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Nordlicht, Band 01

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Ausgerechnet Island - Schnee, Eis und Kälte! Die 15-jährige Elin ist alles andere als begeistert, als sie mit ihrer Mutter nach Island reisen muss. Und dann ist auch noch ein Ausritt auf Islandpferden geplant! Dabei ist für Elin eigentlich ganz klar: Pferde und Reiten, das war mal! Doch als sie auf Island ankommt, spürt sie sofort eine besondere, geheimnisvolle Verbindung zu der Insel, die sie zunächst nicht deuten kann. Und diese Verbindung wird stärker, als sie einen Ausritt unternehmen und auf Kári und eine Herde Wildpferde treffen …
Ein wunderschönes Pferdeabenteuer im Land der Elfen, Feen und Trolle mit einem Hauch Romantik!


  • Erscheinungstag: 01.03.2018
  • Seitenanzahl: 224
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Klappenbroschur
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505141263

Leseprobe


Karin Müller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Prolog

»Alles hier ist beseelt. Jeder Stein, jeder Strauch. Die Berge atmen. Feuer und Eis. Wo die Haut der Erde so dünn ist wie hier, da sind viele Grenzen fließend. Der Wind trägt ihre Lieder mit sich fort. Aber du kannst sie singen hören. Oder? Elin? Wenn du es nicht schaffst, wer dann?«

Der rot geränderte, wässrige Blick der alten Frau beginnt sich um mich zu weben, zu drehen und zu wirbeln. Ich werde fortge rissen in einem tosenden Strudel.

Ein Feuersturm. Salzig und heiß.

Der nächste Fieberschub überrollt mich wie eine Lawine.

Heiß.

Kalt.

Dann ist da Nichts.

Dunkelheit umhüllt mich.

Lange.

Viel zu lange.

Ich zittere. Friere. Alles an mir schmerzt.

Ich weiß, wenn ich jetzt aufgebe, ist alles verloren. Aber was? Ich kann mich nicht erinnern.

Sollte dann alles umsonst gewesen sein? Bin ich zu spät?

Zitternd fingere ich nach einem Streichholz in der Tasche meines Parkas.

In diesem ersten Schwefelfunken sehe ich froschköniggrüne Augen.

Ich höre ein Pferd wiehern. Höre ihn rufen.

Er ist mir vertraut, aber wer ist er?

Dann legen sich warme Hände um meinen Hals.

Ich wache schweißgebadet auf.

Jedes Mal wieder.

Und ich kann mich erst beruhigen, wenn ich den Kettenanhänger zwischen meinen Fingern fühle.

Er schimmert milchig grün.

Als hätte er ein geheimnisvolles Licht in seinem Inneren.

Ein Nordlicht.

1. Steine sind okay

Ich verziehe die Mundwinkel. Dann strecke ich meinem Smartphone die Zunge heraus, schmiege mein Gesicht an die schmale, schwarz-grün lackierte Dose und mache einen Schnappschuss von uns beiden. Das neue Traumpaar! Ich stelle die einzeln verpackte Spreewaldgurke zurück. Mein Blick gleitet suchend über das Regal. Mom steht an der Kasse. Mit irgendeiner Zeitschrift und Kaugummis. Wir haben noch Zeit. Ich husche mit den Fingern über das Display meines Handys. #Sauregurkenzeit #imdutyfree tippe ich als Bildunterschrift in meinen Insta-Account. Und: #Icelandsucks.

Eine Sekunde später die erste Reaktion von Mara: der tränenlachende Smiley, daneben der Affe, der sich die Augen zuhält, und darunter:

 

ra.Ma.: Stell dich nicht so an, Elin. Du bist noch nicht mal da. Gib deiner Mom ne Chance (Küsschensmiley)

Ich schicke den grün kotzenden Smiley hinterher und den Haufen Scheiße mit Augen.

Im Ernst: Kann man sich ’ne beknacktere Idee vorstellen, als in den Zeugnisferien fünf Tage nach Island zu fliegen? Im Winter??? Mom hat eine Riesenüberraschungsshow abgezogen. Ganz geheim, zum Geburtstag, weit, weit weg, tralalala. Alles, was ich in den Ferien tun will, ist ausschlafen und meine Ruhe haben. Und ganz bestimmt nicht in ein winziges dunkles Land kurz vorm Nordpol fahren, welches das #Eis schon im Namen hat!

Ich beobachte die zierliche blonde Frau in Jeans und Parka, die mir von der Kasse aus hysterisch zuwinkt, und muss gegen meinen Willen lächeln. An der Waschmaschine vor zwei Tagen hat sie sich verplappert: »Du willst doch nicht etwa diese dünne Hose mitnehmen nach Island!« Wir erstarren beide. Sie steht mit dem Rücken zu mir. Pause. »Also … ich meine … in Berlin ist es grade so kalt wie in Island.« Sie lächelt lahm.

