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Normalhöhe Null

Als Buch hier erhältlich:

Jeder Sturm bringt Veränderung

In einer leer stehenden Villa an der Ostsee, an einer Steilküste, treffen sie aufeinander: die kühle Nora, Bauingenieurin mit Heimvergangenheit, spezialisiert auf Abrisse, und die überschwängliche Peggy, die Skulpturen aus dem errichtet, was das Meer anspült. In der ehemaligen Pension suchen sie Zuflucht, suchen ihre Zukunft. Doch die alte Villa widersetzt sich, die Steilküste bricht ab, immer näher kommt der Abgrund dem Haus, und ein paar höchst eigenwillige Gäste tauchen auf und bleiben. Notgedrungen raufen sich die beiden Frauen zusammen. Ihre Vergangenheit holt sie jedoch auch hier ein, und es stellt sich die Frage: Was gibt Halt im Leben? Und was ist eigentlich ein Zuhause?


  • Erscheinungstag: 21.03.2023
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002728

Leseprobe

PROLOG

Vorsicht Lebensgefahr. Nora ließ das verwitterte Schild hinter sich und zählte ihre nächsten Schritte. Einundsiebzig, zweiundsiebzig. Der Abbruchkante der Steilküste war sie jetzt deutlich näher.

Sie schob blühende Disteln beiseite. Die hohen Gräser waren noch nass vom Regen der letzten Nacht, alles leuchtete im Sonnenlicht. Als hätte es das Unwetter nicht gegeben, lag das Meer glatt vor ihr, ein unendliches Blau, der Horizont eine gerade Linie.

Die Uferschwalben, sie waren jetzt auf Augenhöhe, kreuzten hoch in der Luft und verschwanden plötzlich unterhalb der Kante, um kurz darauf wieder aufzutauchen. Bislang war hier ein schmaler Pfad verlaufen. Jetzt gab es ihn nicht mehr. Zwei Schritte noch, dann war Schluss. Die Wiese war hier einfach weggebrochen.

Vorsichtig spähte Nora hinab. Eine Bahn feuchter, frischer Erde zog sich bis zum Wasser.

Ein Baum ragte heraus, die Blätter noch grün, das Wurzelwerk nackt, Erdklümpchen daran. Büsche waren mitgerissen worden, Felsbrocken und Steine. Als hätte ein Riesenkind im Sandkasten gespielt.

Alles war wie immer. Nur dieser Erdrutsch zeugte von den Gewalten, die letzte Nacht getobt hatten. Ein Stück Land war verschwunden, es war einfach abgestürzt und ins Meer getragen worden.

Lange blieb Nora dort stehen und ließ den Anblick auf sich wirken. Dann ging sie Schritt für Schritt zur Villa zurück.

1

Eine Wolke Betonstaub nahm ihr die Sicht.

Nora hustete. Die Partikel drangen ihr in Mund, Nase und Augen, trotz Schutzkleidung und Atemmaske. Es störte sie nicht. Während sie ein Taschentuch hervorzog und sich die Stirn wischte, machte sich ein tiefes Gefühl der Befriedigung in ihr breit. Erledigt, sie hatte es wieder einmal geschafft. Sauber waren die Mauern in sich zusammengefallen, genau wie geplant, geschmeidig und in der Zeit.

Langsam wurden auch die Umrisse von Alfio, ihrem Assistenten, deutlich. Alfio stand in einiger Entfernung und hielt schon wieder sein Mobiltelefon in der Hand. Staub ist schlecht für die Technik, dachte Nora, und sowieso. Sie machte ihm ein Zeichen: Pack das Ding weg.

Er sah sie nur ausdruckslos an, während er weiter zuhörte. Alfio hängt zu viel an seinem Gerät, dachte Nora. Sie hatten schließlich einen Job, auf den man sich konzentrieren musste. Das hier war Präzisionsarbeit, nichts, wirklich nichts durfte einen ablenken, wenn man ein Gebäude abriss, erst recht nicht, wenn man sprengte. Die Räume vermessen, die Statik berechnen, den Sprengstoff deponieren. Absperren, die Straße räumen, das war bisher Alfios Aufgabe gewesen. Am Schluss noch einmal alles prüfen. Und dann die Zündung betätigen.

Alfio drehte sich von ihr weg. War er blass geworden, oder täuschte der Staub? Nora tat einen Schritt auf ihn zu. Was der Rohbau eines Bürogebäudes gewesen war, dreizehnstöckig, Stahlbeton, existierte nicht mehr. Ein Schutthaufen, zu Boden gerauscht in einer einzigen fließenden Bewegung.

Jetzt wurde Alfio laut, gestikulierte mit der freien Hand. »Wohin … was sagst du da, wohin hätte ich kommen sollen?!«

Manchmal ging sein Temperament mit ihm durch, dann gab er den Sizilianer, obwohl er aus Südtirol stammte. Sein Wesen war ihrem komplett entgegengesetzt, aber vermutlich hatte Nora ihm den Job genau deshalb gegeben. Jeden Tag hatte er sie angerufen und ihr geschmeichelt, sie sei die Beste, unbedingt wolle er die Ausbildung bei ihr machen, bis sie ihn eingestellt hatte. Seine Energie hatte sie beeindruckt, sein entschiedener Wille, das Handwerk zu erlernen. Und Alfio war gut, sie hatte seine Unterstützung bald zu schätzen gelernt. Aber wenn er gerade keine Aufgabe hatte, war er mit seinem Mobiltelefon beschäftigt, sein Leben war Kommunikation. »Nora, du bist ein Stein, quasi, ich bin wie Wasser, ich muss reden, meinen Mund benutzen, ich brauche Worte, die Sprache, capisci

Der Staub setzte sich.

Diesmal hatte Alfio den Zünder betätigt, hatte alles nach ihrer Anweisung ausgeführt. Auch ohne Berechtigungsschein, sie hatte schließlich daneben gestanden. Ein mehrstöckiges Gebäude auf einer Großbaustelle, frei stehend, für den Anfang war es ideal. Die Firma wollte es offenbar nicht mehr. Manchmal war Abreißen billiger, als ein Objekt zu halten, etwa wenn es Baufehler gegeben hatte oder wenn die weitere Finanzierung nicht gesichert war.

