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One Last Song

Als Buch hier erhältlich:

»Wunderschön. Eine Liebeserklärung an die Liebe und die Musik. Große Empfehlung!«Bianca Iosivoni

In New York auf der Bühne zu stehen, das ist Rileys großer Traum – doch trotz harter Arbeit kommt sie nicht weiter. Als sie einen Job als Kellnerin im Bistro der New York Music & Stage Academy ergattert, ist sie der Musikwelt immerhin ein kleines Stück näher gekommen. Dort lernt sie Julian kennen, der den großen Durchbruch als Musiker bereits geschafft hat. Und obwohl sie sich eigentlich nur auf ihre Karriere konzentrieren möchte, steht ihre Gefühlswelt plötzlich Kopf. Auch Julian ist fest entschlossen, sich von Riley fernzuhalten, denn er hat sich geschworen, sich nie wieder auf eine Frau einzulassen, die auch auf die Bühne will. Durch die gemeinsame Liebe zur Musik kommen sich die beiden dennoch näher. Als ihre Beziehung ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird und alles droht auseinanderzubrechen, wird Riley schmerzhaft klar, dass das Leben im Rampenlicht auch seine Schattenseiten hat.


  • Erscheinungstag: 27.10.2020
  • Aus der Serie: One Last Serie
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745701227

Leseprobe

Für New York City
Danke für alles.

PLAYLIST

ONE LAST SONG

One More Light – Linkin Park

Chasing Cars – Snow Patrol

Wonderwall – Oasis

This Is The Moment – Anthony Warlow

Out Here On My Own – Irene Cara

On My Own – Frances Ruffelle

Mr. Cellophane – Barney Martin

Send In The Clowns – Judy Collins

Let It Go – Caissie Levy

Defying Gravity – Kristin Chenoweth, Idina Menzel

Man Of La Mancha – Linda Eder

And I Am Telling You I’m Not Going – Jennifer Holliday

Home – Shanice Williams

City Lights – The Manhattan Singers

One Last Song – Denis Riffel

Every Inch, Every Bone – Floriana Maddalena Maiello

When Love Was King – Denis Riffel

I Could Stay – Floriana Maddalena Maiello, Denis Riffel

Hard Work – Floriana Maddalena Maiello

Crystal Clear – Sarah Reiter

RILEY

1.

»Komm sofort zurück, Riley Maddock, oder du bist gefeuert!«

»Ach, leck mich doch!«, blaffte ich, auch wenn es wohl eine schlechte Idee war, Ike derart über den Mund zu fahren. Immerhin finanzierte ich mit seinem Hungerlohn einen Teil meines Lebensunterhalts. Oder hatte das zumindest bisher getan.

Ich knallte die Stahltür hinter mir zu und trat in den viel zu frühen Morgen hinaus. Die Straßen waren nass und schmierig vom sommerlichen Platzregen, der vor einer Stunde heruntergekommen war, die Luft war schwüler als zuvor. Wie in einer Dampfsauna auf Hochbetrieb.

Ich rieb mir über den schweißnassen Nacken, schob die Brille auf meiner Nase zurecht und band die Haare zu einem Zopf. Mein Shirt klebte an mir, der Geruch nach Alkohol und Frittenfett schien förmlich aus meinen Poren zu quellen. Die Nachtschicht war hart gewesen. Heute waren viele Touristen gekommen, die letzten erst vor einer Stunde gegangen, obwohl wir um vier Sperrstunde ausgerufen hatten.

Ich zog die Schürze aus und pfefferte sie in eine der großen Mülltonnen neben der Tür. Ike hatte mich vorige Woche bereits abgemahnt, heute hatte ich es auf die Spitze getrieben. Aber was konnte ich dafür, wenn dieser eine Kerl seine Hände nicht bei sich lassen wollte? Abgesehen davon war es nicht meine Aufgabe, mich um die betrunkenen Gäste zu kümmern, auch nicht, wenn sie auf dem Klo schliefen. Als ich den Typen geweckt hatte, ging er mir gleich an die Wäsche, was ich mit einer Ohrfeige quittierte. Dumm nur, dass er nicht irgendein Gast gewesen war, sondern Ikes Bruder, der natürlich einen Riesenaufstand gemacht hatte.

Das rot und grün leuchtende Neonlicht von Ike’s Bar & Grill fiel auf mein Gesicht, als ich die Hände in die Hüften stemmte und meinem Arbeitsplatz einen letzten Blick zuwarf. Meinem ehemaligen Arbeitsplatz wohl eher … aber ich empfand nicht einmal Frust deshalb, obwohl das der dritte Job in vier Monaten war, den ich verlor. Es würde sich ein neuer finden. Irgendeine andere Spelunke, die ihre Leute unterbezahlte. In New York gab es weiß Gott genügend davon, und in fünf Monaten war sowieso alles vorüber.

Ich schloss die Augen, drängte den Gedanken beiseite, dass meine Zeit hier fast zu Ende war, und lauschte den Geräuschen. Autos fuhren vorbei, hupten, lärmten, eine Sirene schrillte in der Ferne. Es war erst halb sieben Uhr morgens, und dennoch gab es keine Ruhe. Nicht umsonst nannte man New York die Stadt, die niemals schlief.

Ich schulterte meine Tasche und ging davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Es war nicht weit zur U-Bahn-Station, aber ich würde die Meile bis nach Hause zu Fuß gehen. Vielleicht half es, meinen Kopf frei zu bekommen und mir Gedanken über einen neuen Job zu machen. Außerdem konnte ich nach einer Nachtschicht sowieso nicht gleich schlafen.

Ich bog um eine Ecke auf den Times Square ab. Normalerweise mied ich die Gegend, wie jeder echte New Yorker, aber heute brauchte ich das bunte Treiben, auch wenn es noch verhältnismäßig ruhig war. Im Gehen kramte ich nach einem Kaugummi, damit ich den schalen Geschmack der Nacht loswerden konnte, und checkte mein Handy. Ajden hatte vor zwei Stunden angerufen. Ich drückte sofort auf Wiederwahl, denn eigentlich rief er um die Uhrzeit nicht an, sondern beachtete die Zeitverschiebung. Er war zurzeit in Indien, wo er in einem Bergdorf half, ein neues Bewässerungssystem anzulegen, das er mit seiner Freundin Liz entworfen hatte. Nach dem zweiten Klingeln hob er ab.

»Hey, Schwesterherz, schön, dass du zurückrufst und sorry, weil es so früh war. Mir ist der Zeitunterschied erst eingefallen, als ich schon gewählt hatte. Ich habe dich hoffentlich nicht geweckt.«

»Nein, hast du nicht. Wie geht es dir?«

»Großartig. Wir haben den ersten Brunnen zum Laufen gebracht!«

»Das ist fantastisch!«

»Ja. Du solltest die Kinder sehen. Sie rennen schon den ganzen Morgen herum und spritzen sich mit Wasser nass. Außerdem haben wir den neuen Impfstoff zum ersten Mal einsetzen können. Ich denke, er wird vielen hier helfen.«

Ich lächelte und bekam Gänsehaut. Es war unglaublich, was Ajden und Liz leisteten. Sie arbeiteten seit einem halben Jahr an diesem Projekt, bauten nicht nur Brunnen, sondern boten auch medizinische Hilfe für Menschen, die es sich nicht leisten konnten, zum Arzt zu gehen. Etwas zurückgeben von den Chancen, die ich in meinem Leben bekommen habe, nannte Ajden das.

»Dad platzt sicherlich vor Stolz.«

»Du bist die Erste, der ich es erzähle, aber ja, er wird zufrieden mit mir sein.«

Ein Gefühl, das ich bei ihm nicht hervorrufen konnte.

»Wie lief das Vorsingen gestern?«, fragte Ajden.

Vorsingen, welches Vorsi… Ach Gott, stimmte! Er hatte mir vor zwei Wochen eine Liste von aktuellen Shows herausgesucht, die online Castings ausschrieben. Gestern hatte eines für die Tour von Wicked stattgefunden.

»Ich … Ich … nicht gut. Sie haben mich nach dem ersten Song aussortiert. Ich bin zu klein.« Bei der Lüge zog es mir das Herz zusammen, denn ich war gar nicht auf die Audition gegangen. Die Show war viel zu groß für mich, aber das wollte Ajden nicht einsehen. Daher war es leichter, es meinem Bruder auf diese Art beizubringen. Schlimm genug, dass er seine spärliche freie Zeit für mich aufbrachte.

»Ach, verdammt. Ich hab dich schon als Elphaba gesehen.«

Ich konnte das Schnauben nur mit Mühe unterdrücken. Sicher war ich nicht die schlechteste Sängerin, aber eine Rolle wie die der Elphaba war den Göttinnen vorbehalten. Ajdens Hilfe war lieb gemeint, doch er wusste nichts von diesem Geschäft.

»Die Castingfuzzies haben echt keine Ahnung«, sagte er.

»Dafür haben sie die Rollen, für die ich vorspreche.«

»Lass dich nicht entmutigen, ja?«

Ich versuche es.

»Heute steht dann das Casting für Waitress an?«

»Ich weiß noch nicht. Für die Rollen von Jenna und Dawn bin ich eigentlich zu jung und auch zu unerfahren. Im Ensemble suchen sie im Moment Tänzerinnen. Du weißt, wie schwer ich mich damit tue.«

»Wie laufen denn die Tanzstunden?«

»Geht so.« Würden besser laufen, wenn ich welche nehmen würde, aber sie waren so unfassbar teuer.

»Und der Gesangsunterricht?«

Ich rieb mir über die Stirn, denn den nahm ich ebenfalls nur sporadisch. Dads monatliche Überweisung reichte nur für die Miete, nicht für den Rest. »Ganz gut, meine Lehrerin ist zufrieden.«

Sie sagte aber auch, dass ich mir noch ein Jahr Zeit geben sollte und es besser wäre, wenn ich jede Woche zu ihr käme. Bedauerlicherweise hatte ich kein Jahr mehr in der Stadt.

»Ist alles klar bei dir? Du klingst gestresst«, fragte Ajden, und ich sah im Geiste, wie sich seine Stirn in Falten legte, als würde er über ein kompliziertes Rätsel nachdenken.