Ziemlich lahm, finde ich. Aber ich spiele mit. Berlin hatte sie mir immerhin verraten. Irgendwas in mir hofft, dass ich mich verhört habe. Wenn ich schon nicht ausschlafen kann, dann doch bitte wenigstens shoppen in unser aller Hauptstadt. In Deutschland ist es kalt genug. Aber Fehlanzeige. Von Berlin kriege ich nur den Flughafen und einen Duty-Free-Laden mit sauren Gurken zu sehen. »Ich hab nichts anzuziehen«, maule ich.

Sie dreht sich zu mir und lächelt dieses nervig verschmitzte Mütterlächeln. »Das werden wir ändern. Versprochen, Schatz.«

Kack-Idee. Zumal wir nur mit Handgepäck fliegen, war günstiger. Genau wie Berlin als Abflughafen. Dabei wäre Hamburg viel näher gewesen.

Unser Flug wird aufgerufen. Missmutig trotte ich hinter Mom her zum Check-in. Mom ist Spezialistin für kleine Koffer, und bisher haben wir es noch auf jeder Reise geschafft, ohne nennens wertes Shoppingergebnis – sprich: anständiges Übergepäck – wieder nach Hause zu fahren. London, Paris, Rom, Stockholm … dieses Reykjavik wird keine Ausnahme bilden. Aber ich sage nichts.

Noch nicht.

Ich bin müde.

Ausgerechnet Island. Früher wäre das was für mich gewesen. Früher!

Aber jetzt? Was soll ich da? Und superteuer soll es dort auch sein.

Wir sitzen im Flieger. Die Maschine ist nur halb voll. Kein Wunder, denke ich mir. Mom reicht mir einen Kaugummi gegen den Ohrendruck beim Start. Ich schalte mein Handy auf Flugmodus, stöpsele meine Kopfhörer ein und stelle meine Playlist auf Shuffle.

Irgendwann ruckelt Mom an meinem Arm.

»Was?«, frage ich und lege den kleinen Reiseführer beiseite, den ich vor lauter Langeweile überflogen habe.

»Schau mal raus. Wir landen gleich. Ist die Landschaft nicht wunderbar?« Sie zeigt aus dem kleinen, dick verglasten Fenster. Ich beuge mich möglichst umständlich über sie und erspähe weit unten Schnee und Eis, dazwischen zerklüftete Felsen und drum herum das Meer. »Wahnsinn«, rutscht es mir heraus, und das klingt nicht so sarkastisch, wie ich es gern hätte.

Ich habe nur einen Trailer von Game of Thrones gesehen. Ist auf Island gedreht worden. Rick, der in Englisch neben mir sitzt, hat mir haarklein erzählt, wie jemand einen von diesen Schattenwölfen und ein Pferd getötet hat. Mir ist sofort schlecht geworden. Wieso gucken Leute sich so was an? Staffelweise? Hat ihm irre Freude bereitet, mir die Einzelheiten auszumalen. »Ist doch bloß ein Film, Schnittlauch. Was bist du nur für ein Sensibelchen?! Alles Ketchup! Hat dir deine Mama das nicht erklärt?« Mara hat ihn für mich vors Schienbein getreten. Ich kann es nicht leiden, wenn die Jungs mich Schnittlauch nennen. Aber aus Trotz habe ich mir damals die Haare noch mal nachgefärbt. Jetzt wächst das Grün langsam raus und verblasst.

Wir setzen zur Landung an, und ich habe Tränen in den Augen. Wegen eines computeranimierten Viehs, das ich nur zwei Sekunden in einem völlig verwackelten Filmausschnitt gesehen habe? Quatsch. Weil ich noch viermal nicht ausschlafen kann und dann wieder in die Schule muss! Und weil irgendwas von dieser eisigen Insel da unten ausgeht, das ich nicht verstehe. Für einen winzigen Moment habe ich den unverwechselbaren Geruch eines Pferdes in der Nase. Einen Duft, der längst verflogen sein müsste, obwohl er sich in mein Herz gebrannt hat.

Mir entfährt ein Geräusch, das meine Mutter offenbar als Seufzer interpretiert. »Hab ich doch gleich gesagt«, sagt sie zufrieden, bietet mir einen neuen Kaugummi an und lässt sich in ihren Sitz zurückfallen. »Island ist jetzt genau richtig.«

Eisig ist es. Was habe ich denn auch anderes erwartet in diesem Land? Nichts! Ich ziehe meinen orange-blauen Kuschelschal so hoch aus dem Kragen meines Parkas, dass er eine komplette Einheit mit Mütze und Jacke bildet, und warte. Wenn ich jetzt versuchen würde, meine Zehen in den Stiefeln zu krümmen, würden sie abbrechen und bei jedem Schritt als kleine Eiswürfel darin herumklirren. Abgefroren. Wie gut, dass ich nie in Betracht gezogen habe, Primaballerina zu werden. Das wäre es dann bereits mit der Karriere. Aus und vorbei. Im hohen Norden an den Winter verloren.