Jetzt ließ Alfio sich zu Boden sinken.

Er soll sich zusammenreißen, dachte Nora, egal wie attraktiv der Kerl war, der ihm gerade eine Abfuhr erteilte. Etwas weniger Pathos, bitte, das war doch wohl möglich.

Alfio steckte sein Telefon weg und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Jetzt überlegte Nora, ob es doch etwas Ernstes war. Vielleicht war jemand gestorben? Sie stieg über einen Haufen Steine. Draußen, außerhalb der Absperrung, erkannte sie die üblichen Schaulustigen, es waren nicht viele.

Mitgenommen blickte Alfio ihr entgegen.

»Tutto questo …« Er machte eine erschöpfte Geste, die den nicht mehr vorhandenen Raum umfasste.

Eine Sekunde später sprang er auf und fluchte, was das Zeug hielt. All diese italienischen Kraftausdrücke. Nora brauchte nicht zu wissen, was sie bedeuteten. Madonna puttana.

Sie steckten tief in der Scheiße.

Nora lehnte an der Fensterbank, die Arme vor dem Körper verschränkt. Darin, sich nichts anmerken zu lassen, hatte sie es zur Meisterschaft gebracht.

Mareike, ihre Auftraggeberin, stand neben ihrem Schreibtisch. Die vorherrschende Farbe im weitläufigen Büro: Weiß, dazu ein wenig dezentes Grau, ein rötliches Bild, moderne Architekturfotos.

Der Schreibtisch war aufgeräumt. Eigentlich verrückt, dachte Nora. Hier, wo es so sauber wirkte, so steril, wurden die schmutzigen Deals gemacht.

Mareike tippte mit dem Kugelschreiber auf ihre Handfläche. Sie wirkte ganz ruhig, war aber gespannt wie ein Bogen. Nora kannte das.

Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster, im selben Moment fuhren die automatischen Stores herab. Der Plotter gab ein würgendes Geräusch von sich, irgendwo im Nebenraum hatte ein Mitarbeiter ihm einen Befehl gegeben. Er bräuchte mal wieder eine Wartung.

Mareike fixierte die einzige Pflanze im Raum, eine Sukkulente, sie benötigte wenig Wasser. Vielleicht ist sie nicht echt, dachte Nora, sie hatte nie gesehen, dass jemand die Pflanze mit den dicken Blättern goss.

Vielleicht war auch Mareike nicht echt. Auch sie schien nichts von dem zu brauchen, was Menschen normalerweise brauchten. Nora hatte nie erlebt, dass Mareike die Kontrolle verlor, wütend wurde oder auch nur herzhaft lachte. Wenn sie lächelte, blieben ihre Lippen geschlossen, und auch ihre Gesichtsfarbe veränderte sich nie, Mareike war stets gleichmäßig temperiert.

Das Tempo, mit dem sie den Kugelschreiber klickte, steigerte sich. Ihr Blick fiel jetzt auf Nora und durchbohrte sie. Auf ihrer Haut zeigte sich ein rötlicher Schimmer.

Und dann legte Mareike los.

Zwanzig Minuten später saß Nora in ihrem Lieferwagen und fuhr zu ihrer Wohnung. Der Staub hing noch im Overall, Mareikes Explosion tönte ihr in den Ohren. Wie Dolche waren ihr die Vorwürfe um die Ohren geflogen. Nora war wie gelähmt gewesen. Mareikes Worte waren auf sie eingeprasselt, sie hatte nur kurz die Augen geschlossen vor Erschöpfung, was Mareike erst recht befeuert hatte.

Dass Nora etwas sagte, war nicht vorgesehen. Sie hielt besser den Mund. Und sie wusste es inzwischen ja selbst: Sie hatte einen Fehler gemacht. Das Bürogebäude, der zukünftige Berliner Sitz der Baltaris Group, eines global agierenden Unternehmens, ein Prestigeobjekt im Rohbau, war die falsche Adresse gewesen.

Was um alles in der Welt sie sich dabei gedacht hätte. Ob sie nicht alles genau abgesprochen hätten. Seit wann ihre Vorbereitungen nicht mehr stimmen würden. Was um Himmels willen sie im Kopf gehabt und mit wem sie gearbeitet hätte.

Nora beherrschte die Fähigkeit, Dinge an sich abprallen zu lassen, sie hatte lange die Gelegenheit gehabt, es zu perfektionieren. Diesmal war es ihr schwergefallen.

Es klingelte anhaltend, eine Straßenbahn kam von hinten heran. Nora wechselte die Fahrspur, worauf ein Bus der Berliner Verkehrsbetriebe unter lautem Hupen dicht an ihr vorbeirauschte.

Ein Bus. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen.

Sie brauchte Luft. Nora ließ den Wagen auf den Bürgersteig rollen, vor die Einfahrt zu einem Park, und schaltete den Motor aus. Vor ihr stand ein Schild: Rettungsweg, Zufahrt bitte frei halten. Sie öffnete das Seitenfenster und legte den Kopf zurück, zutiefst erschöpft.

Ein Zahlendreher in den Koordinaten. Eine ähnliche Adresse. Nora hatte keine Ahnung, wie ihr das hatte passieren können. War sie nicht mehr so gut, wie sie dachte?

Ein junger Mann auf einem Fahrrad umrundete sie, zwei behelmte Kinder im Anhänger, und deutete verärgert auf das Schild. Hinter dem Parkeingang stolzierte eine Taube und pickte nach den Brocken, die ihr eine grauhaarige Frau von einer Bank aus zuwarf.

Vielleicht, dachte Nora, sollte auch sie einfach Platz auf einer Bank nehmen. Spatzen und Tauben füttern und sich dort mit ein paar Plastiktüten einrichten. Das Leben vorbeiziehen lassen. Sie fühlte sich nicht weit davon entfernt.

Jetzt erhob sich die Frau und kam so dicht an das Fenster, dass Nora ihren Körpergeruch wahrnahm. »Ich will nach Hause. Du hast ein Auto, du kannst mich hinbringen.«

Nora verspürte Druck auf den Ohren. Sie griff in ein Fach neben dem Lenkrad und gab der Frau ein paar Münzen. Dann startete sie den Motor.

