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Mord bei Kerzenschein

Als Buch hier erhältlich:

Ein hochstaplerischer Geisterjäger bringt Licht ins Dunkel
Oxfordshire, 1924: Arbuthnot »Arbie« Swift, selbst ernannter Geisterjäger und sich der Inexistenz des Übernatürlichen bestens bewusst, wird zum Einsatz gerufen. Angeblich treiben sich Geister auf dem Anwesen seiner Nachbarin herum. Doch während Arbie vorgibt, den Spuk zu untersuchen, geschieht das Ungeheuerliche: Die Hausherrin wird tot aufgefunden. Aber wie – und von wem – wurde sie getötet, wenn alle Fenster und Türen ihres Zimmers von innen verschlossen waren? Sollte es tatsächlich Geister geben? Schon bald findet Arbie sich zwischen geheimen Liebesaffären und tragischen Verlusten wieder, die Wahrheit und Fiktion vor seinen Augen immer mehr verschwimmen lassen ...


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005811

Leseprobe

Für meine Agentin Kate Nash,
die mich nun schon so lange erträgt.

KAPITEL EINS

»Oh, hallo Mr. Swift, könnte ich kurz mit Ihnen über meinen Geist sprechen?«

Diese ein wenig unkonventionelle Begrüßung hätte wohl jeden außer Mr. Arbuthnot Lancelot Swift stutzig gemacht. Nur dass besagter Mr. Swift, von den Weltgewandteren unter seinen Freunden und Angehörigen meist nur mit einem »Ach, Arbie« zur Kenntnis genommen, aus härterem Holz geschnitzt war. Zumindest hielt er sich das gern zugute, obwohl es, wenn er ehrlich war, durchaus einen Grund für seinen bemerkenswerten Gleichmut gab. Vor Kurzem war nämlich sein äußerst erfolgreiches Werk über die bekanntesten Spukerscheinungen, Gespenster und Geister des Landes herausgekommen – auch die eine oder andere Weiße Frau war dabei –, weshalb er mit Bemerkungen wie dieser vermutlich besser umzugehen wusste als die meisten seiner Zeitgenossen.

»Oh, guten Morgen, Miss Phelps«, erwiderte er darum nur und wandte sich zu der hochgewachsenen grauhaarigen Dame um, die ihn aus blassblauen Augen nachdenklich musterte. »Ist heute nicht ein prachtvoller Tag?«, fügte er vergnügt hinzu.

Wie erwartet tat die würdevolle Dame diese Belanglosigkeit ab, indem sie ihr keine weitere Beachtung schenkte.

Miss Phelps, die Arbie auf inzwischen Ende sechzig schätzte, gehörte zu den wohlhabenderen Einwohnern von Maybury-in-the-Marsh, einem kleinen Dorf in den Cotswolds. Und Arbie war sich als eingeborenes Mitglied dieser Gemeinde nur allzu sehr der bedeutenden Stellung bewusst, die Miss Phelps in der hiesigen Gesellschaft bekleidete. Da sie zudem für ihren kritischen Blick berüchtigt war, konnte er nur hoffen, dass seine der neuesten Mode folgende weite Bundfaltenhose und der Wollpullover Gnade vor ihren gestrengen Augen finden würden.

Ihre Familie residierte nun schon seit Generationen in einem Anwesen namens Old Forge, wo die ersten Phelps einst als bescheidene Schmiede angefangen hatten. Doch dank Glück, Geschäftssinn, Fleiß und gnadenloser Sparsamkeit hatten sie im Laufe der Jahre ein Unternehmen aufgebaut, um das ihre Mitmenschen sie heute beneideten. Miss Phelps’ Bruder hatte, wie so viele Industrielle seiner Zeit, im Weltkrieg das Vermögen noch weiter gemehrt, sodass der Name der Familie inzwischen an den Mauern vieler Fabriken prangte. Nicht zu vergessen auch an den Türen einer Kette von Automobilwerkstätten und Schrottverwertungsbetrieben in sage und schreibe drei Grafschaften.

Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass Miss Phelps, eines der wenigen verbliebenen Mitglieder ihrer Sippe, die Insignien ihres Wohlstands mit beiläufiger Lässigkeit zur Schau trug. Heute tat sie das in Form eines kunstvoll abgetragenen Tweedkostüms, eigens geschneidert für ihr Gardemaß von einem Meter achtzig, einer Kette aus makellosen Perlen und butterweichen Glacéhandschuhen. Ihre Handtasche bestand aus dem Leder eines nicht näher auszumachenden Reptils und war selbst für Arbie – zugegebenermaßen nicht unbedingt ein Fachmann auf dem Gebiet der Damenmode – unschwer als Objekt der Begierde wohl jeder Frau zu erkennen.

Also war eigentlich alles wie immer, wenn nur Miss Phelps’ für ihre Verhältnisse recht kleinlautes Auftreten nicht gewesen wäre. Denn für gewöhnlich stolzierte sie durchs Dorf, als sei sie trotz ihrer entfernten Verwandtschaft mit dem Königshaus dazu verdonnert worden, sich unter die Bauern zu mischen. An diesem Morgen jedoch war von ihrer üblichen Herablassung kaum etwas zu spüren, und ihr Blick huschte beinahe ängstlich die Old Mill Lane hinauf und hinunter.

»Ich habe ja so gehofft, Sie zu treffen, Mr. Swift. Sie sind nämlich genau der Richtige, um mir einen Rat zu geben«, begann sie, schien jedoch von ihrer eigenen Aussage nicht ganz überzeugt zu sein. Was ihr, wie Arbie einräumen musste, nicht zu verübeln war, denn schließlich kam es nur äußerst selten vor, dass ihn jemand um Rat fragte. »Damit meinte ich, weil Sie doch alles über Unruhegeister und ähnliche Dinge wissen«, fügte sie mit leicht zweifelndem Unterton hinzu.

Noch während sie sprach, musterten Miss Phelps’ blassblaue Augen Arbie mit unverhohlener Missbilligung. Gewiss ließ sie gerade die vielen Male Revue passieren, die er als kleiner Junge ihre Birnen, Stachelbeeren und Pflaumen stibitzt hatte. Auch der Tag, an dem er für das schwungvolle Eindringen eines Kricketballs durch das (bedauerlicherweise geschlossene) Fenster ins Haus verantwortlich zeichnen musste, war ihr sicher im Gedächtnis geblieben.

»Ach, äh, wirklich?«, antwortete er beklommen. Auch wenn es der Anstand gebot, seinen Nachbarn auf Verlangen hilfreich beizustehen, hieß das noch lange nicht, dass man sich um diese Aufgabe reißen musste.

Arbie war ein schlaksiger junger Mann, einsfünfundachtzig groß und mit einem dichten, dunklen Haarschopf und hübschen grünen Augen gesegnet. Nun zermarterte er sich verzweifelt das Hirn nach einem Weg, sich aus dieser Situation zu befreien, die heikel zu werden drohte. Denn offen gestanden lag ihm im Moment nichts ferner, als Geister und ihre Umtriebe zu erörtern. Eigentlich hatte er sich an diesem prachtvollen Sommermorgen nur auf den Weg gemacht, um einen Spaziergang durchs Dorf zu unternehmen und die Zeitungen und Tabak zu kaufen. Anschließend stand ein erholsamer Zeitvertreib auf dem Programm, wie zum Beispiel ein wenig an dem Bächlein zu angeln, das am Rand seines Grundstücks verlief.

Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass alle, die Arbie ein wenig besser kannten, ihren Augen nicht getraut hatten, als Die Geisterjagd: Ein Leitfaden für den Gentleman den Buchhändlern Großbritanniens förmlich aus den Händen gerissen wurde. Walter Greenstreet – sein bester Freund seit der Schulzeit in Wadham, der sofort nach dem Abschluss in den alteingesessenen Verlag der Familie eingetreten war – hatte es ebenfalls völlig unvorbereitet getroffen.

