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Mutterhirn. Was mit uns passiert, wenn wir Eltern werden

Als Buch hier erhältlich:

EIN KIND ÄNDERT ALLES – aber was eigentlich genau?


Ein Kind ändert alles. Viele Eltern hören diese Worte, doch was dahintersteht, darüber wird meist geschwiegen. Der ominöse Baby-Blues soll nach der Geburt rasch verklingen, und dank Mutterinstinkt wird die vergessliche Mama das Kind schon schaukeln. Doch was wissen wir tatsächlich über die Veränderungen, die unser Gehirn in der Schwangerschaft, der Geburt und der turbulenten Zeit danach erfährt?

In ihrem Buch belegt die preisgekrönte Journalistin Chelsea Conaboy, selbst zweifache Mutter, wie weit viele Verklärungen der Elternschaft an der Realität vorbeigehen. Aus einer Geburt geht nicht nur ein neuer Mensch hervor, sondern mindestens zwei. Eltern durchlaufen eine Entwicklungsphase, die Neurobiologen mit der Pubertät vergleichen.

Anhand aktueller Studien und Gesprächen mit renommierten Wissenschaftlern liefert die Autorin uns einen Einblick in ein faszinierendes Forschungsfeld, das selbst noch in den Kinderschuhen steckt. Was ist es, das Eltern so sonderbar wie besonders macht? Und was fangen wir als Erziehende jetzt damit an? Ein Buch für alle, die auf der Suche nach der Wahrheit hinter dem Mythos Elternschaft sind.


  • Erscheinungstag: 25.04.2023
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003121

Leseprobe

FÜR MEINE JUNGS

VORWORT

Was bedeutet es, Mutter zu werden?

Sicherlich erfährt jeder Mensch die Mutterschaft anders. Je nach den Lebensumständen gestaltet sie sich schon von Beginn an unterschiedlich, ob eine Schwangerschaft etwa geplant war oder nicht, ob das Ergebnis des Schwangerschaftstests vorfreudig oder ängstlich erwartet wird, ob wir in einer festen Beziehung stehen, ob es sich um eine Schwangerschaft handelt, die durch einen Spender, mit medizinischer Unterstützung oder spontan erfolgt. In jedem Fall aber nehmen wir Elternschaft im Allgemeinen und Mutterschaft im Besonderen als etwas über alle Maßen Persönliches wahr. Eine Mutter ist unantastbar. Sie ist die Verkörperung der Liebe. Dabei erschwert oder verhindert diese Kostbarkeit der Mutterschaft ihre unmittelbare und analytische Betrachtung. Stattdessen belassen wir es bei verstohlenen Seitenblicken. Wir feiern die transformative Kraft eines Kindes – »Ein Baby zu haben, verändert alles«, laut Johnson & Johnson –, ohne wirklich zu benennen, was genau sich da verändert.

Viele Frauen empfinden die Frage nach den Veränderungen durch die Mutterschaft als gefährlich. Eine direkte Antwort darauf würde voraussetzen, dass wir uns eingestehen, wie Mutterschaft uns verändert, inwiefern wir uns von unserem vorherigen Selbst unterscheiden und von jenen, die keine Kinder haben. Warum wir anders sind als Männer. Und anders bedeutet in diesem Kontext meist weniger gut. Vergesslicher. Entnervter. Erschöpfter. Durch unsere eigene Körperlichkeit behindert, immer am Rande eines moralischen Vergehens und mit Sicherheit weniger interessant als zuvor. Lieber nicht darüber nachdenken.

In den rund 40 Wochen der Schwangerschaft – es sind viel mehr, wenn wir die Monate mit einrechnen, in denen wir womöglich versuchen, überhaupt schwanger zu werden, oder mit den psychologischen Folgen einer Fehlgeburt zurechtkommen müssen – werden die zukünftigen Eltern mit Informationen bombardiert, wie sich eine Schwangerschaft auf unseren Körper, unsere Brüste, unsere Hüften, unseren Taillenumfang, unsere Herzleistung, unseren Beckenboden und unseren Sexualtrieb auswirkt. Wir werden geradezu überhäuft mit Hinweisen, wie unser Verhalten unsere Kinder beeinflusst, wie jede unserer Entscheidungen den Wachstum ihres Körpers und die physische und mentale Gesundheit ihres gesamten weiteren Lebens bestimmt. Über uns selbst erfahren wir dabei so gut wie nichts. Und wir erfahren noch weniger über unsere Partner. Welche Antworten finden wir in den vielen Informationen, die wir während der Schwangerschaft in uns aufnehmen, auf die Frage, wie die Elternschaft uns und unser Innenleben beeinflusst? Oder was es überhaupt bedeutet, eine Mutter zu werden?

Für nichtbinäre Eltern, Väter oder gleichgeschlechtliche Partner bleiben diese Fragen weitgehend unbeantwortet, denn ihre Geschichten werden als Fußnoten einer »wahren« Erzählung abgehandelt, die allein von der mütterlichen Elternschaft handelt. Dabei hat die Wissenschaft uns völlig neue Methoden an die Hand gegeben, diese Fragen zu beantworten oder sie überhaupt erst zu stellen.

Ich stellte mir diese Fragen zum ersten Mal vier Monate nach der Geburt, als ich in dem winzigen, fensterlosen Aufenthaltsraum der Zeitung hockte, für die ich nach meinem Mutterschaftsurlaub wieder als Redakteurin arbeitete. Zwei bescheidene Portionen Muttermilch hatte ich bereits abgepumpt. Noch zwei weitere Ausflüge von meinem Schreibtisch in diese Abstellkammer – die mit Tisch, Stuhl und einem »Bitte nicht stören«-Schild an der Tür ausgestattet war, dafür aber kein Türschloss hatte –, und ich hätte immerhin eine der beiden Milchflaschen gefüllt, die ich benötigte, um mein Baby am nächsten Tag in der Krippe zu füttern. Ich hatte Besprechungen mit Kollegen, musste Abgabetermine einhalten, und der Uhrzeiger rückte erbarmungslos auf jene Minute zu, in der ich das Büro verlassen und mein Baby aus der Krippe abholen musste. Aber sosehr ich mir auch mehr Zeit und weniger Punkte auf meiner To-do-Liste wünschte, mein Wissensdrang war stärker.

Ich wollte unbedingt begreifen, was ich als besorgte junge Mutter gerade erlebte. Ich war mir sicher, dass in meinem Gehirn und in meinem Körper noch weitaus mehr vor sich ging, als ich bislang aus Büchern und in Schwangerschaftsgruppen erfahren hatte. Ich schaltete das wa-wirr-wa-wirr der Milchpumpe aus, stellte die Milch in den Kühlschrank, klappte meinen Laptop auf und rief Peter Schmidt an.

Seit 1986 untersucht Schmidt den Einfluss von Hormonen und Reproduktion auf die Stimmung der Betroffenen und ihre mentale Gesundheit – in den 80er-Jahren sahen frauenfeindliche Ärzte in nachgeburtlichen Stimmungsschwankungen lediglich einen weiteren Beweis dafür, dass Frauen auch ganz allgemein durch ihr Fortpflanzungssystem beeinträchtigt werden. Feministinnen befürchteten damals (nicht zu Unrecht), dass männliche Forscher normale, weibliche biologische Prozesse pathologisierten, und Schmidts wissenschaftliche Kollegen betrachteten diese Zustände eher als »schwer erfassbare Beeinträchtigungen der Lebensqualität« denn als echte Gesundheitsprobleme, die in den Zuständigkeitsbereich der Gesundheitsfürsorge fielen. Bei meinem ersten Gespräch mit Peter Schmidt im Juli 2015 kamen diese Hindernisse in der Erforschung des elterlichen Gehirns allmählich ins Wanken, und er war mittlerweile Leiter der Verhaltensendokrinologie am National Institute of Mental Health (kurz NIMH, das Institut gehört zum US-Gesundheitsministerium und ist auf mentale Störungen spezialisiert).

Schmidt war der Erste, der die frühe Mutterschaft als eigenes Entwicklungsstadium beschrieb, in dessen Folge alle körperlichen Systeme, die auf unser Sozialverhalten, unsere Emotionen und spontanen Reaktionen wirken, »sich drastisch verändern«. Schmidt bestätigte damit, was ich bereits selbst empfunden hatte, nämlich dass die Art und Weise, wie wir über nachgeburtliche Erfahrungen sprechen, sehr begrenzt ist. Es hatte vieler Anstrengungen bedurft, um die postpartale Depression überhaupt zu einem öffentlichen Gesprächsthema zu machen. Die nächste Herausforderung, so Schmidt, bestehe darin, das Verständnis dafür zu vertiefen, wie umfassend sich eine Person durch die Elternschaft verändert und wie viel sie dafür einsetzt.