»Könnte daran liegen, dass ich die ganze Nacht gearbeitet habe.«

»Seit wann musst du denn bei Olivias Garden Nachtschichten schieben?«

Oh, verdammt. Ich hatte ihm gar nicht erzählt, dass ich den Job dort schon vor vier Wochen verloren hatte. »Ich … muss ich eigentlich nicht, aber wir hatten einen … einen Wasserrohrbruch, und alle haben geholfen, sauber zu machen.«

»Verarsch mich nicht, Riley.«

Ich seufzte und umklammerte das Handy fester. »Ich hab den Job nicht mehr. Stattdessen arbeite ich bei einem Grill, der die ganze Nacht offen hat.« Oder habe ich, bis heute Morgen. »Die zahlen besser.«

»Aber hast du so auch Zeit für alles andere? Die Castings sind wichtig.«

»Das ist Geldverdienen auch. Hast du eine Ahnung, wie teuer diese Stadt ist?«

»Natürlich hab ich das.«

»’tschuldigung, ich wollte dich nicht anpatzen. Du sitzt in einem der ärmsten Länder der Welt und tust alles, damit es den Menschen dort ein bisschen besser geht, und ich bin so dämlich … gestresst.« Von diesem ganzen Mist, den ich mir selbst aufgebürdet hatte. Mit Ajden zu sprechen machte mir jedes Mal bewusst, wie klein meine Probleme waren. »Ich bin nur müde. Heute Nacht war viel los.«

»Ich schick dir Geld, damit du nicht so schuften musst.«

»Das kommt überhaupt nicht infrage! Du brauchst es für wichtigere Dinge!«

»Ich komm klar, mach dir keine Sorgen.«

»Ich will aber keine Almosen. Es reicht, dass Dad mir unter die Arme greift.«

»Sei doch nicht so stur.«

»Ich bin nicht stur. Lass es mich bitte selbst machen, ja?«

»Okay.«

»Okay?!«

»JA! Mann, du bist echt unausstehlich, wenn du Schlafmangel hast.«

»Und Koffeinmangel. Ich muss auflegen, ich geh gleich runter in die Subway. Dort zu telefonieren ist ätzend.« Manchmal erschreckte es mich, wie leicht mir solche spontanen Lügen mittlerweile über die Lippen kamen. Was war nur aus mir geworden?

»Gut, aber wenn ich was für dich tun kann, rufst du sofort an, klar?«

»Natürlich. Hab dich lieb. Sag Liz schöne Grüße.«

»Mach ich, hab dich auch lieb. Wir quatschen in ein paar Tagen.«

Ich legte auf und sah auf das Bild auf dem Display. Es zeigte Ajden in seinem Heimatdorf in der Nähe von Mumbai, wo er letzten Sommer zu Besuch gewesen war. Seine Eltern, Großeltern und seine kleine Schwester waren dort vor zweiundzwanzig Jahren bei einer heftigen Überschwemmung ums Leben gekommen, zusammen mit unzähligen anderen Menschen. Ajden war erst vier gewesen. Es war ein Wunder gewesen, dass er überlebt hatte. Dad war zu der Zeit mit einer Hilfsorganisation vor Ort gewesen und hatte Ajden kurzerhand adoptiert. Trotz seiner schlimmen Erinnerungen an den Ort wirkte mein Bruder glücklich auf dem Foto. Er hatte seinen Frieden gefunden, dieser beneidenswerte, wundervolle Mensch.

Ich steckte das Handy zurück in die Tasche, sah einen Moment nicht auf die Straße, und da geschah es: Ich rasselte mit jemandem zusammen.

Vor Schreck schrie ich auf. Die junge Frau, mit der ich zusammengeprallt war, ebenso. Ein Ordner mit zig Papieren segelte zu Boden, die Blätter breiteten sich auf dem noch nassen Asphalt aus.

»Oje, tut mir leid!«, rief sie, bückte sich und sammelte hektisch alles zusammen.

»War auch meine Schuld.« Das passierte mir echt selten. Obwohl New York voller Leute war, liefen die wenigsten ineinander. Es schien, als hätte die Stadt einen eigenen Rhythmus, dem man automatisch folgte, sobald man sich durch die Straßen bewegte. Wie ein Vogelschwarm, der genau wusste, in welche Richtung er fliegen wollte.

»Nein, nein, nein! Was für eine Sauerei«, jammerte die Frau.

Ich hockte mich neben sie und half, die Sachen einzusammeln. Mein Blick fiel auf einen der Zettel. Es war ein Anmeldebogen für die New York Music & Stage Academy. Heute war anscheinend einer ihrer heiß begehrten Vorsprechtage.

Der Neid kochte in mir hoch, denn ich würde sonst was drum geben, an der Schule studieren zu können. Leider waren die Gebühren derart horrend, dass ich sie mir nur leisten könnte, wenn ich vier Jobs gleichzeitig hätte und auf Essen, Kleidung und alle anderen Ausgaben verzichten würde.

Ich drückte der Frau den Bogen und die anderen Papiere in die Hand. Sie nahm alles dankbar entgegen und stopfte es zurück in ihren Ordner.

»Ich hätte besser auf die Straße achten müssen«, sagte sie und sah an sich hinab, vermutlich um zu checken, ob ihr blaues Sommerkleid Dreckspritzer abbekommen hatte, was nicht der Fall war. »Die Stadt verwirrt mich noch.«

»Ich habe auch nicht aufgepasst, ist nicht nur deine Schuld. Zum ersten Mal hier?«

»Ja.« Sie fuhr sich durch die blonden Haare, versuchte, ihren Zopf in Ordnung zu bringen, und richtete sich auf. Ihr Blick huschte unruhig hin und her, und sie erinnerte mich an mich selbst, als ich das erste Mal in diese Stadt gekommen war. Vollkommen überfordert und verloren. New York konnte einen bei lebendigem Leibe verschlingen, wenn man nicht aufpasste.

»Ich hab ein Vorsprechen«, sagte sie.

»So früh fangen die an? Es ist Samstag.«

»Die Auditions sind immer an Wochenenden. Es beginnt erst um zehn. Aber ich konnte sowieso nicht mehr schlafen, also dachte ich, ich fahr schon mal her, sehe mir alles in Ruhe an und akklimatisiere mich.«

»Ist das Vorsprechen direkt in der Schule?«

»Ja.« Sie kramte in ihren Unterlagen und zog einen zerknitterten Zettel hervor. »221 West 61st Street Upper West Side.«

»Da kommst du am einfachsten mit der Linie 1 oder 2 hin, die nächste Haltestelle ist drüben an der 50th und 7th Ave. Also in die Richtung.« Ich zeigte Uptown und nach links. »Oder du gehst wieder in die Station, aus der du eben gekommen bist, und nimmst einen N-, Q-, R- oder W-Zug Richtung Central Park. Dann musst du aber noch ein gutes Stück laufen.«

»Oookay. Ich glaube, ich gehe einfach zu Fuß. Das hilft mir sicherlich gleich den Stress abzubauen.« Sie stopfte den Ordner in ihre Tasche und holte stattdessen ihr Handy heraus, wo sie eine App zur Navigation aufrief. »New York ist ja eigentlich übersichtlich, aber ich bin dennoch verwirrt.« Sie orientierte sich kurz, an welcher Kreuzung wir standen. »Ich komme dauernd durcheinander, wo es nach Uptown oder Downtown geht.«

»Das findest du mit der Zeit raus, wenn du die Gebäude besser kennst.«

»Falls ich das Glück habe und sie mich nehmen, werde ich ja eine Weile hier sein.«

»Ich drücke die Daumen.«

Sie lächelte, tippte auf ihrem Handy herum und brabbelte etwas Unverständliches, dann machte sie kehrt und lief in die andere Richtung davon. Ich stand einen Moment lang unschlüssig da und sah ihr wehmütig nach.

Irgendetwas an ihr drängte mich, ihr nachzulaufen.

Vielleicht, weil sie ihre Träume anpackte.

Vielleicht, weil sie auf den ersten Blick nett wirkte.

Vielleicht, weil sie zur NYMSA durfte und spannende Dinge lernen würde.

Vielleicht auch, weil sie in die falsche Richtung ging.

»Nein, warte!«, rief ich und schloss zu ihr auf. »Da rüber.«

Sie sah auf das Handy, auf die Straße und klatschte sich an die Stirn. »Ach, klar. Der Pfeil zeigt ja gar nicht nach rechts. Wie gut, dass ich noch so viel Zeit habe!«

»Du solltest dir ein Taxi rufen.«

»Nein, schon gut. Ist so ein Ding von mir, ich muss mir alles in Ruhe ansehen und mich mit einem Ort verbinden. Das klingt schräg, aber es beruhigt mich. Ich dachte, am Times Square kann ich die Broadway-Vibes spüren und so vielleicht nachher besser auftreten. Immerhin ist das einer der Gründe, weshalb ich auf die NYMSA will – um hier eines Tages zu spielen.«

»Das verstehe ich gut.«

»Ah, also auch ein Bühnenmensch?«

»Nicht wirklich, aber ja. Ich liebe das Theater.«

»Wo hast du gelernt?«

»Zu Hause. In Denver. Nichts Großes oder so.«

»Und wo spielst du?«

»Nirgendwo. Ich … Ich bin noch auf der Suche.« Gott, war mir elend. Ich presste die Lippen zusammen und hätte am liebsten losgeheult, dabei war ich keine dieser emotionalen Tussis, die sofort rumflennten. Klar, die Nachtschicht hatte mich geschafft, das Gespräch mit Ajden ebenso und die Tatsache, dass die Uhr für mich tickte. Jetzt traf ich auch noch jemanden, der genau das machte, was ich tun wollte. Ich räusperte mich, nahm kurz die Brille ab und wischte mir über die Augen, ehe es auffiel.