Mein Herz schlägt glücklicherweise eher für Pferde. Schlug, korrigiere ich mich. Reiten kann man auch mit abgefrorenen Zehen. Will ich aber gar nicht mehr. Das ist abgehakt. Niemand von meinen Freundinnen reitet noch. Aus dem Alter sind wir raus.

Ich stehe hinter einem verglasten Windschutz. Das ist der Warte bereich für die Transferbusse vor dem Flughafengebäude. Mom hat so ein Kurztrip-Island-Pauschal-Schnäppchen-Paket für uns erstanden. Mit Walbeobachtung und Nordlichter-Tour. Nur der Transfer zum Hotel war leider nicht mit drin. Den organisiert sie jetzt gerade, und das dauert anscheinend etwas länger.

Ob auf Island Koffer geklaut werden? Ich betrachte unser spärli ches Gepäck zu meinen gefrosteten Füßen. Zwei Köfferchen in Kabinenmaßen, dazu mein Rucksack und Moms Laptoptasche. Sie kann nicht ohne. Aber das ist ein anderes Thema. Ich atme tief durch und bereue es sofort. Selbst durch zwei Schals hindurch habe ich das Gefühl, meine Bronchien überziehen sich mit Reif. Außer mir ist niemand so blöd, hier draußen herumzustehen. Also wird auch keiner was stehlen.

In einiger Entfernung sind ein paar Flughafenmitarbeiter mit dem Umladen von Sperrgepäck auf Rollwagen beschäftigt. Die wollen mit Sicherheit nicht noch mehr schleppen. Ich sehe mich um. Plattes Land, dazwischen Schneeverwehungen und Felsen und dann wieder: Weite. Eigentlich müsste man von hier das Meer sehen können. Meer mag ich. Auch auf Island.

Ich schenke unserem Zeug einen grimmigen Blick, so als wollte ich ihm einschärfen, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Dann schlittere ich vorsichtig über den Asphalt auf die andere Straßenseite. Ein Stück weiter hört der Begrenzungszaun auf. Von da geht der Blick über Felder. Oder sind es Wiesen? Unter dem Schnee kann man das allenfalls vermuten.

Schön sieht das aus hier draußen. Magisch irgendwie. Menschen leere Weite. Wie geschaffen für … Ich bilde mir das Trommeln von unzähligen Hufen ein und wische schnell den Gedanken weg. Wo war ich? Pflanzen. Ich schätze, hier ist es viel zu kalt, um außer halb von Gewächshäusern etwas anderes als Eisblumen anzubauen. Essen die hier oben nicht ohnehin nur Gammelhai und Knäckebrot? Ich zerre mein Smartphone aus der Jackentasche und nehme ein Video von der Umgebung auf. Zu blöd, dass man dafür die Handschuhe ausziehen muss.

Und dann entdecke ich sie.

Die plüschigen Hintern in den Wind gedreht, scharren sie mit kleinen Hufen die Schneedecke auf, um etwas zu knabbern zu finden: eine Gruppe waschechter Islandpferde.

Natürlich bleibt mein Blick an ihnen kleben. Ich bilde mir ein, dass sie mich ebenso neugierig betrachten. Mein Herz sticht wieder. Wie vorhin im Flugzeug. Ich spüre, wie es gegen die Schichten aus Pullover, Schal und Jacke klopft, als ob es rauswill. Aber ich lasse es nicht hinaus. Ich zwinge mich, den Blick zu lösen und mich abzuwenden. Mein Herz soll gefälligst bleiben, wo es ist. Und bloß die Klappe halten.

Ein paar Meter vor mir hat sich offenbar jemand die Mühe gemacht, ein paar Feldsteine zu einem mannshohen Turm aufzuschichten. Da will ich näher ran. Sieht beeindruckend aus. Vielleicht hat der Erbauer auch auf seinen Transferbus gewartet? Jedenfalls war seine Aktion bestimmt gut gegen drohendes Erfrieren. Ich mache noch ein paar Bilder und stecke das Handy wieder ein. Scheiß auf die Nachwelt, mir sterben die Finger ab, schnell wieder die Handschuhe anziehen.

Mit der Stiefelspitze taste ich über etwas direkt vor mir, das aussieht wie ein Maulwurfshügel im Schlafrock. Ich könnte ja ein bisschen weiterbauen, solange Mom den Bus organisiert und ihr einziges Kind der polaren Kälte aussetzt. Das würde mich vielleicht auch von diesem komischen Kloß im Hals ablenken.