Damals war das für mich eine Offenbarung, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht genau wusste, was er meinte. Dieses Buch ist das Ergebnis meiner Bemühungen, es herauszufinden, und zwar durch Interviews mit einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und mit fast genauso vielen Eltern. Ich möchte tief in die Forschung über das menschliche, elterliche Gehirn sowie in die Grundlagenliteratur aus der Tierkunde eintauchen und einen kritischen Blick auf die Geschichten zum Thema Elternschaft werfen, darauf, wie sie uns begleiten und entstanden sind.

Zuerst hatte ich geplant, ein Essay über meine eigenen Erkenntnisse zu schreiben: Mutterschaft ist eine Entwicklungsphase, und werdende Mütter verdienen ein umfassenderes Verständnis dafür, wie die Zeit nach der Geburt für sie verlaufen könnte. Das tat ich auch, aber dann ließ mich das Thema nicht mehr los. Je mehr ich darüber erfuhr, desto grundlegender kam mir diese Wissenschaft vor: Sie ist nicht nur in der Lage, unsere individuelle Erfahrung der Elternschaft zu verändern, sondern auch unseren Blick auf Elternschaft insgesamt, auf die Art und Weise, wie wir über sie und die vielen anderen Themen sprechen, die von ihr berührt werden: Geschlecht, Gender, Arbeit, Gleichberechtigung in der Wissenschaft, Sozialpolitik und Politik, die Zeit, die wir gemeinsam mit unseren Kindern verbringen, und die Zeit, in der wir von ihnen getrennt sind.

Dies ist ein Buch über das elterliche Gehirn, aber Sie sollten wissen, dass ich weder »Elternschaftsexpertin« (was immer das sein mag) noch Neurologin bin. Ich bringe dabei Fachwissen aus zwei Gebieten ein: Zum einen beschäftige ich mich als Journalistin seit beinahe zwei Jahrzehnten damit, komplexe Themen verständlich darzustellen, mit besonderem Schwerpunkt auf der Gesundheitsfürsorge. Und ich bin Expertin in Sachen Elternschaft, denn ich erziehe meine zwei ganz speziellen Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen gemeinsam mit meinem speziellen Ehemann in unserer speziellen Zeit und an unserem speziellen Ort. Ich habe versucht, die Wissenschaft in den Kontext meines eigenen Lebens als Elternteil einzuordnen, in der Hoffnung, dass alles, was ich dabei gelernt habe, auch für andere von Bedeutung ist.

Seit ich damals Peter Schmidt in der Milchpumpen-Kammer interviewt habe, ist die Anzahl der Studien, die mit bildgebenden Verfahren das elterliche Gehirn erforschen, erheblich gestiegen, genau wie die kritische Auseinandersetzung mit den dabei verwendeten Technologien und Analysemethoden, insbesondere der funktionalen Magnetresonanztomografie (fMRT). In Anbetracht dieser Kritik habe ich mich bemüht, Ergebnisse hervorzuheben, die disziplinübergreifend gültig sind, die repliziert werden können, oder transparent zu machen, an welchen Stellen die Forschungslage noch lückenhaft oder widersprüchlich ist.

Wissenschaft ist nicht statisch. Lange Zeit wurde das elterliche Gehirn als lohnendes Studienobjekt vernachlässigt. Die Geschichte, die es heute erzählt, verdient es allerdings, erforscht zu werden. Tatsächlich steht diese Forschung erst am Anfang. Die hier gewonnenen Erkenntnisse werden sich ändern – sie ändern sich bereits jetzt –, und sie werden neue Fragen aufwerfen. Ich habe versucht, die Richtung aufzuzeigen, in die diese Fragen führen könnten.

Gegenwärtig konzentriert sich die Forschung vorwiegend auf heterosexuelle cisgender Frauen, die ihr Kind selbst austragen. Das ändert sich zwar, aber nur langsam. Wenn ich über bestimmte Studien berichte, orientiere ich mich sprachlich daran, wie die Teilnehmer oder Teilnehmerinnen der Studien in diesen selbst bezeichnet wurden. Ansonsten verwende ich für die Beschreibung der Eltern eine inklusive Sprache, weil sie am genauesten ist. Transgender-Männer und nichtbinäre Eltern, die sich nicht als Mütter identifizieren, bringen Kinder zur Welt, und ihre Gehirne verändern sich während der Schwangerschaft und in der Zeit nach der Geburt ebenfalls. Und von besonderer Wichtigkeit ist die Erkenntnis, dass nicht nur werdende Eltern tiefgreifende neurobiologische Veränderungen erleben können, sondern alle anderen, die sich intensiv – unter Einsatz ihrer Zeit und ihrer Energie – um die Kinder kümmern.

Das »Mutterhirn« ist nicht gleichbedeutend mit dem weiblichen Gehirn und auch nicht mit dem Gehirn der Gebärenden. Es ist vielmehr das Gehirn, das man sich »durch Fürsorge verdient«, wie die feministische Philosophin Sara Ruddick es beschreiben würde. 1 Es ist jenes Gehirn, das sich mit der lebenserhaltenden Praxis der Mutterschaft befasst, die »älter ist als der Feminismus«, so die Schriftstellerin Alexis Pauline Gumbs in ihrem Buch Revolutionary Mothering. »Diese Praxis ist älter und zukunftsweisender als die Kategorie ›Frau‹.« 2 Die Fähigkeit zu dieser Art von Bindung ist eine grundlegende Eigenschaft unserer – und anderer – Spezies, und wir alle besitzen sie. Die Entwicklung dieser Bindung ist das, was Elternschaft in der Praxis ausmacht. Dieses Buch ist eine Erkundung der neurobiologischen Mechanismen und der gelebten Erfahrung, durch die sie entsteht.

An die neuen oder werdenden Eltern, die dies lesen: Wenn Sie in irgendeiner Weise Probleme haben, suchen Sie sich bitte Hilfe. Das Gehirn verändert sich während der Schwangerschaft und der neuen Elternschaft erheblich. Schwierigkeiten sind völlig normal, und dass man Unterstützung braucht, ist absolut keine Ausnahme. Wenden Sie sich an Ihren Arzt oder Ihre Ärztin oder an soziale Einrichtungen.

Und zum Schluss: Dieses Buch ist kein Ratgeber. Es beschäftigt sich nicht damit, wie Sie Ihr Kind betreuen oder wie Sie sich als Eltern verhalten sollten. Es wird daher vielleicht keine der Fragen beantworten, die in Ihrem Google-Suchverlauf über Schlaf oder Tagesbetreuung auftauchen. Es wird Ihnen nicht zeigen, wie genau Sie Ihr Vorschulkind dazu bringen, seine Schneestiefel anzuziehen, ohne dass jemand dabei die Nerven verliert. Diese Wissenschaft des elterlichen Gehirns wird Ihnen hoffentlich dabei helfen, zu verstehen, was Elternschaft von Beginn an auszeichnet und wie sie sich verändert. Für die Erziehungsarbeit gibt es keine Werkseinstellung, wir müssen in diese Aufgabe hineinwachsen. Wie geschieht das und warum, und was bedeutet es für unser heutiges und zukünftiges Leben?

Wir sind es uns selbst schuldig, diesen Fragen nachzugehen und mit allen uns zur Verfügung stehenden Informationen über sie nachzudenken. Wir sind es einander schuldig.

Kapitel 1
DER SCHALTER WIRD UMGELEGT

Als ich klein war, wurde Jahr für Jahr in dem Kranz an unserer Eingangstür ein Nest gebaut. Die Rotkehlchenmutter schien es nicht weiter zu stören, dass ich ihr, nur wenige Zentimeter entfernt hinter der Glasscheibe, dabei zusah. Zumindest nehme ich das an, immerhin kehrte sie jedes Jahr wieder an diesen Ort zurück. Ich freute mich darüber. Es war wunderbar anzusehen, wie sie unermüdlich Zweig um Zweig aneinandersteckte und das Nestinnere mit Erde und Gras auskleidete, damit sie die schönen, zarten bläulichen Eier so sicher wie möglich darin ablegen konnte. Ihre Hingabe an die zerzausten, kleinen Rotkehlchen mit den stets aufgesperrten Schnäbeln war vollkommen. Sie war aufmerksam, wachsam, geduldig und selbstlos. Sie wusste einfach, was sie zu tun hatte, wie sie ihre Küken schützen musste, so, wie man es bei Müttern voraussetzt.

Das dachte ich jedenfalls. Denn so heißt es in der Geschichte, die über die Zeit und Generationen hinweg erzählt wird, weitergegeben in Fabeln und Mythen, bis sie zum Inbegriff dessen wurde, wie wir die Welt um uns wahrnehmen und ordnen, wie wir uns selbst sehen. Wir sind hingebungsvolle Muttervögel, so die Geschichte. Wir folgen einem mütterlichen Instinkt, der sich im Laufe der Zeit zu einer soliden, verlässlichen Instanz vervollkommnet hat, wie eine glatte rote, unter einer gefiederten Brust verborgene Murmel. Wir nisten. Wir nähren. Wir verteidigen. Es liegt einfach in unserer Natur. 1

Doch dann geschieht etwas. Wir bekommen selbst ein Kind. Und wir stellen fest, dass diese hübsche Geschichte voller Wahrheit und Schönheit – einfach nur kompletter Mist ist. Sie stimmt nicht. Entweder das, oder mit uns selbst stimmt etwas nicht.