Genau genommen war Die Geisterjagd: Ein Leitfaden für den Gentleman bei einem Treffen der beiden jungen Herren in ihrem Club entstanden. Während eines recht alkoholgeschwängerten Mittagessens waren sie nämlich irgendwann darauf zu sprechen gekommen, welche Faszination alles, was mit Spuk und Geistern in Zusammenhang stand, auf ihre Landsleute ausübte. Es schien, als habe jeder eine Gespenstergeschichte zu erzählen oder besäße einen alten Herrensitz, wo eine Weiße Frau, ein Kopfloser Reiter oder irgendein anderer lästiger Poltergeist sein Unwesen trieb. Arbies Antwort auf diese Feststellung war recht unerwartet ausgefallen. Er meinte, das sei wirklich ein Jammer, weshalb sich jemand der Aufgabe annehmen müsse, die Angelegenheit nach logischen Gesichtspunkten zu ordnen und einen Leitfaden herauszubringen. Schließlich erfreuten sich derartige Führer, zum Beispiel zu den Themen Bergwandern und Touren mit dem Fahrrad, derzeit großer Beliebtheit. Ein solches Werk nun würde Ausflüglern Gelegenheit geben, nicht nur historische Stätten oder Wunder der Natur zu bestaunen, sondern auch ihr Interesse am Geistigen (wenn auch nicht in Form gleichnamiger Getränke) zu pflegen.

Vielleicht werde die Geisterjagd ja sogar noch mehr Anhänger finden als das Beobachten von Vögeln oder das Betrachten der Natur, verkündete er kühn. Inzwischen hatte er sich ein wenig in sein Thema hineingesteigert, obwohl man zu seiner Verteidigung vorbringen musste, dass der erlesene Portwein des Clubs seine Leidenschaft beflügelt haben könnte. Jedenfalls ließ Arbie sich wortreich und begeistert über sein neues Geschäftsmodell aus, das bei gelangweilten Wohlhabenden sicher auf Interesse stoßen würde. Und das tat er so ausführlich, bis Wally ihn seinerseits aufforderte, dieses Buch doch einfach zu schreiben. Schließlich, so fügte der Jungverleger mit einem spöttischen Grinsen hinzu, habe Arbie sowieso nichts Besseres zu tun, da er ja fest entschlossen sei, niemals für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Deshalb würde sich das Verfassen des Buches sicher als amüsanter Zeitvertreib erweisen. Natürlich immer vorausgesetzt, dass Arbie sich dieser Aufgabe überhaupt gewachsen fühle.

Natürlich konnte Arbie diese Kampfansage nicht auf sich sitzen lassen. Kneifen kam nun nicht mehr infrage. Und deshalb verkündete er großspurig – und selbstverständlich in der Erwartung, dass sein Freund einen Rückzieher machen würde –, er werde das Werk in Angriff nehmen, sofern Wallys Verlag bereit sei, es auch zu veröffentlichen. Wally, der sah, dass es kein Entrinnen mehr gab, nahm die Herausforderung an. Und noch ehe die Woche zu Ende war, legte er seinem Freund einen Vertrag zur Unterschrift vor.

Nun saß Arbie ein wenig in der Klemme. Ganz abgesehen davon, dass er sich nur noch sehr undeutlich an das fatale Gespräch beim Mittagessen erinnerte. Allerdings ließ ihm dasselbe Ehrgefühl, das überhaupt erst zum Aufsetzen des Vertrags geführt hatte, keine andere Wahl, als den Stier bei den Hörnern zu packen und den verdammten Wisch zu unterzeichnen.

Und so fand sich Arbie eines schönen Morgens mit einem ungewollten Buchvertrag wieder, in dem stand, dass er tatsächlich ein Manuskript anzufertigen hatte. Nachdem er einige Wochen lang betrübt sein Schicksal, die Hinterlist seines Freundes und – nicht zu vergessen – den süffigen Portwein verflucht hatte, packte er seinen Koffer und machte sich, bewaffnet mit einer Reiseschreibmaschine, auf den Weg in den Süden von England, um dort nach Geistern zu suchen.

Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass das tatsächlich recht amüsant war. Oh, nicht die Geisterjagd an sich. Die erwies sich als äußerst langweilig, denn für gewöhnlich saß man dabei nur in der Dunkelheit herum und wartete darauf, dass etwas geschah, was unweigerlich niemals eintrat. Nein, das Reisen selbst war in seinem schwarzen Alvis Saloon die wahre Freude. Langsam fuhr er die Küstenstraße entlang, passierte hübsche Ortschaften und übernachtete in Dorfgasthöfen oder Pensionen, überall dort, wohin eine Laune oder ein heißer Tipp in Sachen Geistererscheinung ihn verschlug. Es war ein wundervolles Gefühl von Freiheit. Und da die meisten Wirtinnen und Wirte sich vor Diensteifrigkeit förmlich überschlugen, um lobende Erwähnung in seinem »neuen Reiseführer« zu finden, lebte Arbie wie ein König, vermutlich der eigentliche Grund, wieso er seine Recherchen so genoss.

Wieder zu Hause angekommen, überarbeitete er seine »Aufzeichnungen« und überreichte Walter das fertige Manuskript. Sein alter Freund gab es hastig – und ungelesen – einem Jungredakteur weiter. Und vergaß, dass es je existiert hatte.

Bis das Buch drei Monate später erschien und ein sensationeller Erfolg wurde. Aus irgendeinem Grund traf Arbies lockerer und ironischer Stil genau den Geschmack der Leserschaft. Zudem war seine Vorgehensweise, verschiedene Ausflugsziele zu beschreiben und seine dortigen »Auseinandersetzungen« mit diversen Geistern zu schildern, so amüsant und unterhaltsam, dass sie breite Bevölkerungsschichten – von der Hausfrau bis hin zum Dorfadvokaten, Farmer, Busfahrer, der Herzoginwitwe und dem Küchenmädchen – ansprach. Mit der Folge, dass Walter Greenstreet, zum Teufel mit dem Burschen, inzwischen buchstäblich auf Arbies Türschwelle campierte, seinem Freund mit einem Vertrag vor der Nase herumwedelte und ihm bei jeder ihrer Begegnungen eine noch höhere Beteiligung in Aussicht stellte.

Allerdings hatte Arbies angeborene Faulheit inzwischen genug Zeit gehabt, sich erneut Geltung zu verschaffen, sodass ihm der bloße Gedanke, ein zweites Buch schreiben zu müssen, Zitteranfälle verursachte. Seit einem Monat schon widerstand er mannhaft Wallys Flehen, er möge sich doch wieder an die Geisterjagd machen. Und nun wollte eine Bewohnerin seines eigenen Dorfes ausgerechnet über Geister mit ihm sprechen! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Sollte der Inhalt dieser Unterhaltung Wally zu – den recht groß geratenen – Ohren kommen, würde er Arbies Ausflüchte, warum er kein neues Buch schreiben könne, sofort für hinfällig erklären. Schließlich habe er jetzt einen konkreten »Fall« an der Hand.

Deshalb setzte Arbie nun ein bedauerndes Lächeln auf. »Nun, Miss Phelps«, wandte er sich an die alte Dame, die noch immer vor ihm stand. »Eigentlich beschäftige ich mich ja nicht mehr mit derlei Dingen …«

Doch schon im nächsten Moment wurde ihm klar, dass Miss Phelps sich damit nicht zufriedengeben würde. Flucht war zwecklos, daran ließen ihre sich straffende Wirbelsäule und die missbilligend geschürzte Oberlippe keinen Zweifel. Also nahm er all seinen Mut zusammen und hielt sich vor Augen, dass er schließlich kein kleiner Junge mehr war. Dennoch musste er sich mächtig zusammennehmen, damit ihm unter ihrem herrischen Blick nicht die Knie nachgaben.

»Im Grunde genommen bin ich gar kein richtiger Fachmann für Geister«, fuhr er hoffnungsvoll fort. »Mein Buch ist eigentlich nur ein Reiseführer mit dem gewissen Etwas, aber …« Doch es gab kein Entrinnen. Sein Schicksal war besiegelt, denn Miss Phelps öffnete bereits den Mund, um seinen gestammelten Ausreden Einhalt zu gebieten. Sie würde nicht lockerlassen, bis sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, zu kommen und einen Blick auf ihren albernen Geist zu werfen. Der sich vermutlich als das Heulen des Windes im Kamin oder das Scharren eines Zweiges an der Fensterscheibe entpuppen würde.

Also fügte sich Arbie mit hängenden Schultern ins Unvermeidliche. Vielleicht, so tröstete er sich, konnte er das alles ja mit einem Kurzbesuch hinter sich bringen, bevor sein Verleger überhaupt erfuhr, dass man ihn um sein Eingreifen gebeten hatte.

»Aber Sie müssen mir helfen, Mr. Swift«, sagte die sonst so gefasste Miss Phelps in mitleiderregendem Ton. »Wissen Sie, es ist nämlich kein gewöhnlicher Geist. Ich glaube, er will mich umbringen.«

»Hä?«, stieß Arbie ziemlich verdattert hervor.

