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Partem - Wie der Tod so ewig

Als Buch hier erhältlich:

Wie kann ein erkaltetes Herz wieder zu lieben lernen?

Xenia befindet sich in höchster Gefahr, nachdem die Wächter des Partem auf sie aufmerksam geworden sind. Da sie eine Immunitin ist, könnte ihr Opfer das Überleben des Partem sichern. Bislang hat sie ihre Fähigkeit, bei Berührung anderer Menschen Geräusche hören zu können, immer als Fluch gesehen, doch nun entdeckt sie, dass sie damit auch Gutes bewirken kann. Jael muss sich entscheiden, ob er Xenia an den Partem ausliefert, um seine Schuld zu begleichen, oder ob er sie rettet – denn sie reißt seine Mauer der Gefühlslosigkeit nach und nach ein. Je näher er ihr kommt, desto mehr verliert er die Kontrolle über sein Herz. Bald steht fest: Der Partem muss vernichtet werden. Auch wenn dabei ihr Leben und ihre Liebe auf dem Spiel stehen …


  • Erscheinungstag: 25.01.2022
  • Aus der Serie: Partem
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 480
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850502

Leseprobe

»Sei du selbst die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst.«

MAHATMA GANDHI

PROLOG

Dunkler Rauch kroch über den Boden der unterirdischen Kathedrale. Er breitete seine Fänge aus, umschlang die Toten.

Ihr Herz krampfte sich zusammen und schrie stumm auf.

Die Welt irrte sich!

Der Teufel, das war kein Mann. Das war eine Frau.

Und sie hatte sich ihn geschnappt. Ausgerechnet ihn.

Blut quoll unter dem Messer an seinem Hals hervor. Viel zu viel Blut!

»Noch einen Schritt, du Miststück, und ich schneide seine Kehle durch!« Gezischte Worte nur, doch alle hatten sie gehört. Totenstill war es. Niemand kämpfte mehr. Ihre Freunde nicht, der Partem nicht, selbst der Brunnen hatte aufgehört, Blut zu spucken.

Tränen stiegen ihr in die Augen, als er flehend seine Hand ausstreckte. Um ihre zu finden. Ein letztes Mal? Nein!

Er hatte ihr vertraut.

Er hatte seine Welt verlassen müssen.

Er hatte gekämpft – ihr verboten, sich zu opfern.

Um jetzt selbst zu sterben?

Wer war sie ohne ihn? Was war ihr Leben dann noch wert?

Gar nichts.

Zorn flammte in ihr auf, und mit ihm eine Entschlossenheit, die ihr Kraft verlieh. Ruckartig fuhr sie herum.

»Tu es!« Ihre Worte donnerten durch die Kathedrale, galten dem Altarraum. »Wenn du meine Freundin bist, meine Schwester, dann … tu es. Jetzt!« Sie hatte es versprochen!

Schritte? Hoffnungsvoll lauschte sie.

Ja – sie kam!

Begleitet von einem Wächter tauchte sie unter der Empore auf, in Weiß gekleidet wie sie alle, den silberfarbenen Dolch in ihren Händen.

Entsetzte Schreie zerrissen die Stille. Schatten sprangen aus der Dunkelheit heraus. Die Überlebenden. Sie brüllten, griffen die Wächter an.

Ihr Blick aber flog wieder zu ihm. Er hockte auf dem Boden. Die Teufelin lag vor ihm, mit aufgerissenen Augen. Die Klinge des Messers steckte tief in ihrer Brust.

»Hört sofort auf!«, schrie er, sprang auf und lief zu ihr herüber. Fast grob griff er nach ihrem Arm, zog sie mit sich zum Brunnen, erstarrte dann aber.

Ihre Freundin stand bereits am Wasser, in ihrer Hand der Dolch. Die Klinge blitzte im Fackelschein auf, die Spitze war blutrot gefärbt.

Ein Tropfen nur. Wenn es stimmte, musste nur ein einziger Tropfen fallen.

Sie … Sie hatten es geschafft?

»Warum tust du das?« Seine Arme umschlangen sie. Über seine Wangen liefen Tränen. »Ich hatte Nein gesagt. Verdammt, wir alle hatten Nein gesagt!«

»Ich weiß.« Hinter ihr fauchte der Brunnen auf. Sie aber sah zu ihm. In die Augen, die sie liebte. Und von denen sie jetzt Abschied nehmen musste?

Sein Körper begann zu zittern. »Was kann ich tun? Sag es mir, bitte! Du darfst nicht sterben. Was muss ich tun?«

»Halt mich.« Müdigkeit tauchte sie in sanften Nebel. »Halt mich ganz fest.«

Sie lehnte sich an seine Brust. Sein Herz. Sie lächelte. Es schlug. Und würde weiter schlagen?

»Bleib bei mir. Hörst du? Geh nicht, bitte …« Sanft umfasste er ihr Gesicht. Seine Lippen fanden ihre. Küssten sie.

»Auch wenn ich gehen muss, bleibe ich für immer bei dir.« Ihre Tränen mischten sich mit seinen. »Nur nicht hier.«

JAEL

Treue. Loyalität. Gehorsam.

Treue. Ich schwöre.

Gehorsam.

Die Worte stiegen in ihm auf und begleiteten seine Schritte, die er in die Dunkelheit setzte. Wieder mal hatte man ihm mit einer Augenbinde die Sicht genommen, doch seinen Verstand, seinen Instinkt konnte niemand ausschalten.

Witternd hob er den Kopf und folgte seinen Begleitern, der Hand auf seiner Schulter, die ihn durch die Gänge steuerte. Dabei nahm er alles um sich herum wahr, jedes noch so kleine Detail: die weichen Teppichläufer auf dem Holzboden unter seinen Füßen, das leise Surren der Kameras, die spürbare Weite der Flure, den Geruch nach edler Politur. Später würde er versuchen, alles zu einem Bild zusammenzusetzen, die Eindrücke jetzt und seine Erinnerungen.

Er war wieder da, im Castillo. In der Burg des Partems.

Nach rechts? Eine Tür quietschte auf, und kühle Luft wehte ihm entgegen.

»Kopf runter.«

Jael bückte sich, taumelte dabei leicht. Reste des Nebels saßen noch immer in seinem Körper fest, der nur wenige Sekunden nach Fahrtbeginn aus der Seitenverkleidung des Wagens geströmt war. Chloroform. Den Timer seiner Uhr hatte er noch drücken können, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Für fast drei Stunden.

Ein Meter. Zwei. Der Boden wurde uneben. Die Decke, die Wände rückten näher, warfen den Schall der Schritte schneller zurück. Dazu die nasskalte Luft. Sie mussten sich in den Mauern befinden. Es gab geheime Gänge?

»Sieben Stufen.« Die Anweisung kam von vorn, und das Tasten, das er vorhin bereits wahrgenommen hatte, wurde lauter. Es war ihm bekannt. Schon als Kind hatte es ihn gleichermaßen abgeschreckt wie fasziniert. Die Regel galt also heute noch: Das gesamte Personal der Burg war blind.

Wieder ertönte ein Quietschen. Eine weitere Tür wurde geöffnet, nur strömte ihm diesmal Wärme entgegen. In ihr lag der Geruch von Fackeln.

Die Hand an seiner Schulter rutschte ab, ergriff seinen Ellenbogen und steuerte ihn weiter, hinein in den Raum. Zu einem Stuhl? Eine harte Kante berührte seine Beine oberhalb der Kniekehlen. Man schnitt ihm die Handfesseln durch, dann verschwanden seine Begleiter aus seinem Rücken.

Jael atmete in den Raum, er spürte seine Weite. Und die Anwesenheit von weiteren Personen, denn er atmete nicht allein.

Der Partem!

Geflüsterte Worte, weit entfernt. Aus wie vielen Mündern?

Als Stille einkehrte, nahm er Haltung an. Angewinkelte Arme, die Handflächen geöffnet, den Kopf dem Himmel zugewandt.

»Sic itur ad astra.« Stimmen aus der Dunkelheit begrüßten ihn. Vier? Oder fünf?

»Per aspera ad astra.« Seine Antwort klang kraftvoll.

»Setz dich, Jael.« Es war der Supremus, der ihn dazu aufforderte und ihm dann erlaubte, die Augenbinde abzunehmen.

Hier empfingen sie ihn? Er kannte den Saal. Schmal war er, lang gezogen und holzvertäfelt – bis unter die Decke.

Wie ein Piratenschiff, hatte er damals gedacht, vor Jahren, als er sich zitternd umgeschaut und dann die Besatzung gesehen hatte: große, furchteinflößende Gestalten.

Damals war der Saal hell erleuchtet gewesen, jetzt spendeten nur verloren wirkende Fackeln an den Wänden dämmriges Licht.

Im Schatten, weit hinten, knarrte Holz. Jael kniff die Augen zusammen. Fünf Gestalten konnte er ausmachen, fünf Umrisse, die sich setzten.