Bei vielen von uns tritt der mütterliche Instinkt nicht in Erscheinung, oder jedenfalls nicht so, wie wir es erwartet hatten. Die Fürsorge für ein Neugeborenes ist keine angeborene Fähigkeit. Es gibt keinen Schalter, der umgelegt wird, wenn wir schwanger werden oder unser Baby zur Welt kommt. Viel zu selten stellen wir das Narrativ, demzufolge wir einfach wissen, was wir zu tun haben und wie wir uns dabei fühlen, auf den Prüfstand. Ein Narrativ, das einfach nicht berücksichtigt, dass Elternschaft eine ganze Reihe praktischer Fähigkeiten erfordert, die wir möglicherweise besitzen, möglicherweise aber auch nicht. Das alle Erfahrungen und äußeren Umstände unserer individuellen Lebenswege vor der Schwangerschaft und danach außer Acht lässt und behauptet, wir würden uns – abgesehen von ein bisschen Schlafmangel – ganz unbemerkt von einer Person, die sich zuerst und vor allem um ihr eigenes Überleben gekümmert hat, in eine Person verwandeln, die nun vollumfänglich für das Leben eines winzigen nonverbalen Wesens verantwortlich ist, das für die Erfüllung all seiner Bedürfnisse auf uns angewiesen ist. Statt dieses Narrativ zu hinterfragen, stellen wir uns selbst infrage.

Genau das hat Emily Vincent getan.

Als sich ihre erste Schwangerschaft dem Ende näherte, war sie davon überzeugt, dass sie den zwölf Wochen langen Mutterschaftsurlaub nicht benötigen würde. Sie war Kinderkrankenschwester und liebte ihren Beruf. Nach acht Wochen, schätzte sie, würde sie ihre Kollegen und ihre Patienten vermissen. Sie würde sich einsam fühlen, wenn sie die ganze Zeit zu Hause war. Dann kam ihr Sohn Will zur Welt, und sie konnte sich nicht vorstellen, von ihm getrennt zu sein. Acht Wochen waren vorbei, und sie wollte nicht wieder Vollzeit arbeiten gehen, noch nicht und vielleicht auch nicht, wenn die zwölf Wochen vorbei waren. Sie machte sich Sorgen wegen der Tagesbetreuung. Würde er dort auch sicher sein? Würden seine Betreuerinnen und Betreuer ihn rechtzeitig füttern? Würden sie ihn zu lange weinen lassen? Würde es ihm überhaupt gut gehen, außerhalb des Kokons aus Sicherheit und Fürsorge, den sie und ihr Mann um ihn herum gewoben hatten, mit Liebe, ja, aber auch aus einem Gefühl der Dringlichkeit und Sorge heraus? Solche Sorgen sind völlig normal für junge Eltern. Emily hatte jedoch das Gefühl, dass es Symptome von etwas Größerem, Umfassenderem waren. Die Arbeit als Krankenschwester hatte ihre Identität ausgemacht. Und diese Identität befand sich in einer Krise.

Es ging allerdings nicht ausschließlich um Emilys Arbeit. Immer wieder kam ihr Dawn, das Baby aus Trainspotting, in den Sinn. Es tauchte eine ganz bestimmte Szene aus dem Bild vor Vincents geistigem Auge auf, obwohl es mindestens zehn Jahre her war, dass sie den Film gesehen hatte. Wenn Sie den Film kennen, wissen Sie, welche Szene ich meine, auch wenn Emily mich dringend gebeten hat, mir den Film auf keinen Fall anzusehen. Sie wollte nicht, dass mich diese Szene ebenso verfolgte wie sie. (»Sieh dir lieber Bao an«, riet sie mir, »und nimm dir Taschentücher mit«, als sei das ein wirksames Gegenmittel. Bao ist ein mit dem Oscar ausgezeichneter Pixar-Zeichentrickfilm; ein chinesisches Baozi-Hefeklößchen verwandelt sich in einen kleinen Jungen mit einer überfürsorglichen, aber sehr liebevollen Mutter.)

Dawn und Will haben nichts gemeinsam, außer dass beide Säuglinge und naturgemäß ihrer Umgebung hilflos ausgeliefert sind. Baby Dawn stirbt vernachlässigt in einem fiktiven Edinburgh, während die Erwachsenen, die sich um sie kümmern sollten, in der Spirale der Heroinsucht untergehen. Will dagegen wird liebevoll zu Hause in Cincinnati umsorgt, seine Eltern haben die Mittel, sich für seine Erziehung einzusetzen. Dennoch musste Vincent ständig an das Bild der bewegungslos in ihrer Wiege liegenden Dawn denken, wenn ihr Sohn tagsüber ein Schläfchen machte, oder wenn sie frühmorgens, nachdem sie ihn gefüttert hatte, im Bett lag und sich immer wieder sagte: »Es geht ihm gut. Er ist in seinem Bettchen. Es geht ihm gut« – ein Mantra der Wahrheit gegen ihre größte Angst. Sie konnte es sich nicht erklären.

»Ich kam mir so dumm vor, weil ich mich wegen dieser Filmszene dermaßen verrückt machte«, erzählte sie mir, als Will sechs Monate alt war. »Und ich kam mir auch dumm vor, weil ich nicht wieder in Vollzeit arbeiten wollte.« Sie hatte Angst vor dem, was sie empfinden würde, sagte sie, und wie es sich auf ihre Fähigkeit, eine gute Mutter zu sein, und auf ihre Selbstwahrnehmung auswirken würde.

Auch Alice Owolabi Mitchell stellte sich selbst infrage.

Vor der Geburt ihrer Tochter hatte sie sich auf alle möglichen Szenarien vorbereitet. Sie wusste, dass die Risiken lebensbedrohlicher Komplikationen vor und nach der Geburt für sie als Schwarze Frau in den Vereinigten Staaten weitaus höher waren als für eine weiße werdende Mutter. Als Teenager hatte Owolabi Mitchell miterlebt, wie ihre eigene Mutter zwei Wochen nach der Geburt eines Sohnes an Herzstillstand gestorben war. Ihr kleiner Bruder war inzwischen 14 Jahre alt, und sie hatte ihn gemeinsam mit ihrem Ehemann großgezogen. Die Geschichte ihrer Mutter und ihre eigene waren eine große Belastung. Während der Schwangerschaft hatte Owolabi Mitchell mit einer Therapie angefangen und sich bei einer Vereinigung von Doulas um einen Betreuungsplatz bemüht. Außerdem plante sie, sich im nahe gelegenen Boston und in der Nähe von Quincy, wo sie wohnte, einer diversen Müttergruppe anzuschließen.

Doch dann wurde Everly einen Monat zu früh geboren. Owolabi Mitchell hatte keine Möglichkeit mehr, letzte Vorbereitungen zu treffen, bevor sie beurlaubt wurde – sie war Grundschullehrerin –, oder sich von ihrer Klasse zu verabschieden. Sie hatte das Gefühl, dass es ihr nicht möglich gewesen war, sich auf die Ankunft ihres Babys einzustellen. Wenige Tage nach Everlys Geburt wurden in den Vereinigten Staaten Schutzmaßnahmen und Lockdowns aufgrund der Coronavirus-Pandemie eingeführt. Owolabi Mitchells Milcheinschuss ließ auf sich warten, und sie und Everly hatten Schwierigkeiten beim Anlegen und Stillen. Sie fragte sich, ob Everly genügend zu sich nahm, ob ihr eigener Stress den Milchfluss negativ beeinflusste und auf wie vielen Ebenen die Pandemie ihrer Familie gefährlich werden könnte. Alle Selbsthilfegruppen waren abgesagt. Da die meisten Arztpraxen geschlossen waren, vergingen erst sechs, dann sieben und schließlich acht Wochen, und Owolabi hatte noch immer keinen Termin für die übliche Untersuchung nach der Geburt bei ihrer Gynäkologin.