Obwohl das aus dem Mund eines der beliebtesten Schriftsteller des Landes nicht unbedingt die schlagfertigste Antwort war, gab es seine Gefühle recht treffend wieder.

Während Arbie Miss Phelps noch mit dem Gesichtsausdruck eines Fischs auf dem Trockenen anstarrte, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung, wandte leicht den Kopf und erblickte etwas überaus Vertrautes.

Maybury war ein kleines Dorf, durch das nur eine Hauptstraße, die Old Mill Lane, verlief. Entlang dieser Straße erhoben sich die meisten bedeutenden Wohn- und Geschäftshäuser des Orts, so zum Beispiel der Pub The Dun Cow Inn, das Rathaus, Miss Phelps’ Wohnsitz Old Forge und der Dorfladen. Davon zweigten einige Nebenstraßen und Wege ab, die in von kleinen Häuschen gesäumte Sackgassen mündeten. Außerdem gab es da noch die Church Lane, die zur normannischen Kirche und dem angeschlossenen Pfarrhaus und, zu guter Letzt, zum Haus von Arbie und seinem Onkel, einer umgebauten Kapelle, führte. Und genau aus dieser Richtung war gerade ein großer schwarzer und ziemlich klappriger Drahtesel eingebogen, auf dem eine beeindruckende Gestalt saß.

Was nun geschah, war dasselbe wie immer, wenn Valentina Olivia Charlotte Coulton-James, die Tochter des Vikars, auf ihrem Fahrrad an ihm vorbeirauschte: In seinem Hinterkopf erklang plötzlich eine mitreißende Melodie aus dem 3. Akt der Walküre von Richard Wagner, und zwar das erhebende Stück mit dem Titel »Der Ritt der Walküren«. Vermutlich hing das damit zusammen, dass Valentina mit ihrem Gardemaß von einem Meter achtzig eine imposante Erscheinung war. Sie war seinerzeit Hockey-Champion ihrer Schule gewesen und überhaupt schon immer sehr sportlich. Sei es Tennis, Schwimmen, Bogenschießen oder sonst irgendeine beliebige Sportart – Valentina besiegte jeden. Natürlich konnte ihre Faszination auch daher rühren, dass ihr hellblondes Haar wie ein wogender Schleier hinter ihr herwehte, während sich ihre kräftigen Beine rasch auf und nieder bewegten, mit dem Ergebnis, dass sie auf ihrem altersschwachen Rad eine beachtliche Geschwindigkeit erreichte.

Doch aller Wahrscheinlichkeit nach war der wahre Grund die Erinnerung an die gemeinsame Zeit an der Dorfschule, als Val Arbie regelmäßig auf dem Pausenhof verprügelt hatte.

Wenn jemand Arbie früher an diesem Morgen gesagt hätte, er würde sich einmal freuen, Val, wie üblich mit leicht spöttischer und gleichzeitig nachsichtiger Miene, auf sich zubrausen zu sehen, er hätte denjenigen rundheraus für verrückt erklärt. Doch als sie nun die ziemlich wankelmütigen Bremsen ihres Drahtesels betätigte und ruckelnd dicht vor ihm und Miss Phelps zum Stehen kam, war er erstaunlicherweise überglücklich, sie zu treffen.

Denn wenn es jemanden gab, der die Fähigkeit besaß, verzweifelte und an Verfolgungswahn leidende Damen zu beschwichtigen, dann war das Val. Als eines der zahlreichen Kinder eines Seelsorgers (wie viele Nachkommen hatte der Reverend eigentlich? Acht? Neun? Zehn?) verfügte sie über Erfahrung mit Lebenskrisen.

»Ach, Val, dich schickt der Himmel«, rief Arbie erleichtert aus.

Val stellte einen kräftigen Fuß auf den Boden, um das Gleichgewicht zu halten, und beäugte ihn argwöhnisch. »Oh?« Mit dieser Begrüßung hatte sie nicht gerechnet. Ihrer Erfahrung nach machte Arbie für gewöhnlich seinem Namen Swift – schnell – alle Ehre und verdrückte sich rasch unter einem Vorwand, wann immer sie einander über den Weg liefen. Deshalb war es ihr nicht zu verübeln, dass ihr misstrauischer Blick von seinem arglosen Lächeln hin zu Amy Phelps’ bedrücktem Gesicht wanderte, bevor sie ihn wieder ansah. Offenbar spürte sie die Anspannung, denn ihre Miene verfinsterte sich.

Arbie scharrte mit den Füßen, wie meistens, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte.

»Hast du Miss Phelps etwa verärgert?«, fragte Val in scharfem Ton.

»Was? Nein! So etwas würde ich niemals tun!«, stieß Arbie erschrocken hervor. Offenbar ging sie wie selbstverständlich davon aus, dass ihn die Schuld an der Misere traf, was ihn ziemlich kränkte. Und dieser Umstand vertrieb seine Skrupel – nicht, dass er ernsthaft welche gehabt hätte –, die schwere Last auf Vals breite Schultern umzuladen.

»Miss Phelps hat mir gerade von einem kleinen Problem erzählt, das dringend nach der einfühlsamen Hand deines Vaters verlangt«, teilte er ihr in lässigem Ton mit. »Und du bist genau die Richtige, um das in die Wege zu leiten. Miss Phelps hat nämlich …«, fuhr er rasch fort, da er ahnte, dass Miss Phelps diese Eröffnung gar nicht gefiel, weshalb sie im Begriff war, alles mit dem Einwand zu verderben, sie habe nicht um den Beistand der Kirche gebeten.

»Miss Phelps kann für sich selbst sprechen«, fiel die fragliche Dame ihm empört ins Wort. »Guten Morgen, Miss Coulton-James«, fügte sie hinzu und begrüßte die Tochter des Vikars mit einem huldvollen Nicken. Dabei musterte sie die Herrenhose und den Schlabberpullover, die Val zum Radfahren trug. Zu Miss Phelps’ Zeit hatten Damen noch im Seitensattel auf Pferden gesessen, und zwar in Kleidern, die bis zum Knöchel reichten.

Val, die den Blick ihrer Geschlechtsgenossin sehr wohl bemerkt hatte, bemühte sich, die unausgesprochene Kritik zu ignorieren. Stattdessen blickte sie Arbie weiter finster an. »Wie immer ist Daddy sehr beschäftigt. Da wir einen Besuch des Bischofs erwarten, geht es im ganzen Haus drunter und drüber«, erwiderte sie abwehrend. Sie konnte zwar nicht feststellen, was zwischen ihren beiden so unterschiedlichen Nachbarn vorgefallen sein mochte, war jedoch überzeugt, dass Arbie wie immer versuchte, sich vor irgendetwas zu drücken.

»Ach, ich bin sicher, dass dein Vater nie zu beschäftigt ist, um zu helfen, wenn eines seiner Schäfchen in Not geraten ist«, entgegnete Arbie prompt.

Offenbar war Amy Phelps am Ende ihrer Geduld angelangt. »Mr. Swift, ich will doch sehr hoffen, dass Sie mein Vertrauen nicht missbrauchen werden. Ich habe Ihnen nur von meinen Schwierigkeiten mit Geistern erzählt, weil ich glaubte, mich auf Ihre Professionalität und Diskretion verlassen zu können.«

Val bedachte sie mit einem zweifelnden Blick. »Verzeihung, Miss Phelps, aber haben Sie gerade Geister gesagt?«

»In der Tat. Was, wie wir uns sicher einig sind, in den Zuständigkeitsbereich der Kirche fällt«, verkündete Arbie triumphierend. »Falls Miss Phelps irgendeine Form von Exorzismus …«

»Exorzismus?«, zischte Miss Phelps entsetzt.

»Exorzismus?«, rief Val gleichzeitig und nicht minder empört aus.

Arbie, dem es offenbar gelungen war, sich nun bei beiden Frauen in die Nesseln zu setzen, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Äh … tja … wissen Sie …«

»Mit Exorzismus will ich nichts zu tun haben!«, ereiferte sich Miss Phelps, zutiefst beleidigt.

»Daddy führt auch gar keinen Exorzismus durch«, fügte Val, gleichermaßen abwehrend, hinzu.

Arbie scharrte weiter mit den Füßen.

Die Frauen betrachteten ihn noch einen Moment mit angewiderten Mienen. Offenbar hatten sie sich darauf geeinigt, dass ihm nicht mehr zu helfen war, denn im nächsten Moment steckten sie die Köpfe zusammen, um das Problem in Angriff zu nehmen.