So plötzlich, wie Mareike explodiert war, so unvermittelt hatte sie sich gemäßigt. »Für mich beziehungsweise die Brightbau Solutions ist das natürlich ein enormer Schaden«, hatte sie sachlich konstatiert. Und dann waren die entscheidenden Worte gefallen: »Das wird dich teuer zu stehen kommen.«

Mareike hatte ihren Blazer glatt gestrichen und sogar gelächelt. Mit kühlem Blick, die Haut wieder gleichmäßig hell.

Nora war zu müde gewesen, um zu nicken.

»Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Tu mal was für dich.«

Nora hatte sie nur angesehen, unfähig, etwas zu erwidern. Dann hatte sie sich von der Fensterbank abgestoßen und war gegangen.

In ihrer Wohnung angekommen, setzte Nora Wasser auf, nahm eine angebrochene Kaffeepackung aus dem fast leeren Kühlschrank, löffelte etwas von dem Pulver in einen Becher.

Knapp zwei Jahre war sie jetzt für Mareikes Firma tätig. Als selbstständige Bauingenieurin, gebraucht und beauftragt für Rückbauten besonderer Art. Nora fand einen Weg, wo andere abwinkten. Löste statische Probleme, brachte Bagger in Stellung oder Sprengsätze an. Nora war spezialisiert auf komplizierte Fälle, erdachte Lösungen, die vergleichsweise wenig Aufwand erforderten und kostengünstig waren. Nora brachte quasi jedes Haus zum Einsturz, es gab kein Gebäude, dem sie nicht gewachsen war.

Was Mareike ebenfalls an ihr schätzte: Sie war bereit, Überstunden zu machen. Wenn sie sie brauchte, war Nora da. Und, vielleicht das Wichtigste, Nora fragte nicht nach. Sie interessierte sich nicht für die Geschäfte im Hintergrund. Mareike konnte sicher sein, dass Nora über das, was sie unweigerlich mitbekam, Schweigen bewahrte.

Noras Expertise war ein wichtiges Standbein für Mareikes Firma. Die Brightbau Solutions garantierte Exklusivität und Effektivität im dreckigen Baugeschäft. Damit warb Mareike um Vertrauen. Es ging schnell, es lief diskret, es gab alles aus einer Hand.

Womit Mareike außerdem handelte und womit sie offenbar gute Gewinne erzielte, war Sand. Ein rarer Rohstoff, unverzichtbar für die Herstellung von Beton. Die Preise stiegen rasant, der globale Markt wurde aufgeteilt, illegaler Abbau und Korruption waren an der Tagesordnung. Mareike war der Einstieg ins Geschäft gelungen, auf welchem Weg auch immer. Das Einzige, was Nora wusste, war, dass Mareike einen Albaner kannte, dessen Nummer sie gespeichert hatte. Für alle Fälle.

Für Nora war Mareike zur wichtigsten Auftraggeberin geworden. Mareike zahlte gut. Und auch Mareike hatte auf Fragen verzichtet, von Anfang an. Sie wollte nicht wissen, woher Nora ihre Verbissenheit nahm, ihre Unermüdlichkeit, und das war Nora nur recht. Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit.

Das Kaffeepulver hatte sich gesetzt. Filter benutzte sie schon lange nicht mehr, auch Milch und Zucker brauchte sie nicht. Aber ohne die gemahlenen Bohnen selbst ging es nicht, und die waren sogar fair gehandelt.

Während sie trank, fragte sie sich, wie weit sie für den Schaden aufkommen musste. Sie hatte keine besonderen Ersparnisse. Genug für ein paar Monate, ausreichend, um nicht jeden Auftrag annehmen zu müssen. Ein wenig für die Zeit der Rente, ihr Zweizimmerapartment war gemietet. Nora dachte, dass sie ihre Versicherung anrufen müsste. Auch Mareike musste eine haben, eine mit hoher Deckungssumme, die in solchen Fällen einsprang, das Baugewerbe war viel zu kostspielig, um sich nicht abzusichern. Ja, Nora war sich sicher, dass Mareike die Lage klären würde. Heute hatte sie geschäumt und die Messer gewirbelt, aber morgen wäre sie wieder kühl. Sie brauchte sie.

Nora stellte den Becher in die Spüle und legte sich hin. Einfach nur noch schlafen. Endlich.

Der Anruf erreichte sie am nächsten Morgen um sieben Uhr. Ob sie gut geschlafen hätte, erkundigte sich Mareike. Sie könne gerne liegen bleiben, sie wollte ihr nur mitteilen, wie ihre Anwältin die Sache einschätzte. Sachbeschädigung, grobes Fehlverhalten, Schädigung der Firma – Mareike zählte es nüchtern auf.

Nora presste ihre Schläfe und versuchte wach zu werden. Sie bekam mit, dass Mareike ihren »albanischen Bekannten« erwähnte. Und: Sie möge bitte nicht mehr zu ihr ins Büro kommen. Sie hätte den Fall an ihre Anwältin abgegeben, Nora würde noch heute ein Einschreiben erhalten.

Mareike war schnell gewesen.

Nora brachte kein Wort über die Lippen, sie nickte nur.

»Du nickst jetzt sicher«, stellte Mareike mit sanfter Stimme fest.

Nora erinnerte sich, dass Mareike, nachdem sie sich ein Jahr kannten, festgestellt hatte, dass sie jetzt ja Freundinnen wären. Nora hatte daraus geschlossen, dass Mareike keine Freundinnen hatte.

Eigentlich passten sie gut zusammen.

2

Während sie Kilometer um Kilometer fuhr, auf Autobahn und Landstraßen – mehr als 110 km/h gab der alte Lieferwagen nicht her –, dachte Nora, dass es ein Fehler gewesen war, diesen Auftrag anzunehmen. Er war ihr zunächst als Rettung erschienen, als willkommene Lösung. Irgendwohin, wo nicht viel war, zumindest keine Menschen, raus aufs Land.

Nachdem sie drei Tage fast nur geschlafen hatte – so war es ihr jedenfalls vorgekommen, die bleierne Schwere wollte einfach nicht weichen –, hatte Mareike angerufen und ihr diesen Job vermittelt. Sie hatte ihr die Nummer einer Frau gegeben, die jemanden suchte, für ein ganz besonderes Objekt, wie Mareike gesagt hatte.