»Hey, alles klar?«, fragte sie rasch. »Bin ich dir zu nahegetreten?«

»Nein, Quatsch. Ich habe nur ’ne lange Nacht hinter mir, und manchmal ist die Stadt so unglaublich frustrierend.«

»Oh, das versteh ich. Deshalb will ich auch auf die Schule und mich so gut es geht vorbereiten.«

»Sehr vernünftig. Wirklich. Du wirst es so viel leichter haben. Bei allem: Agentensuche, Auditions, du wirst bessere Termine zum Vorsprechen bekommen und so weiter.«

»Wirklich?«

»Ja, sie hören immer erst die an, die über Agenten kommen, danach dürfen alle anderen vorsprechen oder vorsingen.«

»Wie hoch sind da noch die Chancen?«

»Keine Ahnung. Eins zu achthundert?«

»Es kommen achthundert Leute auf eine Audition? An einem Tag?«

»Manchmal auch mehr. Ich habe schon fünf Stunden gewartet, durfte dann zwanzig Sekunden vorsingen und wieder gehen, oder, auch ganz nett: Ich darf erst gar nicht auftreten und werde vorher aussortiert, weil ich zu klein bin. Oder eine Brille trage, wobei ich die ja jederzeit abnehmen kann, oh Wunder.«

»Das ist gruselig.«

»Wem sagst du das!«

»Ich wusste, dass es hart in New York ist, aber so …«

»Es gibt einfach zu viele, die auf die Bühne wollen.« Warum jemanden mit blauen Augen casten, wenn die Rolle braune erforderte und hundert Braunäugige vorsprachen, die mindestens genauso gut waren wie man selbst. Die Regisseure mussten keine Kompromisse eingehen, dafür hatten sie genügend Auswahl.

»Keine Sorge«, versuchte ich sie zu beruhigen, als mir ihr schockierter Gesichtsausdruck auffiel. »Die NYMSA genießt einen fantastischen Ruf. Wenn du einen Abschluss von dort hast, ist das die beste Eintrittskarte für jedes Casting. Eine Freundin von mir hat letztes Jahr dort studiert, und nun spielt sie Anya in der Tournee von Anastasia.«

Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Danke. Für deine Worte und die Wegbeschreibung. Ich hoffe, ich finde es jetzt.«

»Wie wäre es, wenn ich dich begleite?« Die Frage sprudelte aus meinem Mund, ehe ich sie aufhalten konnte.

»Du hast bestimmt Besseres zu tun.«

Ja, nach Hause gehen und eine Runde im Selbstmitleid baden. Sehr motivierend. »Ich hab eben Feierabend gemacht und nichts weiter vor. Ich helfe dir gern. Du sollst es ja zu deinem Vorsprechen schaffen.«

»Sicher?« Sie runzelte die Stirn, aber in ihrer erwartungsvollen Miene konnte ich lesen, dass sie sich über meine Begleitung freuen würde.

»Absolut. Ich heiße übrigens Riley.«

»Allyson, nein: Ally. Das mag ich lieber. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«

»Keine Ursache.« Ich deutete in die richtige Richtung, und wir setzten uns in Bewegung. Langsam füllte sich die Stadt, die ersten Touristen machten sich auf den Weg zu ihrer Sightseeingtour.

»Können wir kurz bei dem Coffeeshop da vorne halten?«, fragte Ally. »Ich brauche noch etwas zu essen.«

»Klar.«

Ally bestellte drei Bagels, ein Croissant und einen großen Caffè Latte mit Walnussaroma. Sie wartete erst gar nicht, bis wir draußen waren, sondern biss sofort in ihren ersten Bagel und verzog genießerisch den Mund. Verlegen tupfte sie sich die Krümel vom Kinn. »Ich muss immer futtern, wenn ich nervös bin, ganz schrecklich.«

»Sieht man dir überhaupt nicht an.« Ally war ein Stückchen größer als ich und bestimmt zehn Kilo leichter. Vermutlich zählte sie zu den Menschen, die essen konnten, was sie wollten, ohne je zuzunehmen. Ich war zwar auch ganz zufrieden mit meiner Figur, aber einen Hauch weniger auf den Hüften würde nicht schaden.

Wir setzten unseren Weg fort, und kamen an einer gigantischen digitalen Reklametafel vorbei, auf der für ein Konzert von Beyond Sanity im Madison Square Garden in zehn Wochen geworben wurde. Der Frontmann war auf dem Plakat zu sehen. Er hatte einen Arm in die Höhe gestreckt, mit der anderen Hand hielt er das Mikrofon fest. Nebel und Scheinwerfer hüllten seine Gestalt ein.

»Ethan Cooper ist so heiß!«, sagte Ally.

»Das ist er.«

»Kennst du schon ihren neuen Song?«

»Es ist fast unmöglich, ihn nicht zu kennen, er läuft ja ständig überall.«

»Ich habe Beyond Sanity zwar erst diesen Frühling entdeckt, aber ich liebe ihre Musik. Gehst du auf das Konzert?«

»Nein.« Viel zu teuer.

»Hach, ich würde sonst was drum geben, es mir anzusehen, doch es ist seit einem halben Jahr ausverkauft. Am liebsten würde ich Ethan fragen, ob sich was machen lässt, aber wir dürfen nicht mit der Jury über solche Dinge reden.«

»Wie meinst du das?«

»Ethan übernimmt eine Masterclass an der NYMSA in der Sparte Rock & Pop. Heute wird er in der Schule sein, um die Studenten dafür auszuwählen.«

Ich blieb stehen und starrte sie an. »Im Ernst?«

»Ja, cool, oder?« Ally klatschte vor Begeisterung in die Hände und quietschte leise. »Ich bewerbe mich allerdings für die Sparte Schauspiel, nicht Rock.«

»Von den Masterclasses hab ich gehört, aber mich nicht weiter damit beschäftigt.« Denn die waren noch teurer als die regulären Studiengänge.

»Sie dauern sechs Wochen, und das Auswahlverfahren ist sehr hart. Es zieht sich jetzt schon über ein halbes Jahr.«

»Heftig, was haben sie denn dafür verlangt?«

»Na ja, ich musste Videos von mir einschicken, in denen ich Monologe vortrage, natürlich meinen Lebenslauf einreichen und gefühlt tausend Fragen beantworten. Warum ich Schauspielerin werden möchte, was meine Träume und Wünsche sind, was ich mir von der Masterclass verspreche, so Sachen eben. Ich wollte eigentlich schon letzten Sommer kommen, da war Robert de Niro da, doch leider habe ich die Anmeldung verpasst.«

»Wer ist es dieses Jahr?«

»Isabel Roberts.«

»Wow.«

»Ich weiß! Hoffentlich erklärt sie uns, wie man es schafft, einen Oscar zu gewinnen. Hast du Look up to the Moon gesehen?«

»Oh ja! Großartiger Film.«

»Fand ich auch! Ich hab Rotz und Wasser geheult bei der Szene, als sie Stanley von ihren Träumen erzählt hat.«

Jetzt wurde ich noch wehmütiger, weil ich nie die Möglichkeit haben würde, von solchen Leuten zu lernen. Ally und ich plauderten weiter, und ich merkte, wie ähnlich wir uns waren. Sie brannte genauso für ihren Traum wie ich für meinen, aber im Gegensatz zu mir hatte sie die volle Unterstützung ihrer Eltern.

»Und dein Dad hat dir echt eine Frist gesetzt?«, fragte Ally und verputzte ihren zweiten Bagel.

»Ja. Er unterstützt mich für zwei Jahre. Wenn ich es in der Zeit nicht schaffe, eine bezahlte Rolle zu bekommen, muss ich zurück nach Denver und entweder mein Medizinstudium wieder aufnehmen, das ich im dritten Semester abgebrochen habe, oder etwas Ähnliches machen, bei dem ich Menschen helfen kann. So wie mein Bruder Ajden. Er hatte auch erst studiert, dann aber aufgehört, weil er lieber vor Ort ist und mit anpackt.« Mir graute bei dem Gedanken daran, mich erneut in Fachbüchern zu vergraben und seitenweise Fakten auswendig zu lernen, für die ich mich kein Stück interessierte. Nicht, dass ich Dads Arbeit nicht schätzte – sie war wichtig und half unendlich vielen Leuten –, aber sie war nichts für mich. Ich konnte die Welt auf eine andere Art verbessern, doch das kapierte er nicht.

»Kein Druck und so«, sagte Ally und schüttelte den Kopf.

»Mein Dad ist ein wundervoller Mensch, der mit sehr viel Elend konfrontiert wird. Im Grunde will er nur das Beste für mich, aber seine Vorstellung und meine gehen in der Hinsicht einfach auseinander. Abgesehen davon ist es vielleicht ganz gut, dass ich nicht alle Zeit der Welt habe. Ich bin einundzwanzig Jahre alt. In dieser Branche kann ich es nicht ewig versuchen.«

»Ja, schon, aber es ist trotzdem hart. Und was bedeutet überhaupt: bezahlte Rolle? Verlangt er ein Engagement am Broadway, oder gilt auch eine kleine Produktion?«

»Dad weiß, dass ich nicht sofort bei einer Broadwayproduktion angestellt werde, aber er will sehen, dass ich mir etwas aufbaue. Also Rollen, die mir Türen öffnen und mich voranbringen.«

»Verstehe. Trotzdem hart. Hast du denn etwas in Aussicht?«

»Ich habe letzten Winter in einem kleineren Musical mitgespielt. Das lief aber nur vier Wochen und war leider nicht gut bezahlt. Bei einigen Auditions hab ich es in die Callbacks geschafft, aber der richtig gute Fang blieb bisher aus.« Hätte ich nicht wenigstens diese kleinen Erfolgserlebnisse gehabt, hätte ich längst die Flinte ins Korn geworfen.

»Wenn ich dich irgendwie unterstützen kann, sag Bescheid. Selbst, wenn ich es heute nicht schaffe, genommen zu werden, müssen wir in Kontakt bleiben!«

Ich lächelte und nickte. Obwohl ich Ally erst seit knapp einer Stunde kannte, fühlte es sich an, als wären wir schon seit langer Zeit Freundinnen.

»Da vorne ist es übrigens«, sagte ich und deutete auf den nächsten Häuserblock.

»Oh, mein Gott. Ich hab mir schon gedacht, dass hier viel los sein wird, aber das ist ja der Wahnsinn.« Ally blieb mit offenem Mund stehen.

Ich verharrte ebenfalls. In New York kam es öfter vor, dass Straßen belagert wurden, weil irgendwelche Stars erkannt worden waren oder Interviews gaben oder ein YouTuber seine neue Modekollektion vorstellte. Meistens scherte es mich nicht, aber heute schon. Das hier war meine Welt. Das hier war die Musik, das Theater, das Schauspiel. Hier wurden die Dinge vereint, die ich über alles liebte und deretwegen ich meine Heimatstadt verlassen hatte.