»Dein Auftreten, Jael, hat hier für großen Unmut gesorgt. Noch nie, und ich betone das Wort NIE, ist bisher auch nur einer von euch hier unangemeldet und vor allem ungebeten aufgetaucht. Wir sind uns uneins, welche Konsequenzen dein Verhalten nach sich ziehen wird. Bevor wir aber ein Urteil über dich sprechen, geben wir dir die Chance, dich zu erklären.«

»Danke.« Er neigte den Kopf. »Ich bin mir bewusst, dass mein Aufkreuzen hier Verwunderung ausgelöst hat, doch meine Nachricht an euch erlaubte keinen Aufschub mehr. Zu lange habe ich bereits gewartet. Doch da das, was ich zu melden habe, weitreichende Konsequenzen mit sich bringt, benötigte ich Gewissheit. Jetzt habe ich sie und möchte euch verkünden, dass ich …« Zerfließendes Goldbraun. Aus dem Nichts tauchten sie plötzlich auf, ihre Augen. Sahen ihn an.

Nicht jetzt! Jael wischte sie sich mit nur einem Blinzeln gewaltsam aus der Erinnerung. »Ich habe eine Immunitin gefunden.«

Die Veränderung der Atmosphäre war greifbar. Erregte Sprachlosigkeit. Sekunden der absoluten Stille, in der sich ungläubige Worte sammelten, dann herausbrachen.

Drei Gestalten erhoben sich, doch der Supremus hielt sie zurück. »Eine Immunitin? Wir sind ganz Ohr.«

Mit knappen Sätzen schilderte er die Begegnungen mit Xenia, berichtete von den Veränderungen in seinem Körper. Beschleunigter Puls, beschleunigter Herzschlag. »Die Tatsache allerdings, dass sie genau passend wäre und damit ein Segen sowohl für euch als auch für mich, riefen in mir Zweifel hervor. Unglaube. Daher hielt ich mich mit einer sofortigen Meldung zurück. Ich wollte keine Hoffnung schüren, die sich dann zerschlagen würde.«

»Eine Entscheidung, die zu treffen nicht deine Aufgabe gewesen wäre.« Die scharf ausgesprochene Anklage des Sprechers erhielt begleitende Zustimmung, und er senkte den Kopf. Demut, das Eingestehen eines Fehlers, erforderte diese Geste. »Dessen bin ich mir bewusst. Und noch deutlicher spüre ich den Fehler dieser Entscheidung jetzt, in der Gewissheit, dass mein erster Eindruck richtig war.«

»Wer ist sie?«

Xenia. Wieder sah er sie vor sich. Diesmal nicht nur ihre Augen. Er sah ihren schmalen Körper, in schwere Ketten gelegt. Wenn es so weit war, würde sie schreien? Mit schwindenden Kräften gegen ihr Ende ankämpfen? Oder hätte sie Glück, und das Grauen würde ihren Verstand schon vorher abschalten?

Er blickte auf seine Hände. Ihr Blut würde an ihnen kleben. Über den Schichten unzähliger anderer.

»Jael? Wie heißt das Mädchen?« Ungeduld schwang in der sonst so beherrschten Stimme des Supremus mit, und Jael erhob sich.

»Ihr Name ist Xenia Morin. Ihr Interesse habe ich bereits, sie beginnt mir zu vertrauen, und ich bin mir sicher …«, ein kaltes Lächeln legte sich auf seine Lippen, »ihr Herz wird ganz bald für mich schlagen, bevor es dann für immer verstummt.«

XENIA

Sie wollen dein Herz, Xenia!

Eine Hand tauchte plötzlich über ihr auf. Eine Hand mit einem Messer! Sie sah die scharfe Klinge. Wollte weg, wollte fliehen, doch man hielt sie fest. Das Messer senkte sich über ihrer Brust, immer weiter. Ein kurzes Ausholen, dann stach es zu. Xenia schrie …

… und schreckte hoch. Ihr Puls raste. Schweiß lief ihr über die Stirn. Vor ihr lagen Papiere. Sie sah eine Teetasse, ihren Laptop. Sie saß am Schreibtisch?

Tageslicht blendete sie. Das Radio lief. Xenia fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sie war tatsächlich weggenickt.

Aber wen wunderte es?

Wenn es dunkel wurde, wenn es still in der Wohnung war, kroch tief in ihr die Angst aus ihrem Versteck und hielt sie vom Schlafen ab. Zusammen mit der Stimme, die unablässig flüsterte.

Sie wollen dein Herz, Xenia.

Der Satz kreiste in ihrem Kopf und nahm ihr immer mehr die Luft.

Wer war in der Wohnung gewesen?

Wer kam durch verschlossene Türen?

Und … vor wem wollte er sie warnen?

Vor Jael? Nein. Er war derjenige gewesen, der sie eingeweiht hatte. Ihr vertraute. Wenn er vorhatte, sie zu töten, warum hätte er ihr dann so viel erzählt?

Blieb der Typ auf der Messe. Und natürlich diese beschissene Organisation.

Mit noch immer flatternden Fingern schloss sie die Bücher und ihren Laptop.

Gefühllosigkeit. Den ganzen Vormittag hatte sie recherchiert. Es gab viele Ursachen, aber als möglicher Auslöser wurde eine am häufigsten genannt: traumatischer Schock.

Xenia hob den Kopf und sah aus dem Fenster, rüber zur anderen Straßenseite. Gab es etwas Traumatischeres, als den Tsunami überlebt zu haben? Als Einziger aus der Familie?

Durch unzählige Therapieansätze hatte sie sich gelesen, und es gab sie: vielversprechende Methoden, Erfahrungsberichte von Betroffenen, hoffnungsvolle Ausblicke.

Nur musste sich jemand kümmern.

Es musste sich jemand um Jael kümmern.

Ihre Zunge glitt über den verkrusteten Riss an ihrer Lippe. Sie sah seine Augen wieder vor sich, spürte seine Nähe, hörte seine geflüsterten Worte.

War das normal? War es normal, dass sie ihn immer noch mochte, nach allem, was sie jetzt über ihn wusste?

Gefühlskalte Diebe waren sie, alle da drüben, denen es scheißegal war, was sie anderen nahmen.

Wem sie etwas nahmen.

Fiene!

Sie schluckte. Gestern hatte sie es nicht geschafft, sich aufzuraffen, aber heute konnte sie nicht wieder kneifen. Sie musste ins Krankenhaus. Zu Fiene. Und zu Felix. Nur vorher noch einkaufen.

Xenia stand auf und klemmte sich die Bücher unter den Arm. Sie mussten zurück ins Zimmer ihrer Mutter. Eigentlich durfte sie ihr Heiligtum gar nicht betreten, geschweige denn sich an ihrem Arbeitsmaterial vergreifen. Doch sie war nicht da. Geistig sowieso nicht, körperlich aber auch nicht. Ihr Schulschwänzen gestern war ihrer Mutter nicht mal aufgefallen. Wie auch? Ein neuer Prozess stand an, und sie verbrachte ihre Zeit fast ausschließlich im Büro. Dementsprechend sah es bei ihr aus. Xenia stieg über die Klamottenberge auf dem Boden und steuerte auf das Regal neben ihrem Schreibtisch zu. Sie hatte sich die Stelle gemerkt, aus der sie die Bücher gezogen hatte, extra eine Lücke gelassen, die sie jetzt wieder schloss. Dann wollte sie sich wegdrehen und das Zimmer verlassen, doch etwas auf dem Tisch hielt ihren Blick fest. Eine aufgeschlagene grüne Mappe. In ihr wie üblich Unterlagen einer Klientin. Nur war Xenia diese hier bekannt. Miriam Marquardt. Ihr Name stand oben auf einer der Seiten.

Miriam war bei ihrer Mutter in Therapie?

Zögernd näherte sie sich der Mappe.

Hypnose. Sie kannte den vorgedruckten Bogen, den ihre Mutter dazu immer ausfüllte, sah ihre Randnotizen. Weiter unten bekannte Namen. Rafi. Geno. Chrystal. Akrom. Und … Jael.

Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Deswegen also.

Ihre Mutter hatte sich vor Tagen interessiert nach den Neuen erkundigt, sie gefragt, wie die so sind. Wie die Party gewesen war. Und sie? Sie hatte sich so über ihr Interesse gefreut. Über ihre Aufmerksamkeit. Nur war es gar nicht um sie gegangen. Ihre Mutter hatte sie ausgehorcht.

Ganz klar eine Grenzüberschreitung.

Dann durfte sie auch, oder?

Sie zog sich die Mappe heran und überflog die Notizen. Zum Teil heftiges Gekrakel, nicht alles lesbar, doch eins war klar: Es ging im Großen und Ganzen tatsächlich um die Feier. Irgendetwas hatte Miriam dort erlebt, das sie nachhaltig beschäftigte. Sogar beschämte. Und immer wieder musste sie von einer Blume gesprochen haben, ihre Mutter verwies am Rand auf eine Skizze, die Xenia weiter hinten in der Mappe fand. Die Blume hatte eine runde Mitte, von der aus sechs Blütenblätter abgingen, nach außen spitz zulaufend. Jedes Kind konnte so was malen, und doch kamen ihr der Schwung der Linien und die kleinen Verzierungen an den Rändern auf eine unheimliche Weise bekannt vor.