Nora hatte aufgemerkt. Ganz besonders, das hieß: illegal, höchstens halb legal. »Ich meine es gut mit dir, Nora. Ich denke mir, dass du jetzt jeden Auftrag brauchen kannst.« Mareikes sachlich-sanfte Stimme.

Allerdings. Sie brauchte jeden verdammten Auftrag, um ihre Schulden abzuzahlen, und das auf Jahre. Ihre Versicherung zahlte nicht, grobe Fahrlässigkeit, das hatte man eindeutig befunden. Gleich zwei Sachverständige waren noch am selben Tag auf der Baustelle erschienen, die Baltaris Group machte Druck, sogar die Polizei war eingeschaltet worden.

Die Baustelle hatte schon länger brachgelegen. Nora fasste sich an den Kopf, sie konnte nicht glauben, dass ihr eine solche Verwechslung passiert war. Vielleicht hatte Mareike die falschen Daten herausgegeben? Sie würde es ihr nie nachweisen können. Nora dachte, dass es richtig gewesen wäre, wenn auch Mareikes Büro durchsucht worden wäre, aber sie war zu überfordert gewesen, um das anzumerken. Sie hing mit drin, so oder so, und sie konnte nur hoffen, dass Alfio den Mund hielt. Den Lehrgang hatte er erst demnächst abgeschlossen. Wenn herauskam, dass nicht sie es war, die gesprengt hatte, wäre sie geliefert.

Beruflich am Ende. Zumindest vorerst.

Sie hätte trotzdem nicht darauf eingehen sollen. Sie hätte nie wieder etwas mit Mareike zu tun haben dürfen, ihre Nummer löschen, alles nur noch über diese Anwältin laufen lassen.

Aber sie hatte die Nummer gewählt, die Mareike ihr genannt hatte, und mit dieser Frau telefoniert, die es einerseits eilig hatte, eine ganze Villa abzureißen, und andererseits nicht zu wissen schien, was sie mit dem Grundstück anschließend machen wollte. Ein spätes Erbe, sie würde es wohl veräußern, sagte sie in seltsam klanglosem Tonfall. Das Haus jedenfalls müsste weg.

Etwas hatte nicht gestimmt, es gab da eine Leerstelle, Nora spürte so etwas, aber sie hatte nicht genug Energie gehabt, sich darüber Gedanken zu machen.

Jetzt war sie also unterwegs, im Laderaum eine gepackte Tasche. Ihre Wohnung hatte sie, ohne lange nachzudenken, an eine junge Frau untervermietet, deren Gesuch sie an einem Laternenpfahl entdeckt hatte. Anschließend wollte sie weiterfahren und sich woanders Aufträge suchen. Bloß weg aus Berlin. In Frankfurt hatte sie noch Kontakte.

Nach dreieinhalb Stunden Fahrt erreichte sie die Küste. Nora parkte, schlug die Tür des Lieferwagens zu und ging ein paar Schritte durch die Dünen. Vor ihr lag die Ostsee. Grau, von Wellen durchkämmt, einzelne Strahlen der Abendsonne durchbrachen die Wolkendecke und ließen das Wasser golden leuchten. Bis auf einen einsamen Angler war der Strand menschenleer.

Sie würde sich ein Zimmer in einer Pension nehmen. Ob mit Geruch nach Kernseife, pappigen Frühstücksbrötchen und zum Kleeblatt geformter Butter, egal, Hauptsache, günstig. Ein paar Tage würde es noch dauern, bis sie die Unterlagen für den Abriss beisammen hätte, hatte die Frau gesagt, aber sie solle sich das Haus ruhig schon einmal anschauen.

Während sie weiterfuhr, konnte sie allerdings keine Pension entdecken. Vereinzelt gab es Häuser an dieser schmalen Uferstraße, doch die Fenster waren dunkel, die Vorgärten mit den Fahnenmasten wirkten verwaist. Hinter einer Kurve dann ein weißes Häuschen, dessen Schild beleuchtet war. Hagens Kombüse. Ein Parkplatz mit Tauen zwischen Pollern.

Nora setzte zurück.

Der Schankraum war nicht groß. An der Theke saßen zwei Männer beim Bier, dahinter stand ein mächtiger Mann mit rötlichem Bart und einem Geschirrtuch über der Schulter.

»Mahlzeit.« Nora nickte in die Runde. »Gibt’s noch was zu essen?«

Der Rothaarige warf ihr einen knappen Blick zu. »Sieht schlecht aus.«

»Schlecht warm oder schlecht kalt?«

»Mensch, Hagen, gib der Deern mal was Ordentliches, die braucht was auf die Rippen«, kam es von einem der Männer.

Der Hüne sah Nora in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand, bis er das Geschirrtuch beiseite legte.

»Weißt du was? Ich hab heute Abend auch noch nichts gehabt. Ich hau einfach was für uns beide in die Pfanne.«

»Das wird ja ’n richtiges Candlelight Dinner«, nuschelte der Mann am Tresen und hob sein Glas. Nora fiel auf, dass ihm ein Finger fehlte. »Ich bin übrigens Karsten.«

Nora erwiderte nichts, sie hatte keine Lust auf Gespräche und setzte sich an einen der Tische.

»Spricht nicht, die Dame.« Karsten sah sie erst provozierend an, dann verunsichert, schließlich wandte er sich wieder seinem Kumpel zu.

In der Küche brutzelte es, ein würziger Duft nach Zwiebeln und Speck durchzog den Raum. Noras Magen knurrte.

Schließlich erschien der Wikinger, Hagen hieß er also, mit zwei Tellern, auf denen jeweils eine Riesenportion Bratkartoffeln mit Rührei dampfte. »Speck isst du ja wohl.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Mit einer eleganten Wendung drehte er noch einmal um und kehrte mit Servietten, Besteck und zwei Bierkrügen zurück.

»Danke dir, Hagen.« Nora hob ihren Krug. »Zum Wohl. Ich heiße Nora.«

Frische Bratkartoffeln. Sie waren perfekt, kross am Rand, innen weich. Wie eine Wölfin fühlte Nora sich, sie schlang das Essen regelrecht in sich hinein, nur unterbrochen durch große Schlucke Bier, kühl und köstlich.