»Was ist denn eigentlich los, Miss Phelps?«, erkundigte sich Val in einfühlsamem Ton. »Ich bin sicher, dass uns beiden eine Lösung einfallen wird.«

»Nun, Miss Coulton-James, es geht um Folgendes …« Miss Phelps zögerte und schaute sich vorsichtig um. Obwohl sich die Passanten in diesem kleinen Dorf nicht unbedingt auf die Füße traten, waren doch stets ein oder zwei Menschen in Sicht, die ihre Einkäufe erledigten oder im Garten arbeiteten. Dass in der ganzen Nachbarschaft über ihre Familie getratscht wurde, war etwas, das Miss Phelps unter allen Umständen vermeiden wollte. »Vielleicht können Sie und Mr. Swift ja später zum Tee kommen. Dann setzen wir uns gemütlich zusammen und besprechen alles.«

»Mit dem größten Vergnügen, richtig, Arbie?«, antwortete Val sofort und schenkte ihm ein giftiges Lächeln.

Arbie, der wusste, dass das Spiel verloren war, seufzte innerlich auf, lächelte aber ebenfalls. »Natürlich, Miss Phelps, wir würden uns sehr freuen«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken.

Miss Phelps, die ihr Ziel erreicht sah (wann wäre das auch jemals anders gewesen?), nickte zufrieden, wünschte ihnen einen schönen Tag und marschierte mit den Worten »Bis später« von dannen. Niedergeschlagen blickte Arbie ihr nach und wandte sich dann an seine grinsende Begleiterin. »Aber, Val, wie konntest du uns in so eine Lage bringen?«, fragte er anklagend.

Vals Blick war gleichzeitig herablassend und enttäuscht. »Ach, Arbie, ist dir denn nicht aufgefallen, dass dieses vornehme Getue nur Fassade ist? Die arme Frau bedrückt etwas. Damit meine ich, dass sie wirklich Angst hat und nicht nur wie sonst die feine Dame spielt.«

»Tja …« Arbie spürte, wie er errötete. Denn in Wahrheit hatte es Beklommenheit in ihm ausgelöst, die sonst so herrische Amy Phelps von einer völlig anderen Seite zu sehen. Wie schaffte Val es nur immer wieder, mit ein paar spitzen Bemerkungen und einem flehenden Blick aus ihren großen blauen Augen dafür zu sorgen, dass er sich vorkam wie ein Wurm?

Val, die seine Verunsicherung spürte, ließ nicht locker. »Du kennst doch Miss Phelps. Hast du jemals erlebt, dass sie jemanden um Hilfe bittet?«, fragte sie.

»Nun …«

»Genau! Menschen ihrer Generation würden eher sterben, als auch nur die kleinste Schwäche einzugestehen. Aber es war doch mehr als offensichtlich, dass sie in großer Sorge ist. Während du wie immer herumlavierst und versuchst, dir Unannehmlichkeiten zu ersparen. Jetzt kannst du endlich einmal deine Pflicht tun. Was sollte eigentlich dieses Gerede von Exorzismus und Geistern?«

»Sie behauptet, dass es in Old Forge spukt«, antwortete Arbie mit leicht schmollendem Unterton.

»Tja, das weiß doch jeder«, entgegnete Val wegwerfend. »Im halben Dorf sollen irgendwelche Gespenster ihr Unwesen treiben. Geht in Old Forge nicht irgendein Schmied um, der starb, als er in sein eigenes Feuer stürzte?«

»Nein, da irrst du dich«, erwiderte Arbie, froh, zur Abwechslung auch mal etwas besser zu wissen. »Er starb an einer Lungenentzündung infolge einer Tuberkulose.«

»Hm«, sagte Val ein wenig enttäuscht. »Das klingt aber nicht nach etwas, worüber sich jemand so sehr aufregen würde, dass er meint, in einem Haus herumspuken zu müssen. Oder? Lungenentzündung ist ja keine seltene Todesursache. Also hat er nicht mehr Grund zur Klage als andere Leute.« Offenbar war man selbst nach dem Tod nicht sicher vor Vals kritischer Sicht der Dinge.

»Geister handeln nicht unbedingt vernünftig«, lautete Arbies trockene Antwort. »Und dieser Geist hier scheint aus irgendeinem Anlass ganz besonders verärgert zu sein.«

Sein leicht vergnügter Unterton ließ Val aufmerken. Als ihr klar wurde, dass Arbies Anteilnahme wohl eher vorgetäuscht war, reckte sie kampfeslustig das Kinn. »Oh?«, meinte sie. »Wie kommst du darauf?«

»Weil dieser Familiengeist Miss Phelps umbringen will, wenn man ihrer Schilderung Glauben schenkt«, stellte er lässig fest.

»Oh«, wiederholte Val verständnislos.

»Freust du dich noch immer auf den Tee in Old Forge, altes Mädchen?«, erkundigte er sich leutselig.

KAPITEL ZWEI

»Hast du es auch schon gehört? Angeblich soll das Dorf innerhalb der nächsten sieben Jahre elektrifiziert werden.«

Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Val und Arbie hielten, die Teetassen dicht vor ihren Gesichtern schwebend, inne.

Gehorsam hatten sie sich um Viertel vor vier auf den Weg nach Old Forge gemacht, um Tee mit Miss Phelps zu trinken. Val trug ihr bestes Sonntagskleid und Arbie einen wundervoll geschnittenen Sommeranzug. Wie immer fand Val seine mühelose Eleganz höchst ärgerlich, konnte jedoch nicht umhin anzuerkennen, dass er sehr gut aussah. Den Fußmarsch zum anderen Ende des Dorfes legten sie in beiderseitigem mürrischem Schweigen zurück.

Wie so viele Gebäude hatte auch Old Forge sich im Laufe der Jahrhunderte ziemlich verändert. In diesem Fall war aus einer schlichten Schmiede ein gewaltiger Landsitz mit verschiedenen Anbauten geworden, nicht unbedingt ein Herrenhaus, doch auch nicht mehr das Heim eines einfachen Handwerkers. So war es weder Fisch noch Fleisch, bestand aus dem vor Ort abgebauten cremefarbenen Cotswold-Stein und verfügte über eine Unzahl mit grauem Schiefer gedeckter Dächer von verschiedener Höhe und Form. Folge war, dass das Haus innen wie außen unerwartete Ecken und Biegungen aufwies. Manche Fenster bestanden aus winzigen Bleiglasscheiben, bei anderen handelte es sich um breite Panoramafenster, wie sie in der georgianischen Zeit in Mode gewesen waren. Die Kamine, die willkürlich aus den Dächern zu ragen schienen, waren in Höhe und Breite unterschiedlich und verliehen dem Haus einen eigenartigen, aber nicht von der Hand zu weisenden Charme. Über einer recht improvisiert wirkenden Veranda wucherte eine uralte Glyzinie die südliche Mauer empor und trug mit ihrer Blütenpracht das Ihre zum malerischen Ambiente bei.

Obwohl Val und Arbie ihr ganzes Leben in diesem Dorf verbracht hatten, hatten sie noch nie einen Fuß in das Haus gesetzt. Miss Phelps beschränkte ihre Einladungen auf Relikte der viktorianischen Ära, wie sie selbst eines war. Als sie also die mit Kies bestreute Auffahrt hinaufgingen und an dem kunstvoll gearbeiteten Griff der Türglocke zogen (vermutlich das Werk eines der Schmiede, die in diesem Haus einst lebten), wussten sie deshalb nicht, was sie erwartete.

Die Tür wurde ihnen von Mrs. Brockhurst geöffnet, die seit etwa dreißig Jahren Miss Phelps’ Haushälterin war. Das »Mrs.« war jedoch nur eine Höflichkeitsanrede, denn die Dame, ein beliebtes und geachtetes Mitglied der Dorfgemeinschaft, war nie verheiratet gewesen. Nachdem sie die Gäste mit einem ehrlich gemeinten Lächeln begrüßt hatte, führte sie sie durch eine ziemlich düstere Vorhalle in einen sonnendurchfluteten Salon, der auf den großen Garten hinausging.

Miss Phelps erhob sich von einem Queen-Anne-Stuhl und hieß sie recht förmlich willkommen. Wenige Minuten später saßen Arbie und Val an einem großen runden Tisch und begannen mit dem bei einem englischen Nachmittagstee üblichen nichtssagenden Geplauder, während Mrs. Brockhurst mit Köstlichkeiten beladene Tabletts herbeischleppte. Neben dem Tee selbst, der aus einer schweren Silberkanne in zarte Tassen aus Spode-Porzellan eingeschenkt wurde, gab es Platten mit winzigen Sandwiches – natürlich ohne Brotrinde –, leckeren süßen Teekuchen, Marmelade, Sahne und dünne Keksröllchen.