Jaels Namen hatte ihre Mutter immer wieder eingekreist.

Hatte er doch etwas mit Miriams Selbstmordversuch zu tun? Sie hatte die beiden zusammen im Flur gesehen. Er konnte Liebe stehlen.

Xenia setzte sich, griff nach einem Stift und einem Zettel und zeichnete die Blume nach.

Wäre er nicht abgetaucht, könnte sie ihn direkt fragen, ihn noch einmal auf Miriam ansprechen. Doch Jael reagierte nicht, weder auf ihre Anrufe noch auf Nachrichten, und in der Schule war er wohl auch nicht gewesen. Er ließ sie komplett ins Leere laufen. Oder … konnte er sich nicht mehr melden? Hatte die Organisation ihn abgezogen?

Wut, Sorge, dazu die Angst.

Xenia erhob sich und steckte die Zeichnung ein. Es war Zeit zu reden. Als Erstes mit Felix. Ihm alles zu erzählen, brachte ihn in Gefahr, denn ihr Wissen war tödlich. Doch zu schweigen bedeutete keinen Schutz. Er würde entleert werden. Zu eng war es schon zwischen ihm und Chrystal, und sie würde es sich nie verzeihen, ihn nicht wenigstens gewarnt zu haben.

Sie schrieb ihm, dass sie gleich kommen würde, holte ihr Portemonnaie, zwei Beutel, und schnappte sich im Flur den Schlüssel. Die leeren Pizzakartons, die an der Wohnungstür lehnten, entlockten ihr ein schmales Lächeln. Liva war gestern für sie da gewesen, hatte sogar das Treffen mit Geno ausfallen lassen. Ihretwegen.

LPN-Therapie hatte sie ihren Einsatz gegen schlechte Stimmung bei ihr genannt: Liva, Pizza, Netflix.

Mit ihr musste sie auch sprechen, doch momentan war sie außer Gefahr. Das Wochenende verbrachte sie bei ihrer Oma und hatte schon Bilder geschickt, lustige Familienfotos, im Hintergrund die Berge.

Wie gerne würde sie auch einfach weg und davon.

Draußen vor dem Haus standen die Mülltonnen. Sie wollte die Pizza-Schachteln gerade hineinstopfen, sah dann aber einen Zettel. Er klebte unter einem der Kartons. Die Rechnung? Nein. Liva hatte sie in der Hand gehabt und ihr gezeigt, um den Betrag zu teilen.

Vorsichtig löste sie das Papier vom Boden und runzelte die Stirn. Notenlinien? Darauf fünf Töne. Fünf ausgemalte kleine Kreise. Die erste hatte ein Vorzeichen, ein Kreuz. Die zweite war ein c. Oder?

Unter den Linien stand ein Datum. Das von morgen.

Daneben: 16 Uhr.

Ein Treffen? Xenia blickte über die Schulter Richtung Straße.

Jael? Wohl kaum. Das hätte er einfacher haben können.

Außerdem – die Nachricht musste ja gar nicht für sie sein. Vielleicht hatte der Pizzabote sie aus Verse…

Nein, hatte er nicht. Ein kaltes Kribbeln schlängelte sich ihre Wirbelsäule hoch. Xenia. Auf der Rückseite stand ihr Name. In geschwungenen Buchstaben – wie beim letzten Mal. Darunter hatte jemand eine Blume gezeichnet. Nicht die mit den sechs Blütenblättern. Es war … eine Nelke?

CHRYSTAL

Stille. Durch die verschlossene Tür drang kein Laut mehr. Das Poltern hatte aufgehört. Was aber hatte Rafi alles schon zerschlagen?

Vorsichtig drehte sie den Schlüssel um und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Durch die zugezogenen Gardinen fiel nur dämmriges Licht ins Zimmer, doch es war ausreichend, um das Chaos zu sehen. Der Schreibtisch lag auf der Seite, davor Bruchstücke des Stuhls, auf dem Boden Kleidungsstücke, Scherben, zerfetzte Bücher.

Rafi war völlig außer Kontrolle.

Sie sah zum Bett hinüber, sah die zusammengerollte Decke. Schlief er darunter? Langsam schob sie die Tür weiter auf und betrat sein Zimmer.

Vor ihren Füßen stand sein unangetastetes Frühstück, und sie wollte das Tablett gerade aufheben, als etwas anderes ihren Blick auf sich zog. Ein Teil einer Karte. Blau schimmerte ihr Hintergrund, und die Zacke eines Sternes war noch sichtbar. Die Himmelskarte! Die, die er Fiene abgenommen hatte.

Rafi hatte sie zerrissen?

Ihr Blick flog über den Boden, sie brauchte die anderen Teile. Sie brauchte sie alle, um sie wieder zusammenzusetzen. Eine Ecke! Sie griff nach ihr, steckte sie ein, als sie plötzlich ein harter Schlag von hinten zu Boden warf. Chrystal stöhnte auf, rollte sich über die Seite, um wieder aufzuspringen. Doch ein fester Tritt gegen ihre Hüfte schleuderte sie zurück. Rafi! Sie ignorierte den stechenden Schmerz, schnappte sich die Scherbe neben ihrem Fuß und griff an. Sie kannte seine Schwachstelle, sie kannte die Schwachstellen jedes Einzelnen. Bei ihm war es die Deckung. Seine linke Hand, die nicht oben blieb. Wie jetzt. Sein Kiefer war frei. Doch dann trafen sich ihre Blicke, und Chrystal fiel die Scherbe aus der Hand.

Blutunterlaufen waren seine Augen, und ein blinder Schleier überzog das sonst so funkelnde Braun in ihnen.

Sie konnte ihn nicht angehen, ließ ein paar seiner nachlässigen Angriffe ins Leere laufen, zwang ihn dann auf den Boden. Unter seinem zerknitterten Shirt pumpten seine Lungen Luft, ansonsten wirkte er völlig abwesend.

»Rafi?«

Keine Antwort. Nicht mal seine Augenlider zuckten.

»Hey!« Chrystal hockte sich neben ihn. »Du weißt, dass das hier nur vorübergehend ist, oder?«

Wieder keine Reaktion. Er blickte nur stumm zur Wand und ließ auch ihre Warnung, dass sie ihn fertigmachen würde, wenn er sie nochmals anginge, völlig teilnahmslos über sich hinwegziehen.

»Mann, reiß dich zusammen!« Sie klopfte ihm auf die Brust und stand auf. Den Rest der Himmelskarte musste sie sich wann anders zusammensuchen.

Auf dem Weg zur Tür blickte sie zu seinem Kleiderschrank. Er stand offen. In ihm herrschte gähnende Leere, vor ihm aber lagen Papiere. Herausgerissene Seiten aus Heften, aus Ordnern, aus Büchern. Und überall stand nur ein Wort drauf, in Großbuchstaben geschrieben.

JAEL.

Shit! Wenn der hier nicht bald wieder auftauchte und ihn in den Griff bekam, war es das für Rafi gewesen.

Auf Genos fragende Miene im Flur, auf Akroms hochgezogene Augenbraue zuckte sie nur ratlos mit den Schultern, wünschte ihnen dann mit Blick auf ihre Joggingklamotten viel Spaß.

Frische Luft würde ihr auch guttun, doch abwechselnd mussten sie hier Babysitter spielen, das war die Anweisung.

»Zwei Stunden, Jungs, dann bin ich dran.«

Langsam wurde es eng, auch für sie. Von daher konnte sie nur hoffen, dass bald der Anruf kam.

Kaum dass sie ihr Zimmer betreten hatte, brummte ihr Handy tatsächlich. Friseur stand auf dem Display, und als sie das Gespräch annahm, erinnerte sie eine Computerstimme an einen vereinbarten Termin. In fünf Minuten. 4. Etage. KR.

Zum ersten Mal heute schafften es ihre Lippen, so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Endlich neue Informationen. Und was noch besser war: KR stand für Kontrollraum. Sie bekam Zugang?

Nur Sekunden nach dem Anruf erhielt sie eine Nachricht. Es war eine Zahlungsaufforderung. Die angeblich von ihr bestellte Ware interessierte sie nicht, sie brauchte nur den Betrag, den sie überweisen sollte. 78,52 Euro. Chrystal merkte sich die Zahlen, schlüpfte aus der Wohnung und schlich die wenigen Stufen hoch, ins angebliche Nichts. Die kleine Haustechnikkammer im Dachgeschoss der Hausnummer 17 mal ausgenommen. Sie war gleich rechts und für jeden zugänglich, doch ansonsten wirkten die Wände hier oben frisch verputzt, nahezu unberührt. Nur bei genauerem Hinsehen konnte man links an der Bodenleiste einen kleinen Spalt erahnen, schließlich lag die Wand dahinter quasi auf Schienen. Etwas auffälliger war da schon der Mauervorsprung unterhalb der Decken. Auch weiß gestrichen, doch machte er dort, wo er sich befand, statisch gesehen überhaupt keinen Sinn. Chrystals Finger glitten über den Handlauf des Treppengeländers, sie fand den kleinen Knopf, eine kaum spürbare Erhebung an der Seite, und drückte ihn sacht nach unten. Sofort öffnete sich der Mauervorsprung, und mit einem leisen Surren schwebte das Display an einem Stab herunter. 7852. Sie gab den Code ein, und wie von Geisterhand schob sich die Wand vor ihr zur Seite.