Nora sparte sich das Kochen meistens. Nahrungsaufnahme war etwas, das sie erledigte, weil es sein musste. Bei ihr gab es nur Schnelles: Dosensuppe, Nudeln, Brot. Sie hatte wenige Vorräte, die lange reichten.

Schließlich legte Hagen das Besteck beiseite und wischte sich mit der Serviette den Bart. »Und nun erzähl mal: Warum bist du hier?«

In dem Moment klopfte Karsten auf den Tresen. »Ich geh dann mal Heia machen.« Sein Kompagnon schloss sich an, Hagen hob die Hand, die beiden Männer verließen das Lokal.

Eine Antwort war sie ihm nach dieser Mahlzeit schuldig. »Ein Auftrag«, sagte Nora. »Ich soll hier in der Gegend einen Rückbau vornehmen.«

»Rückbau?«

»Den Abriss eines leer stehenden Hauses. Ich bin Bauingenieurin.«

»In dieser Gegend gibt es einige leer stehende Häuser. Die Leute erledigen den Rückbau, wie du das nennst, allerdings meistens selbst.«

»Das Objekt ist etwas größer, außerdem wurden die Besitzverhältnisse gerade neu geregelt.«

»Ja, auch das haben wir hier öfter, dass die Besitzverhältnisse neu geregelt werden müssen. Ist aber eigentlich länger her.«

»Ich führe den Auftrag nur aus.«

»So ganz zufrieden wirkst du jedenfalls nicht.«

Hagen hatte eine tiefe Stimme, die etwas in ihrem Körper zum Schwingen brachte. »Hast du einen Schnaps für mich?«

»Den sollte ich wohl haben.«

Was für ein Hüne. Als er zurück war und die Gläser gefüllt hatte, sagte Nora: »Ich hab einen Rohbau gesprengt, dreizehnstöckig. War allerdings das falsche Gebäude.«

»Direkt gesprengt. Alle Achtung. Prost!«

Auch Nora hob ihr Glas. Der Schnaps lief ihr angenehm die Kehle hinunter. »Der ist gut.«

»Selbst gebrannt.« Hagen schenkte nach. »Und was sagt die Versicherung dazu?«

»Die Versicherung unterstellt mir Fahrlässigkeit.«

Er zog die Brauen hoch. »Verstehe. Dann kannst du ja froh sein, dass du überhaupt noch Arbeit hast.«

»Du sagst es.« Aufträge würde sie kaum noch bekommen, wenn sich herumgesprochen hatte, welch kapitaler Fehler ihr unterlaufen war. Innerhalb der Branche kannte man sich, und für den Rest würde Mareike sorgen, so viel war klar.

Hagen sah sie nachdenklich an. »Wo steht es denn? Das Haus, meine ich, das du abreißen wirst?«

»Elf bis zwölf Kilometer von hier. Auf einer Landzunge direkt am Wasser.« Nora beschrieb ihm die Lage, wenigstens ungefähr, denn auf der Straßenkarte ihres Handys hatte sie die Villa zwar orten können, ihr Standort schien sich auf eigenartige Weise jedoch immer wieder zu verschieben.

Hagen rieb sich den Bart. »An der Steilküste vermutlich. Dort gibt es eine Seebadvilla. Sie steht leer. Und sie steht direkt am Wasser, das stimmt. Wahrscheinlich sogar zu dicht.«

»Zu dicht?«

»Die Steilküste bricht dort öfter weg, meistens gegen Ende des Winters, wenn die Erde durchweicht ist, oder nach starkem Regen.«

»Dann bin ich wohl vorsorglich engagiert worden. Damit das Gebäude nicht ins Meer stürzt.« Nora erhob sich. »Ich fahr dann mal.« Sie zog ihre Geldbörse hervor. »Was bekommst du?«

»Lass stecken. Geht aufs Haus.«

Nora hatte plötzlich das Gefühl, dass sie schwankte.

Hagen musterte sie. »Willst du hierbleiben? Unterm Dach ist ein kleines Gästezimmer.«

»Danke, nicht nötig.« Im Zweifel würde sie im Auto schlafen. Es wäre nicht das erste Mal. Sie zog ihre Jacke bis oben zu.

»Diese Woche gibt’s übrigens fangfrischen Dorsch«, bemerkte Hagen, als Nora schon fast draußen war. »Ich denke, Mittwoch.«

Nora nickte und ließ die Tür hinter sich zufallen.

Die folgende Nacht verbrachte Nora tatsächlich im Lieferwagen. Die Kästen mit Kabeln und Werkzeug musste sie erst beiseite schieben, es roch nach Metall. Aber eine alte Wolldecke hatte sie immer dabei, und eine dünne Matratze lag hier auch, das genügte.

Jemand wie Hagen, dachte Nora, hätte den Wagen wahrscheinlich wohnlich ausgebaut. Hägar, der Schreckliche. Bestimmt hatte er einen festen Campingstellplatz mit Geranien vorm Zelt. Oder er fuhr mit einer Harley durch die Ardennen, so ein Typ war er auch. Machte jemand wie er überhaupt Urlaub? Machte man Urlaub, wenn man am Meer lebte? Nora wusste es nicht.

Urlaub. Das Wort wog schwer für Nora. Während sie sich in ihre Decke wickelte und dachte, dass sie die auch mal waschen müsste, der Staub kribbelte in der Nase, stiegen unwillkürlich die Erinnerungen an die Ferien mit ihrer Mutter in ihr auf, an das, was ihre Mutter Urlaub genannt hatte.

»Wir fahren jetzt mal ins Blaue, Mäuschen, wir lassen es uns so richtig gutgehen, was?« Ihre Mutter summte alte Schlager, die Capri Fischer, während sie in Windeseile eine Tasche packte, die Sonnenbrille schon im Haar.

Nora, acht oder neun Jahre alt, wollte nicht weg, sie hasste diese Aufbrüche. »Na, komm«, drängte ihre Mutter und drückte ihr ihren Kinderrucksack in die Hand. In immer schnellerem Tempo warf sie Wäsche, Kleider, Waschzeug in die Reisetasche und viel zu viele Schuhe, weil sie sich nie entscheiden konnte.