Ich bücke mich nach dem angefrorenen Felsbrocken. Sitzt bombenfest. Also rücke ich meine Mütze zurecht und trete mit den Füßen gegen den widerspenstigen Stein. Frust soll man rauslassen. Und Wut. Von links und von rechts, immer mit den Innen kanten, dann wieder Hacke und Spitze. Einen für die Kälte. Einen fürs verpasste Shoppen in Berlin. Einen für die versauten Ferien. Einen für … ach, egal. Ganz schön anstrengend. Meine Nase läuft. Endlich löst sich das wehrhafte Ding. Triumphierend schnaufend wuchte ich den Stein auf den Haufen zu den anderen. Klock.

Gut, dass ich meine dicken alten Handschuhe mitgenommen habe. Das macht Spaß. Ich lege den nächsten Stein frei und fange von vorn an. Hacke, Spitze, innen, außen, links und rechts. Ich schnüffele. Meine Füße schmerzen. Jetzt sind die Zehen ganz sicher ab. Was soll’s! Mit dem Handschuhrücken fahre ich unter dem gefühllosen Eiszapfen lang, der mal meine Nase gewesen sein muss.

Wo bleibt Mom eigentlich? Wenn sie noch lange braucht, ende ich wie die Sphinx. Kam die Eiszeit eigentlich bis Ägypten? Das wäre ja mal eine plausible Erklärung für die nasenlose Löwen dame.

Ich brauche ein Taschentuch. So viel Schnodder kann man gar nicht hochziehen.

Dann fahre ich zusammen. Ich höre ein Pferd schnauben. Ganz dicht. Und als ich mich umdrehe, ist die ganze Gruppe dieser eisbezapften Zotteltiere näher gekommen. Fünf sind es. Die Farben sind schwer auszumachen, weil ihr üppiges Winterfell mit Schnee und Eisklumpen behangen ist. Schattierungen von Braun, Mausfalben, vielleicht gescheckt. Eins steht dichter bei mir als die anderen. Bestaunt mich. Zögernd. Zurückhaltend. Kommt dann noch ein paar vorsichtige Tritte näher. Seine silbrige Mähne wird vom Wind aufgebauscht und verwuschelt. Es lahmt ein wenig und schnaubt mich noch mal an. Dabei nickt es leicht mit dem Kopf.

So wie Sahara das immer getan hat.

Sahara.

Mein Herz zieht sich zusammen. Der hinterhältige Kloß ist wieder da. Stärker als vorhin.

Ich strecke unwillkürlich die Hand in Richtung der unbekannten Nüstern aus. Halte sie zum Schnuppern hin und senke meinen Kopf ein wenig. Das fremde Pony folgt der Einladung. Vorsichtig. Es schont das linke Vorderbein. Seine Barthaare sind von einer feinen Eisschicht überzogen. Ich spüre die Wärme seines feuchten Atems.

Das Pferd ist nicht mausfalben, wie ich zuerst dachte, sondern windfarben. Seine Mähne unter der Eiskruste hat einen sanften Silberglanz, fast wie Mondschein. Das dichte Fell trägt die bräunlich graue Farbe von Lava im Abendlicht.

Ohne nachzudenken, ziehe ich den Handschuh aus und streife sacht an dem verletzten Bein hinab. Es kommt mir warm vor und die Sehnen geschwollen und schmerzhaft. Ich ertaste eine Wunde, aber die scheint schon älter zu sein. Wir sind ganz selbstverständlich miteinander. Die nötigen Handgriffe laufen vollautomatisch ab. Ich greife in den steif gefrorenen Behang und hebe den Fuß. Das Tier verlagert sein Gewicht und gibt ihn mir bereitwillig. Behutsam kratze ich mit meinem zusammenklappbaren Hufkratzer daran herum. Der hängt noch von früher an meinem Schlüsselbund.

Außer Eis entdecke ich nichts, was stören könnte. Ich stelle das Bein wieder ab und gleite zum Vergleich über die Muskeln und Sehnen des anderen. Das fühlt sich kühl und klar an, so wie es sein sollte. »Was machen wir denn mit dir …?« Mein Blick verweilt kurz zwischen den Hinterbeinen. »… meine Schöne!« Eine Stute also. Mit warmem Atem beschnuppert sie meine Mütze, mein Haar, prüft mit den Lippen den Geschmack meiner Haut. Mein Herz sticht. Mein Körper erinnert sich. Wie sie mich ertastet, genau wie Sahara. Warum vertraut mir dieses fremde Pony?