Fast ehrfurchtsvoll betrat sie den Raum, in dem alles, die gesamte Technik des Hauses, zusammenlief. Die inoffizielle zumindest. Ein Meer an Apparaturen empfing sie, unzählige Rechner, massenhaft Kabel, Tastaturen. Dazu an der Wand vor ihr eine Reihe an Monitoren. Direkt gesteuert wurde aus diesem Raum heraus nichts. Noch nicht. Er war für Notfälle eingerichtet worden.

Chrystal setzte sich auf einen der beiden Stühle, rollte an den Tisch, der die gesamte Breite des Raumes einnahm, und zuckte zusammen, als einer der Bildschirme sich plötzlich vor ihr blau erhellte. Es knackte, dann ertönte eine Stimme. »Pünktlich. Wenigstens das, Chrysalia.«

Chrysalia? Verächtlich verzog sie die Lippen. So nannte sie sich seit hundert Jahren nicht mehr, doch ihre Mutter ignorierte das. Wie immer.

»Hallo, Armata!« Chrystal straffte den Rücken, als das Blau vor ihr verschwand und dem Gesicht ihrer Mutter Platz machte. Ihre schwarzen, langen Haare glänzten. Sie trug sie offen, nur mit zwei silbernen Spangen an den Seiten zurückgehalten. Akkurat gezupfte Augenbrauen, dezent geschminkt. Die Haut ihrer Mutter brauchte ebenso wie ihre eigene kein Make-up. Sie war makellos. Faltenfrei.

Wie oft hatte sie sich anhören müssen, sie und Armata sähen wie Schwestern aus? Einziger Unterschied: die Augenfarbe. Sie hatte das Kristallblau ihres Vaters geerbt. Armatas hatten die Farbe von sanft grünen Wiesen. Eine trügerische Falle.

»Kannst du dir vorstellen, wie enttäuscht ich bin?« Ihre Mutter saß vornübergebeugt, sprach leise. »Das war deine Chance, endlich mal etwas Tragendes beizusteuern. Und du hast sie nicht ergriffen? Wie konnte dir die Immunitin entgehen?«

Super! Chrystal schluckte den Frontalangriff, versuchte es zumindest, doch ein kratzender Schmerz blieb ihr im Rachen hängen. »Ich kenne sie kaum. Sie geht nicht in meine Klasse. Außerdem hab ich hier echt hundert andere Dinge zu tun.« Sie hasste es, sich rechtfertigen zu müssen, noch mehr aber, dass sie mit ihrer Erklärung nicht mal durchkam. Armatas akkurat gezupfte Augenbrauen zogen sich düster zusammen. »Andere Dinge zu tun? Eine Immunitin! Seit Jahren gab es das nicht mehr. Und dann jetzt. Gerade jetzt!« Ihre Augen flogen kurz zur Seite, dann rutschte sie noch näher an den Bildschirm. »Ich glaube, du bist dir nicht bewusst, wie sehr sich deine Position innerhalb des Clans verbessert hätte, wäre die Meldung von dir ausgegangen. Du wolltest doch endlich aufsteigen.«

Chrystal presste die Lippen zusammen. Mehr Beachtung. Mehr Mitspracherecht für die Jüngeren. Dafür kämpfte sie tatsächlich seit Jahren. Nur interessierte ihre Mutter das sonst einen Scheiß. »Schön, dass du an uns alle denkst. Nur versteh ich den Aufriss grad nicht. Wir stehen kurz vor dem rettenden Ende. Und du? Meckerst rum?«

»Na schön«, antwortete sie, dabei hätte das Wort Versagerin viel besser zu ihrem Gesichtsausdruck gepasst, doch irgendetwas war passiert. Hinter Armata im Raum. Ihr Gesicht verschwand aus dem Bildschirm. Da war ein Schatten, oder? An der Wand, schräg links. Und er bewegte sich. Armata, eines der ranghöchsten Mitglieder, wurde kontrolliert?

»Also gut.« Ihre Mutter tauchte wieder auf und hatte ihr Gesicht ausgetauscht. Dabei nicht nach einem freundlicheren gegriffen, aber professioneller gab sie sich jetzt. »Jaels Bericht hat für Aufsehen gesorgt. Momentan unterzieht er sich einigen Tests. Er wird sein Briefing erhalten und voraussichtlich heute noch in die WG zurückkehren.«

»Sehr gut.« Chrystal hob den Daumen. »Rafi hat sich komplett abgeschaltet, und der Einzige, der ihn wieder auf Spur bringen könnte, ist sicher Jael.«

»Auf die Spur?« Ihre Mutter zögerte. »Chrysalia, noch ist nicht klar, wie mit Rafi verfahren wird, aber das ist jetzt nicht Thema. Und es wird auch nicht mehr dein Thema sein. Du wirst dich da raushalten und vor allem der Immunitin aus dem Weg gehen. Du weißt, wie sensibel die sind, und wir können es uns nicht leisten, sollte sie dahinterkommen, dass du … na, sagen wir mal anders als die anderen bist. Dein Auftrag ist jetzt ganz einfach: Du machst nur noch das, was du am besten kannst. Du säuberst. Ganz oben auf der Liste steht Miriam. Wir wissen nicht, wer ihre Therapeutin ist und was die schon aus ihr herausgekitzelt hat. Von daher: Zieh sie schnellstmöglich aus dem Verkehr. Sei dabei aber bitte kreativ, wir wollen kein Aufsehen erregen.«

Chrystal nickte. Mit Miriam hatte sie zum Glück kein Problem, und auch die anderen beiden Namen, die ihre Mutter nannte, bereiteten ihr kein Magendrücken. Melanie und Christian. Dass sie den Hund vergiftet hatte, entlockte Armata sogar ein knappes Lächeln. »Gut. Alles weitere bei den beiden übernehmen wir. Kommen wir jetzt aber zur Familie Steinkamp. Wie gut kennst du sie?«

Professionell bleiben. Kalt bleiben. Chrystal riss sich zusammen, trotzdem rutschte ihr das Lächeln von den Lippen. »Ich kenne die alle recht gut.« Sie reckte ihr Kinn. »Was muss ich tun?«

»Treib sie in den Ruin. Geldsorgen überblenden alles. Mach sie fertig. Verstanden? Sie sollen an nichts anderes mehr denken als an das blanke Überleben.«

Besser als der Tod. Besser als der Tod.

Chrystal versuchte sich diesen Satz einzureden. Doch war es das wirklich? Besser als der Tod?

Felix würde sich wehren, gegen jeden Einschlag, der seine Familie treffen würde. Und am Ende trotz allem verlieren.

»Mum?« Selten nannte Chrystal sie so. Noch seltener so bittend. Und es schien anzukommen, der Blick ihrer Mutter wurde für einen flüchtigen Moment weicher. »Ja?«

»Ich hätte vielleicht eine bessere Lösung.«

»Und die wäre?«

»Das Gegenteil. Ich glaube, ein finanzieller Aufstieg würde die Familie eher zum Schweigen bringen. Das sind Kämpfer. Leute, die alles hinterfragen, sich für jeden einsetzen. So …« Sie lachte auf. »So Spinner halt. Von daher wäre ein plötzlicher Geldsegen eher etwas, das sie verwirren würde. Und den sie brauchen könnten, bei dem Zustand der Kleinen.«

In die Porzellanhaut ihrer Mutter zogen sich Falten. Dann blickte sie kurz zur Seite. Nickte auf Worte, die Chrystal nur dumpf hörte. Mit wem tauschte sie sich aus?

»Das ist gegen unseren Plan. Aber …« Sie wandte sich ihr wieder zu. »Versuch es. Die Gelder bewilligen wir. Sollte allerdings irgendwas dabei schiefgehen, stoppst du die Aktion. Und schaffst sie uns anderweitig aus dem Weg.«

»Sicher.«

»Was aber Fiene betrifft, dulden wir keinen Gegenvorschlag. Du wirst sie spritzen.«

»Jetzt noch?« Chrystals Magen zog sich zusammen. Der Vorfall war drei Tage her. Wie hoch mussten sie die Dosis setzen, um ihre Erinnerung noch zu löschen? »Wenn wir das wirklich mach…«

»Nicht wir.« Die Stimme ihrer Mutter schnitt ihr ins Wort. »Du machst das. Und glaub nicht, du müsstest uns aufklären. Wir wissen, dass sie dabei sterben kann. Dann ist das so. Das wäre auch nicht die schlechteste Variante. Das Mittel lassen wir dir heute noch zukommen.«

»Verstanden.«

»Gut. Von uns aus wäre es das.« Armata legte ihre Handflächen aneinander und senkte den Kopf.