Die Meute wartete auf der linken Straßenseite hinter metallenen Absperrungen, die von Sicherheitsmännern überwacht wurden. Einige Fans hielten selbst gemalte Plakate oder laminierte Poster bereit, um sie vermutlich gleich kreischend in die Höhe zu reißen. Manche waren nur mit Smartphones ausgerüstet, andere hatten richtige Spiegelreflexkameras mit riesigen Objektiven dabei.

»Äh, wir müssen irgendwie da rüber«, sagte ich und zeigte auf das große hellgraue Gebäude.

Die NYMSA war von außen recht unscheinbar. Das Haus war eine alte Fabrik, die umgebaut und erneuert worden war. Der Unterricht fand auf vier Stockwerken in Tanz- und Schauspielräumen statt. Angeblich gab es sogar ein eigenes kleines Theater und ein Musikstudio, wo die Schüler ihre Songs aufnehmen konnten. Was würde ich darum geben, ein paar Stunden dort zu verbringen und mir alles in Ruhe anzusehen. Sie veranstalteten zwar regelmäßig einen Tag der offenen Tür, aber die Plätze waren jedes Mal schnell weg.

Ally atmete nervös ein und aus. Ich griff nach ihrer Hand und zog sie über die Straße zum Gebäude. Der Zugang war jedoch mit Security verstellt, wir kamen nicht mal in die Nähe des Eingangs.

»Moment«, sagte Ally und kramte in ihrer Tasche eine Karte heraus, die sie dem nächststehenden Sicherheitsmann gab. »Ich bin angemeldet.«

Er studierte die Karte kurz und nickte dann seinem Kollegen zu, der die Absperrung für Ally öffnete. Als ich mitkommen wollte, hielt mich der Mann zurück.

»Sie ist meine Begleitung«, sagte Ally.

»Hat sie auch eine Karte?«, fragte der Mann.

»Nein.«

»Die braucht sie. Du hättest sie bei der Anmeldung angeben müssen.«

»Aber da kannte ich sie noch nicht.«

Er runzelte die Stirn und musterte mich. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, damit er hoffentlich die Fettflecken auf meiner Bluse nicht sah.

»Können wir nicht eine Ausnahme machen?«, fragte Ally und setzte ein charmantes Lächeln auf.

»Siehst du die ganzen Leute da drüben?« Er zeigte auf die Menschenmenge, die geduldig am Straßenrand wartete, nur um einen Blick auf einen der Stars zu erhaschen. »Die wollen auch eine Ausnahme.«

»Ich weiß, aber sie hat mir geholfen. Ich hätte mich ohne sie verirrt.«

Er schüttelte den Kopf. »Und wenn sie dir das Leben gerettet hätte – tut mir leid.«

»Schon gut«, sagte ich. »Ich drücke dir von hier die Daumen.«

»Die Audition ist erst in zwei Stunden, du kannst doch nicht so lange draußen hocken.«

»Gib mir dein Handy.«

Sie holte es heraus, entriegelte den Sperrbildschirm und reichte es mir. Ich tippte meinen Namen und meine Nummer ein und rief mich selbst an, damit ich ihre hatte.

»Schreib mir. Okay? Wenn du fertig bist, können wir uns treffen und etwas essen gehen. Und ich will natürlich wissen, ob du es geschafft hast.«

»Ich wünschte, du könntest mitkommen.«

»Ich auch, aber ich sag mal: Toi, toi, toi.«

Sie nickte nur, denn es brachte Unglück, sich dafür zu bedanken. Ally schenkte mir eine dicke Umarmung, ohne sich daran zu stören, dass ich nach Frittenfett stank. »Ich bin so froh, dich getroffen zu haben.«

»Ich auch.« Ich ließ sie los und deutete mit einem Kopfnicken auf das Gebäude. »Rein mit dir. Nimm die Vibes auf, bereite dich vor, und hau sie um.«

Sie atmete noch mal tief ein und aus, strich über ihr Kleid und nickte. »Bis nachher.«

Ich blickte ihr hinterher, wie sie die Absperrung passierte und auf das Gebäude zulief. Sie musste am Eingang erneut ihre Karte vorzeigen. Ehe sie eintrat, drehte sie sich um und winkte mir zu. Ich erwiderte die Geste und wünschte ihr innerlich noch mal viel Glück.

Mein Blick schweifte wieder über die Menge. Es waren überwiegend junge Frauen, die warteten. In der ersten Reihe saßen sie auf Luftmatratzen oder Schlafsäcken.

»Haben die etwa hier übernachtet?«, sprach ich den Securitymann noch mal an.

»Ja«, antwortete er. »Jede Minute kommen Ethan Cooper und Isabel Roberts an. Die Stars nehmen sich in der Regel Zeit und verteilen Autogramme.«

»Aber bei der Schlange schaffen sie doch niemals alle.« Es war Irrsinn, dass so viele warteten, nur um ein Foto zu ergattern oder einen raschen Blick auf die beiden zu werfen.

»Sorry, aber ich muss mich auf die Arbeit konzentrieren«, sagte der Typ, was so viel heißen sollte wie: Quatsch mich nicht länger zu!

Also schulterte ich meine Tasche und wandte mich ab. Auf der einen Seite war ich todmüde von der langen Nacht, auf der anderen völlig überdreht. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Es kam mir plötzlich so nichtssagend vor, auf meiner Couch zu sitzen und mir neue Auditions rauszusuchen, bei denen ich eh wenig Chancen hatte.

Auf einmal erklang ein Hupen, und die Leute fingen an zu jubeln. Die Mädels schrien Ethans und Isabels Namen und rasteten völlig aus. Zwei schwarze Limousinen fuhren die Straße herunter, die Security öffnete den Zugang für die Autos und ließ sie passieren. Ich suchte mir einen Weg an den Absperrungen entlang, um vielleicht auch ein Foto schießen zu können, doch mir wurde rasch klar, dass das fast unmöglich war. Ich wurde weiter zur Seite gedrängt und kam eher vom Eingang weg, als dass ich mich darauf zubewegte. Nun verstand ich auch, warum manche hier übernachtet hatten, um sich die besten Plätze zu ergattern.

Die Hintertür des ersten Wagens wurde geöffnet. Zwei schlanke Beine schälten sich vom Rücksitz, kurz darauf stieg Isabel Roberts aus. Sie sah umwerfend aus. Ihre langen rotblonden Haare fielen ihr glatt und seidig über die Schultern. Sie hatte eine knallenge schwarze Lederhose an und ein locker sitzendes weißes T-Shirt mit einem funkelnden Herzen vorne drauf, dazu High Heels, die ebenso in der Sonne glitzerten. Isabel hob eine Hand, an der unzählige Ketten und Armreife baumelten, und winkte der Menge zu. Diese Frau verströmte pure Eleganz. Sie bewegte sich selbstsicher und grazil und lächelte, als Unmengen von Handys in ihre Richtung gehalten wurden und jeder ein Bild von ihr machte. Isabel lief um den Wagen herum auf die Fans zu. Sie wurde freudig begrüßt, Zettel und Bücher wurden ihr entgegengestreckt, und sie fing an, Autogramme zu geben und Selfies mit den Wartenden zu schießen.

Auch bei der zweiten Limo wurde die hintere Tür geöffnet. Ich reckte den Kopf, um besser sehen zu können. Es dauerte einen Moment länger, ehe Ethan ausstieg, dafür tat er es mit mehr Schwung. Er stürzte fast auf den Bordstein, konnte gerade so einen Fall verhindern.

Seine Jeans hatten große Löcher an den Knien und zeigten mehr von seinem Bein, als sie verdeckten. Er trug zwei unterschiedliche Schuhe, eine schwarze Lederjacke und darunter ein Shirt, das aus der Entfernung fleckig wirkte. Seine Augen waren hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen. Er hob sein kantiges Kinn und fuhr sich durch die kurzen dunkelblonden Locken. Kein Zweifel, der Mann sah extrem gut aus, selbst in dieser merkwürdigen Aufmachung. Als er sich nun den Fans zuwandte und die Hand zum Gruß hob, schwankte er allerdings bedrohlich.

War er etwa betrunken? Um diese Uhrzeit?

Die andere Hintertür des Autos öffnete sich, und ein zweiter Mann stieg aus. Er hielt ein Handy ans Ohr gepresst und gestikulierte aufgeregt, während er um den Wagen auf Ethan zulief. Ich reckte wieder den Hals, versuchte zu erkennen, wer der Typ war. Er hatte braune Haare, die etwas länger waren als die von Ethan. Ein dunkler Bartschatten zierte sein Kinn. Er wirkte müde, aber dennoch konzentriert auf das, was um ihn herum passierte. Er trug schwarze Jeans und ein T-Shirt in der gleichen Farbe.

Moment mal, war das nicht der andere Typ aus der Band? Der Gitarrist? Wie hieß der gleich?

»Oh, mein Gott, das ist Julian!«, rief jemand vor mir und warf die Hände in die Höhe.

Genau! Julian Sloan. Während ich ihn betrachtete, überkam mich ein Schauer. Er verströmte diese geheimnisvolle Aura eines Stars, den man nicht richtig einordnen konnte. Verwegen und unerreichbar. Die Fans schrien ebenfalls seinen Namen und wollten auch von ihm Autogramme, aber Julians Aufmerksamkeit galt eher Ethan als der Menge. Nur zögerlich näherte er sich der Absperrung, um den Wünschen der Leute nachzukommen. Dabei schweifte sein Blick ständig zu Ethan, als machte er sich Sorgen, dass dieser jeden Moment zusammenbrechen könnte.

Nicht ohne Grund. Ethan schwankte auf eine Gruppe Fans zu. Seine Hände zitterten, aber einer der Securitymänner blieb dicht hinter ihm. Auch Julian kam näher.

»Schön, dass ihr da seid!«, brüllte Ethan und warf sich beinahe in die Menge. Die Absperrungen wankten, doch sie hielten dem Andrang stand. Die Sicherheitskräfte hatten alle Hände voll zu tun, denn Ethan war wesentlich kontaktfreudiger als Isabel. Er wollte zu seinen Fans klettern, aber Julian bremste ihn.