In diesen ersten Wochen quälte sie insbesondere eine Frage: Warum fühlte sie keine Bindung zu ihrem Baby? Sie hatte erwartet, bei Everlys Geburt eine tiefe Zuneigung zu empfinden, dass sie sich auf Anhieb so sehr in ihre Tochter verlieben würde, dass ihr diese Gefühle über die ersten verwirrenden Tage hinweghelfen und sie die Schmerzen nach der Geburt vergessen und sogar die Wirren der Pandemie überstehen lassen würden. »Ich habe erwartet, dass sich automatisch ein Schalter in mir umlegt, aber nichts passierte«, sagte sie mir. Und sie fragte sich: »Bin ich jetzt eine schlechte Mutter, weil ich nicht so empfinde?«

Obwohl meine Erfahrungen als erstmalige Mutter in den Einzelheiten unterschiedlich waren, ist mir doch vieles an den Geschichten von Owolabi Mitchell, Emily Vincent und so vieler anderer Eltern sehr vertraut. Unsere Erwartungen an uns selbst stimmten nicht mit der Realität überein. In den Tagen und Wochen nach der Geburt meines ersten Sohnes empfand ich Freude und ehrfürchtiges Staunen. Was ich nicht empfand, war eine natürliche Ruhe oder ein Gefühl der Klarheit und Gewissheit in meinen Gedanken oder Handlungen. Stattdessen war ich vielmehr in Aufruhr, in einer ständigen und ungewohnten inneren Bewegung. Wir alle hatten die Pforte der Geburt durchschritten und mussten mit Schrecken feststellen, dass die Topografie der Karte, die man uns als Wegweiser mitgegeben hatte, kaum mit dem übereinstimmte, was wir vorfanden. Wir waren auf das Festland zugesteuert – und nun trieben wir ohne Anker im Meer.

In meinen ersten Wochen und Monaten als Mutter begleitete die Sorge jeden meiner Gedanken als ein ständiges Hintergrundgeräusch. Sie war nie ganz weg. Mit den Sorgen kamen die Schuldgefühle. Und mit den Schuldgefühlen die Einsamkeit. Ich fühlte mich weder als die Mutter, die mein Sohn verdiente, noch als die von Natur aus sorgende Mutter, die ich, wie man mir immer wieder versichert hatte, sein würde. Die Umlaufbahn meines Lebens war geschrumpft und beschränkte sich nun auf den Sessel, auf dem ich saß, wenn ich meinen Sohn stillte, und auf das Zimmer, in dem seine Wiege neben unserem Bett stand. Selbst davon fühlte ich mich überfordert und kam mir wie eine Versagerin vor.

Nichts an diesen ersten Wochen – an dieser totalen Aufbietung, dieser Niedergeschlagenheit, die mit der Freude einherging – war so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Gute Freunde, die bereits Kinder hatten, versicherten mir, es würde nach den ersten Monaten besser werden, sobald das Baby einmal durchschlief. Über das schwer zu benennende Gefühl, das ich empfand – als sei ich im Begriff, mich aufzulösen –, sprachen sie allerdings nicht. Ebenso wenig wie ich.

Die Monate vergingen, und meine Sorge ließ etwas nach, aber das Gefühl, in eine neue Realität eingetreten zu sein, in der ich mich nur schwer zurechtfand und in der sich alles ein Stück verschoben hatte, blieb. Manchmal konnte das durchaus aufregend sein. Ich entdeckte neue Kräfte in mir. Vor dem Spiegel, mit meinem Sohn auf dem Arm, betrachtete ich beeindruckt unsere beiden Körper, staunte über das, was ich da geschafft hatte. Manchmal, in der Schlange beim Einkaufen, hinter einer Mutter mit einem Kleinkind im Wagen, oder wenn ich auf dem Weg zur Arbeit jemanden mit der gleichen hässlichen Brustpumpe sah, die ich ebenfalls hatte, fragte ich mich, ob sie wohl ebenso empfanden wie ich. Hatten sie sich an die ständig vorbeirauschenden Schreckensvisionen gewöhnt, die sich bis zur Absurdität steigern konnten? (Was ist, wenn die verstopfte Nase das erste Zeichen einer Lungenentzündung ist? Was ist, wenn ich auf der Treppe stürze, während ich ihn trage? Was ist, wenn mein Kind eines Tages eine dieser gefürchteten Waschmittelkapseln verschluckt?) Weinten sie auch manchmal unkontrolliert vor sich hin, wenn sie von einem gekenterten Boot voller Flüchtlinge im Mittelmeer lasen – oder vom neuesten Amoklauf in der Schule, dem neuesten Hassverbrechen –, und empfanden sie die Nachrichten nicht mehr nur als tragisch, sondern als einen körperlichen Schmerz, als tiefe Qual für das Baby einer anderen Person? Kannten sie auch diese seltsame Zerrissenheit zwischen dem Drang, aus der Dusche zu springen und das weinende Kind im Nebenzimmer zu trösten, und dem gleichzeitigen Wunsch, aus dem Badezimmerfenster zu klettern, weil man sich so verzweifelt nach einem Augenblick für sich allein, mit seinem früheren Selbst, sehnt?

Ich befürchtete, ihre Antwort darauf wäre ein Nein gewesen. Dass ich eine Außenseiterin war und jener Mutterinstinkt, der für Gleichgewicht im Tumult der neuen Elternschaft sorgt, bei mir einfach nicht vorhanden war. Oder, noch schlimmer, dass sich etwas tief in meinem Inneren verändert hatte. Dass es freigesetzt worden war.

Bücher über die Schwangerschaft und die Elternschaft streiften diese Frage, die ich über mich selbst als Mutter hatte, nur am Rande. Die erste Andeutung 2 einer etwas anderen Sichtweise entdeckte ich in einer zerfledderten, durch viele Hände gegangenen Ausgabe von Infants and Mothers: Differences in Development, ein Buch des berühmten Kinderarztes T. Berry Brazelton, ursprünglich im Jahr 1969 erschienen. Brazelton schrieb, dass sich viele junge Mütter mit emotionalen und psychologischen Herausforderungen konfrontiert sähen, dass derlei Schwierigkeiten jedoch normal seien und »vielleicht ein wichtiger Teil ihrer Fähigkeit, ein anderer Mensch zu werden«. Bald darauf las ich andere Texte über das mütterliche Gehirn, und da ich von Natur aus jemand bin, der schon von Berufs wegen viele Fragen stellt, fing ich an, mich intensiv mit diesem Thema und der entsprechenden Forschung zu beschäftigen.

Häufig dachte ich an Brazeltons Worte, als ich mir die Studien ansah, in denen die Veränderungen des Volumens der grauen Hirnsubstanz bei Müttern dokumentiert wurden, oder das, was eine Studie als »die umfassende Umgestaltung der Synapsen und neuronalen Aktivitäten« bezeichnete. 3 Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Brazelton bereits erahnt, was Wissenschaftler heute durch Gehirnscans und in Tiermodellen nachweisen, nämlich dass die Elternschaft eine »andere Art von Menschen« hervorbringt.

Bei der Geburt eines Kindes wird nicht einfach ein Schaltkreis aktiviert, der für den Mutterinstinkt bestimmt ist und nur im weiblichen Gehirn vorkommt. Forschungen zur Neurobiologie von Eltern haben damit begonnen, die vielen Möglichkeiten zu dokumentieren, wie die Geburt eines Kindes das Gehirn umgestaltet und die neuronalen Rückkopplungsschleifen verändert, die bestimmen, wie wir auf unsere Umwelt reagieren, andere Menschen lesen und auf sie reagieren und wie wir unsere eigenen Emotionen regulieren. Eltern zu werden, verändert unser Gehirn, funktional und strukturell, und zwar so, dass die physische und mentale Gesundheit einer Person für den Rest des Lebens davon beeinflusst wird. Die festgestellten Veränderungen bei schwangeren Müttern, der am gründlichsten untersuchten Gruppe, waren sogar derart signifikant, dass die Forschung die Mutterschaft mittlerweile als eine der wichtigsten Entwicklungsphasen des Lebens betrachtet. Inzwischen erforscht man auch, inwiefern sich die Gehirne aller Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern, ganz unabhängig davon, wie sie Eltern wurden, durch die Intensität dieser Erfahrung und die damit einhergehende hormonelle Umstellung verändern. Wir werden durch die Elternschaft in einem sehr realen Sinne neu geformt.

In den meisten Büchern über Schwangerschaft oder ärztlichen Broschüren wird nur beiläufig erwähnt, dass der Hormonspiegel faktisch während der Schwangerschaft und Geburt stark ansteigt und danach jäh abfällt. Frischgebackene Eltern werden mit Informationsmaterial aus dem Krankenhaus entlassen, in dem behutsam vor dem »Babyblues« 4 gewarnt wird, eine Phase der Stimmungsschwankungen und leichten Depression, die viele Eltern in den ersten Wochen nach der Geburt erleben. Wir erfahren jedoch nur selten, was diese Hormonumstellungen bewirken.