Dann wurde der Bildschirm schwarz.

Chrystal saß da, einfach so, und starrte vor sich hin.

Nie hätte sie geglaubt, dass es ihr was ausmachen würde, das Säubern. Es gehörte zu ihren Aufgaben, seit Beginn an. Zudem ging es gerade um ihr eigenes Schicksal. Um das des Clans. Um ihr aller Überleben. Doch zu welchem Preis? Xenia war ihr egal. Miriam noch mehr. Christian und Melanie? Bedeutungslos. Nicht aber Felix. Zum ersten Mal gab es jemanden, der alles verschob. Richtig und Falsch infrage stellte. Auf seine so direkte Art. Doch er hatte zu viel Aufsehen erregt, und damit stand sein Todesurteil jetzt schon so gut wie fest.

Ein Piepsen schreckte sie auf. Es wiederholte sich, und die Computer fuhren herunter. Zeit zu gehen.

Um irgendwann wiederzukommen?

Chrystal stand auf und sah sich nach Kameras um. Sie kannte die kleinen unauffälligen Biester, konnte hier aber keine entdecken. Gut so. Ihr Handy hatte sie dabei, in ihm die Technik, die sie jetzt brauchte. Die Apparatur an der Wand vor der Tür war ihr vertraut, ihr Mechanismus auch. Und sie wusste, wie sie sich ohne Spuren zu hinterlassen Zugang in das Innenleben des kleinen Kastens verschaffte. 3105. Sie programmierte einen zusätzlichen Code ein. Einen, den sie jederzeit nutzen konnte, ohne aufzufallen. Sie geriet zwischen die Fronten. Und wer weiß, wozu sie diesen Raum und vor allem die Technik darin noch gebrauchen konnte?

Sie trat aus der Tür, wartete, bis sie sich hinter ihr wieder zuschob, und lief die Treppenstufen runter. Vor der Wohnung wollte sie über das Display die Tür öffnen, als sie plötzlich einen Luftzug hinter sich spürte. Zu spät. Ein Schatten überfiel sie. Ein Schatten mit kraftvollen Händen. Die eine verschloss ihren Mund, die andere krallte sich fest um ihre Kehle.

»Schschsch …« Ein warnendes Zischen, direkt an ihrem Ohr. Es mischte sich unter das rasende Pochen ihres Herzens. Sich zu wehren war zwecklos. Der Angreifer stand zu eng, zu nah an ihr dran. Schmerzhaft zog er ihren Kopf nach hinten. Dafür ließ die Hand von ihrem Hals ab, tauchte plötzlich an ihrer Seite wieder auf. Und traf. Die Stelle genau unterhalb ihrer Rippen.

Chrystal verschluckte sich an ihrem Lachen. Sie bekam keine Luft. »E … E-Elias.«

»Ganz brav, okay?«

Sie nickte, wand sich aus seinem Griff, nur um ihn dann fest an sich zu ziehen.

Er war da. Bei ihr.

Shit! Hatte sie jetzt echt Tränen in den Augen?

FELIX

Siebenhundert Euro. Er schickte die Bestätigungsmail raus und schob sein Handy in die Tasche. Sein Lied war damit weg. John Bone würde es singen. Doch … hatte er eine Wahl gehabt? Sie brauchten das Geld. Seine Mutter zerfiel zusehends. Und mit dem Verkauf hatte er ihr jetzt Luft verschafft, wenigstens das Putzen erspart, nicht nur für dieses Wochenende.

Er wandte sich vom Fenster ab und sah zu Fiene. Das Bett schien ihren kleinen Körper mit jedem Tag mehr zu verschlucken. Die Farbe ihres Gesichts hatte sich der Krankenhausbettwäsche angepasst. Gebleichtes Weiß.

Alles seine Schuld.

Sie atmete. Das aber war auch das Einzige, womit sie noch am Leben teilnahm.

Komapatienten bekommen mehr mit, als man denkt. Fiene braucht jetzt bekannte Stimmen. Zuspruch.

Sicher. Dr. Hartmanns Empfehlungen waren überall im Netz nachzulesen, und doch hatte es etwas Unheimliches.

Fiene so still?

Felix nahm seine Gitarre und setzte sich zu ihr aufs Bett. Singen ging für ihn, und es war noch möglich. Fiene hatte ein Einzelzimmer bekommen, zumindest für die ersten Tage ihres Aufenthaltes hier. Das war Chrystals Verdienst gewesen. Wie auch das Angebot der Spezialklinik, von dem ihm Dr. Hartmann vorhin erzählt hatte. Aber 4000 Euro? Außerhalb jeglicher Reichweite.

»Irgendwelche besonderen Wünsche, Kleine?« Felix strich über die Decke, machte Fienes Fuß darunter aus, ihren großen Zeh, und wackelte vorsichtig an ihm. »Ganz schön blöd, dass ich dich grad nennen kann, wie ich will, oder? Ratte. Plappermaul. Klugscheißer.«

Leise stimmte er die Saiten und begann zu spielen.

Nur ein einziges Wort. Es war ihr Lieblingslied, eines seiner ersten. Wenn Stille zu laut wurde … Er hörte Fiene in Gedanken mitsingen, schloss die Augen und schaltete ab. Keine Gedanken mehr. Keine Sorgen. Nur Musik.

Ein Klopfen riss ihn aus den letzten Klängen des Songs. Felix ließ die Hand sinken und blickte zur Tür. Für Hartmann oder sonstige weiße Götter hatte er grad keinen Nerv mehr, doch es war jemand in Schwarz, der im Zimmer erschien. Sein schwarzer Engel. »Hey!«

»Stör ich?«

»Nie.« Lächelnd legte er die Gitarre zur Seite, stand auf und zog Chrystal in seine Arme. Ihre Stirn schmiegte sich an seinen Hals, und Felix schloss die Augen. Ohne sie, ohne ihre Unterstützung in den letzten Tagen, wäre er eingegangen. »Danke.«

»Wofür?« Sie hob ihren Blick. Kristallblau. Chrystalblau nannte er es nur noch, und wie immer fingen ihre Augen ihn ein. Statt ihr zu antworten, klaute er sich einen Kuss von ihren Lippen. Dabei wanderten seine Hände ihren Rücken hinunter, eine fand Zuflucht in ihrer Hosentasche. Weicher Stoff. Kein Leder?

»Wo ist deine legendäre Hose?«

»Ach, ich war vorhin laufen. Hatte dann einiges zu tun.« Sie wich seinem Blick aus, suchte sogar Abstand. »Und hab mir nur schnell was übergezogen.«

Einiges zu tun. Felix konnte sich denken, um was und vor allem um wen es ging, doch sie hatten ein Abkommen. Kein Wort mehr über die Organisation. Kein Wort mehr über Rafi. Sie hielt ihn für unschuldig, er ihn zumindest für beteiligt. Und von Christian und Melanie würde er die Aussage sicher auch noch schriftlich bekommen.

Geflüsterte Worte holten ihn aus seinen Gedanken. Chrystal war zu Fiene rübergegangen. Sie stand an ihrem Bett und strich ihr vorsichtig über die Wange, bevor sie sich ihre Schuhe auszog und ihren Platz bezog. Im Schneidersitz zu Fienes Füßen. »Hast du über die Privatklinik nachgedacht?«

»Nein. Also, ja.« Felix fuhr sich durch die Haare, schob sich dann einen der Stühle ran. »Die Idee ist toll. Aber ich krieg das nicht hin. Ich hab grad mein Lied verkauft. Und …«

»Was hast du?« Ihre Augen weiteten sich. »Aber nicht an das Arschloch, oder?«

Er lehnte sich zurück. »Doch.«

»Mann, warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen? Felix, das ist dein Lied! Das Lied, an dem du am meisten hängst.«

»Das musst du mir nicht erzählen. Aber ich brauch das Geld. Du hast meine Mutter heute Morgen gesehen. Und ich glaub, mehr muss ich dazu nicht sagen, oder?«

»Nein.« Chrystals Finger spielten an der Bettdecke rum. Zuerst schaute sie ihnen dabei zu, dann aber hob sie ihren Kopf. »Ich möchte dir was sagen, Felix. Nur … du musst mich ausreden lassen, ja?«

»Okay.« Er versprach es, lächelte aufmunternd, während sein Körper gespannt die Luft anhielt.

»Also, ich … Ich hab deinen Vater gefunden.«

»Was?« Felix schnellte auf seinem Stuhl nach vorn. »Ich gla…«

»Hey, erst zuhören. Ich hab dein Wort.«

Es fiel ihm schwer, tatsächlich die Klappe zu halten. Gerade sie sollte wissen, wie weh es tat, das Thema Väter. Doch er lehnte sich zähneknirschend wieder zurück.