Wie verzaubert sah Nora ihr zu, wenn sie vor ihr auf einem imaginären Catwalk stöckelte. Schlanke braune Füße hatte ihre Mutter, jeder Schuh saß wie angegossen, besonders die Riemchensandalen, mit denen die silbernen Kettchen besonders zur Geltung kamen. Wenn sie Routinen sonst auch verachtete, Zeit, ihre Fußnägel zu lackieren, fand ihre Mutter immer. Auf den Rand der Badewanne gekauert, mit einem Gläschen in der Hand, lackierte sie jeden perfekt geformten Fußnagel, der Strich verrutschte ihr fast nie, in diesen Momenten war sie ganz bei sich.

Wenn es losging, hatte Nora nichts eingepackt. Sie umklammerte nur ein Buch und ihren Stoffhasen, die Mutter steckte ihr ungeduldig ein Paar Jeans und einige T-Shirts in den Rucksack. Dann verabschiedete sie sich mit großem Tamtam von der Wohngemeinschaft, es wurde noch einmal angestoßen, Hildas Aufbruch war Anlass, eine Flasche Wein zu öffnen oder auch mehrere, und am nächsten Morgen zog sie verkatert und schlecht gelaunt den Choke ihres R4. Die Sonnenbrille war jetzt unabdingbar.

Nora hasste den alkoholgeschwängerten Atem ihrer Mutter. Sie hasste das Unterwegssein, ohne zu wissen, wohin. Sie hasste die Sturheit, mit der ihre Mutter auf endlosen Landstraßen fuhr, immer geradeaus. »Wir müssen ja mal weg, Norakind, nicht wahr?«, um dann in irgendeinem Dorf in Frankreich zu landen, ein ganzer Tag Fahrt war das Minimum, damit eine solche Reise für Hilda zählte, und dort ihre Schuhe spazieren zu führen.

Während ihre Mutter über mit Platanen bestandene Dorfplätze schwebte, schlich Nora hinterher und wünschte, sie wäre unsichtbar. Nachts legte sie die Hände auf die Ohren, wenn sie in einer Scheune schlafen durften und sie davon aufwachte, dass ihre Mutter sich kichernd im Heu wälzte und eine unterdrückte Männerstimme zu hören war. Ein Keuchen. Seufzen. Dann wieder Stille.

Ja, Nora hasste diese Urlaube. Anders als ihre Mutter. Überhaupt schien Nora mit ihrer Mutter nicht viel gemeinsam zu haben. Nur ihre Füße, die hatte sie geerbt. Nora hatte die gleichen Füße wie sie.

Einmal war es anders gewesen. In einem Küstenort hatten sie Meeresfrüchte gegessen, zwischen Wellen, die schäumend gegen Felsen schlugen, und Häusern, die sich an sie schmiegten. Es waren gute Tage gewesen, diese Tage am Meer, nach Sonne und Seetang riechend, in einer kleinen Pension mit sauberen Laken.

Nora wusste nicht, wo genau sie gewesen waren, es war ein Fischerdörfchen, in dem die Leute nachts aufs Meer fuhren und ihren glänzenden Fang morgens auf Ständen an der Hafenmole ausbreiteten.

Tintenfisch und Fische aller Art, Hummer, sogar Austern hatten sie verspeist, sie hatten geschlemmt in diesen Tagen und sich von kaum etwas anderem ernährt, nur von Fisch, Meeresfrüchten und von saftigem Weißbrot, la baguette, es war eines der wenigen französischen Wörter gewesen, die ihre Mutter kannte. Diesmal war Nora dicht neben ihr gegangen und hatte ihre Hand gehalten.

Ein paar Tage, vielleicht eine Woche hatte es, wenn Noras Erinnerungen sie nicht täuschten, auch keinen Mann gegeben.

Eine Woche in einer kleinen Pension am Meer. Eine Woche unter dem Leuchtturm, dessen Lichtstrahl über das Doppelbett wanderte, in dem sie mit ihrer Mutter schlief.

Tage voller Sand und Licht.

Bis sie hinausgeworfen worden waren, weil sich herausstellte, dass sie nicht zahlen konnten. Immer wieder hatte ihre Mutter gemurmelt: »Diesmal nicht, Mäuschen, diesmal nicht«, während sie sie hinter sich her ins Auto gezerrt hatte.

Und dann saßen sie wieder in der Küche irgendeiner Wohngemeinschaft, in der sich das Geschirr in der Spüle stapelte und der Kühlschrank in den Ecken schwarz war, und Nora musste im Garten spielen, wenn Hilda müde war, und das war sie oft. Das Bettzeug roch talgig, aber wenn Nora es abziehen und in eine Wanne legen wollte, mit viel Waschpulver, rief Hilda wütend: »Was machst du denn da, das mache ich, ich bin schließlich deine Mutter!« Aber sie tat es eben nicht. Eine Nacht geht noch.

Irgendwann lag sie tagsüber immer öfter im Bett, stöhnend, ihr Bauch täte ihr weh, und die Müdigkeit, verdammt, diese Müdigkeit. Hildas Haare hingen herab, und singen tat sie auch nicht mehr. Nur ihre Fußnägel lackierte sie noch, mühevoll. Als sie Nora bat, ihr dabei zu helfen, weigerte sie sich. Ihre Mutter schimpfte.

Und irgendwann war sie nicht mehr da.

An die Beerdigung erinnerte Nora sich nur schemenhaft.

Ein paar Leute aus der Wohngemeinschaft waren gekommen, irgendjemand weinte, irgendjemand sang, eine Gitarre wurde gespielt. Blumensträuße wurden ins Grab gelegt, und niemand dachte daran, Nora an die Hand zu nehmen. Irgendjemand tat es dann doch, Nora wusste nicht mehr, wer es war. Und irgendjemand ging schließlich mit Nora zum Amt.

3

An einer Tankstelle, an der eine Kassiererin mit kunstvoll tätowierten Armen sich sichtlich langweilte, besorgte Nora sich Kaffee und ein belegtes Brötchen. Dann fuhr sie weiter, an Wiesen und Gewässern vorüber, durch einen Wald mit dichtem Unterholz und Tümpeln, die dazwischen schimmerten. Zuletzt kam ihr niemand mehr entgegen.