Ich versuche, den Schmerz zu ignorieren, ziehe mein Halstuch unter dem Schal hervor, fülle etwas Schnee hinein und wickle das Ganze vorsichtig um das Bein des fremden Pferdes. Es ist mein Lieblingstuch, mit orange-blauen Gitarren drauf. Es ist schwierig, einen Farbton zu finden, der zu meinen komischen blassgrün-auf-dem-Rückweg-zu-rotbraunen Haaren passt. Ich habe mir den Schal auf der letzten Klassenfahrt im Hard Rock Cafe gegönnt. Aber ich habe nichts anderes.

Moment! Mir fällt ein, dass ich die Beinwellsalbe noch irgendwo in den Tiefen meiner Jackentasche haben müsste. Tatsache! Letztlich doch zu was gut, wenn man sich beim Volleyball die Hand verknackst. Das ist vier Wochen her, aber so eine Parkatasche verliert nichts. Die Sicherheits beamten am Flughafen in Berlin haben die Tube gar nicht bemerkt. Hallelujah! Also verteile ich das Zeug großzügig und wickle noch mal neu. »Das sollte dir helfen, bis du zu Hause bist. Du hast doch ein Zuhause, hier irgendwo, oder?«

Ich schaue zu ihr hoch und halte in der Bewegung inne, denn ich starre direkt in ein sehr wütendes Augenpaar, sehr dicht vor meinem Gesicht, das wirklich sehr, sehr aufgebracht ist. Ich verstehe zwar kein Wort von dem, was der aufgerissene Mund unter dem Augenpaar mir ins Gesicht brüllt, aber der Ton hat es in sich.

Er schiebt sich zwischen mich und die Stute, die ein paar zögernde Schritte rückwärts macht. Oder bilde ich mir das Zögern nur ein? Ich löse meinen Blick erst, als die Stute zu ihrer Gruppe zurückstakt. Es fällt mir seltsam schwer, als ob meine Augen wie Füße in Kaugummi kleben würden. Immer noch wie in Trance wende ich mich dem Jungen zu. Seine Stimme summt und sticht in meinem Kopf. Ich bin plötzlich supermüde, und mir ist ein wenig schwindelig. Mein Kreislauf macht das manchmal mit mir.

»Ganz ruhig, Brauner.« Ich verwende den gleichen Singsang wie eben bei der Stute, den gleichen wie bei Sahara früher, wenn sich ein Motorrad zu schnell von hinten genähert hat.

Und es hat ungefähr die gleiche Wirkung: Gegen null gehend. Immerhin holt der komische Typ erst mal Luft, bevor er weiterbölkt. Was will der von mir? Ist er verrückt? Gefährlich? Seine seltsamen Zischlaute, das kehlige Grollen und der wild durchein andergewürfelte Buchstabensalat, das alles klingt nicht grade freundlich. Ich schlucke trocken. Ein bisschen mulmig ist mir schon. Wir sind ganz allein hier draußen.

»Ganz ruhig«, wiederhole ich und zeige ihm meine leeren Handflächen, wie man das bei aufgebrachten Eingeborenen eben so macht.

Der Junge starrt mich ziemlich verblüfft an. Ich kann seine geraden eisweißen Zähne sehen, weil ihm der Kiefer heruntergeklappt ist. Dezent mache ich einen Schritt rückwärts. Bisschen Abstand zu so einem Wikinger in Wallung kann nicht schaden, denke ich mir.

Das verschafft mir immerhin so viel Zeit, dass ich ihn kurz im Ganzen mustern kann. Er trägt ziemlich altmodische, aber funktio nale Kleidung: dicker Wollpulli, Lederhosen, warme Filzstiefel, eine lustige Mütze, unter der blonde Locken hervor quellen. Und wenn er nicht grade brüllt, dass ihm die Halsschlagader anschwillt wie ein Schiffstau, sieht er gar nicht mehr so hässlich aus.

Eigentlich sogar ziemlich hübsch, muss ich zugeben. Lange, schmale Nase, hohe Wangenknochen, leicht schräg stehende froschköniggrüne Augen … ich ertappe mich dabei, dass ich ihn genauso anglotze wie er mich. Das macht mich nervös. Und wenn schon. Ich schiebe mein Kinn vor und drücke die Schultern durch. Hast du noch nie eine Touristin mit Schnoddernase gesehen?

Du kannst mich sehen? Er bewegt die Lippen nicht. Der Satz hallt in meinem Kopf, so leer gefegt ist der. In seiner Mimik kämpfen Entsetzen, totale Überraschung, Bestürzung, Neugier und Panik um den Sieg. Ganz kurz huscht ein Lächeln über sein Gesicht.