Der Hormonschub rund um den Zeitpunkt der Geburt wirkt wie ein Eilbefehl für den Umbau des Gehirns und sensibilisiert es für die Schaffung neuronaler Bahnen, 5 die zunächst die Eltern – trotz Selbstzweifeln oder mangelnder Erfahrung – motivieren, die Grundbedürfnisse ihres Babys in den schwierigen ersten Tagen zu erfüllen, und sie dann für einen längeren Zeitraum darauf vorbereiten, zu lernen, wie sie für ihr Kind sorgen. Babys verändern sich so schnell wie das Wetter. Ehe wir es uns versehen, wachsen sie zu laufenden, sprechenden Wesen mit komplexen körperlichen und emotionalen Bedürfnissen heran. Eltern müssen in der Lage sein, sich mit ihren Kindern zu verändern. Das Gehirn stellt sich auf diesen Prozess ein: Es wird formbarer, anpassungsfähiger, als es normalerweise ist, vielleicht sogar mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt im Erwachsenenalter.

Die physiologischen Veränderungen sind erheblich. Mithilfe bildgebender Verfahren und anderer Instrumente konnten eindeutige Veränderungen der physischen Struktur im Hirn erstmaliger Mütter erkannt und nachgewiesen werden. Das Volumen von Hirnarealen, die bei der Fürsorge und Erziehung eine entscheidende Rolle spielen, einschließlich jener Areale, die unsere Motivation, Aufmerksamkeit und sozialen Reaktionen beeinflussen, hat sich erheblich vergrößert. Dabei handelt es sich um komplexe strukturelle Veränderungen. Offenbar verändert sich der Umfang einiger Areale 6 , und sie wachsen oder schrumpfen, während das Gehirn sich den rasch wandelnden Anforderungen der neuen Elternschaft anpasst, insbesondere während der Schwangerschaft und in den ersten Monaten mit dem Neugeborenen. Dieser Prozess, so die Annahme, stellt eine Feinabstimmung des Gehirns auf die Anforderungen der Elternschaft dar.

Forscher haben ein Grundmuster im Hirn erstmaliger Eltern entdeckt, das sich im Laufe der Schwangerschaft allmählich herausbildet: ein Schaltkreis der Fürsorge, der aktiviert wird, sobald Eltern beispielsweise Tonaufnahmen ihres schreienden Säuglings hören oder auf Bilder oder Filme reagieren, die ihr lächelndes oder weinendes Kind zeigen. Dieser Schaltkreis ist auch dann aktiv, 7 wenn die Mutter keiner besonderen Tätigkeit nachgeht und etwa in der Röhre eines fMRT-Gerätes liegt und ihren Gedanken nachhängt. Die Fürsorge für ein Baby ändert das, was in der Forschung als funktionale Architektur des Hirns bezeichnet wird, jenes System, innerhalb dessen sich Gehirntätigkeiten abspielen. Und bemerkenswerterweise bleiben diese Veränderungen nicht nur Wochen oder Monate nach der Geburt des Kindes 8 bestehen, sondern noch Jahrzehnte später, nachdem unsere Erziehungszeit bereits abgeschlossen ist.

Folgt man der Wissenschaft, werden bei der vollständigen Renovierung des elterlichen Gehirns also weit mehr als nur ein paar Möbelstücke umgestellt, um etwas Platz zu schaffen. Eltern zu werden, bedeutet, dass tragende Wände verschoben werden. Es verändert den gesamten Grundriss bis auf den Einfallswinkel des Lichts.

Mit der Zeit übte mein zunehmendes Wissen über diese Vorgänge eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Das Hirn verändert sich, wenn man ein Baby bekommt. Das gilt nicht nur für jenes Fünftel der Eltern, die unter postpartalen Stimmungs- oder Angststörungen leiden, sondern für alle. Für die Gesamtheit aller Eltern. Nach der ersten, orientierungslosen Zeit der frühen Mutterschaft war diese fundamentale Wahrheit für mich wie ein Rettungsanker. Vielleicht war der Aufruhr, den ich empfand, doch nichts Ungewöhnliches und gehörte unvermeidlich zur Neuorientierung des Hirns auf die Mutterschaft dazu. Diese Erkenntnis rief eine neue Reihe von Fragen hervor: Gab es da noch etwas, was mir entgangen war? Wie genau änderte sich das Hirn und welche Auswirkungen hatten diese Veränderungen auf mein Leben? Und warum hatte ich das nicht schon vorher erfahren?

Die Geschichte, die mir die Wissenschaft erzählte, handelt jedenfalls mit Sicherheit nicht von einer Frau, die, ausgestattet mit dem Zaubermittel der Mutterliebe, auf jedes Bedürfnis ihres Babys reflexhaft richtig reagiert, jegliche Selbstaufopferung klaglos hinnimmt und einfach den Born mütterlicher Weisheit anzapft. Dieses Narrativ hat mit der Erfahrung erster Mutterschaft ungefähr ebenso viel zu tun wie die Märchenprinz-Geschichten von Disney mit der heutigen Dating-Welt.

Stattdessen berichtet die Wissenschaft, dass werdende Elternschaft mit einer Art Überflutung einhergeht. Wir sind diesem Ansturm der Eindrücke unserer sich verändernden Körper und Gewohnheiten kaum gewachsen. Oder den hormonalen Veränderungen im Laufe der Schwangerschaft, der Geburt und des Stillens. Oder natürlich den Eindrücken von unseren Babys selbst, mit ihrem typischen Geruch, ihren winzigen Fingern, ihrem leisen Glucksen und ihren niemals endenden Bedürfnissen. Man könnte es schon beinahe als brutal bezeichnen, wie vollständig wir von diesen Veränderungen überwältigt werden, wie ein den Naturgewalten ausgesetzter Felsblock an der Meeresküste. Einige Forscher bezeichnen es als umfeldbedingte Komplexität der jungen Elternschaft. 9 Die Gesamtheit der neuen Inhalte, die unser Gehirn mit einem Mal verarbeiten muss, mag auf uns desorientierend und stressig wirken. Aber das hat seinen Zweck.

Denn gerade diese Flut von Anreizen nötigt uns, uns um das Neugeborene in seinem besonders verwundbaren, hilfsbedürftigen Zustand zu kümmern, weil elterliche Liebe weder automatisch erfolgt noch absolut ist. In gewissem Sinne arbeitet das Gehirn, damit unsere Babys am Leben bleiben, bis unser Herz gleichzieht. Das Gehirn verwandelt uns in schützende, nahezu obsessive Hüter, obwohl viele von uns keinerlei Erfahrung darin haben, ein Kind großzuziehen. Allein schon deswegen hätte es allerhöchste Bewunderung verdient. Und das ist nur der Anfang.

Wissenschaftler verfolgen seit einer Weile, inwieweit die durch die Geburt eines Kindes verursachten Veränderungen im Gehirn das Verhalten einer Person, ihr Dasein, ihr gesamtes Leben beeinflussen. Wer fragt, wie viel man darüber bis heute tatsächlich weiß, erhält unweigerlich die Antwort: »Viel zu wenig.« Die Arbeit steht erst am Anfang. Doch die bisherigen Ergebnisse und Fragen, die sie aufwerfen, sind bereits sehr bedeutungsvoll. Mich damit zu beschäftigen, war für mich ungefähr so, als würde ich mein eigenes Bild im Schaufenster einer geschäftigen Einkaufsstraße sehen – eine Möglichkeit, mich selbst zu erkennen.

Forscher und Forscherinnen haben festgestellt, dass sich Mutterschaft allem Anschein nach darauf auswirkt, wie Mütter andere lesen und auf soziale und emotionale Schlüsselreize reagieren; das betrifft nicht nur ihre eigenen Babys, 10 sondern auch ihre Partner und andere Erwachsene. Möglicherweise verändert die Mutterschaft außerdem ihre Fähigkeit, emotionale Zustände zu regulieren 11 , und hilft ihnen dabei, selbst dann – relativ – ruhig zu bleiben und besonnen zu reagieren, wenn sie mit einem schreienden Säugling (oder einem trotzigen Vorschulkind oder einem launischen Teenager) konfrontiert sind. Während echte, aber meist kurzfristige Gedächtnisaussetzer während der Schwangerschaft und der postpartalen Phase zwar durchaus häufiger vorkommen 12 , konnte aber auch festgestellt werden, dass Mutterschaft in bestimmten Kontexten die Handlungsfähigkeit verstärkt und somit eine Person befähigt, strategischer vorzugehen und sich mehreren Aufgaben gleichzeitig zu widmen. Obwohl die bisher vorliegenden Daten noch recht unübersichtlich sind, legt eine kleine Anzahl von Studien dennoch nahe, dass Mutterschaft sogar im späteren Leben die kognitiven Fähigkeiten schützen könnte. 13

Die Fragen, die in diesem Feld an vorderster Stelle stehen, sind dringend und auf frustrierende Weise grundlegend. Bisher wurde Elternschaft von der Wissenschaft vernachlässigt. Man ordnete sie eher dem moralischen oder »weichen« soziologischen Bereich zu und hielt sie einer rigorosen Untersuchung für nicht würdig. Es herrschte die Überzeugung, 14 menschliches mütterliches Verhalten sei, über die Schwangerschaft und das Stillen hinaus, vollständig durch soziale und individuelle Faktoren bestimmt und kaum durch physiologische. Tatsächlich kommt jedoch die Gesamtheit aller psychosozialen und neurobiologischen Elemente in der Elternschaft zum Tragen: ein Wandel der Lebensführung und ein Wandel des Selbst.