Ethan murrte, nahm das Handy eines jungen Mädchens und machte damit allerlei Selfies. Zum Schluss hielt er es in den Bund seiner Jeans und fotografierte sein bestes Stück.

Du meine Güte.

Die Fans brüllten vor Freude, viele streckten ihm ihr Smartphone hin, vermutlich in der Hoffnung auf einen ähnlichen Schnappschuss.

»Mr. Sloan«, rief einer der Securitymänner, und Julian drehte sich zu ihm um. »Wenn Sie fertig sind, kommen Sie bitte hier entlang.« Er zeigte ihm den Weg zum Gebäude und wirkte, als würde er Ethan lieber jetzt als gleich nach drinnen befördern.

Auch Julian nickte dankbar und wollte Ethan auffordern, mit ihm zu kommen, doch der bedeutete ihm, noch etwas Geduld zu haben. Auf einmal hielt er sich den Magen, wandte sich von den Fans ab und übergab sich mitten auf die Straße. Julian konnte gerade so ausweichen, bekam aber trotzdem etwas ab. Zur Freude der Menge, die alles filmte oder fotografierte.

In mir zog es sich zusammen. Ich hatte in den Bars oft mit Betrunkenen zu tun. Die meisten hatten Kummer, Depressionen, Angst, was auch immer. Alle hatten irgendeine Geschichte, die sie in den Alkohol trieb. Ich fragte mich, was jemand wie Ethan Cooper, dem die Welt zu Füßen lag, auf diese Weise betäuben wollte.

Julian und zwei Securityleute packten Ethan und zerrten ihn in die Schule. Die Menge buhte, doch die drei ließen sich nicht aufhalten.

Ich schüttelte den Kopf, wich weiter von dem Geschehen zurück, denn mir dröhnte auf einmal der Schädel. Dieser Lärm, die Sensationsgier der Leute – gehörte das wirklich alles zum Leben auf der Bühne dazu? Musste es so sein?

Mir blieb nur ein Fluchtweg aus dem Ganzen, weiter nach rechts und so auf die Rückseite zur Schule hin, wo es deutlich ruhiger wurde. Ich schob die letzten Fans aus dem Weg, boxte mich mehr oder weniger frei und kam endlich an eine Stelle, an der es stiller wurde. Erschöpft lehnte ich mich neben einem Müllcontainer gegen die Hauswand und atmete durch.

Was für ein verrückter Morgen.

JULIAN

2.

»Verdammt noch mal, reiß dich zusammen, Ethan!« Ich hatte ihn fest am Ellbogen gepackt und bugsierte ihn gemeinsam mit Markus, der zum Sicherheitsdienst gehörte, zum Haupteingang.

»Das tue ich doch«, gab er zurück. »Ich war übrigens noch nicht fertig mit Signieren.«

»Doch, das warst du.« Ich schob Ethan in die Schule hinein. Das Gegröle der Menge wurde endlich leiser, als sich die Türen hinter uns schlossen und den Trubel aussperrten.

Der Eingangsbereich war auf Hochglanz poliert worden. Ein roter Teppich war ausgerollt worden, führte über die Stufen nach oben und rüber in das hauseigene Theater, wo die Audition stattfinden sollte. Leider konnte ich heute die Schönheit dieses Ortes nicht genießen, obwohl ich das Flair meiner alten Schule liebte.

Ich zeigte zu den Aufzügen zur Linken und zog Ethan durchs Foyer.

»Du wirst schnell duschen, und ich muss mich umziehen.«

»Das nächste Mal ziele ich besser«, sagte Ethan. »Tut mir leid.«

»Sorge einfach dafür, dass es kein nächstes Mal gibt, und wir reden nie mehr drüber.«

Wir mussten um eine Leiter herumlaufen, die mitten im Weg aufgebaut war. Der Hausmeister stand oben und wechselte eine Birne an dem gigantischen Kristallkronleuchter aus, was sicherlich nicht für heute geplant gewesen war. Anscheinend lief nicht nur bei uns einiges schief.

»Gill rastet bestimmt gerade aus«, sagte Ethan. »Ich sollte sie trösten.«

»Du lässt deine Finger und deinen Schwanz, wo sie sind, verstanden?«

»Du bist ganz schön prüde, weißt du das?«

Ich warf Markus einen Blick zu, der aber netterweise so tat, als ob er uns nicht hörte. »Schlimm genug, dass das eben gleich durch alle Social-Media-Kanäle schwirrt. Daniel bekommt noch graue Haare deinetwegen.«

»Wenn er das nicht abkann, sollten wir uns einen neuen Manager suchen.«

»Ich organisiere dir Ersatzkleidung«, sagte ich, als wir die Fahrstühle erreichten. Die Duschen waren im obersten Stock neben den Tanzstudios.

Ich zückte das Handy, ignorierte die zwanzig Nachrichten von Daniel und tippte auf Bradleys Kontakt, doch es war nicht nötig, ihn anzurufen.

»Hey, Julian«, rief er quer durch das Foyer. Ich sah mich nach ihm um. Er trabte vom Bistro zu uns rüber, warf dem Hausmeister auf der Leiter einen schrägen Blick zu und blieb vor uns stehen. »Wie geht’s euch?«

»Spitzenmäßig, was denkst du?« Ich wollte nicht pampig klingen, aber dieser elende Morgen wurde mit jeder verstreichenden Minute grausiger.

»Er ist untervögelt, nimm ihn nicht ernst«, sagte Ethan, ehe ich mich entschuldigen konnte.

»Ich bin nicht …«

Bradley winkte ab und lächelte mich an. »Gill ist viel schlimmer drauf.«

Ethan klatschte in die Hände. »Sag ich doch! Sie braucht mich. Ihre Libido vertrocknet.«

»Ignoriere ihn einfach«, sagte ich zu Bradley. »Siehst toll aus.« Bradley war die gute Seele in diesem Haus, der Mann, der immer Ruhe bewahrte, egal wie hektisch es wurde. Er war nur ein Jahr älter als ich und hatte mit mir bei der NYMSA angefangen. Ich als Schüler, er als Assistent von Preston, der damals noch fest das Ruder in der Hand gehalten hatte. »Der Chris-Hemsworth-Look steht dir.«

»Ja?« Er fasste an den Zopf an seinem Hinterkopf. »Seit den Avengers ist das in.«

»Deshalb auch der Bart?«

»Nein, den wollte ich schon immer haben. Hab gehört, dass Frauen drauf abfahren.«

Ich lächelte. »Wo steckt denn Gillian?«

»In der Küche, sie telefoniert mit dem Caterer. Nicht nur, dass uns heute die Glühbirnen durchbrennen, wir haben auch Probleme mit dem Personal. Es wurde zwar Essen geschickt, aber nicht genügend Leute, die es servieren. Und dann hat auch noch letzte Woche Sibill im Bistro gekündigt, weil sie eine Rolle in L. A. bekommen hat.«

»Klingt chaotisch.«

»Der übliche Wahnsinn eben, aber zurück zu euch.« Bradley musterte Ethan kurz, dann zückte er sein Handy, tippte eine Nummer und hielt es sich ans Ohr. »Ich bin es. Bring Handtücher und frische Klamotten für Ethan nach oben, außerdem ’ne Zahnbürste, Mundwasser, Aspirin und eine frische Jeans für Julian und Schuhe in Größe 42

»Das weißt du noch?«, fragte ich ihn.

Bradley zwinkerte mir zu, was so viel heißen sollte wie: Ist mein Job, das zu wissen. Dann setzte er sein Gespräch fort: »Du kannst es aus dem Fundus nehmen, klar. Bis gleich.« Er legte auf und musterte Ethan. »Sobald alles mit dem Caterer geklärt ist, lass ich dir etwas Leichtes zusammenstellen, was nicht auf den Magen schlägt.«

»Ich hab keinen Hunger«, erwiderte Ethan und machte sich von mir und Markus los. Er schwankte zwar, aber er konnte wieder allein stehen. Träge lehnte er sich gegen die Wand neben dem Fahrstuhl, der endlich ankam und seine Türen öffnete.

»Danke, Bradley«, sagte ich. »Bring trotzdem was, bis nachher hat er den bestimmt.« Sobald Ethan versorgt war, musste ich mir einen Kaffee im Bistro machen. Ich hatte noch keinen gehabt heute, und wenn dieser Tag so weiterging, brauchte ich ihn bald intravenös.

Ich schob Ethan in den Fahrstuhl und dankte Markus für die Hilfe. »Wir schaffen den Rest alleine.«

»Gut, ich gehe wieder raus.« Markus nickte uns zu, drückte den Stecker in sein Ohr, durch den er mit den anderen verbunden war, und gab weiter, dass mit Ethan alles in Ordnung war.

»Du kennst dich ja aus«, sagte Bradley, dessen Handy schon wieder klingelte.

»Ja, wir kommen zurecht. Danke dir!«

Bradley nahm den Anruf entgegen und wandte sich ab. »Was gibt’s? … Wieso ist das Klavier verstimmt, wir haben doch gestern alles gecheckt? … Ja, mir ist klar, dass es heute schwüler ist, trotzdem kann doch nicht …«

Der Rest ging unter, als sich die Fahrstuhltüren schlossen und ich und Ethan alleine waren. Er stöhnte leise und ließ sich auf den Boden der Kabine sinken. »Hast du ’ne Kippe?«

»Du weißt genau, dass ich nicht rauche.«

»Ich meine ja auch nicht für dich, sondern für mich.«

Ich biss die Zähne aufeinander und zählte innerlich bis fünf. »Warum heute, Ethan? Musste das sein?«

Er zuckte mit den Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab halt ein bisschen gefeiert, sei kein Spielverderber.«

Ich schnaubte. »Ein bisschen feiern, ist klar.« So ging das immer. Er feierte ein bisschen, nahm ein bisschen Koks, schoss ein bisschen übers Ziel hinaus. In Ethans Welt herrschten andere Maßstäbe.

Der Fahrstuhl kam oben an, ich half Ethan wieder auf die Füße und bog nach links ab. Der Geruch nach altem Schweiß und Gummi hing in der Luft. Normalerweise herrschte hier reger Trubel, und aus den Tanzstudios rechts und links klangen die unterschiedlichsten Geräusche, vom Klacken der Steppschuhe bis zum rhythmischen Pochen vieler Füße, die sich im Takt der Musik bewegten.