Ich erwidere es automatisch, kriege aber nur ein schiefes Grinsen hin. Dann gerate ich leider ins Straucheln. Ich will mich abfangen und greife nach seinem Ärmel. Keine gute Idee. Geradezu panisch schlägt er meinen Arm weg. Wie einen glühenden Feuer werkskörper – und ich lande unsanft mit meinem Hintern auf dem eisigen Boden.

Im nächsten Moment hat er sich auf ein schnee weißes Zottelpony geschwungen und reitet davon. Die kleine Herde folgt ihm, auch die windfarbene Stute, trotz ihres verletzten Beins.

»Ey!«, brülle ich ihm hinterher. Mich umzuschubsen ist eine Sache. Aber bei den Bodenverhältnissen aus dem Stand loszugalop pieren – mein Reitlehrer hätte mich vom Pferd gezogen und unge spitzt in den Hallenboden gerammt.

Maaaaaann, Alter! Der Schimmel und die Konturen seines Reiters verschmelzen als Erstes mit der Schneelandschaft, dann sind auch die anderen Pferde verschwunden. Und mit ihnen mein Lieblingstuch. Gern geschehen! Hauptsache, es hilft.

»Elin! Wo steckst du denn? Der Bus fährt gleich.«

Ich rappele mich auf und laufe mit tauben Zehen und blauen Flecken steifbeinig auf Mom zu, die bestimmt fünfzig Meter entfernt an der Haltestelle steht. Bin ich so weit gegangen? Sie winkt mit unseren Transfertickets. »Los, beeil dich!«

Ich putze mir die Nase und stiere zurück in die Einöde.

»Wieso hast du dich bei dieser Kälte überhaupt hingesetzt? Ich dachte, aus dem Alter wärst du raus!« Mom klopft mir Schnee vom Parka und hängt mir meinen Rucksack um wie einem Kinder gartenkind.

»Das kann ich allein«, maule ich, ignoriere, so gut ich kann, ihre Anspielung über das Rauswachsen aus gewissen Dingen und blicke beim Einsteigen über die Schulter zurück. Zu dem Steinhaufen. »Hast du den Idioten mit seinem Pferd gesehen?«

»Wen?«, fragt Mom und folgt mir mit zusammengekniffenen Augen. »Da ist weit und breit kein Mensch.«

»Doch«, beharre ich. Ich halte auf der zweiten Stufe an und scanne den Horizont ab. »Eben war er noch da. Du musst ihn doch gesehen haben. Ein waschechter Wikingerjunge auf einem Isländer. Also quasi zwei Isländer. Und noch ein paar mehr Pferde. Eins davon hat gelahmt.«

Und das hat jetzt mein Halstuch um. Weg isses. Genau wie der Typ. Einfach abgehauen. Wie dämlich kann man aber auch sein? Geschieht mir ganz recht.

Mom ist damit beschäftigt, unsere Bustickets aus ihrer Handtasche zu wühlen.

Typisch meine Mutter, die kriegt nie was mit, und was sie nicht sieht, gibt’s für sie nicht. Willkommen in meiner Welt!

»Please, get in«, bittet der Busfahrer. Er lächelt mich an. Es gibt also auch nette Menschen hier oben.

Ich löse mich von der Eiswüste und gebe der verführerisch locken den Wärme seines Dieselmotors nach. »Did you see the guy with the horses?«, frage ich ermutigt und zeige in die Richtung, aus der ich grade komme.

Der Fahrer schaut kurz von Moms Fahrscheinen auf, lacht und winkt mich durch. »No horses here, young lady. Forbidden area due to the flight traffic. Only sacred stones. But you will find horses anywhere else. Welcome to Iceland!« Sein Lachen dröhnt in meinen Ohren wie das von Halvar, dem Zeichentrickpapa von Wickie. Voll das Klischee.

Ich bin NICHT wegen der Pferde hier, liegt mir auf der Zunge. Und ihr habt hier eh bloß Ponys. Aber ich schlucke es hinunter.

Nur Steine also, verdammt heilige noch dazu. Und Pferde sind verboten auf dem Flughafengelände. Ich nicke. Alter! Hat meine Mutter die alle geschmiert? Ist das so ne Pädagogennummer? Oder ist der Busfahrer ein Onkel von dem durchgeknallten Typen und will verhindern, dass sein Neffe Ärger kriegt mit der Security? Die sind doch bestimmt alle verwandt hier.

»Tja, dann leide ich wohl schon unter Erfrierungshallus«, murmele ich großzügig. So freundlich ich kann, ziehe ich mein Köffer chen hinter mir her und lasse mich auf den nächstbesten freien Sitz plumpsen. Meinen Rucksack packe ich neben mich.

Mom versteht den Wink mit dem Zaunpfahl und nimmt hinter mir Platz.