Gerade hatte Miss Phelps als Gastgeberin den ersten Tee verteilt, als die Stimme mit der Nachricht der anstehenden Elektrifizierung die traute Runde störte.

Kurz darauf trat lautlos eine zweite Dame ins Zimmer. Ihr Gesicht schien leicht erhitzt, und Val schätzte sie auf Mitte sechzig. Sie war zierlich und trug ihr Haar zu einem ordentlichen Knoten zusammengesteckt, der fest mittig auf ihrem Kopf thronte. Ihr Teint war rosig, und sie betrachtete die beiden jungen Leute mit zusammengekniffenen Augen, was verriet, dass sie eine Brille brauchte, die sie vermutlich entweder aus Eitelkeit nicht trug oder aus Zerstreutheit irgendwo liegen gelassen hatte.

»Ach, das ist meine beste und älteste Freundin, Mrs. Cora Delaney. Sie besucht mich für einige Wochen und verbringt die Sommerferien hier«, stellte Amy sie ein wenig knapp vor. »Cora, Miss Coulton-James, die Tochter unseres lieben Vikars, und Mr. Swift.«

»Oh, unser berühmter Gast«, rief Cora aus und musterte Arbie forschend. »Ich hatte großes Vergnügen an Ihrem Buch, Mr. Swift. So amüsant und gleichzeitig so informativ, wenn man Ferienorte mag. Und ich muss sagen, dass Ihre Methode, Beweise für die Existenz des Übersinnlichen zu sammeln, höchst … äh … faszinierend klingt.« Falls da ein leicht spöttischer Unterton gewesen sein sollte, zog Arbie es vor, diesen zu überhören.

»Wie schön, dass es Ihnen gefallen hat«, erwiderte er stattdessen und um einen möglichst bescheidenen Gesichtsausdruck bemüht. Eigentlich war er noch immer aufrichtig erstaunt darüber, dass es Menschen gab, die sich überhaupt die Mühe machten, ein Buch zu lesen – selbst wenn es etwas so leicht Verdauliches wie sein Geisterführer war.

»Hast du nicht gerade über Elektrizität gesprochen?« Ebenso wie Val hatte Amy nur wenig Lust, Arbies ausgeprägtem Selbstbewusstsein neue Nahrung zu geben, und wechselte deshalb gnadenlos das Thema. »Mir kommt so etwas nicht ins Haus. Ich habe mich noch immer nicht an diese grässlichen Gaslampen gewöhnt«, entgegnete sie und bedachte die harmlose Gaslampe an der Wand neben ihr mit einem giftigen Blick.

»Oh, ich habe heute Morgen mit der Inhaberin des Dorfladens gesprochen. Sie sagte, sie habe von einem Beamten im Rathaus gehört, die Elektrizitätsgesellschaft habe eine Eingabe gemacht, um in den nächsten Jahren Strommasten bis hierher verlegen zu können«, berichtete Cora in ruhigem und inzwischen eindeutig trockenem Tonfall. Als eingefleischte Städterin fand sie das Dorfleben ziemlich amüsant. Nachdem sie sich gesetzt und umständlich ihre Röcke geordnet hatte, betrachtete sie den Tisch und die Leckereien darauf mit einem Blick, der Arbie an den eines hungrigen Spatzen erinnerte.

»Wäre das nicht spannend für dich, liebe Amy? Wir sind natürlich schon seit Jahren elektrifiziert«, fügte sie, an Arbie gewandt, hinzu und beäugte dabei den Früchtekuchen. »Es ist so viel sauberer, und anders als Gaslicht riecht es auch nicht.«

Sie nahm sich einen Teller, stürzte sich auf den Kuchen und beförderte mit einer geschickten Bewegung des silbernen Tortenhebers ein Stück auf ihren Teller.

»Wenn du Tee möchtest, bedien dich«, meinte Amy in einem Ton, der ebenfalls so trocken war, dass selbst die Sahara vor Neid erblasst wäre. »Und ich sage es noch einmal: Mir kommt so etwas nicht ins Haus. Es ist gefährlich, das habe ich wenigstens gehört. Außerdem soll es schon einige Menschenleben gefordert haben. Ein Teufelszeug! Also, was … Ach, hier ist ja mein zweiter Sommergast.«

Val und Arbie stellten fest, dass ihre Gastgeberin ein wenig zugänglicher wurde. »Reggie, ich dachte schon, du hättest vergessen, dass wir zum Tee Besuch erwarten.«

Während sie noch sprach, kam ein schlanker weißhaariger Mann hereingeschlendert und betrachtete die sich biegende Tafel mit einem erfreuten Lächeln. »Ach, Mrs. Brockhursts Teekuchen. Amy, ich schwöre, einer der beiden Gründe, warum ich jedes Jahr herkomme, ist Mrs. Brockhursts Teekuchen.«

Cora schmunzelte leicht, während Amy aufrichtig erfreut lächelte. »Das kann ich mir denken, du alter Gauner.« Sie neckte ihn sogar!

Ebenso gebannt wie verdattert beobachteten Arbie und Val die Szene. Wer hätte gedacht, dass Miss Amy Phelps so viel Humor besaß?

Vielleicht hatte ihre Gastgeberin ihre Gedanken gelesen, denn sie vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, kümmern Sie sich nicht um Reggie, er ist ein wenig kauzig«, teilte sie ihnen lässig mit. »Er hält sich für einen Künstler, so wie meine liebe Mama, und pflegt im Sommer gern seine verschiedenen Steckenpferde. Dazu verkriecht er sich in Mamas altem Atelier. Unsere Familien kennen sich schon so lange, dass sie praktisch miteinander verschmolzen sind. Reggie und mein verstorbener Bruder Francis sind zusammen zur Schule gegangen. Die Ferien hat er immer hier verbracht.«

»Meine Eltern hielten sich damals in Indien auf«, fügte Reggie erklärend hinzu, setzte sich, griff nach einem Teller und hielt sich an den Sandwiches schadlos.

Arbie, der ihn sofort als Nahrungskonkurrenten erkannte, folgte rasch seinem Beispiel. Val sah zu, wie er sich den Teller vollhäufte, und auch Cora spähte hinter ihrer Teetasse hervor und folgte amüsiert dem Treiben.

»Ja, Amy hat recht. In den Schulferien sind Francis und ich durchs Haus getobt wie eine Horde wilder Tiere.« Reggie seufzte zufrieden auf. »Und als Erwachsene haben wir die Tradition irgendwie aufrechterhalten. Ich war fast so oft hier wie in meinem eigenen Haus, nicht wahr, meine liebe Amy? Natürlich haben wir auch zusammen den Kontinent unsicher gemacht und lange Reisen unternommen, um die ausgetretenen Pfade zu verlassen. Francis hatte ein Händchen dafür, abgelegene Dörfer in den Bergen zu entdecken, wo wir uns von Ziegenkäse und Feigen ernährten.«

Amy seufzte leise auf, als sie den Namen ihres Bruders hörte. »Ich vermisse alle meine Geschwister so sehr, doch Francis fehlt mir am meisten. Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber es ist nun einmal so. Er hatte das gewisse Etwas und war auch Mamas Liebling«, fügte sie in sachlichem Ton und ohne eine Spur von Eifersucht hinzu.

»Aber wenigstens hast du deinen Neffen und deine Nichte, die dich an sie erinnern«, wandte Cora mit leiser Stimme ein.

Arbie und Val, die Amy gut im Blick hatten, registrierten, dass sich die Miene ihrer Gastgeberin bei diesen Worten verhärtete. Es war so offensichtlich, dass es selbst in Reggie leichtes Unbehagen auszulösen schien. Cora hingegen bemerkte den plötzlichen Stimmungsumschwung ihrer Freundin nicht. Vielleicht waren ihre Augen ja schlechter, als sie sich eingestehen wollte, denn sie fuhr unbekümmert fort: »Habe ich vorhin nicht Phyllis ankommen sehen?«

»Ja, sie ist gleich hier«, entgegnete Amy knapp. »Sie ist nach oben gegangen, um sich nach der Zugfahrt Hände und Gesicht zu waschen. Obwohl sie nur einen Landkreis weiter wohnt, ist das Reisen doch eine recht schmutzige Angelegenheit. Zum Glück muss ich mich dem nur selten aussetzen«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Die Frau in der oberen Etage ahnte nicht, dass sie gerade Gesprächsthema war. Vorsichtig öffnete sie eine Tür und spähte um die Ecke, um sich zu vergewissern, dass sie allein war. Allerdings handelte es sich bei dieser Tür nicht etwa um eine, die zu den wenigen Badezimmern im Haus gehörte. Nachdem die Frau sich davon überzeugt hatte, dass auf dem Flur zu beiden Seiten die Luft rein war, schlich sie hinaus, schloss leise die Tür hinter sich und eilte auf eine der zahlreichen gewundenen Treppen von Old Forge zu.