»Er wohnt in New York. Seine Anwaltskanzlei Steinkamp & Johnson gehört dort zwar nicht zu den Top 10 Kanzleien, aber unter den ersten 100 wirst du sie finden. Geschätzter Jahresumsatz? Dürfte in den dreistelligen Millionenbereich gehen. Und …« Sie hob ihre Hand, als er sich wieder vorbeugte. »Er ist zu Unterhalt verpflichtet. Verstehst du das, Felix? Es ist euer Recht!«

Stumm schüttelte er den Kopf. Wie sollte er ihr seine Haltung erklären? Er wollte nichts von ihm. Nicht sein Geld, nicht seine Zeit, und schon gar nicht in irgendeine Art Abhängigkeit geraten. Mühsam kramte er die Worte aus sich heraus, doch immer wieder holte sie Luft, um etwas zu sagen, schüttelte den Kopf, so oft, dass sein Ton an Schärfe gewann. »Er ist für uns tot, verstehst du das nicht?«

Die letzten ihr hingeschleuderten Worte hallten zwischen den kahlen Betonwänden nach. Doch Chrystal wirkte weder geschockt noch verletzt. »Und dass ihr dabei zugrunde geht, darf er sich dann auch auf sein gut gefülltes Konto schreiben?« Sie setzte ihre Füße auf den Boden und beugte sich zu ihm. »Felix, der könnte sich die Wände seiner Villa mit Hundertdollarnoten tapezieren. Sein Fuhrpark schluckt wahrscheinlich mehr Benzin als sämtliche SUVs der Ärzteschaft hier.« Sie zählte Automarken auf, alles Modelle, zu denen Felix nicht mal Bilder hatte, die seinem Vater aber wohl zu gehören schienen.

Woher hatte sie die ganzen Informationen?

»Deinen Vater juckt es nicht, dass ihr euch so anstrengt. Dass deine Mutter daran kaputtgeht. Wie auch? Er weiß ja nichts davon. Wenn ihr ihn also schmerzhaft treffen wollt, dann mit Geld.« Sie griff nach seiner Hand. »Und das steht euch zu.«

Er wollte davon nichts hören, versuchte gegenzuhalten, merkte aber, dass ihm immer mehr die Argumente ausgingen. Eigentlich blieb nur eins. »Akzeptier es einfach, Chrystal. Wir wollen es so.«

»Wirklich? Fiene auch?« Sie nickte in ihre Richtung. »Würde Fiene das jetzt auch so wollen?«

Ihre Nachfrage traf ihn. Gezielter Schuss ins Herz.

Mit zusammengepressten Lippen stand er auf, stellte sich ans Fenster, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.

Fiene. Wollte sie es wirklich so?

Tapfer gelächelt hatte sie immer, wenn er ihr einen Wunsch abschlagen musste. Die Welt umarmt, wenn einer wider Erwarten in Erfüllung ging. Und jetzt? Setzte er mit seiner Sturheit, wie Chrystal es ihm vorwarf, ihr Leben aufs Spiel?

Er spürte Chrystals Hände an seiner Taille, ihre Stirn an seinem Rücken. »Ich will nicht, dass du mich falsch verstehst. Wie du dein Leben führst … Ich bewundere das, Felix. Ich glaub nur, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, stolz zu sein. Fiene könnte mit dem Geld geholfen werden. Außerdem geht es mir auch um dich. Du verschwindest immer mehr in dir selbst.« Sie schlängelte sich an ihm vorbei, stand dann vor ihm, ihre Hand auf sein Herz gelegt. »Ich mach mir Sorgen, Felix. Um dich.«

Sanft fuhr er mit seinen Fingern über ihre Haare. Dann zog er ihren Kopf zu sich. Ging es ihm wirklich nur darum, dass dreckige Geld seines Vaters nicht annehmen zu müssen? Oder darum, das Gefühl weiter in sich tragen zu dürfen, es allein zu schaffen?

»Und du kennst jemanden, der sich mit Unterhaltszahlungen auskennt?«

Er spürte ihr Lächeln an seiner Brust, und allein für den Blick, den sie ihm dann schenkte, hatte sich die Frage gelohnt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre Lippen strichen kaum spürbar über seine, glitten dann rüber zu seinem Ohr. »Mein Onkel«, flüsterte sie, »steckt alle Lars Steinkamps dieser Welt in seine Tasche.«

Felix legte seine Hand in ihren Nacken, er kannte die Stelle, wo sie es besonders mochte, und fuhr mit seinem Daumen über ihren Hals. »Dann frag mal nach.«

Diesmal streiften ihre Lippen seine nicht nur. Felix umfasste ihr Gesicht und schloss die Augen. Chrystal zu küssen war die Welt vergessen.

Leider zerschnitt ein Summen den Moment. Ihr Handy. Seine Hände wollten sie nicht freigeben, noch nicht, doch sie wand sich aus seinen Armen. Ihre Augen baten um Entschuldigung, bevor sie die eingegangene Nachricht checkte.

»Sorry. Ich muss los.«

Worum es ging, sagte sie ihm nicht, von daher konnte er es ahnen. Rafi. Oder irgendein anderes Problem mit der Organisation.

Während sie sich ihre Schuhe anzog, blickte Felix auf sein Armband. Er hatte es nicht verspielen wollen, aber verschenken? Es saß ziemlich fest, war verwaschen und der Verschluss kaum zu öffnen.

»Was machst du?« Chrystals Augen beobachteten seine Finger, die immer wieder an dem Knoten abrutschten.

»Ich will, dass du es be…«

»Nein.«

Ihr hartes Ablehnen ließ ihn verwundert die Hand senken. »Chrystal, ich weiß nicht, wo ich grad ohne dich wäre. Und ich dachte, du wolltest es haben. Von daher …«

Die letzten Worte verhallten stumm in ihm. Sie war aufgestanden, lächelnd zwar. Doch sonst umgab sie dabei ein Strahlen, gerade lag ihr Gesicht wie im Schatten. Warum?

»Ich kann das nicht annehmen. Du … du brauchst das jetzt. Gib es mir erst, wenn es vorbei ist. Ja?«

Felix runzelte die Stirn, nickte aber und begleitete sie dann nach draußen. In die andere Welt. In die Welt, in der die Lautstärke nicht runtergeregelt war. Aus Rücksicht oder Trauer. Junge Leute lungerten an der Bushaltestelle rum. Gesunde Leute. In Trikots und mit Bierflaschen in den Händen. Wie sich Prioritäten doch verschoben?

»Ach Scheiße!« Chrystal griff plötzlich nach seinem Arm. »Ich hab meine Tasche vergessen.«

Hatte sie eine dabeigehabt?

Sein Angebot, sie ihr zu holen, lehnte sie ab.

»Quatsch. Frische Luft brauchst du grad echt dringender. Warte einfach.«

So schnell, wie sie dann loslief, konnte er nichts mehr sagen.

Felix lehnte sich gegen den Abfahrtsplan und sah auf sein Handgelenk. Sie hatte das Band nicht haben wollen. Und erst jetzt wurde ihm klar, warum ihre Worte noch so komisch in ihm festhingen. Sie hatten nach Abschied geklungen.

CHRYSTAL

Die Spritze in ihrer Hand zitterte. So würde sie die Vene niemals finden. Mit tiefen Atemzügen versuchte sie, ihren Puls runterzubringen. Sie konnte das. Professionell sein, Gefühle wegblenden. Aufträge ausführen. Und es funktionierte, die Nadel wurde ruhiger.

Fienes Decke hatte sie bereits zurückgeschlagen, den Ärmel ihres Hemdchens hochgeschoben. Unter ihrer blassen Haut zeichneten sich die blauen Wege deutlich ab. Dazu gab es schon einige Einstiche in der Armbeuge. Einer mehr oder weniger würde nicht auffallen.

Chrystal setzte die Spritze an und stach zu.

Lass deine Erinnerung los, Fiene!

Dank Elias’ Wissen hatte sie die Dosis senken können. Dafür musste sie aber wiederkommen. Dreimal.

Schnell beseitigte sie ihre Spuren und griff nach ihrer Tasche. Sie hatte sie vorhin direkt neben den Mülleimer fallen lassen, genau in dem Moment, als Felix seine Gitarre weggelegt hatte. Niemals hätte sie sonst vorgeben können, sie vergessen zu haben.

In der Tür drehte sie sich noch einmal um. Wenn ihr Plan nicht funktionierte, wenn Fienes Körper sich gegen das Mittel wehrte, war es das. Sie würde sterben. Noch heute.

JAEL

Die Stromschläge, die man ihm unerbittlich durch den Körper gejagt hatte, knisterten noch immer in ihm nach. In jedem Muskel, in jeder Sehne. Wie Glühdrähte, die beständig wieder aufflackerten.

Nach außen hin aber ließ er sich nichts anmerken. Er stand aufrecht, mit erhobenem Kopf, im Zentrum der Bibliothek.

Jahrhunderte alte Bücherwände umgaben ihn, durchbrochen von großen Gemälden. Auf allen waren unheimliche Gestalten zu sehen, in der Mitte jemand mit einer Schnabelmaske. Thot, oder? Der Gott der Wissenschaft, der Magie und Weisheit?

