jetzt auch Frau Bießmann und sah sich nervös um. »Wie schade, dass mein Kater King Kong nicht hier ist. Der würde mit den Viechern kurzen Prozess machen!« Sie plusterte mit einem grimmigen Lächeln ihre Backen auf. »Wie auch immer. Das hier ist auf jeden Fall das alte Chemielaboratorium. Es wird heute kaum noch genutzt, außer, nun ja, in Fällen wie diesem. Hier werdet ihr also den Nachmittag verbringen. Und ich darf euch beaufsichtigen.« Sie seufzte tief. Offenbar konnte sie sich Schöneres vorstellen. »Na dann, husch, husch, setzt euch. Ihr habt ja einiges zu tun, wie ich gehört habe.«

Während Frau Bießmann hinter dem Lehrertisch Platz nahm und einen dicken Stapel Klassenarbeiten zum Korrigieren aus ihrer Tasche zog, sahen sich Franzine, Tom, Bennet und Lucy missmutig um. Nacheinander wählten sie sich ihre Plätze aus, wobei sie darauf achteten, möglichst viel Abstand zueinander zu halten. Lucy setzte sich nach hinten in die rechte Ecke des Raums.

Dann holten alle ihre Aufsatzhefte heraus und begannen zu schreiben. Das heißt, eigentlich war es nur Franzine, die sofort anfing zu schreiben. Tom, der sich ganz nach vorn in die Nähe der Tür gesetzt hatte, spähte unwohl in die dunklen Ecken, als würde er nach etwas Ausschau halten.

Lucy beobachtete ihn verwundert.

Ob er auch Angst vor Ratten hatte?

In der hinteren linken Ecke des Raums hatte Bennet Platz genommen. Auch er hatte sein Aufsatzheft herausgezogen und hielt einen Stift in der Hand. Doch statt zu schreiben, guckte er nur bedrückt auf die leere Seite vor sich.

Ob er noch immer an seine Mutter dachte?

Plötzlich wurde Lucy bewusst, dass sie Bennets Narbe aus dieser Perspektive nicht sehen konnte. Von hier aus war er ein ganz normaler Junge mit hellbraunen Locken, Sommersprossen und grünen Augen. Er sah sogar ziemlich gut aus.

Komisch, dass ihr das erst jetzt auffiel.

Lucys Blick wanderte weiter durch den Raum, der mit allerlei Dingen vollgestellt war. Anscheinend wurde er inzwischen hauptsächlich als Abstellraum genutzt. Im Halbdunkel hinter der Tafel konnte Lucy ein ganzes Sammelsurium verstaubter Gegenstände erkennen: alte Kopierer, kaputte Stühle, ausgemusterte Lampen und noch viel mehr. Neben dem Lehrertisch waren auf einem kleinen Tisch Dutzende leere Bechergläser aufgereiht sowie ein seltsames Gerät, das Ähnlichkeit mit einer Sanduhr hatte. Und vor der Wand neben Tom stand ein menschliches Skelett, das früher vermutlich im Biologieunterricht zum Einsatz gekommen war. Sein rechter Arm war abgefallen und hing abgewinkelt über seinen knochigen Schultern. Außerdem hatte ihm irgendein Witzbold ein Käppi mit dem Logo der Friedebert-Gunzelmann-Schule aufgesetzt.

Weird.

Als Frau Bießmann sich räusperte und ihr einen mahnenden Blick zuwarf, fiel Lucy wieder ein, warum sie hier war, und sie griff seufzend zu ihrem Stift. Wenn sie ihre zehn Seiten füllen wollte, sollte sie wohl besser anfangen.

Warum mein Verhalten falsch war notierte sie ganz oben auf der Seite und unterstrich es doppelt.

Und jetzt? Was sollte sie schreiben? Wenn sie doch bei Frau Kaltwassers Strafpredigt besser zugehört hätte!

Neidisch wanderte Lucys Blick zu Franzine hinüber, die schon wieder raschelnd umblätterte und auf der nächsten Seite weiterschrieb. Diese Streberin würde zehn Seiten locker vollkriegen. Schade, dass sie nicht mit ihr tauschen konnte.

Die nächsten drei Stunden verbrachte Lucy damit, sich etwas aus den Fingern zu saugen, das die Direktorin hoffentlich milde stimmen würde. Doch sie kam nicht gut voran. Erst viereinviertel Seiten hatte sie gefüllt, als sie unterbrochen wurde. Ohne Vorwarnung wurde die Tür aufgerissen, und der alte Tippel stürmte herein.

»Frau Bießmann, ein Anruf im Sekretariat für Sie von der Feuerwehr!«, rief er atemlos. Er schien den ganzen Weg gerannt zu sein, denn er war ganz rot im Gesicht und seine weißen Haare standen wild in alle Richtungen ab.

Erschrocken ließ die Lehrerin ihren Rotstift fallen und plusterte die Backen auf. »Was? Von der Feuerwehr? Brennt etwa mein Haus?«

»Nein, nein«, beruhigte sie der Hausmeister. »Es geht um Ihren Kater. Er ist wohl einem Vogel in einen Baumwipfel nachgeklettert und sitzt da jetzt fest. Die Feuerwehr hat gerade die Drehleiter ausgefahren …«

Das schien Frau Bießmann noch mehr zu beunruhigen als ein möglicher Brand in ihrem Haus. »Oh mein Gott!«, rief sie entsetzt. »Mein armer kleiner King Kong! Ich kenne ihn, er wird nicht aufgeben, bis er dieses Federvieh erwischt hat. Ich muss sofort zu ihm! Nur von mir lässt er sich von dem Baum herunterlocken.« Damit sprang sie auf und begann hektisch, Klassenarbeiten, Stifte, Lunchbox und was sie sonst noch auf dem Tisch ausgebreitet hatte, in ihre Tasche zu stopfen.

Lucy sah, wie Franzine und Tom sich hoffnungsvolle Blicke zuwarfen.

Vielleicht kamen sie doch früher als geplant hier raus?

»Aber Frau Bießmann, was wird denn die Direktorin sagen, wenn Sie einfach so gehen?«, wandte Tippel ein.

Frau Bießmann hielt inne und blickte zögernd zu den Schülern, die sie beaufsichtigen sollte. Dann plusterte sie die Backen auf, als habe sie eine Idee. Bittend sah sie Tippel an. »Könnten Sie die vier die letzten Stunden vielleicht beaufsichtigen, lieber Herr Tippel? Das wäre so nett von Ihnen!«

Der Hausmeister wirkte unschlüssig. »Ich habe eigentlich gleich Feierabend. Und überhaupt: Was ist, wenn Frau Kaltwasser davon erfährt? Das wäre ihr bestimmt nicht recht.«

»Bitte, Herr Tippel, das kann doch unter uns bleiben! Denken Sie an meinen armen Kater. Sie wollen doch nicht, dass ihm etwas zustößt?« Dabei klimperte sie doch tatsächlich ein paarmal mit den Wimpern.

Lucy blickte gespannt auf den alten Tippel.

Davon würde er sich doch wohl nicht einwickeln lassen?

»Na gut, weil Sie es sind, Frau Bießmann«, erwiderte der Hausmeister und strich sich die wirren Haare nach hinten. »Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie es niemandem erzählen!«

Lucy, Franzine, Tom und Bennet atmeten enttäuscht aus.

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