In diesem Moment erschien Mrs. Brockhurst, eine kleine, gepflegte Dame, die gerade eine andere, sich im Rücken der Frau befindliche Treppe hinaufgekommen war, und blieb auf der obersten Stufe stehen. Mit regloser Miene beobachtete sie, wie Phyllis Thomas, das einzige Kind von Amys Schwester Moira, weiter den Flur entlanghastete. Erst als die junge Frau um eine Ecke gebogen und außer Sicht war, setzte Mrs. Brockhurst ihren Weg fort.

Vor dem Zimmer, aus dem Phyllis gerade gekommen war, zögerte die Haushälterin kurz, öffnete aber nicht die Tür, um hineinzuschauen. Das brauchte sie auch nicht, denn sie wusste schließlich, dass dieses Zimmer Miss Amy Phelps, der Herrin dieses Hauses, gehörte. Während Miss Phelps es zwar duldete, wenn Mrs. Brockhurst aus rein haushälterischen Gründen ihr Reich betrat, hätte es sie gar nicht gefreut zu erfahren, dass sonst jemand in ihr Refugium eingedrungen war. Amy war ein sehr zurückgezogener Mensch und legte großen Wert auf ihre Privatsphäre.

Leise ging Mrs. Brockhurst weiter zum Wäscheschrank, wo sie den mitgebrachten Stapel Handtücher ordentlich einräumte, bevor sie in die Küche zurückkehrte. Niemand hätte ihr angemerkt, dass ihr die gerade beobachtete Szene zu schaffen machte. Auch wenn sie wünschte, Miss Phyllis würde sich ein wenig vorsichtiger verhalten.

Unten war besagte Miss Phyllis gerade dabei, Arbie die Hand zu schütteln und sich dann – mit einem nicht ganz so ehrfürchtigen Lächeln – an Val zu wenden. »Wie nett, Sie beide kennenzulernen«, meinte sie und ließ sich von Arbie, der ihren Wunsch vorausgeahnt hatte, eine Tasse Tee reichen. »Gerade erst sagte ich zu Cora, dass ich noch nie einem berühmten Schriftsteller begegnet sei. Haben Sie wirklich schon einmal Geister gesehen?«

Val seufzte leise auf und fragte sich, wie viele verzückte Bewunderinnen dieser Mann heute wohl noch um sich scharen würde.

»Nein«, erwiderte Arbie aufrichtig. »Das heißt … nicht im eigentlichen Sinne gesehen. Aber ich glaube, dass ich schon mal einen gehört habe.« Wie er wusste, war das die Antwort, die den Leuten gefiel und die sie auch von ihm erwarteten. Inzwischen hatte ihm sein Status als Fachmann auf diesem Gebiet schon so viele Essenseinladungen eingebracht, dass ihm klar war, welche Gegenleistung er dafür liefern musste. Solange seine Gastgeber ein wohliges Gruseln verspürten, ohne sich wirklich zu fürchten, würde er noch lange auf seine Kosten kommen.

Cora lächelte so kühl wie erwartet. »Oh, wie interessant«, sagte sie. »Bitte erzählen Sie uns doch davon.«

»Ja, Arbie, raus mit der Sprache«, forderte Val ihn mit einem herausfordernden Blick auf. »Wir platzen fast vor Neugier.« Der Ausdruck ihrer Augen war leicht spöttisch, und in ihrer Stimme schwang ein ironischer Unterton mit, doch Arbie ignorierte beides geflissentlich.

»Ja. Wo war das denn? Ging es um einen der Fälle, die Sie in Ihrem wundervollen Buch schildern?«, erkundigte sich Phyllis, im Gegensatz zu ihrer Vorrednerin aufrichtig interessiert.

»Genau genommen nein. Es war in meinem eigenen Haus hier im Dorf. Damals war ich zwölf«, fügte er hinzu. Er nippte an seinem Tee und hatte es offenbar nicht eilig, fortzufahren. Bis sie es vor Ungeduld nicht mehr aushalten, lautete seine Devise.

Reggie bedachte ihn mit einem wohlwollenden Blick aus gütigen Augen. »Ganz recht, mein junger Freund, etwas Unterhaltung kann nicht schaden, um uns ein bisschen aufzumuntern. Also schießen Sie los und spannen Sie uns nicht weiter auf die Folter.«

Arbie zuckte die Achseln. »Ich kann nicht versprechen, dass es unterhaltsam werden wird, Mr. Bickersworth. Nur ehrlich.« Bei diesem Wort wanderten Vals Augenbrauen zweifelnd nach oben, worauf er sie gekränkt ansah. Die Geschichte, die er nun erzählen wollte, hatte sich tatsächlich so und nicht anders zugetragen … nun gut … mehr oder weniger.

»Wissen Sie, als mein Freund mich bat, den Geisterführer zu schreiben, war ich zwar ein wenig perplex, allerdings nicht unbedingt abgeneigt«, begann Arbie. Auch wenn er damit die Wahrheit leicht überstrapazierte, wäre es nicht zielführend gewesen, sein Publikum mit den tatsächlichen Anfängen seiner Schriftstellerkarriere zu langweilen. »Und zwar wegen der Vorgänge in der Kapelle«, ergänzte er, um die Spannung ins Unerträgliche zu steigern.

»In der Kapelle?«, wiederholte Phyllis verwirrt. »Ich dachte, es sei in Ihrem eigenen Haus geschehen.«

»Richtig«, erklärte Arbie rasch. »Wissen Sie, ich bin im Alter von nur drei Jahren Waise geworden. Meine Eltern kamen bei einem Bootsunfall ums Leben, und so hat mein Onkel mich hier bei sich aufgenommen. Er hatte gerade die Kapelle gekauft. Ursprünglich war sie Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden, und zwar für die Arbeiter in den nahe gelegenen Lehmgruben, die zum Großteil Methodisten waren und mit unserer Kirche nichts zu schaffen haben wollten. Doch als die Gruben etwa fünfzig Jahre später ausgebeutet waren und die Arbeiter fortzogen, verfiel die Kapelle mehr und mehr. Mein Onkel hat das Bauwerk, wie er nun mal so ist, für ein Butterbrot gekauft und den riesigen alten Kasten nach seinem … äh … Geschmack umgestaltet.«

Bei diesen Worten schnappte Amy Phelps lautstark nach Luft. »Ihr Onkel war schon immer ein Mann, der sich seinen Lebensweg … sagen wir einmal … selbst gesucht hat«, merkte sie in spitzem Ton an.

Cora und Reggie horchten schlagartig auf. Offenbar würde gleich schmutzige Wäsche gewaschen werden.

Doch sie hatten die Rechnung ohne Arbie gemacht. Er selbst mochte das Recht haben, seinem Verwandten die verschiedensten unlauteren Machenschaften sowie nicht ganz saubere Geschäfte zu unterstellen, dritten Personen hingegen standen derartige lästerliche Reden nicht zu. »Ja, vermutlich war mein Onkel schon immer ein schwarzes Schaf«, räumte er widerstrebend ein. »Doch als Not am Mann war, hat er keinen Moment gezögert, das muss man ihm lassen.« Arbie hielt inne, um manierlich einen Schluck Tee zu nehmen und dem Einwand Zeit zu geben, sich zu setzen. »Und obwohl er keine Frau hatte, die ihn dabei unterstützte, hat er sich ohne zu klagen meiner angenommen, ein Kinderfräulein eingestellt und mir zu einer ordentlichen Schulbildung verholfen.«

»Ja, das war lobenswert«, gab Amy widerstrebend zu. »Und dennoch bin ich der Überzeugung, dass er kein gutes Vorbild für einen kleinen Jungen war.«

»Nun, ich hatte eine wunderschöne Kindheit und konnte mich nach Herzenslust in dem alten Gemäuer tummeln«, wandte Arbie freundlich ein. »Wahrscheinlich habe ich genug gelernt, um Architekt zu werden, wenn das meinen Neigungen entsprochen hätte, als ich Onkel dabei zusah, wie er Treppen einzog, einen Keller aushob, den Speicher ausbaute und das übrige Gebäude renovierte.«