Zu gern hätte er sich hier ungestört umgeschaut. Aufgereiht und hinter schmuckvollen Buchrücken versteckt lagerte um ihn herum das gesamte Wissen des Partems. Informationen, die für Xenia so hilfreich sein könnten. Nur war er nicht allein.

Zwei Bewacher, rechts und links am Eingangsportal platziert, hatten ihn zwar nicht im Blick, ihre blinden Augen schauten nur trübe ins Nichts. Und doch, wusste er, nahmen sie jeden seiner Atemzüge, jede Bewegung wahr.

Plötzlich ein Klopfen. Die Bewacher öffneten die Türflügel und traten zur Seite. In dunklen Gewändern, die Hände vor den Körpern gefaltet, zogen Mitglieder des Partems ein. Wieder nur fünf. Die Führungsriege?

Diesmal waren sie es, die schwarze Masken trugen, allerdings mit Schlitzen, die ihnen das Sehen erlaubten. Die Gestalt in der Mitte, ihr scharfkantiges Kinn … Es war der Supremus. Neben ihm eine Frau?

Sie schritten an ihm vorbei und setzten sich auf Stühle, die ihnen bereitgestellt wurden. Die Bewacher verschwanden, und der Supremus ergriff das Wort. »Deine Kondition ist gut, Jael, auch das von dir absolvierte Kampftraining reicht weit über die Anforderungen hinaus. Allerdings liegen uns jetzt auch deine Testergebnisse vor.«

Das Briefing. Jaels Finger spannten sich an. Er wusste, dass er nicht alle Bilder, nicht jede Videosequenz geschafft hatte. Die Sensoren, mit denen er verknüpft worden war, reagierten auf die kleinste Körperreaktion. Ein Zucken, ein Blinzeln. Sie registrierten es und gaben es als Impuls weiter, woraufhin die Apparatur Blitze schleuderte.

Mann auf Gleisen – der Zug kommt: Nichts.

Lawinenabgang – er selbst verschüttet: Leichtes Zucken. Stromschlag.

Weihnachten – glückselige Gesichter: Nichts.

Das Meer – Wellen: Beschleunigter Puls. Stromschlag.

Ein Mann am Boden – Tritte gegen seinen Kopf: Nichts.

Ein Schuss auf ihn – aus nächster Nähe: Nichts.

60 Minuten lang hatte er durchgehalten, seine Kälte immer wieder in sich hervorgerufen, sie durchbrechen lassen und sie damit trainiert. Sie musste abrufbereit sein, jederzeit, um ihn zu schützen.

»Du bist stabil, Jael. Mit Schwachstellen. Führt man sie zusammen, bildet sich ein Muster heraus. Vor allem bei Unglücken, Naturkatastrophen, aber auch bei Kindern bist du oft noch durchlässig. Sei dir dessen bewusst, und schütze deine Erinnerung. Insbesondere im Kontakt mit der Immunitin.«

»Natürlich.« Er nickte.

»Hast du die Unterlagen sorgsam studiert?«

Jael nickte erneut. Doch die Sensoren, würden sie noch an seinem Körper kleben, hätten reagiert, seine Anspannung wahrgenommen und übersetzt. Und sie als das identifiziert, was sie war: Verachtung.

Die Mappe, die sie ihm ausgehändigt hatten, war nicht wirklich hilfreich gewesen. Er kannte jetzt ein paar Details mehr über die Entstehungsgeschichte der Immuniten, hatte über den Streit gelesen, der zur fatalen Spaltung des Partems geführt hatte. Aber wie genau Immuniten vorgingen, wie sich ihre Gabe zeigte und wozu sie wirklich imstande waren, davon hatte nichts dringestanden. Was bedeutete, dass er nichts, absolut gar nichts in den Händen hatte, womit er Xenia helfen konnte. Auf ihre Fragen keine Antworten. Dafür hatte er erneut die strikte Anweisung erhalten, sogar unterschreiben müssen, alles, was im Zusammenhang mit ihr stand, zu melden.

»Jael, dir galt von Anfang an unser Augenmerk.« Die Stimme des Supremus wechselte auf einmal die Klangfarbe, aus autoritärer Härte wurde samtweiche Zuwendung. Jael hörte die Veränderung nicht nur, er spürte sie körperlich. Sein Tattoo. Wie zum Leben erweckt, begann es zu pulsieren.

»Von Beginn an haben wir Großes in dir gesehen. Wir haben dich gerettet, dich gefördert, in der Hoffnung, dass du deinen Weg gehen wirst. Jetzt hast du die Möglichkeit der Wiedergutmachung. Und Jael …« Seine Lippen unterhalb der Maske verzogen sich zu einem Lächeln. »Du wirst dabei nicht alleingelassen. Wir werden da sein. Wir werden dich auf den letzten Metern deiner langen Reise begleiten. Jeden Meter, bis zum Ziel. Es liegt direkt vor dir. Ergreif es!«

Plötzlich erfüllte ein Flüstern den Raum.

Astra. Astra. Astra.

Tjara! Es war ihre Stimme.

War sie hier? War sie schon da?

Er blickte sich um, drehte sich in alle Richtungen und spürte, wie ihm das Herz davonjagte.

Die große Holztür öffnete sich erneut. Gestalten, alle in braunen Gewändern, alle mit Masken, erschienen im Raum. Sie umkreisten ihn unablässig, wickelten ihn wie ein Seil ein. Jaels Knie begannen zu zittern. Tjara flüsterte weiter.

Astra. Astra.

Der Kreis um ihn öffnete sich. Eine Leinwand entrollte sich vor ihm, dann erschienen Bilder. Er erkannte frühere Electi. Vertraute Gesichter aus dem Domicilius. Nur ihr fröhliches Lächeln war ihm fremd. Lag es an den Männern, an den Frauen, an den Kindern, die mit offenen Armen auf sie zuliefen? Sie umarmten? Vor Freude weinten?

Jael zuckte, als eine Hand sich von hinten auf seine Schulter legte. »Ganz bald schon wirst auch du deine Schuld beglichen haben und von uns das zurückbekommen, das du verloren geglaubt hast: deine Familie.«

Das Flüstern erstarb.

»Jael, ich …« Tjara lachte auf. »Ich freu mich so auf dich.« Dann hörte er ihren unruhigen Atem, ein flatterndes Luftholen, bevor sie zu singen begann. Sic itur ad astra.

Ihre glockenhelle Stimme. Sie durchbrach die letzten Zweifel in ihm. Jael nahm Haltung an, schloss die Augen und sog jeden Ton tief in sich ein.

Mit seiner Meldung hatte er sich Zeit erkämpft. Zeit, um Xenia zu schützen. Doch jetzt wusste er, sie würde nicht ausreichen, und er müsste sich zwischen seiner Familie und ihr entscheiden, würde er Xenia opfern.

XENIA

»Hallo?« Vorsichtig schob sie die Tür weiter auf. »Felix?«

Auf ihr Klopfen hatte niemand reagiert, und auch jetzt kam keine Antwort. Komisch. Chrystal war doch gerade hier rausgekommen.

Xenia holte Luft und betrat das Krankenzimmer.

Steriles Grau-Weiß. Und … Fiene.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Nichts an ihr erinnerte sie an die Freude, die Leichtigkeit, die sie ausmachte. Wie tot lag sie da. Und sie war schuld daran.

Zögernd näherte sie sich dem Bett. Durfte sie Fiene berühren? Oder machte sie damit nur alles noch schlimmer?

Sie sah auf ihre geschlossenen Augen, die vor Trockenheit spröden Lippen, den Schlauch in ihrem Arm, der sie ernährte.

»Hi.« Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und griff dann in ihre Jackentasche. »Ich hab dir was mitgebracht.«

Im Supermarkt hatte sie die Verkäuferin um Sammelkarten gebeten, und irgendwie musste sie dabei einen sehr flehenden Gesichtsausdruck gehabt haben. Die Frau hatte tief in die Box gegriffen. Eine Himmelskarte war leider nicht unter den Karten gewesen. Trotzdem legte Xenia den ganzen Packen auf den Nachttisch und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Die leichte Erschütterung übertrug sich auf Fienes Körper. Er bebte. Und wie von allein musste sich dabei auch ihre Hand bewegt haben, sie lag plötzlich neben ihrer und berührte ihre Finger. Xenia erstarrte. Keine Sirene. Fienes Geräusch war weg! Dafür knisterte es. Rauschte es. Ähnlich wie bei Rafi und Akrom. Warum? Bei Schlafenden waren die Geräusche noch da, leiser zwar, wie von ganz weit her. Aber Fiene war bis auf das Knistern still. Lag es am Koma?

Oder änderten sich die Geräusche, wenn Liebe feh…

»Xen! Hi.«

Sie zuckte zusammen. Felix stand im Raum, und sofort zog sie ihre Hand weg. Die Kälte. Sie spürte sie bereits wieder in den Fingern. Kam auch das Leuchten zurück?