Heute war es ruhig. Niemand probte, niemand bekam einen Nervenzusammenbruch, weil die Schritte nicht klappen wollten.

Ich holte mein Handy wieder heraus. Daniel hatte weitere fünf Mal angerufen. Ich rollte mit den Augen und öffnete den YouTube-Kanal von Joan Langdon. Natürlich hatte sie von Ethans Kübelaktion Wind bekommen. Vermutlich hatte sie extra für heute Leute abgestellt, die alles gefilmt hatten. Ethan war in Großaufnahme und Zeitlupe zu sehen. Die Klickzahlen lagen bereits bei über fünftausend in weniger als zehn Minuten. Joan feierte sicherlich schon.

Ethan kicherte, als er über meine Schulter blickte und sich selbst sah. Sein bitterer Mundgeruch schlug mir ins Gesicht und auf den Magen. Ich steckte das Handy weg und öffnete eine Tür zur Linken, die zu den Duschen führte. »Schaffst du das?«

»Wieso, willst du mir zur Hand gehen?«

»Klar. Das ist Bestandteil meiner feuchten Träume.«

Ethan kicherte erneut, und griff in seine hintere Hosentasche. Er holte eine Kippe hervor und steckte sie zwischen die Lippen.

»Du hast mich eben gefragt, ob ich …«

Ethan nahm auch ein Feuerzeug aus seiner Jeans und zündete die Zigarette an. Er inhalierte tief und stieß den Rauch mit einem genüsslichen Stöhnen aus.

»Ist das …? Scheiße, Ethan. Rauchst du etwa Gras?«

»Natürlich tue ich das, Mom.« Er trat zurück, kickte gegen die Tür, die zur Dusche führte, und lief rückwärts in den Raum.

»Ethan!«

Er war schneller als ich, schlug die Tür vor meiner Nase zu und verriegelte sie von innen. Ich hämmerte dagegen, rüttelte am Knauf, doch alles, was ich hörte, war Ethans Gelächter.

»Du Vollidiot!«, brüllte ich.

Kurz darauf erklang Wasserrauschen. Ich schlug noch mal gegen die Tür und stieß einen Fluch aus. »Ich hasse dich, Mann.«

»Quatsch! Du liebst mich!«

Ja. Vielleicht. Aber nicht an Tagen wie diesen!

Ethan grölte lautstark unseren neuesten Hit Midnight Drunk. Er stammte aus meiner Feder und war etwas melodischer als unsere üblichen Songs, aber er passte gut zu Ethans rauer Stimme. Ich lehnte den Kopf gegen die Tür und fragte mich von Neuem, warum zum Henker ich heute Morgen aufgestanden war.

RILEY

3.

Ich presste meine Stirn gegen die kühle Hauswand und schloss für einen Moment die Augen. In meinem Schädel pochte es dumpf, und langsam spürte ich die Müdigkeit in den Gliedern. Ich gähnte herzhaft und ließ meinen steifen Nacken kreisen. Das Geschrei war auch auf der Rückseite der Schule zu hören, aber bei Weitem nicht mehr so penetrant. Vermutlich würde sich die Menge bald auflösen, sobald Isabel ihre Autogramme gegeben hatte.

Kurz überlegte ich, ob ich nach Hause fahren und mich hinlegen sollte, aber wenn ich das tat, stünde ich erst am Abend wieder auf, und ich wollte wirklich gerne wissen, wie Ally sich schlug. Zur Not könnte ich in den Central Park und mich dort auf eine Wiese legen.

Ich zückte mein Handy und wollte gerade googeln, ob schon irgendwas über diesen Morgen im Netz zu finden war, als die Tür neben mir aufflog. Instinktiv drückte ich mich hinter den Müllcontainer, da ich keine Ahnung hatte, ob ich hier überhaupt stehen durfte. Eine junge blonde Frau schoss heraus. Sie trug ein Kostüm mit kurzem Rock, eine schicke Bluse und High Heels, in denen ich umkommen würde.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, blaffte sie in ihr Telefon. »Ich habe das Haus voll mit Gästen und angehenden Schülern, die Audition startet in zwei Stunden, unser Star kotzt, und mir fehlen drei Kellner fürs Catering!« Sie stapfte auf dem Gehsteig hin und her, ohne mich zu beachten. »Das ist mir egal, ob bei dir die Magen-Darm-Grippe umgeht. Ich brauche Personal, verdammt noch mal!«

Die war ganz schön geladen. Als sie sich in meine Richtung drehte, erkannte ich sie auch. Das war Gillian Blair! Die Tochter des Schuldirektors. Sie hatte letztes Jahr gemeinsam mit James Corden die Tony Awards moderiert. Und sie sah in natura noch tausendmal besser aus als im Fernsehen! Gillian war nicht viel älter als ich, hatte aber schon so unglaublich viel erlebt. Nicht nur als Host der Tonys, sie trat auch regelmäßig bei broadway.com auf und stellte die neuesten Shows vor. Sie war genauso wenig vom Broadway wegzudenken wie die Leuchtreklamen.

»Nein, ich will keinen beschissenen Discount, ich brauche Leute, und da du mir die offenbar nicht schicken kannst, war es das! Am Montag bekommst du die Kündigung, ich suche mir ein anderes Restaurant.«

Sie legte auf, stieß einen verzweifelten Laut aus und raufte sich die Haare.

Ich blickte zu dem Truck, der an der Straßenseite parkte. Das Logo von Gibson’s Place, einem teuren Restaurant am Lincoln Square, war an der Seite angebracht. Ich rollte mit den Augen, denn dort hatte ich mich damals beworben, als ich neu in der Stadt gewesen war. Sie hatten mich nicht genommen, weil ich nicht genügend Erfahrung gehabt hatte.

Ha! Die Geschichte meines Lebens. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung gehabt, dass dieser Absagegrund sich bald wie ein roter Faden durch meinen Alltag ziehen würde.

Gillian zückte erneut das Handy und tippte darauf herum, während sie etwas Unverständliches vor sich hin brabbelte. Mich übersah sie weiterhin. »Hier ist Gillian Blair, ich möchte bitte mit Mr. Adams sprechen … Ja, ich weiß, dass heute Samstag ist und er eine Veranstaltung im Garden vorbereitet, es ist dringend! Nein, ich kann nicht bis morgen warten!«, sagte Gillian. »Ich brauche … Ja. Ja. Schön, dass Pink heute spielt, aber ich bin wirklich … Ach, verdammt noch mal!« Gillian legte erneut auf und kickte einen Stein vom Gehsteig. Sie gab sich einen Moment, in dem sie wohl ihren Frust innerlich verarbeitete, dann tippte sie wieder auf ihrem Handy herum und klingelte beim Nächsten durch.

Bei dem Ruf, den die Schule genoss, wurde sie bestimmt bald fündig, doch hier ließ sie nach einer halben Minute das Telefon sinken und stieß ein weiteres wütendes Schnauben aus. Anscheinend war dieser Ansprechpartner ebenfalls nicht erreichbar.

Okay, ich hatte zwei Möglichkeiten: mich unauffällig verdrücken und diesen Morgen bei einer zweiten Tasse Kaffee verdauen, oder etwas wagen … Etwas Riskantes und Verrücktes, was ganz bestimmt auffliegen würde.

Ich schloss die Augen, sammelte meinen Mut und dachte daran, dass ich kaum was zu verlieren hatte.

»Gillian Blair?« Ich räusperte mich und machte so auf mich aufmerksam. Sie fuhr herum, funkelte mich an. Ihre geballte Wut richtete sich auf mich.

Ich zog mein Shirt glatt und verdeckte mit einer Hand Ikes Logo. »Ich … Hi, ich bin Riley Maddock. Ich soll mich hier melden? Ich … Ich komme von Gibson’s Place.« Ich deutete auf den Truck am Straßenrand.

»Was?« Sie musterte mein Outfit, das vermutlich überhaupt nicht zu den Standards des Restaurants passte.

»Er … Er hat mich sofort losgeschickt, nachdem Sie aufgelegt haben. Tut mir leid, wie ich aussehe, aber ich arbeite normalerweise in der Küche und hatte die Frühschicht.« Gott, ich wusste gar nicht, ob die um diese Uhrzeit schon offen hatten. »Er hat mich quasi von der Spüle weggeholt und hergeschickt.« Das Restaurant lag ein paar Straßen weiter nördlich, es wäre zwar sportlich in der kurzen Zeit herzukommen, seit Gillian aufgelegt hatte, aber mit einem Taxi durchaus machbar. »Bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«

Sie kniff die Augen zusammen. Keine Ahnung, ob sie mir das abnahm. Wenn nicht, würde ich es gleich merken.

»Ich reiße Gibson den Kopf ab«, sagte sie.

»Das meinte er auch. Er will den Job wirklich behalten. Die Magen-Darm-Grippe ist echt heftig. Er ist seit gestern unterbesetzt.« Jetzt würde ich also für jemanden einspringen, der mir einen Job verweigert hatte. Heute Morgen sammelte ich ganz schön Punkte auf meinem Karma-Konto. »Wenn ich unpassend bin, kann ich gerne wieder gehen …«

»Nein! Nein, um Gottes willen. Rein da.« Sie zückte eine Keycard, die sie an ihrem dünnen Gürtel befestigt hatte, und entriegelte die Tür. Mit der freien Hand wählte sie eine Nummer auf ihrem Smartphone. »Bradley, ich bin es. Wir haben eine Kellnerin, ich bring sie rauf ins Bistro. Leg eine Schürze raus, ein saubere Bluse, Größe …« Sie musterte mich. »M und schwarze Jeans … Ja, wir sind gleich da.«

Mein Gott, was tat ich hier nur? Ich konnte mich doch nicht einfach in diese Schule schleichen. Und wozu, vor allen Dingen? Gewiss würden sie mich nicht vorsingen lassen, mir ein Stipendium anbieten und mich als neue Schülerin willkommen heißen. So was passierte in Filmen oder Büchern, aber nie im realen Leben.

Ehe ich mir weiter darüber Gedanken machen konnte, war ich schon im Inneren des Gebäudes. In der Schule aller Schulen. An dem Ort, an dem die Stars von morgen geformt wurden.