»Ja, du musst es dir unbedingt einmal ansehen, Reggie«, meinte Amy spöttisch. »Die Umwandlung von Old Chapel in ein Wohnhaus ist wirklich … nun … bemerkenswert. Gewiss würdest du das Unkonventionelle daran zu schätzen wissen.«

Arbie grinste breit. »Auch wenn Miss Phelps zu höflich ist, um es laut auszusprechen: Das Haus ist die absolute Katastrophe. Zum Beispiel gibt es keinen Kamin. Allerdings verfügt es über eine ausgezeichnete Zentralheizung, die mein Onkel selbst entworfen und gebaut hat. Ich fürchte, er ist so eine Art verrückter Erfinder. Überall stehen maßgefertigte Möbel herum, doch im Wohnzimmer befinden sich außerdem noch die alte Kanzel und eine voll funktionsfähige Orgel. Die Küche ist zwar mit sämtlichen modernen Gerätschaften ausgestattet, hat aber noch Kirchenfenster. Das ganze Haus ist weder Fisch noch Fleisch. Mein Schlafzimmer zum Beispiel befindet sich im Speichergeschoss. Die Deckenbalken liegen frei, und über meinem Bett, direkt über meinem Kopf, hängt die alte Kirchenglocke. Ich kann nur hoffen, dass das Seil so stabil ist, wie mein Onkel behauptet. Ansonsten fällt das Ding eines Tages runter und schlägt mir den Schädel ein.«

»Ach, herrje!«, meinte Cora spöttisch.

»Wie mutig von Ihnen, dort zu schlafen. Ich würde ja kein Auge zutun!«, fügte Reggie mit funkelnden Augen hinzu.

Phyllis, die aus härterem Holz geschnitzt war, wirkte ein wenig ungeduldig. »Das alles klingt ja äußerst charmant, Mr. Swift. Aber Sie wollten uns doch von Ihrem Geist erzählen.«

»Ach ja, richtig. Nun, ich war etwa zwölf Jahre alt und während der Schulferien aus dem Internat nach Hause gekommen. Es war ein regnerischer Abend.«

»Ach wirklich. Doch nicht etwa ein Gewitter, Arbie?«, tadelte Val. Sie hatte nicht die geringste Lust, zuzuhören, wie Arbie seinen hingebungsvoll lauschenden Bewunderern Märchen auftischte. »Der Wind heulte ums Dach, und es donnerte und blitzte wie bei einem Weltuntergang? Das klingt ja entsetzlich nach Frankenstein.«

»Es donnerte und blitzte mitnichten«, entgegnete Arbie würdevoll. »Es war nur sehr windig und regnete. Ein typisch britischer Sommer eben.«

Die Anwesenden lächelten wehmütig, denn jeder hatte seine eigenen Gruselgeschichten über den britischen Sommer zu erzählen.

»Jedenfalls war es schon dunkel. Ich lag bereits eine Weile im Bett, als ich es hörte«, sprach Arbie weiter und senkte theatralisch die Stimme. Obwohl allen klar war, dass er das nur um der dramatischen Wirkung willen tat, hingen sie dennoch an seinen Lippen.

»Was? Was haben Sie gehört?« Zum allgemeinen Erstaunen kam die Frage von Amy Phelps. Eigentlich war Arbie davon ausgegangen, dass sie seiner Geschichte am wenigsten Glauben schenken würde. Aber dann fiel ihm ein, dass sie ja selbst ein Problem mit einem Geist hatte und deshalb heute vielleicht aufgeschlossener war als sonst.

»Ich habe die Orgel gehört«, antwortete Arbie. Als er das aussprach, fühlte er sich in jene Nacht zurückversetzt: Er lag im Bett und wachte von dem unverkennbaren Geräusch der Orgelpfeifen auf.

»Ist das alles, alter Junge?« Reggie schien ein wenig enttäuscht. »Bestimmt war es Ihr Onkel, der ein bisschen herumgeklimpert hat. Bach, richtig? Oder vielleicht Mozart?«

»Mein Onkel ist der unmusikalischste Mensch der Welt«, widersprach Arbie. »Er ist ein Maler. Ein Erfinder. Ein Geschäftsmann. Vielleicht auch eine Mischung aus allem – wenn man ihn selbst reden hört«, fügte er mit einem leisen Auflachen hinzu. »Aber ich schwöre, dass er absolut kein Gehör hat, wenn es um Musik geht.«

»Also kann er es nicht gewesen sein, der gespielt hat?« Cora nickte. »Und was haben Sie getan?« Die eigentlich so sachlich wirkende Frau klang zum ersten Mal neugierig.

»Nun, wie jeder wissbegierige Junge bin ich aufgestanden und zur Treppe geschlichen, um nachzuschauen«, erwiderte Arbie wahrheitsgemäß. Und wieder fühlte er sich wie damals in jener Nacht, als er über den schmalen Treppenabsatz gehuscht war, um über das Geländer hinunter ins riesige Wohnzimmer zu spähen. »Dazu müssen Sie wissen, dass mein Onkel jahrelang immer wieder an diesem Haus herumbastelte. Er fügte hier etwas hinzu und nahm dort etwas weg, wie es ihm gerade in den Kram passte. Wenn ich mich richtig erinnere, ließ er während dieser Schulferien das gewaltige Holzportal entfernen, da es am unteren Rand morsch geworden war, und war gerade dabei, eine andere große Tür aus Eichenholz einzubauen. Deshalb war mein erster Verdacht, dass er den Eingang nicht richtig gesichert hatte. Vielleicht hatte sich ja ein Landstreicher vor dem Wetter hineingeflüchtet und spielte jetzt ein paar Takte, um sich die Zeit zu vertreiben.«

»War es ein Kirchenlied?«, hakte Phyllis nach. »Denn schließlich war das Haus ja früher eine Kapelle.«

Arbie lächelte. »Nein, seltsamerweise war es ›Greensleeves‹. Ich konnte es gerade noch erkennen.«

»Oh, dann wurde es wohl nicht sehr gut gespielt«, stellte Reggie bedauernd fest. »Ein wenig enttäuschend. Von einem Gespenst würde man doch mehr erwarten, oder?« Er lächelte freundlich. »Es wäre doch eine nette Vorstellung, wenn man im Jenseits die Fähigkeiten besäße, die einem im Land der Lebenden versagt geblieben sind.«

Val bedachte ihn mit einem wohlwollenden Blick. Reggie hatte eine fröhliche, entspannte Art, die auf seine Mitmenschen beruhigend wirkte. Sie konnte gut verstehen, warum er ein häufiger Gast in Old Forge war.

»Ganz recht. Aber so ist es nun einmal«, antwortete Arbie diplomatisch. »Und da stand ich nun, zwölf Jahre alt, und lauschte einer Orgel, die ganz von allein und ziemlich fehlerhaft das Lieblingslied des alten Heinrich des Achten spielte.«

»Soll das heißen, es saß gar niemand am Manual?«, hakte Phyllis argwöhnisch nach.

»Keine Menschenseele«, erwiderte Arbie, womit er ausnahmsweise die reine Wahrheit sagte.

»Als ich nach unten schaute, konnte ich Manual und Sitzbank sehen, doch obwohl Töne aus den Pfeifen kamen, betätigte niemand die Tasten. Nun, kein lebendiger Mensch zumindest«, fügte er Unheil verkündend hinzu.

Natürlich hatte sein Onkel die Beobachtung abgetan, als er ihm am nächsten Morgen davon berichtete. Wegen des Schwalls an Zugluft, der durch die schlecht passende provisorische Tür hereinwehte, ganz zu schweigen von dem im versuchsweise eingebauten (und drei Jahre später wieder ausgebauten) Kamin heulenden Wind sei eben viel Luft durch die Orgelpfeifen geblasen worden, die wiederum einige willkürlich aneinandergereihte Töne ausgestoßen hätten. Töne, die ein schlaftrunkener Schuljunge durchaus als »Greensleeves« habe deuten können, denn schließlich habe ein ganz besonders kinderfeindlicher Schulmeister ihn und seine Klassenkameraden vor einigen Jahren gezwungen, das besagte Lied auswendig zu lernen.