Davon sind führende Forscher auf diesem Feld mittlerweile überzeugt – viele von ihnen sind Frauen, wie ich hier noch anmerken möchte –, und sie suchen nach Antworten, die weitreichende Folgen haben könnten. Warum führen die Veränderungen im Gehirn, die Eltern zur Fürsorglichkeit motivieren, zugleich dazu, sie auf eine Art und Weise verwundbar zu machen, die ihr ureigenstes Ziel gefährdet? Welche langfristige Bedeutung hat die reproduktive Geschichte einer Person, auch wenn sie keine Kinder bekommen hat, auf deren Gesundheit? In welcher Weise interagiert eine gehirnverändernde Suchterkrankung mit der gehirnverändernden Phase junger Elternschaft? Beeinflussen die schwangerschaftsbedingten Veränderungen des Hirns die Wirksamkeit von Antidepressiva in der postpartalen Periode? Inwiefern wirken sich Traumata, in allen Formen, einschließlich der verbreiteten Erfahrung einer Fehlgeburt und eines Geburtstraumas, im Laufe der Zeit auf das Erleben der postpartalen Phase und der mentalen Gesundheit aus? Abgesehen von Witzen über scheinbar demente Mütter, was verändert sich tatsächlich in den kognitiven Funktionen einer Person, die ein Kind bekommen hat? Inwiefern beeinflussen diese Gehirnveränderungen Kreativität und emotionale Zustände? Welche langfristigen Auswirkungen haben sie?

Für mich steht inzwischen außer Frage, wie relevant das Thema des elterlichen Gehirns nicht nur für Menschen ist, die Geburtskurse besuchen oder irgendwie die ersten Wochen zu Hause mit einem Neugeborenen überstehen müssen. Dieses Thema ist auch für Großeltern und politische Entscheidungsträger, für Menschen in der Gesundheitsfürsorge und im Rechtsbeistand, für arbeitende Eltern und deren Arbeitgeber von Belang und daneben für alle, die selbst daran denken, Eltern zu werden, und nach Informationen suchen, die über die gängige Mythologie hinausgehen und ihnen bei ihrer Entscheidung helfen. Die Wissenschaft kann dazu beitragen, normatives Gender-Denken im privaten Bereich und bei der Arbeit zu verändern, sie kann politische Entscheidungen voranbringen, die tatsächlich Eltern mit kleinen Kindern zugutekommen und die Beziehung zwischen Eltern und Gesellschaft neu ausgestalten. Zumindest jedoch verändern diese Erkenntnisse die Geschichten, die wir uns über unsere individuellen Erfahrungen der Elternschaft und über die Welt rings um uns erzählen, Geschichten, die unbedingt neu geschrieben werden müssen. Geschichten über das Innenleben der Rotkehlchenmutter oder meine eigene Zerrissenheit.

Die Wissenschaft hat etwas Entscheidendes zutage gefördert, das ganz offensichtlich in der alten Geschichte vom Mutterinstinkt fehlt: die Zeit. Eine Mutter oder Eltern zu werden, ist ein Prozess. Wer noch nie für eine andere, verletzliche Person gesorgt hat, kann nicht auf eine grundsätzliche Fähigkeit zur Elternschaft zurückgreifen. Man wächst allmählich in die Aufgabe hinein. Das kann ein ebenso schmerzhafter wie wirkmächtiger Prozess sein. Und obendrein ein langfristiger. Die unterschiedlichsten Faktoren beeinflussen seine Entwicklung. Inwieweit würden sich unsere Erwartungen ändern – die wir an uns selbst stellen und woran wir andere messen –, wenn wir diese grundlegende Wahrheit erkennen könnten?

Tatsächlich wissen wir das schon seit langer Zeit. Viele, die diese Veränderungen durchlebten, haben das festgestellt. Feministische Wissenschaftlerinnen erklären bereits seit Generationen, dass eine Menge von dem, was man uns über Mutterschaft erzählt, insbesondere die Vorstellung eines fest verdrahteten, universellen und für die weibliche Identität wesentlichen mütterlichen Instinktes, nicht stimmt. Anfang der 60er-Jahre legten ein einfühlsamer Forscher an der Rutgers University und sein Team eine Arbeit vor, in der sie ihre Untersuchungen zu Hauskatzen dokumentierten und diese Aussagen mit belastbaren Ergebnissen untermauerten.

Jay S. Rosenblatt war eine recht ungewöhnliche Erscheinung, denn er untersuchte im Laufe seiner Karriere nicht nur die komplexe Psychobiologie des mütterlichen Verhaltens bei Säugetieren, sondern war auch als Psychoanalytiker tätig. Außerdem malte er 15 und hatte im Zweiten Weltkrieg als Camoufleur gearbeitet, vielleicht ein Hinweis auf seine Fähigkeit, Verborgenes zu erkennen.

Jahrzehntelang hatten viele seiner Kollegen und die meisten seiner Vorgänger mütterliche Verhaltensmuster über alle Arten hinweg betrachtet – die Neigung, sogar als erstmalige Mütter Nester zu bauen und ihre Jungen zu füttern und zu schützen – und diese als so einheitlich, so typisch für die weiblichen Tiere bewertet, dass es sich ihrer Ansicht nach um ein angeborenes geschlechtliches Merkmal handeln musste. Weibliches Verhalten sei »fraglos angeboren«, 16 erklärte Frank A. Beach Jr., Pionier auf dem Feld der behavioralen Endokrinologie, im Jahr 1937. Diese Sicht sollte lange maßgeblich bleiben. »Forschungen über das mütterliche Verhalten der Ratte haben deren Handlungen ausnahmslos als angeboren klassifiziert.« Angeboren im Gegensatz zu erlernt oder erworben. Ein Teil der Werkseinstellung gewissermaßen.

Auch Neugeborene wurden für eine Weile auf ähnlich statische Weise betrachtet, als Geschöpfe, die heranwachsen und lediglich motorische, aber keine sozialen Fertigkeiten entwickeln, bis sie die Neugeborenen-Phase hinter sich lassen. Die Autoren und Autorinnen einer Studie aus dem Jahr 1950 verfolgten die Entwicklung von Welpen und hielten fest, dass die Fähigkeit der Hunde, in den ersten Lebenswochen etwas zu erlernen, »extrem begrenzt« sein müsse. 17 Der Mensch sei ähnlich beschaffen, befanden sie. Zu Beginn eines neuen Lebens, so die Überzeugung, schienen Mutter und Kind hauptsächlich instinktiv zu handeln.

Instinkt ist seit jeher ein recht unscharfer Begriff und galt generell als eines der Verhaltensmuster, das alle Mitglieder einer Spezies ohne vorheriges Erlernen auf nahezu dieselbe Art und Weise ausführen, etwa die Migrationsflüge der Zugvögel oder die besondere Rolle jeder einzelnen Biene beim Bau des Bienenstockes. Psychologen, die im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert mit einer Theorie des Instinkts aufwarteten, waren sich bei der Begriffsdefinition des Instinkts und über dessen Wirkungsweise häufig uneins. In den frühen 50er-Jahren wurde durch den österreichischen Ethologen Konrad Lorenz und andere die Vorstellung populär, dass artentypische Verhaltensmuster auf ererbte, maschinenähnliche Mechanismen des zentralen Nervensystems zurückgehen. Von Lorenz stammt die berühmte Beschreibung des Prozesses der Prägung, bei dem das gerade geschlüpfte Küken bestimmter Vogelarten sich eng an das erste Lebewesen oder Objekt anschließt, das sich bewegt. Lorenz’ Beobachtungen der Vögel, die sich auf ihn prägten, schufen die Grundlagen seiner Instinkttheorien der gesamten Lebensspanne und insbesondere die Verbindung zwischen Müttern und ihren Babys.

Nach Lorenz’ Überzeugung geht Instinktverhalten 18 auf ererbte Impulse zurück; diese wiederum werden in bestimmten Hirnarealen aufgebaut, wo ein Schlüsselreiz eine bestimmte Handlungsantwort auslöst. Die Wissenschaftshistorikerin Marga Vicedo setzt sich in ihrem Buch The Nature & Nurture of Love mit Lorenz und den von ihm beeinflussten Psychologen und Psychoanalytikern auseinander und zeigt, dass Lorenz häufig auf eine eingängige Analogie von Schloss und Schlüssel zurückgriff, um angeborenes Verhalten und die jeweiligen Schlüsselreize, die es in Gang setzen, zu beschreiben. »Die Form des Schlüssels«, schrieb er, »ist vorherbestimmt.« Lorenz sah das instinktive Verhalten von Müttern und Babys als ein komplexes System solcher Schlösser und eines großen Schlüsselbundes mit Auslösereizen, die vor langer Zeit geschmiedet wurden.