Mir wurde schwindelig. Zum Glück musste ich nichts tun, als Gillian durch den dunklen Korridor zu folgen. Sie lief zielstrebig voraus und gab dabei Anweisungen an Bradley.

»Wie sieht es mit Ethan aus?«, fragte sie. »Gut. Wird er zur Audition da sein? Ja. Er kann alles haben, was er braucht. Kaffee. Aspirin. Energydrinks, Hauptsache, er hält durch und benimmt sich!«

Sie öffnete die nächste Tür, es ging ein paar Stufen hoch. Ich hörte Gemurmel und kam mir vor, als wäre ich Backstage auf dem Weg zur Bühne, wo mein großer Auftritt wartete. Falls ich Ally begegnete, musste ich ihr unbedingt verständlich machen, dass sie mich nicht auffliegen lassen durfte.

»Ja, Jules ist der Beste«, sagte Gillian. »Er bekommt das hin.« Sie legte auf, führte mich in einen weiteren Flur, von dem drei Türen abgingen. Wir nahmen die letzte und fanden uns in einer Küche wieder. Sie war nicht sonderlich groß, dafür voll. Auf den Tresen stapelten sich die Kanapees, die noch ausgepackt und hergerichtet werden mussten. Ein junger Mann goss Sekt in passende Gläser, ein anderer trug zwei Sixpacks mit Wasser, eine Frau fluchte, weil ihr ein Teller heruntergefallen war. Gillian zuckte zusammen, ballte die Hände und ging weiter, ohne die drei zu beachten.

Ich folgte ihr stumm, wie ein treudoofer Hund seiner Herrin. Wir durchquerten die Küche, die in ein Bistro führte, das urgemütlich eingerichtet war. Alles war in dunklen erdigen Tönen gehalten, es gab eine Bar auf der linken Seite, mit einer Kaffeemaschine und einer Auslage für Essen. An den Wänden hingen Fotos von Studenten und Stars, die die Schule besucht hatten. Ausschnitte aus Playbills, Magazinen, Kinoplakaten … Überall waren Namen an die Wand geschrieben; Unterschriften von den Sternchen, die hier geboren worden waren.

»Hier sind die Regeln«, sagte Gillian. »Keine Fotos, niemanden anquatschen. Mach einfach deine Arbeit. Bradley stellt dir später deinen Scheck aus.«

»Alles klar. Danke schön.«

»Du kannst ja nichts dafür, dass Gibson ein unorganisierter Volltrottel ist. Bradley?«

Ein Mann reckte den Kopf hinter der Theke hervor. Er lächelte, als er uns sah, und trat herum. In seiner Hand hielt er eine kleine Tasche. Vermutlich mit den Klamotten, die ich anziehen sollte.

»Hi, ich bin Bradley. Hier ist alles für dich«, sagte er und blieb vor uns stehen. Irgendwie hätte ich eine ältere Person erwartet. Keine Ahnung, warum, aber ich hatte an einen Mann mit grauem Bart und vertrauensseligem Blick gedacht, der nicht nur den Laden in Schuss hielt, sondern auch ein Seelsorger für die Schüler war. Bradley war schätzungsweise Mitte zwanzig, blonde Haare, braun gebrannt mit stechend blauen Augen … und er war riesig. Gut, das war neben mir fast jeder, aber ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzuschauen. Er trug einen sehr gut sitzenden dunkelgrauen Anzug, hatte aber die ersten Knöpfe des Hemdes offen gelassen, was das Ganze etwas legerer machte.

»Danke, das ist Riley«, sagte Gillian. »Gibs hat sie geschickt.«

»Hat er das.« Bradley warf einen Blick auf mein Shirt, und ich verschränkte rasch die Arme vor der Brust, in der Hoffnung, dass er Ikes Logo nicht bemerkte, doch er hatte es gewiss gesehen. »Nun, dann freut es mich, dich kennenzulernen, Riley.«

»Mich auch.« Ich spürte, wie mir Hitze in die Wangen stieg. Wenn ich mir einredete, dass das hier nur eine Rolle war, die ich spielte, würde es vielleicht nicht so schlimm. Ich konnte mir ja vorstellen, in einer Realityshow mitzumachen.

Bradley reichte mir die Tasche, die ich dankend annahm, bevor ich einen Blick hineinwarf. Wie von Gillian angeordnet, waren alle Klamotten da.

»Wenn dieser Tag vorbei ist, werde ich um Jahre gealtert sein«, sagte sie mit einem Seufzen. »Wurden die Glühbirnen ausgetauscht?«

»Ja, und das Klavier ist auch frisch gestimmt.«

»Was?«

»Nicht so dramatisch.«

»Gut, dann begrüße ich mal Isabel und hoffentlich auch gleich Ethan.«

»Gutes Gelingen. Ich werde …«

Es schepperte erneut in der Küche, und eine Frau stieß einen derben Fluch aus.

»… nachsehen, ob jemand umgekommen ist«, sagte Bradley.

»Das kommt davon, wenn Personal fehlt und man seine Studenten fragt.«

»Alles wird gut, Gill. Atme einfach, und mach deinen Job.«

Sie schnaubte und steuerte die Vordertür des Bistros an.

»Riley«, wandte sich Bradley an mich. »Du kannst dich auf der Toilette da drüben umziehen. Die ist zwar heute nur für Gäste, aber es geht ja noch nicht los. Wenn du fertig bist, treffen wir uns in der Küche, da erkläre ich dir alles.«

Er zeigte auf einen Durchgang auf der linken Seite des Bistros. Ich nickte ihm zu, wollte mich auch bei Gillian bedanken, aber sie war schon draußen.

Ich trollte mich nach hinten zu den Toiletten, die genauso künstlerisch gestaltet waren wie das Bistro. Als Deckenbeleuchtung waren Scheinwerfer aus dem Theater aufgehängt, Vorhänge waren rechts und links an den Spiegeln drapiert, und in der Mitte des Raumes stand ein rundes rotes Sofa, wie sie oft in Foyers zu finden waren. Ich nahm eine der drei Kabinen, nutzte gleich die Toilette und wechselte die Hose. Auf der Innenseite der Tür war der Songtext aus Frozens Let it Go aufgeschrieben. Sehr witzig.

Als ich fertig war, trat ich im BH ans Waschbecken und wusch mir rasch den Schweiß der Nacht weg, ehe ich die neue Bluse überzog, dann nahm ich die Brille ab, reinigte auch sie und setzte sie wieder auf. In meiner Tasche kramte ich nach meinem Deo, frischte meine Wimperntusche auf und bürstete mir die Haare. Ich war seit zweiundzwanzig Stunden wach und fit wie nie. Erstaunlich, was so ein bisschen Adrenalin ausmachte.

Meine Wangen waren nach wie vor gerötet, ich stand unter Hochspannung. Genau wie meine Seele. Das hier war so aufregend und so überwältigend. Nun verstand ich, was Ally vorhin gemeint hatte, als sie sagte, sie müsse sich mit den Vibes des Ortes verbinden. Diese Schule schrie förmlich »Theater! Kunst! Musik!«. Sie rief nach den Menschen, die sich dazu berufen fühlten, auf die Bühne zu gehen und anderen eine gute Zeit zu schenken. Sie rief nach denen, die nicht anders konnten, als sich in der Magie des Theaters zu verlieren.

Ich blickte mir im Spiegel in die Augen und sprach mir innerlich Mut zu. Ich konnte das schaffen. Ich tat dies nicht, um mich selbst zu profilieren, sondern weil diese Menschen Hilfe brauchten, die ich ihnen geben konnte. Das redete ich mir zumindest ein, denn es klang eindeutig besser als Ich habe mich mit einer Lüge in die teuerste Schule der Stadt geschlichen.

Entschlossen wandte ich mich ab und ging zurück ins Bistro. Bradley war wohl bereits in die Küche gegangen, dennoch war ich nicht allein.

»Oh«, sagte ich und spürte, wie mir erneut die Hitze in die Wangen schoss.

Julian Sloan stand hinter dem Tresen und suchte nach dem Einschaltknopf der Kaffeemaschine.

Verdammt.

Mein Puls erhöhte sich augenblicklich. In der Theorie war ich nicht die Frau, die beim Anblick eines Stars in Ohnmacht fiel, aber ich hatte auch noch nie einem so direkt gegenübergestanden. Er sah kurz auf, als er mich hereinkommen hörte, und gab ein leises »Hi« von sich, ehe er sich wieder dem Gerät zuwandte. Da er etwas angespannt und gestresst wirkte, murmelte ich nur ein leises Hallo zurück und lief zur Küche, wo ich ja Bradley treffen sollte. Im Gehen strich ich meine Bluse glatt, die mir leider einen Tick zu eng war.

»Komm schon«, murmelte Julian. Er hatte die Maschine anbekommen und nestelte am Siebträger herum.

Ich lief weiter, versuchte ihn zu ignorieren, doch es fiel mir schwer, denn ich wusste aus eigener Erfahrung, dass diese Geräte nicht selbsterklärend waren, wenn man noch nie damit einen Kaffee zubereitet hatte.

»Verdammt! Warum stellt Gillian diesen dämlichen Apparat hier hin, wenn man ihn nicht bedienen kann?«, erklang es hinter mir.

»Weil er super Kaffee macht«, erwiderte ich und hielt gegen besseres Wissen vor der Küchentür inne.

»Was?«

»Kein Vollautomat kommt je an eine gute Siebträgermaschine ran. Einmal an die perfekte Crema gewöhnt – und du willst nie mehr was anderes.«

»Ob mit oder ohne Crema ist mir im Moment ziemlich egal. Ich will einfach nur ’nen Kaffee. Früher stand hier ein banaler Automat, bei dem man nur ein paar Knöpfchen drücken musste.«

Ich schmunzelte. Meine Hand lag auf der Türklinke, und Gillians Worte hallten in meinen Ohren nach. Keine Fotos, niemanden anquatschen. Mach einfach deine Arbeit … Aber zählte das hier nicht dazu? Ich sollte die Gäste bedienen, und Julian brauchte offenbar jemanden, der ihm half.

Ich drehte um und ging zu ihm hinter den Tresen. Er richtete sich auf, als ich mich näherte, und ließ seinen Blick kurz über meine zu enge Bluse wandern. Ich krümmte die Schultern, damit es ein bisschen weniger danach aussah, als würde mein Busen gleich die Knöpfe sprengen.