Irgendwann endete der Asphalt. Und dann, nach zwei weiteren Kilometern Fahrt auf unbefestigten Wegen, sah sie sie: die Villa, auf der Landseite durch ein Wäldchen geschützt, von der Küste her dem Wind ausgesetzt, ein Stück Wiese mit hochgewachsenem Gras davor. Sie war größer als erwartet und gleichzeitig luftig, sie schwebte gleichsam über der Erde und blickte aufs Meer.

Am anderen Ende des Grundstücks befand sich eine Scheune aus Backstein, deren Schindeln leuchteten. Sie wirkte wie nicht zugehörig, übrig geblieben von einem landwirtschaftlichen Betrieb, den es nicht mehr gab.

Nora parkte das Auto unter einem knorrigen Apfelbaum und stieg aus.

Das war keine Seebadvilla, wie sie angenommen hatte, auch wenn es Elemente davon gab, so wie die verzierte Veranda, es war ein Gebäude mit überwiegend schlichten Formen. Es musste in den 1920er-Jahren entstanden sein. Alles wirkte leicht und licht, passend zur landschaftlichen Umgebung, nicht überladen. Die Villa fügte sich ein.

Nora war erschüttert von ihrer Schönheit.

Dieses Gebäude durfte keinesfalls abgerissen werden. Es war eine Kostbarkeit und doch sicher denkmalgeschützt, Nora wunderte sich, dass ihr dieser Auftrag erteilt worden war.

Sie fand den Schlüssel im Anbau, stieg die Stufen hinauf und öffnete die Eingangstür.

Das Haus schien regelrecht zu seufzen, als sie eintrat. Eine hauchdünne Schicht Sand bedeckte die schwarz-weißen Fliesen in der kleinen Halle. Eine geschwungene Treppe führte in den ersten Stock, der Empfangstresen wartete auf Gäste, die schon lange nicht mehr kamen. Es gab einen Telefonapparat und Schlüsselhaken, an der Decke hing ein Kronleuchter. Alles wirkte so lebendig, gleichzeitig lag das Haus in einem Dornröschenschlaf, als würde sich hier auch die nächsten hundert Jahre nichts regen.

Nora stieg die Treppe hinauf. Im ersten Stock standen die Zimmertüren offen, in den Räumen befanden sich alte Betten, Waschbecken und Kommoden. Die Bodendielen knarzten.

Leer stehende Häuser zogen sonst Obdachlose an, Jugendliche, Graffitisprayer, doch keine Spur davon, obwohl ein schmales Fenster, das zur Speisekammer gehörte, offen gestanden hatte. Vielleicht war die Villa einfach zu weit entfernt vom nächsten Ort?

Nora schritt andächtig durch die Räume. Die Villa schien ihr in einem außergewöhnlich guten Zustand. Gleichzeitig konnten Schäden im Mauer- oder im Tragwerk durchaus ein Grund dafür sein, dass man sich für den Abriss entschieden hatte. Das sah man nicht immer sofort. Vielleicht gab es Schwamm, vielleicht saß der Holzbock im Gebälk. Irgendjemand würde das Haus ja wohl begutachtet haben.

Nora kehrte zurück ins Vestibül. Und je länger sie dort stand und schaute, desto normaler wirkte die Villa schließlich auf sie. Vielleicht war es das wechselnde Licht, das den Eindruck veänderte. Vergilbte Tapeten, hier und dort ein Sprung in den Fliesen, verstaubte Wandvorsprünge. Dieses Haus war verlassen. Es war leer. Es wurde nicht mehr gebraucht. Es war alles wie immer, so wie sie es kannte, sie brauchte sich keine Gedanken zu machen.

Nora ging zum Auto, um ihre Messgeräte zu holen.

Die Nachricht traf am frühen Abend ein, als Nora gerade einen Spaziergang machte, an der Villa selbst hatte ihr Telefon keinen Empfang. Der Abriss würde sich verzögern. Ob sie länger bleiben könnte, ein oder zwei Wochen, wollte die Frau wissen, die sie für die Villa beauftragt hatte, die Auslagen würde sie ihr erstatten. Nora versuchte zurückzurufen, doch ohne Erfolg.

Sie biss sich auf die Lippe und überlegte. Spätestens in fünf Tagen hatte sie weiterfahren wollen, nach Frankfurt am Main. Der neue Chef einer Firma, die sie von früher kannte, wollte sie kennenlernen. Ein ehemaliges Bankgebäude stand auf der Agenda, damit sollte sie starten. Wenn das klappte, konnte sie auf weitere Aufträge hoffen.

Die Vorstellung, wie der Tower fallen würde, war verlockend. Und nicht nur das: Sie würde ihren Ruf wiederherstellen. Doch sie empfand eine innere Abwehr, den Ort hier unverrichteter Dinge zu verlassen. Ob es der weite Himmel war oder der Blick aufs Meer, Nora vermochte es nicht recht zu fassen. Aber etwas war an diesen Mauern, das sie hielt. Sie wollte nicht, dass jemand anderes Hand an sie legte.

Der Job in Frankfurt wäre weg. Egal. Es würde andere Gelegenheiten geben. Ihre Finger hatten die Absage schon getippt, sie empfahl ihnen Alfio. Dann antwortete sie der Besitzerin. Dreihundert Euro am Tag für die Bereitschaft, und der Deal wäre klar. So viel könnte sie nicht zahlen, entgegnete die Frau, sie würde ihr siebzig Euro anbieten, spätestens übernächste Woche hätte sie die Genehmigung, davon gehe sie aus, das Amt in der Provinz sei eben langsam.

Nora verspürte den Impuls, ihre Sachen ins Auto zu werfen und abzufahren. So lief das nicht. Sie hätte andere Aufträge, schrieb Nora, ihr Angebot sei nicht verhandelbar.

Sie erhielt keine Antwort.

Alfio hatte ebenfalls versucht, sie zu erreichen, doch sie rief ihn nicht zurück. Sie hatte Alfio sofort freigestellt, einen Assistenten konnte sie sich nicht mehr leisten, er musste jetzt sehen, wie er ohne sie zurechtkam. Dass ihm das bestens gelang, daran zweifelte sie keine Sekunde.