Lorenz’ Werk und sein Schreiben waren in vieler Hinsicht für die artenübergreifende Verhaltensforschung relevant. Mit zwei anderen Verhaltensforschern 19 erhielt er 1973 den Nobelpreis für ihre Arbeit über Prägung und das umfassendere Thema, inwieweit genetische Anlagen das Verhalten bestimmen. Einige Fachkollegen hielten die Auszeichnung für fragwürdig, 20 da Lorenz im Jahr 1938 bekanntlich der NSDAP beigetreten war – eine Entscheidung, die er später nach eigenem Bekunden bedauerte. Damals hatte er mit seinen Verhaltenstheorien auch die Vorstellung der Rassenreinheit eines Staates unterstützt und sich gegen die Ausbreitung von »sozial minderwertigem Menschenmaterial« ausgesprochen. Dennoch wird er in der gesamten modernen Fachliteratur über das elterliche Gehirn zitiert; zum einen wegen seiner grundlegenden Arbeit, wie soziale Bindungen biologisch verankert sind, und zum anderen wegen seiner populären Theorie über das Kindchenschema, wonach bestimmte Gesichtszüge als Schlüsselreiz im Gehirn der Eltern wirken.

Lorenz legte nahe, 21 dass äußerliche Merkmale des Kleinkindes – großer Kopf, runde Wangen, unbeholfene Bewegungen und ein gestauchter Körper, der einem »schlaffen Fußball« ähnelt – ein instinktives Verhalten auslösen. Insbesondere Frauen neigen dazu, das Baby schützend in den Arm zu nehmen, eine liebevolle Reaktion, die auch Lorenz’ eigene Tochter bei einer niedlichen Puppe zeigte. Neue und sorgfältigere Forschungen bekräftigen die Annahme, niedliches Aussehen könne mächtige und messbare Aktivitäten im menschlichen Gehirn auslösen, wenngleich sich diese Zuordnungen glücklicherweise etwas anders gestalten und nicht mehr der gesellschaftlichen Vorstellung zugrunde liegen, Puppen bedeuteten für Mädchen automatisch das Gleiche wie Babys für Frauen.

Lorenz’ strenge Definition des Begriffes Instinkt, wonach dieser vom Kontext der Lebensumstände und Umwelt einer Person und deren Erfahrung getrennt und in ein Individuum eingebaut ist wie ein Organ, hatte für Mütter äußerst nachteilige Auswirkungen. Mit seiner Arbeit zog Lorenz das Publikum in seinen Bann. Da stand er, mit bloßem Oberkörper 22 , in einem Teich und plauderte mit seinen Junggänsen, und darüber prangte die Schlagzeile der Zeitschrift Life von 1955: »Die adoptierte Gänsemutter«. Er fand auch viel Anklang unter den Spezialisten für kindliche Entwicklung, 23 die in seinen Theorien ihre eigenen Vorstellungen in Bezug auf das Fürsorge- und Bindungsverhalten zwischen menschlichen Müttern und ihren Babys bestätigt sahen. Vicedo hält fest, wie Lorenz im Laufe seiner Karriere immer kühner wurde, und das obwohl (oder weil) die Kritik vonseiten seiner Fachkollegen aus der zoologischen Verhaltensforschung lauter wurde. Während er zunächst nur davon sprach, es sei wahrscheinlich, dass jene Art der mechanischen Prägung, die er bei Gänsen beobachtet hatte, auch bei menschlichen Kindern stattfinde, stellte er diese Annahme später als Fakt dar. Und wer ihn nicht beachtete, besiegelte den Untergang der Menschheit. Mütter verbrächten zu wenig Zeit mit ihren Babys, 24 so Lorenz, und zerstörten damit »erblich bedingtes Sozialverhalten«. Folgerichtig äußerte er gegenüber der New York Times, 25 die »Fähigkeit, persönliche Bindungen einzugehen, verkümmere« und Gewalt und Verbrechen nähmen innerhalb der Gesellschaft zu. Aus Lorenz’ Sicht müssen Mütter in Übereinstimmung mit ihren ererbten Instinkten handeln, oder sie setzen die Zukunft unserer Spezies aufs Spiel.

Inzwischen hat die Wissenschaft dieser Annahme eine Abfuhr erteilt. Da wir das Gehirn heute als ein komplexes Netzwerk aus Reaktionen begreifen, die auch durch unsere gelebte Erfahrung und unser physisches und soziales Umfeld bestimmt werden, lässt sich eine so stark vereinfachende Vorstellung von einer Energie, die sich gleichsam in einem bestimmten Hirnareal aufbaut und nur auf einen spezifischen Auslöser wartet, nicht länger halten. Dennoch haben viele von Lorenz’ Vorstellungen über einen genetisch bestimmten Mutterinstinkt die Zeit überdauert.

Werdende Eltern erwarten häufig, dass sie in den ersten Augenblicken mit dem Neugeborenen ein überwältigendes Gefühl der Zuneigung und Wärme verspüren und der Anblick des Gesichts ihres Kindes sofortige und innige Liebe in ihnen auslöst, wie man es ihnen während der Schwangerschaft immer erzählt hat. Viele von uns sind entsprechend verwirrt, wenn sich andere Gefühle einstellen. Trauer und Betroffenheit. Oder sie haben ambivalente Gefühle. Liebe und Angst. Freude und Bedrohung. Wenn etwas während der Schwangerschaft oder nach der Geburt unseres Kindes schiefläuft und es Komplikationen oder andere Stressfaktoren gibt – etwa eine schwierige Partnerschaft, finanzielle Sorgen oder eine globale Pandemie –, dann können diese unsere nachgeburtlichen Erfahrungen auf unvorhersehbare Weise beeinflussen und uns vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt glauben lassen, versagt zu haben. Lorenz’ Stimme hallt in allen quälenden Diskussionen darüber nach, wie wir Kinderfürsorge und Karriere miteinander vereinbaren können. Und sie ist ebenfalls hörbar, wenn wir erfolglos versuchen, unser weinendes Neugeborenes in den frühen, desolaten Morgenstunden zu trösten, und uns fragen, was mit uns oder mit unserem Baby oder mit unserer Bindung nicht stimmt. Warum nur passt der Schlüssel nicht ins Schloss?

Jay Rosenblatt hatte andere Ansichten. Er war beeinflusst von dem Tierpsychologen T.C. Schneirla, der Lorenz in seinen Vorstellungen über angeborene Eigenschaften und Instinkte widersprach. Schneirla glaubte vielmehr an eine individuelle Entwicklung des Einzelnen, die schon in den frühesten Stadien des Lebens nicht nur davon beherrscht wird, was einige als genetisch vorbestimmte physische Reifeprozesse ansahen, sondern auch von der gesamten Erfahrung des jeweiligen Individuums, und zwar im weitesten Sinne. 26 Entwicklung, so Schneirla, findet durch den Einfluss einer Lebensphase auf die nächste statt und indem eine Anzahl unterschiedlicher Stimuli, genetische Einflüsse und umweltbedingte Faktoren eingeschlossen, »untrennbar miteinander verschmilzt«. Heute gehen wir grundsätzlich davon aus: Die Komplexität des jeweiligen Umfeldes beeinflusst die Genexpression. Ein bestimmtes Set von Genen, ein Genotyp, kann daher je nach Kontext zu unterschiedlichen charakteristischen Eigenschaften, Verhaltensmustern oder Phänotypen führen.

Um diese Theorie zu bestätigen, müsste es demnach zutreffen, dass selbst nur wenige Tage alte Säugetiere in bedeutungsvoller Weise auf ihr Umfeld reagieren. Gemeinsam mit einem Kollegen untersuchten Rosenblatt und Schneirla das Verhalten neugeborener Kätzchen und dokumentierten ihre ganz normalen effizienten Säuge- und Entwöhnungsmuster. 27 Anschließend führten sie eine Studie durch, in der sie einige Kätzchen für eine bestimmte Zeit von ihrem Wurf isolierten; sie brachten die Jungtiere in ein Gehege mit einer Art künstlicher Mutter – eine Brutmaschine mit einer flauschigen Plattform, an der sie saugen konnten. Die in den ersten Lebenswochen isolierten Jungtiere gewöhnten sich problemlos an den Brüter, hatten dann aber, sobald sie zum Wurf zurückkehrten, Schwierigkeiten, sich an der Mutter zu orientieren und ihre Zitzen zu finden. Kätzchen, die bei dieser Isolierungsphase etwas älter waren, hatten dagegen weniger Schwierigkeiten, die Mutter ausfindig zu machen, saugten dann allerdings an ihrem ganzen Körper und sogar an ihrem Gesicht, um die Milchquelle zu finden. Diejenigen, die man erst nach fünf Wochen isolierte, hatten wiederum andere Anpassungsschwierigkeiten, sobald sie zur Mutter zurückkehrten.