Obwohl Arbie, heute ein vernünftiger Erwachsener, eher dazu neigte, der Erklärung seines Onkels zu glauben, war er sich manchmal nicht ganz sicher. Die Orgel hatte in jener Nacht wirklich geklungen, als spiele sie »Greensleeves«. Und was war mit den ein oder zwei belanglosen Zwischenfällen im Laufe der letzten zehn Jahre, die er seinem Onkel vorenthalten hatte und die ihm dennoch Stoff zum Nachdenken lieferten? Wie zum Beispiel …

»Ich verstehe. Und dieses Ereignis hat Ihr Interesse am Übernatürlichen geweckt?«, riss Phyllis ihn aus seinen Grübeleien. »Meine Freundin Janice schwört auf ein Medium, das ihre Mutter regelmäßig zu Rate zieht.«

»Nichts als blanker Unsinn, meine Liebe«, unterbrach Reggie in gütigem Ton. »Oh, ich weiß, Séancen, Tischerücken und derlei Hokuspokus sind heutzutage sehr in Mode. Aber der Großteil dieses Treibens beruht doch nur auf Taschenspielertricks. Die Menschen in der viktorianischen Ära, Gott segne sie, sind schon vor Jahrzehnten zu diesem Schluss gekommen.«

»Da bin ich ganz Ihrer Ansicht, Sir«, entgegnete Arbie, der Spaß daran hatte, dem alten Kauz ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Während meiner Recherchen für den Geisterführer bin ich auf so viel Literatur über die Betrugsmaschen der sogenannten Medien gestoßen, dass ich fast über Nacht ergraut wäre.«

Cora musterte ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. »Soll das heißen, dass Sie eigentlich gar nicht an Geister glauben, Mr. Swift?«, fragte sie zweifelnd.

»Natürlich tut er das, Cora. Hast du nicht richtig zugehört? Er lehnt nur Medien ab, nicht die Möglichkeit, dass es Geister geben könnte«, fiel Amy ihr tadelnd ins Wort. »Deshalb wird Mr. Swift mir ja bei meinen eigenen Geistererscheinungen helfen. Richtig, junger Mann?«, fügte sie mit einem vielsagenden Blick hinzu.

Arbie wäre beinahe an seinem Tee erstickt. »Oh, äh, ganz richtig, Miss Phelps.«

Val saß da und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Es geschah nur selten, dass es Arbie die Sprache verschlug, und sie amüsierte sich königlich. »Warum erzählen Sie uns nicht von Ihren Schwierigkeiten, Miss Phelps?«, sagte sie in liebreizendem Ton. »Bestimmt können wir etwas für Sie tun. Denkst du nicht auch, Arbie?«

Als Arbie sie nun ansah, wuchs seine unheilvolle Vorahnung. Insbesondere das Wort »wir« gefiel ihm überhaupt nicht. »Oh, ja gern«, erwiderte er dennoch. »Also, wer macht Ihnen solchen Ärger? Wissen Sie, um wen es sich handelt?«

»Um meinen Vorfahren natürlich, den Schmied«, antwortete Amy knapp. »Wahrscheinlich kennen Sie die Geschichte von unserem Familiengespenst, schließlich kennt sie das ganze Dorf. Aber das ist noch längst nicht alles. Tja, das hätten Sie wohl nicht gedacht, oder? Wie dem auch sei, es geht um meinen Urgroßvater Wilbur Phelps. Er war erst achtundzwanzig, als er an Tuberkulose starb. Bis zu seiner Erkrankung war er ein großer, kräftiger Mann, der den ganzen Tag in der Schmiede stand und es im Leben unbedingt zu etwas bringen wollte. Sein Ziel war es, das bereits beträchtliche Vermögen der Familie weiter zu mehren. Unter anderem seiner Weitsicht in geschäftlichen Angelegenheiten hat meine Familie ihren Erfolg zu verdanken.«

All das sprach sie mit einer eigenartigen Mischung aus Selbstgefälligkeit, Sachlichkeit und Trotz aus, so als sei die bescheidene Herkunft der Familie Phelps einerseits ein Grund zum Stolz und – wie sie sich widerwillig eingestehen musste – dennoch ein Makel in den Augen der feinen Gesellschaft. Gewiss wäre es Miss Phelps lieber gewesen, wenn Einfluss und Wohlstand der Familie ererbtem Vermögen und der Zugehörigkeit zur Oberschicht entstammt hätten. Doch da sich daran nun einmal nichts ändern ließ, war sie fest entschlossen, das Beste daraus zu machen.

Val, Tochter eines verarmten Vikars (der jüngere Sohn des jüngeren Sohns eines Lords), verstand diesen feinen Unterschied sofort, auch wenn sie das nie öffentlich zugegeben hätte.

»Er heiratete sehr jung und zeugte nur ein einziges Kind, zum Glück einen Sohn, beklagte jedoch stets, dass er keine weiteren Erben hatte«, fuhr Amy in majestätischem Ton fort. »In jener Zeit war die Kindersterblichkeit so hoch, dass seine Befürchtungen vermutlich berechtigt waren. Wenn er ohne Nachkommen gestorben wäre, wäre sein Familienzweig untergegangen. Die Macht und das wachsende Vermögen hätten sich auf mehrere entfernte Verwandte verteilt. Angesichts seines nahenden Todes nahm er seinem kleinen Sohn das Versprechen ab, hart zu arbeiten, die Familie zu schützen und dafür zu sorgen, dass der Name Phelps bis in alle Ewigkeit weitergetragen würde. Das alles war sicherlich sehr dramatisch«, schloss sie spöttisch.

Ihr Publikum seufzte angesichts dieser heiteren Anmerkung erleichtert auf: Die Geschichte hatte gedroht, rührselig zu werden.

»Als man ihn beerdigte, verfuhr man wie üblich, wickelte ihm einen Faden um die große Zehe und verband das andere Ende mit einem überirdischen Glöckchen«, fuhr Amy in sachlichem Ton fort.

Diese Mitteilung schlug ein wie eine Bombe. »Ach du meine Güte!«, rief Val erschrocken aus. »Warum hat man denn so etwas getan?« Sie klang regelrecht verängstigt. »Das ist ja makaber.«

Reggie tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Aber, aber, meine Liebe, Sie dürfen sich nicht aufregen. Damals war das gang und gäbe. Die Ärzte in jener Zeit waren nicht so, äh, gut ausgebildet wie unsere heutigen Quacksalber. Manchmal erklärten sie auch einen Bewusstlosen für tot, sodass sich der Bedauernswerte beim Aufwachen zwei Meter unter der Erde wiederfand.«

Val konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken, und auch Arbie spürte, wie ihm das Grauen als eiskalter Schauder den Rücken hinaufkroch.

»Aus diesem Grund«, fuhr Reggie rasch fort, »taten die Leute das Vernünftigste, was ihnen einfiel: Wenn jemand beerdigt wurde, befestigten sie ein Stück Schnur an einem Glöckchen und banden das andere Ende an die Zehe des lieben Verblichenen. Falls es zu einem kleinen Missgeschick gekommen sein sollte, brauchte der arme Teufel nur mit dem Fuß zu wackeln, worauf das Glöckchen allen Umstehenden mitteilte, dass er unverzüglich wieder ausgegraben werden wollte.«

»Ich glaube, wenn ich an einem Friedhof vorbeikäme und ein Glöckchen hören würde, würde ich vermutlich selbst tot umfallen«, entgegnete Cora missbilligend. »Man muss sich so etwas nur einmal vorstellen!«

Einen Moment lang taten alle Anwesenden genau das.

»Ja, natürlich«, brach die wie immer unerschütterliche Amy das Schweigen. »Das mag wohl sein. Jedenfalls muss der Legende zufolge jedes Mitglied der Familie Phelps, das den Ruf der Familie zu ruinieren droht, seitdem mit einem Besuch von Wilburs Geist rechnen, der vom Läuten eines Glöckchens angekündigt wird. Ziel ist, den Übeltäter wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Meine Großmutter schwor immer, dass ihr Mann, der mehr trank, als gut für ihn war, eines Nachts durch so einen Besuch vor lauter Schreck schlagartig zum Abstinenzler wurde. Ich persönlich glaube eher, dass Großpapa nach einem Brandy zu viel in den Fluss gestürzt ist und infolge dieser Nahtoderfahrung dem Alkohol abgeschworen hat.«

Alle lachten pflichtschuldig.

Amy seufzte leise auf. »Nun, aus irgendeinem Grund scheint mein Vorfahr nun Anstoß an mir zu nehmen. Ich kann mir keinen Grund dafür vorstellen, denn ich glaube, dass ich seit dem Tod des letzten meiner lieben Geschwister eine würdige Bewahrerin des Familienvermögens bin. Nur dass Wilbur das offenbar anders sieht. In letzter Zeit sind einige … merkwürdige … Dinge … geschehen, die diesen Verdacht nahelegen.«

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