Eintönige weiße Wüstenlandschaft fliegt an uns vorbei. Unwillkürlich hoffe ich, irgendwo doch noch den reitenden Jungen und seine Pferde zu erspähen. Aber außer Felsen und Schnee ist da nichts. Ab und zu heben sich ein paar weitere dieser seltsamen Steinhaufen vom Horizont ab. Noch seltener duckt sich ein kleines Häuschen vor dem Wind und der Kälte weg. Nur ein paar Möwen trotzen der steifen Brise und lassen sich von ihr durch die Luft treiben. Sonst ist da niemand. Keine Menschenseele. Kein einziges Pony.

Der Bus hat WLAN. Als meine Finger aufgetaut sind, scrolle ich durch meine Fotos. Auch auf dem Video – keine Spur von meinem einheimischen Choleriker und seinem Zotteltier. Mist! Hat der sich in Rauch aufgelöst? Soll sich mal nicht zu viel ein bilden auf seine Pfadfindertarnung. Und dann diese gespielte Überraschung. Ja, hallo? Glaubst du, du bist unsichtbar?

Ich lasse mein Handy sinken. Total bescheuert. Aber diese Stute war wunderschön. Ich hoffe, er unter nimmt was gegen ihre Verletzung. Dann hätte ich mein Lieblingstuch nicht umsonst geopfert.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Schräg hinter mir. Mom wedelt mit einem Papiertaschentuch als weißer Flagge und reißt mich aus meinem Gedankenkarussell. »Bist du auch so durchgefroren? Was hältst du zum Einstieg von einem ausgiebigen Bad in einer heißen Quelle?«

»So was gibt’s in Reykjavik?«, frage ich nicht direkt lustlos, aber auch nicht grade begeistert.

»Da bestimmt auch«, erwidert Mom gut gelaunt. »Hier gibt’s mehr Schwimmbäder als Bäume. Aber heute machen wir erst mal Hafnarfjörður unsicher, dachte ich mir.«

»Hapnawas?«, frage ich.

»Das ist der Ort, in dem unser Hotel steht. Wir sind gleich da.«

Ich drehe mich ruckartig komplett zu ihr um. »Wir wohnen nicht in Reykjavik?«, frage ich alarmiert. Ich wusste es! Und wieder werde ich als Shoppingqueen mit dem geringsten Umsatz und Reisegepäckzugewinn nach Hause zurückkehren. Schlimmer noch! Ich bin ja jetzt schon im Minus!

»Hafnarfjörður hat die größte Elfendichte des Landes, sagt mein Reiseführer.« Mom zwinkert mir verschmitzt zu.

Verarschen kann ich mich allein. Aber das denke ich nur. Mom steht auf Mythologie und solchen Kram. Und wenn ich jetzt das Falsche sage, riskiere ich einen elendig langen Vortrag über all das, was ich selbst vorhin schon gelesen habe.

Gedankenverloren reibe ich mir über den Ärmel. Meine Finger spitzen prickeln. Das liegt daran, dass das Blut wieder zirkuliert. Vorhin haben sie das auch schon mal getan. Heftiger. Als ich die Jacke dieses Jungen berührt habe, den niemand sonst gesehen haben will.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Du kannst mich sehen? hallt es in meinem Kopf nach. Ich fühle mich müde und überdreht.

»Eine heiße Dusche ist jetzt genau das Richtige«, sage ich laut, um die fremde Stimme zu übertönen. »Und was zu essen. Ich kann schon gar nicht mehr klar denken.«

»Großmutter? Bist du da?« Sie musste da sein, denn von außen hatte er die kleine weiße Rauchfahne über den Felsen gesehen, die sich zart in den Himmel tastete, bevor der Wind sie zerriss und ein neuer Faden sein Glück wagte.

Kári tastete sich im Schein der Fackel auf dem schlüpfrigen Höhlen grund voran. Die weise Alte hauste allein in dieser Felsenburg. Sie war nicht seine Großmutter. Aber alle nannten sie so, voller Respekt und Ehrfurcht. Niemand erinnerte sich an eine Zeit davor. Sie war schon immer da gewesen, und viele suchten ihren Rat, manchmal sogar die Ratsmitglieder selbst, die weisen Zwölf, die Recht sprachen und das Gesetz hüteten in der Húldu-Ebene. Die Leute sagten, die Kräuter frau wandele zwischen den Welten und dass man sich gut mit ihr stellen solle. Für gute und für schlechte Zeiten. Doch nach Einbruch der Nacht verirrte man sich besser nicht zwischen den Steinen hier oben. Die windumtoste Einöde war noch viel weiter weg von allem als der abgeschiedene Ort, an dem Kári mit seiner Familie lebte.