Auf diesem engen Raum wirkte Julian viel größer und imposanter als vorhin auf der Straße. Nicht wegen seiner Körpermasse, sondern wegen seiner Ausstrahlung. Sie war zu intensiv für diese Wände. Es kam mir vor, als würde seine Aura alles vereinnahmen.

»Darf ich?«, fragte ich und klang gelassener, als ich mich fühlte. Ich zeigte auf die Maschine.

Julian trat einen Schritt zur Seite. Hinter dem Tresen war gerade so Platz für zwei Personen. Ich hielt den Atem an, weil mich seine plötzliche Nähe leicht überforderte.

»Stinke ich doch noch?«, fragte er völlig unvermittelt.

»Bitte?«

»Du hältst die Luft an. Ist es so heftig? Bradley meinte, ich würde nicht mehr müffeln.«

»Du … Was?« Ihm war aufgefallen, dass ich die Luft anhielt? »Nein, überhaupt nicht.«

»Wenn doch, darfst du mir das sagen.«

»Keine Sorge. Ich rieche wirklich nichts.« Zumindest nichts, was mich abturnen würde.

»Auch nicht das Pot?«

»Das …«

Er hob die Hände. »Nicht von mir.«

Ich lehnte mich ein Stück nach vorne und atmete extratief ein.

Ganz schlechte Idee, Riley. Dieser Mann duftete wie die pure Sünde. Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter, während Julian nur schmunzelte. Sein herber männlicher Duft stieg mir in die Nase, und mir wurde schwindelig. Julian roch nach Wildheit und Erfolg. Ich hielt inne und sah ihn an. Seine dunkelgrünen Augen fanden meine, und für einen kurzen Moment flackerte etwas darin auf, was ich nicht einordnen konnte. Julian sah mich an, als gäbe es sonst nichts anderes auf dieser Welt. Als wäre das Einzige, was er heute noch vorhatte, auf meine Antwort zu warten. Er verharrte geduldig, bis ich wieder einen Schritt nach hinten trat.

»Ich rieche auch kein Gras«, brachte ich hervor.

»Sehr gut«, antwortete er.

Mit einem dumpfen Pochen im Bauch wandte ich mich wieder der Maschine zu. Es war das gleiche Modell wie die in dem Restaurant, in dem ich vor vier Monaten gearbeitet hatte. Das sollte ein Klacks werden. Ich bückte mich, um in den untersten Schrank zu schauen. Es dauerte einen Moment, bis ich die Kaffeebohnen und eine Mühle gefunden hatte.

»Ah, hier ist alles.« Ich stapelte die Sachen auf dem Tresen neben der Maschine und machte mich an die Zubereitung. »Brauchst du Milch?«

»Einen Schuss nur.«

Ich suchte nach einem Kühlschrank, fand ihn aber nicht auf Anhieb, dafür wusste Julian Bescheid. Er drehte sich um und holte einen Beutel Hafermilch hervor. Er öffnete ihn und roch daran, aber sie schien frisch zu sein.

»Vegane Barista-Edition, die ist lecker«, sagte ich und suchte nach dem Gefäß, um sie aufzuschäumen.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er.

»Nein, dauert nicht lange. Die Maschine ist gleich heiß.«

Da kaum Platz war und ich den Weg für Julian blockierte, zog er sich auf den Tresen hinauf und ließ die Beine baumeln. Ich versuchte zu ignorieren, wie sich sein Trizeps spannte, als er sich nach oben stemmte, und mahlte brav die Bohnen.

Kaum dass er saß, massierte er sich den Nacken und stöhnte leise.

»Harter Morgen?«, fragte ich.

»Du machst dir keine Vorstellung.«

»Hoffentlich geht es Ethan bald besser.«

»Oh, dem geht es großartig, keine Bange. Er ist vermutlich der Einzige, der bei der ganzen Sache Spaß hat.«

»Vergiss nicht seine Fans.«

Julian schnaubte. »Ja, die auch.« Etwas vibrierte in seiner Tasche. Er zog sein Handy heraus und stöhnte. »Der geht mir echt auf die Nerven.« Julian atmete einmal tief durch, ließ seine Nackenwirbel knacken und nahm ab. »Daniel, ich weiß, dass Ethan schon auf Joans Kanal gelandet ist.«

Ich suchte nach einer passenden Tasse, wartete allerdings mit dem Zubereiten, bis Julian sein Gespräch beendet hatte, sonst würde er gleich nichts mehr verstehen bei dem Lärm.

»Ethan war schon zugedröhnt, als ich ihn heute Morgen abgeholt habe«, sprach er weiter ins Telefon.

Ich polierte die Tasse mit einem Tuch, das neben der Maschine lag und gab mir Mühe, desinteressiert zu wirken. Es ging mich nichts an, was bei ihnen passierte.

»Wie um alles in der Welt hätte ich das verhindern sollen? Ethan macht, was er will, du kennst ihn doch.« Er lehnte sich zurück. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sein Shirt ein Stück nach oben rutschte und seinen flachen Bauch preisgab. »Ja, ich weiß, dass das alles ungünstig ist. Denkst du, ich habe ihn dazu angestiftet, auf die Straße zu kübeln? … Natürlich behalte ich ihn im Auge, dazu darfst du mich aber auch nicht ständig anrufen. Lass uns hier machen, wir bekommen das schon hin. Irgendwie. Ich muss auflegen.« Er drückte das Gespräch weg, auch wenn es nicht so klang, als wäre sein Gegenüber fertig gewesen, und steckte das Handy wieder ein.

Ich wandte mich der Maschine zu, brühte den Kaffee und schäumte kurz die Milch auf, mit der ich ein Palmenmuster als Deko in die Crema zog. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Julians Blick, aber ich war mir nicht sicher, ob er mich wirklich ansah oder nur ins Leere starrte. Als ich fertig war, reichte ich ihm die Tasse mit dem kunstvoll drapierten Schaum.

»Danke«, sagte er und wirkte auf einmal, als hätte ihm jemand sämtliche Energie aus dem Körper gezogen.

»Ich hätte dir noch einen Keks dazugelegt, aber ich habe keine Ahnung, wo die sind.«

»Ich schon. Warte.« Er stellte die Tasse neben sich ab, sprang vom Tresen und fasste um mich herum. Augenblicklich gefror ich, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mir so nahe kommen würde. Seine Muskeln spannten sich, und obwohl er mich kaum berührte, bekam ich eine Gänsehaut. Julian zog die Schublade neben mir auf und fischte zwei Schokoladenstücke heraus. Eins reichte er mir, das andere nahm er.

»Danke für deine Hilfe. Du bist meine Rettung heute Morgen.« Er schob sich zurück auf seinen Platz und griff nach seinem Kaffee.

»Jederzeit gerne.«

»Ich bin Julian.«

»Ich weiß.«

Er schmunzelte, hob die Augenbrauen und sah mich fragend an. Ich brauchte einen Moment, bis der Groschen fiel.

»Oh, ich … ich heiße Riley. Riley Maddock.« Shit. Warum sagte ich ihm meinen Nachnamen? Nur berühmte Leute wurden mit Vor- und Zunamen angesprochen. Ein Umstand, den ich schon immer merkwürdig fand.

»Na gut, Riley Maddock. Es freut mich sehr, dich und deine Kaffeekünste kennenzulernen.«

Er trank einen Schluck und gab einen tiefen kehligen Laut von sich, der bis in meine Zehen nachvibrierte und einen wohligen Schauer mein Rückgrat hinuntertrieb. Gott, Riley. Was soll das denn? Ich war natürlich nicht immun gegen gut aussehende Typen, aber normalerweise reagierte ich nicht so intensiv. Oder lag es daran, dass ich seit zwei Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte?

»Das ist der beste Kaffee, den ich je getrunken habe.«

»Dein erster heute? Der ist grundsätzlich der beste.«

»Vielleicht liegt es auch an dir. Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen.«

»Das meint mein Bruder auch immer.«

»Dann ist er ein kluger Mann.« Julian trank noch einen Schluck und aß seine Schokolade. Meine schmolz in meinen Fingern, weil mir so verdammt warm wurde. Ich legte sie möglichst unauffällig beiseite, schaltete die Maschine aus und reinigte sie rasch. Julian bot mir erneut seine Hilfe an, doch ich wiegelte ab, denn es war nicht viel Arbeit.

Als ich fertig war, nickte ich Julian zu und wandte mich zum Gehen, aber dann fiel mir etwas ein, und ich drehte mich noch einmal zu ihm um. »Könntest du mir möglicherweise einen Gefallen tun?«

»Es wird schwer mit den Karten, aber ich sehe, was sich machen lässt.«

»Was?«

Er schnappte sich auch mein Stück Schokolade, das ich neben der Maschine hatten liegen lassen, und verputzte das ebenfalls. »Das Konzert. Im Madison Square Garden. Jeder fragt mich nach Karten.«

»Nein! Das ist nicht, was ich wollte, aber, äh, danke für das Angebot.« Darauf wäre ich ja im Leben nicht gekommen. »Ich wollte dich eigentlich bitten, Gillian nicht zu verraten, dass ich mit dir gesprochen habe.«

Er hielt im Kauen inne und starrte mich an.

»Sie hat mir verboten, mit euch zu reden«, sagte ich.

»Mit uns?«

»Ja, mit den … den Stars. Du weißt schon.«

»Aha.«

»Vermutlich will sie nicht, dass ihr euch belästigt fühlt.«

»Mach dir keine Sorgen, Riley Maddock, ich fühle mich in keiner Weise von dir belästigt.«

Wieder spürte ich die Hitze in meinen Wangen und lächelte leicht. »Sie ist nun mal der Boss, und ich möchte meinen Job gut machen.«

»Den machst du besser als gut.« Er trank einen weiteren Schluck Kaffee und wiederholte den Laut von eben, der seine Wirkung auf mich auch beim zweiten Mal nicht verfehlte. Zum Kribbeln in meinem Rücken gesellte sich nun noch eine angenehme Wärme zwischen meinen Beinen. Wie machte der Typ das nur? »Abgesehen davon darfst du mich jederzeit ansprechen. Wer so einen Kaffee kocht, dürfte mir sogar seinen gesamten Lebenslauf vortragen.«

»Der ist nicht sehr spannend.«

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