Die Veranda lag, als sie zurückkam, im Schatten. Nora fiel auf, dass am Schornstein Steine fehlten. Wann er wohl das letzte Mal gekehrt worden war?

Es war, als ob die Villa ihren Farbton verändert hätte, von Weiß zu Grau. Es musste am Himmel liegen, es war jetzt bedeckt. Und trotzdem, es war, als ob das Haus diesen Wechsel selbst bewirkt hatte, als wollte es ihr ein Zeichen geben. Nora verspürte eine starke Anziehung, eine eigenartige Sympathie für dieses alte Mauerwerk.

Den Blick auf die Fassade gerichtet, zog sie ihr Telefon hervor. Ihre Nachricht war noch nicht versendet worden. Sie löschte sie.

Tippte eine neue: Die doppelte Tagespauschale, und ich bleibe.

4

Als Nora erwachte, nahm sie als Erstes den Geruch von Seeluft wahr. Sie streckte sich mit geschlossenen Augen, noch gefangen in einem Traum, dessen Details längst verblasst waren. Normalerweise sprang sie morgens sofort aus dem Bett und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht, jetzt genoss sie diesen Moment in der Schwebe. Am Abend zuvor hatte sie kurz überlegt und sich dann entschlossen, eines der Zimmer zu beziehen. Es war egal, hier schien ohnehin niemand vorbeizukommen, und bequemer als der Lieferwagen war es allemal. Wie sauber das Bettzeug duftete, hatte Nora allerdings gewundert. Als wäre es frisch bezogen worden.

Schließlich stand sie auf und trat ans Fenster. Öffnete die Flügel, atmete tief ein. Aus. Ein. Wie befreiend das war. Dann ging sie hinunter, um sich einen Kaffee zuzubereiten.

Auch im Speisesaal öffnete Nora alle Fenster. Sie strich über die Simse, erfühlte das Holz unter der abgeplatzten Farbe, folgte den Verzierungen. Kundig ausgeführtes Handwerk. Ebenso wie der Stuck an der Decke, er hatte eine schöne Gestaltung, schlicht, elegant. Den Kronleuchter in der Eingangsdiele zierte eine besonders prachtvolle Rosette.

Dies alles aufzugeben. Für immer.

Nora wollte die Fenster wieder schließen, doch es schien jetzt, als ob die Rahmen verzogen wären. Hatte sie eben etwas übersehen? Das Holz wirkte weich und porös, fast als ob Regen eingetreten wäre. Die Haken, die die Flügel offen hielten, saßen locker, die Ösen rosteten. Offensichtlich war schon länger nichts daran getan worden. Aber so war es oft mit historischen Gebäuden, der Erhalt war aufwendig, und es genügte der falsche Besitzer, die falsche Besitzerin, die das Haus verfallen ließen, bis eine Sanierung nicht mehr lohnte. Dann: Abriss. Dazu war sie hier. Sie durfte sich keine Sentimentalität erlauben. Auch wenn sie spürte, dass es ihr diesmal schwerfallen würde.

Wann hatte es begonnen, dass ihr der normale Blick auf Häuser abhanden gekommen war? Nora erinnerte sich, dass sie als Kind gebannt zugesehen hatte, wie Bagger in der Nachbarschaft ein Haus zusammenschoben. Dass dies auch mit dem Haus passieren könnte, in dem sie mit ihrer Mutter lebte, hatte sie befürchtet, sie hatte Albträume gehabt von Baggerschaufeln, die sie zermalmten, von einstürzenden Mauern, die sie unter sich begruben.

»Stell dich nicht so an«, hatte ihre Mutter gesagt, »dieses Haus reißt niemand ab. Wir wohnen hier doch. Wohnen wir hier, ja oder nein? Das hier, meine liebe Nora, das ist unser Zuhause.«

Und Nora hatte genickt. Ja, es war ihr Zuhause, auch wenn sie nicht sicher war, ob ein Zuhause nicht eher so war wie bei den Mädchen aus ihrer Klasse, die sie manchmal besuchte, nicht oft. Dort gab es getöpferte Türschilder, auf denen der Name der Familie stand, und eine Mutter, die sich eine Küchenschürze umband und ihrer Tochter Fischstäbchen briet, wenn sie aus der Schule kam. Die sich erkundigte, wie es gewesen war, die sogar die Namen der Lehrer kannte. Es gab geschlossene Möbel, die zusammenpassten, und einen Partykeller mit einer Bar. Ganz anders als die Matratzenlager und die Apfelsinenkisten in den WG-Zimmern, die Nora mit ihrer Mutter bewohnte. Die Lagerfeuer am Abend und ihre verschlafenen Blicke, wenn sie mittags aus der Schule zurückkehrte: »Du bist schon da?« Dazu kam: Ihr Zuhause wechselte einfach zu oft. 

Irgendwann, sie war wohl zwölf Jahre alt, beschloss Nora, das Konzept von Zuhause ein für alle Mal zu begraben. Wenn jemand fragte, wo sie herkam, nannte sie ihren Geburtsort in einem Mittelgebirge. Die Zeit, bevor sie zwölf gewesen war, und die Zeit danach: Sie verschwieg sie. Ihren Vater kannte sie nicht, ein Zuhause gab es nicht. Aber das musste sie ja niemandem auf die Nase binden. Und das mit den Besuchen bei den anderen Mädchen hatte sich mit dem nächsten Umzug sowieso erledigt.

Nora holte Handtuch und Badezeug aus ihrer Reisetasche und machte sich auf den Weg ans Wasser.

Nora überquerte die Wiese geradewegs bis zur Abbruchkante. Mit präzisen Schritten hatte sie die Strecke gleich nach ihrer Ankunft vermessen, genau hundertsiebzig waren es. Am Rand entlang ging sie weiter, bis das Ufer niedriger wurde und ein steiler Pfad geradewegs hinabführte. Auf den schmalen Strand hatte jemand ein altes Ruderboot gezogen, die Farbe war abgeblättert, die Planken wirkten morsch. Die Ruder darin waren wohl vergessen worden.

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