Während ihrer Isolierung war die Katzenmutter mobiler geworden, und die anderen Kätzchen hatten beim Füttern eine größere Eigeninitiative entwickelt. Für die zurückgekehrten Kätzchen war es nicht einfach mitzuhalten. Weil sie nicht da waren, hatten sie sich den veränderten Gewohnheiten nicht anpassen können. In der Isolation hatten die Kätzchen versäumt zu lernen, wie man in einer Gruppe und von einer lebenden, schnurrenden Mutterkatze trinkt, deren Fellzeichnung, Gerüche und sanftes Schubsen ihnen bei der Orientierung geholfen hätte. Sie hatten sich nicht in typischer Weise entwickeln können, nämlich nach und nach und in Resonanz auf ihre Umwelt, gemeinsam mit den anderen Kätzchen.

Rosenblatts Arbeit über Jungkatzen beeinflusste auch seinen Blick auf Tiermütter: Er betrachtete sie nicht als eine Art unverrückbaren Pfeiler, um den die heranwachsenden Jungen kreisten, sondern vielmehr als Organismus, der sich im Zusammenspiel mit dem Wurf entwickelte und veränderte. Im Jahr 1958 schloss sich Rosenblatt dem Institute of Animal Behavior der Rutgers University an, gegründet von Daniel Lehrman. Einige Jahre zuvor, als Lorenz in den Vereinigten Staaten zunehmend populär wurde, hatte Lehrman eine prägnante Analyse veröffentlicht und darin viele Schlussfolgerungen Lorenz’ in Bezug auf das menschliche Verhalten als »schlichtweg oberflächlich« bezeichnet. 28 Rosenblatt und Lehrman führten eine Reihe von Studien mit Laborratten durch und entwickelten auf dieser Basis eine neue Theorie über mütterliche Verhaltensmuster, die Lorenz widersprach.

Bevor eine Laborratte trächtig wird, zeigt sie sich im Allgemeinen Jungtieren gegenüber eher abgeneigt. Sobald sie jedoch selbst Junge wirft, verändert sich ihr Verhalten. Sie zeigt eine Reihe von Verhaltensweisen, die für alle Rattenarten typisch sind. Sie baut ein Nest. Sie leckt die Jungen ab und legt sich über sie, damit sie säugen können. Findet sie eines außerhalb des Nestes, holt sie es wieder zurück. Diese neuen Verhaltensmuster zeigen sich unmittelbar nach der Geburt. Rosenblatt und Lehrman stellten jedoch fest, dass diese mütterlichen Verhaltensmuster sehr schnell verschwanden, wenn sie den Wurf direkt nach der Geburt aus dem Nest nahmen. Selbst wenn den Müttern nach einer Weile ein anderer Wurf zur Aufzucht gegeben wurde, waren sie mehrheitlich nicht mehr dazu in der Lage. 29 Die schwangerschaftsbedingten hormonellen und physiologischen Veränderungen lösten das mütterliche Verhalten aus, aber um es aufrechtzuerhalten, »ist die Präsenz des Wurfes unbedingt erforderlich«, schrieben Rosenblatt und Lehrman 1963 in einem Kapitel, das in ihrem Forschungsfeld bald als bahnbrechend angesehen wurde. 30 In anderen Worten: Die Geburt brachte die Dinge ins Rollen. Die Mutter entwickelte sich, indem sie mit ihren Jungen interagierte. Dafür war Zeit nötig.

Rosenblatt und Lehrman konnten auf vielen Ebenen nachweisen, dass das Verhalten von Müttern und Jungen nicht starr, sondern flexibel ist. Das mütterliche Verhalten änderte sich, wenn die Jungen zu einem bestimmten Zeitpunkt der nachgeburtlichen Phase aus dem Nest entfernt oder der Wurf einer Rattenmutter mit einem fremden Wurf, der Jungtiere eines anderen Alters umfasste, ausgetauscht wurde. Wurden ältere Jungtiere dagegen in die Obhut einer neuen Rattenmutter gegeben, schenkte diese ihnen deutlich mehr Fürsorge, als sie es in ihrem Alter brauchten, was wiederum die Entwicklung der jungen Ratten verlangsamte. Eine Mutterratte, so die Erkenntnis, war kein starres Schloss, in dem ein Schlüssel umgedreht wurde. Sie wuchs und wandelte sich ebenfalls.

1967 veröffentlichte Rosenblatt Ergebnisse, die populäre Vorstellungen der Mutterschaft weiter erschütterten. 31 Sozusagen per Zufall fanden er und seine Kollegen am Institute of Animal Behavior heraus, dass jungfräuliche weibliche Ratten sich dann um einen Wurf kümmerten, wenn sie eine Zeit mit den Jungtieren zusammenlebten. 32 Nach zehn oder mehr Tagen mit dem Wurf waren beinahe alle von ihnen mit dem Nestbau beschäftigt und legten sich, wie zum Säugen, über den Wurf, obwohl sie natürlich keine Milch produzierten. Männliche Ratten, die sich außerhalb des Labors normalerweise nicht um den Nachwuchs kümmerten, verhielten sich ähnlich. Nach einiger Zeit mit den Jungtieren fingen auch die männlichen Ratten in fast genau dem gleichen Maß wie die Weibchen an, die Jungen zu lecken, sie ins Nest zurückzuholen oder sich zum Säugen über den Wurf zu legen.

Selbstverständlich beschleunigen die hormonellen Veränderungen in Mutterratten während der Schwangerschaft die Entwicklung mütterlichen Verhaltens. Aber das gleiche Verhalten kann sich auch ohne Hormonveränderung und geschlechtsunabhängig einstellen. »Mütterliches Verhalten«, schrieb Rosenblatt, »ist demnach eine grundsätzliche, charakteristische Eigenschaft der Ratte.« 33 Und damit nicht nur der weiblichen Ratte allein vorbehalten.

Zwischen menschlichen Eltern und Laborratteneltern bestehen signifikante Unterschiede. Beiden Gehirnen gemeinsam sind eine Säugetierarchitektur und die gleichen Grundbausteine, 34 aber sie unterscheiden sich dennoch erheblich. So ist die menschliche Großhirnrinde (Cortex cerebri) vielfach und auf komplexe Weise gefaltet, die der Ratte dagegen glatt. Nager orientieren sich vor allem durch ihren ausgeprägten Geruchssinn; sie besitzen einen stark vergrößerten Riechkolben (Bulbus olfactorius), der beim Menschen verhältnismäßig klein ist. Das mütterliche Verhalten der Laborratte spielt sich in vorhersehbaren Mustern ab, wobei das Lecken eine besonders wichtige Rolle spielt, bis es etwa vier Wochen nach der Geburt abrupt eingestellt wird. Ratten können in einem Jahr eine Vielzahl von Schwangerschaftszyklen und Würfen durchlaufen. Mütterliches Verhalten beim Menschen hingegen erstreckt sich über Jahre oder häufig sogar Jahrzehnte und bringt es oft mit sich, dass sich Eltern gleichzeitig um Kinder unterschiedlicher Altersstufen mit jeweils sehr unterschiedlichen Bedürfnissen kümmern. Menschliche Elternschaft ist bemerkenswert vielgestaltig, von Familie zu Familie, von einer Generation zur nächsten, und beeinflusst von zahllosen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren. Von den Untersuchungsergebnissen Rosenblatts bei Laborratten auf direkte Wechselwirkungen mit dem menschlichen Verhalten zu schließen, hieße, Lorenz’ Trugschlüsse unter anderen Vorzeichen zu wiederholen.

Dennoch haben sich die Grundprinzipien, wie sie Rosenblatt und Kollegen zuerst in den frühen 60er-Jahren vorstellten, über Jahrzehnte hinweg in der Forschung bewährt, und zwar so weitgehend, dass viele ihn heute als den »Vater der Mutterschaftsforschung« 35 betrachten, sowohl wegen seiner bahnbrechenden Arbeit als auch wegen seiner Fähigkeiten in der Lehre. So gut wie jede größere schriftliche Arbeit der vergangenen 30 Jahre über das menschliche elterliche Gehirn geht auf Studierende von Rosenblatt oder deren Studenten und Studentinnen zurück. Ihre Arbeiten bestätigen die Vorstellung, 36 dass alle Säugetiermütter sehr ähnliche physiologische Veränderungen im Laufe der Schwangerschaft, der Geburtswehen, der Geburt und des Stillens erleben und dass die Hormone, die diese Vorgänge antreiben, auch Priming-Prozesse im Gehirn auslösen, die zeitweilig dafür sorgen, dass Mütter ihren ...

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