Der Junge wusste nicht, was er von all dem Gerede halten sollte. Es gab viele Legenden und Geschichten draußen auf dem Land, wo es keine Dörfer gab, sondern nur vereinzelte Gehöfte. Er würde es nicht wagen, zu viel davon infrage zu stellen. Aber er fühlte sich von Jorúnn angezogen. Er war fasziniert von ihrem Wissen, ihrer Weisheit, und er mochte ihre sperrige Art, die einen milden, warmen Kern umhüllte.

Als Kinder hatten sie sich vor ihr gefürchtet. Vor ihrer in tausend Falten zerknitterten Pergamenthaut und den knorrigen Fingern mit den geschwollenen Gelenken. Sie hatten Angst vor ihren Visionen, davor, verzaubert zu werden, oder dass die Trolle sie fressen würden. Die Eltern redeten ihnen das aus vielen Gründen nicht aus. Für die Erziehung von wilden Jungen in einem wilden Land waren solche Ammen märchen nützlich. Später erst hatte er das verstanden. Man machte weniger Blödsinn und lernte Respekt. Vor den Naturgewalten – und vor den Ältesten.

Schrullig war Jorúnn jedenfalls, eigenbrötlerisch, ein bisschen verschroben – und heilkundig. Das musste man wohl auch besser sein, wenn man eine solche Höhle der Wärme eines gemütlichen Steinhauses und eines großen Kaminfeuers vorzog. Zu viel Gesellschaft war eindeutig nicht ihr Ding. Darin waren sie beinahe seelenverwandt. Aber vielleicht wohnte Jorúnn auch gar nicht wirklich hier? Nicht dauerhaft? Er vermutete, dass sie noch ein anderes Zuhause hatte, irgendwo im Tal.

Es roch eigentümlich in der Höhle. Nicht modrig, sondern nach Moos und Kräutern, nach trockenem Torffeuer, das ein wenig im Hals brannte, nach Kaffee und ein bisschen nach dem Tran, der die flackernden Lampen am Leben erhielt. Neugierig nahm Kári eins der Gefäße in die Hand, die hier in allen Größen und Formen in Regalen und auf kleinen Tischchen standen. Von den getrockneten Kräuterzöpfen und alten Tontöpfen gingen allerlei seltsame Gerüche aus..

»Großmutter Jorúnn?«, rief er noch einmal ins Halbdunkel. Er zog seinen Rucksack mit den Geschenken höher auf die Schulter und kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, dass sie sich dann schneller an das Dämmerlicht gewöhnten. Wo konnte sie stecken? Langsam schlich er näher über den Teppich, der seine Schritte verschluckte. Eine dicke Katze starrte ihn schläfrig aus dem Schaukelstuhl an, streckte sich träge und döste weiter.

Jórunn musste in der Nähe sein, sie hatte einen Kessel auf dem Holzherd stehen, neben der Kaffeekanne, und was immer darin brodelte, würde sie nicht ohne Aufsicht verdampfen lassen.

Einen kurzen Moment lang lauschte er. Er hatte Mánadís nicht festgebunden. Wurde sie unruhig? Wenn die Stute davonliefe, wäre das fatal. Aber warum sollte sie?

Kári hatte ihr erklärt, dass sie warten sollte, und ein bisschen Schnee frei gescharrt, bevor er hineinging, damit die Pferde in der Zwischenzeit fressen konnten. Er hatte eine Stelle mit saftigem Moos gefunden, genug für beide. Denn Gesellschaft hatte seine Freundin schließlich auch. Die lahmende Stute, wegen der er überhaupt hier war.

»Hier bin ich, Söhnchen.«

Kári fuhr zusammen. Wie aus dem Nichts stand die Alte plötzlich neben ihm, lächelte ihn aus wässrigen, aber sehr wachen Augen an. »Hast du es gefunden, da, wo ich gesagt habe?«

Kári nickte. Jorúnn hatte ihn nach Keflavik geschickt, zum grauen Steinmann, der alle vor den Trollen schützte, die daran glaubten. Da würde er finden, was die Stute brauchte, um endlich gesund zu werden. Also war er losgeritten. Wenn Jorúnn sagte: »Das ist der Ort! Sei da. Zu dieser Stunde«, dann widersprach man nicht. Man fragte auch nicht. Auch nicht, warum er unbedingt das lahmende Pferd den weiten Weg mitnehmen sollte. So war er erzogen worden. Und Jorúnns Mittel wirkten immer. Besser als alles moderne Zeug aus der Stadt.

Kári holte einen kleinen Lederbeutel aus seiner Tasche. »Es war ganz schön schwer«, machte er sich Luft. »Ich meine, die seltenen Kräuter wuchsen genau da, wo du es beschrieben hast. Aber da war so eine … da waren Fremde bei den Steinen. Unachtsam und laut. … und keine Ahnung von –«

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