»Hey!« Sie stand auf, versteckte ihre kalte Hand hinter ihrem Rücken und ging auf ihn zu. Felix war schon immer eher schmal gewesen, aber gerade sah er aus, als könnte ihn nur ein Windhauch umpusten. Fragend öffnete er seine Arme und zog sie auf ihr Lächeln hin an sich. Der Löwe begrüßte sie brüllend. Aber absurderweise genoss sie das Geräusch in diesem Moment. Es zeigte doch, dass mit ihm noch alles okay war. Oder nicht?

»Ich wollte grad kurz noch mal nach Fiene sehen, bevor ich gleich in den Bunker muss. Hab aber noch nichts gegessen. Hast du Lust, kurz mit runter in die Kantine zu gehen?«

»Klar.« Nach Essen war ihr nicht, aber mit ihm reden wollte sie, und das ging unten sicher besser als hier.

Während Felix sich an der Selbstbedienungstheke anstellte, um sich ein Brötchen zu holen, suchte sie schon mal nach einem Tisch. Am Fenster?

Sie setzte sich und schaute raus auf den Parkplatz. Novembergrau. Dicke Jacken, hochgezogene Kragen. Fast alle hatten es eilig.

»Ist die Blume von dir?«

»Was?« Sie wandte sich um. Felix war wieder da, stellte gerade sein Tablett auf den Tisch und deutete mit dem Kinn auf den Boden.

Ihre Zeichnung!

»Äh … ja.« Sie schob ihren Stuhl zurück, um sie aufzuheben, doch er war schneller. Stirnrunzelnd betrachtete er die Blume. »Die sieht aus wie Chrystals Tattoo.«

»Echt?« Xenias Herz begann zu rasen. Bisher hatte sie nicht mal gewusst, dass sie überhaupt eins hatte. Miriam wohl schon.

»Ja. So ähnlich zumindest. Ich hab es nur mal kurz gesehen, im Kampfstudio.« Er legte die Zeichnung vor ihr auf den Tisch, setzte sich und griff nach seinem Brötchen. »Wieso hast du sie gemalt?«

»Ach …« Sie versuchte zu lächeln, doch ihr Gedankenchaos ließ es verrutschen. Schweigepflicht hin oder her, sie musste es ihm sagen, oder? »Ich … ich hab sie in den Unterlagen meiner Mutter gesehen. In Miriams Akte.«

»Wie bitte?« Felix ließ das Brötchen sinken. »Du guckst in die Patientenakten deiner Mutter?«

»Nein! Also nicht absichtlich. Sie lag aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch. Und … Scheiße, Felix. Guck nicht so.« Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl rum. Klar, dass er das verurteilte, sie irritiert ansah, und doch sprach sie weiter. Erzählte ihm von den Notizen, von den Namen der WG, von Miriams Gefühl der Scham. »Und irgendwie hat das alles mit dieser Blume zu tun. Und wenn du sagst, dass Chrystal …«

»Moment.« Felix starrte sie mit eisiger Miene an. »Was willst du damit sagen, Xen? Dass Chrystal etwas mit dem Selbstmordversuch von Miriam zu tun hat?«

»Nein. Nicht direkt. Aber irgendwas ist da an dem Abend …« Sein vehementes Kopfschütteln ließ sie verstummen, sie wollte sich zurückziehen, doch er griff hart nach ihrem Arm.

»Weißt du, was?« Das Löwengebrüll übertönte fast seinen schneidenden Tonfall. »Das ist echt krass hier. Du redest von Dingen, die du eigentlich gar nicht wissen dürftest. Und beschuldigst jetzt Chrystal nur wegen dieser Blume?«

Xenia biss sich auf die Lippe. Natürlich wusste sie mehr. Viel mehr sogar. Aber sie hatte ihn noch nie so zornig gesehen. Seine Hand hatte er zurückgezogen, doch er war noch nicht fertig mit ihr. Leise, aber nicht weniger schneidend, machte er ihr klar, dass Chrystal gerade diejenige war, die ihn überhaupt auf den Beinen hielt. »Wenn du also nicht noch irgendwas in der Akte findest, einen Fingerabdruck, ein Beweisfoto oder was auch immer, dann lass mich in Ruhe, okay?«

»Felix, ich hab doch nur …«

»Nein. Es reicht. Ich weiß echt nicht, was grad bei dir los ist. Aber lass mir das mit Chrystal, okay? Ich hab echt grad genug Probleme.«

Er wollte aufstehen?

»Felix, bitte! Es tut mir leid. Wirklich. Ich …«

»Warte.« Er hob die Hand, während die andere nach seinem Handy griff. Es vibrierte.

Xenia wandte sich ab. Sie wollte nicht lauschen, sah aber aus dem Augenwinkel seine plötzliche Anspannung. Er war zurückgezuckt, gab nur einzelne Worte von sich, legte dann auf.

»Was ist los?«

»Ich weiß es nicht genau. Irgendwas mit Fiene. Ich muss hoch.« Er stand auf, wollte nach dem Tablett greifen, erstarrte aber. »Scheiße. Ich muss im Bunker absagen.« Wieder griff er zu seinem Handy, doch Xenia stoppte ihn.

»Lass mich gehen.«

»Echt?« Er erklärte ihr, dass er jemand Neuem dort die Übungsräume zeigen sollte. Die Bühne. Die Theke. »Jeff hat mich gebeten, um fünf da zu sein. Würdest du das wirklich machen?«

»Klar.«

»Danke!« Er fummelte den Schlüssel von seinem Bund ab und übergab ihn ihr. Dann war er weg.

Xenia sackte nach vorn, stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch auf und verbarg das Gesicht in ihren Händen.

Was für eine verdammte Scheiße war das hier?

Sie hätte Felix so gern gewarnt, ihm mehr erzählt. Aber wie? Schon wegen des bisschens, das sie angedeutet hatte, war er hochgegangen, hatte Chrystal verteidigt, und dabei wusste er nicht mal in Ansätzen, auf wen er sich da einließ.

Doch wusste sie es?

Wusste sie überhaupt irgendwas?

Seit Tagen war Fienes Zustand unverändert. Jetzt war sie bei ihr gewesen, hatte sie berührt und … womöglich irgendwas ausgelöst?

Ruckartig schob Xenia ihren Stuhl nach hinten. Es gab nur einen, dem sie all ihre Fragen stellen konnte. Der mehr wusste. Jael! Und den würde sie jetzt aus seinem Versteck ziehen.

Draußen vor dem Krankenhaus blieb sie kurz stehen und sog tief Luft ein. Spuckte sie allerdings sofort wieder aus. Irgendwas Ekeliges hatte sie eingeatmet. Einen widerlichen Gestank. Der Mann neben ihr? Er schaute in die andere Richtung. Massig wirkte er, in seinem schwarzen Anzug eigentlich gepflegt. Doch Xenia sah trotzdem zu, dass sie wegkam. Der Geruch nach schimmeligem Fleisch kam definitiv aus seiner Richtung.

JAEL

Er war zurück. Mit zitternden Fingern zog er hinter sich die Haustür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sein Körper hing dem Verstand noch hinterher. Wie Hammerschläge pochte der Schmerz hinter seinen Schläfen, und die Reste des Chloroforms trieben seinen Würgereiz an. Doch er durfte keine Schwäche zeigen, keine Angriffsfläche bieten. Nicht jetzt.

Im Wohnzimmer traf er auf Chrystal und Akrom. Sie saßen am Couchtisch, über ein Schachspiel gebeugt. Aus Genos Zimmer drang Musik. Doch … wo war Rafi?

»In seinem Zimmer.« Chrystal beantwortete seine stumme Frage und lehnte sich mit verschränkten Armen auf dem Sofa zurück. »Aber kannst du uns mal verraten, wo du warst?«

»Später.« Er wollte erst duschen, sich die Zeit in der Burg vom Körper waschen, vorher aber nach Rafi schauen. Dass er nicht bei den anderen war, beunruhigte ihn. Er war nur ungern allein.

»Mach dich auf was gefasst«, rief Chrystal ihm hinterher. »Ach, und der Schlüssel liegt auf der Kommode.«

Sie hatten ihn eingesperrt? Verschlossene Türen! Rafis Alptraum.

Abgestandenes Dunkel empfing ihn, als er sein Zimmer betrat. Dazu das reinste Chaos. Sein Blick aber flog sofort zum Kleiderschrank. Dunkle Locken. Jael stockte der Atem. Zusammengekauert, den Kopf auf seinen Armen abgelegt hockte er darin. Seine Art der Selbstbestrafung.

»Rafi?« Seinen Puls hatte Jael unter Kontrolle, nicht aber seine Gedanken. Sie jagten zurück in die Vergangenheit.

Er sah Rafi, viel kleiner, der zum ersten Mal sein Zimmer im Domicilius betrat, sich verloren umschaute, dann die Tür des Kleiderschranks öffnete und sich hineinhockte. Das ganze Wochenende lang. Stumm. Ohne Regung.

Kaugummis waren es schließlich gewesen, mit denen er ihn aus seinem Versteck hatte herauslocken können. Kaugummis mit Zitronengeschmack. Und die waren es auch gewesen, die ihm dann die Zunge gelockert hatten. Er hatte zu reden begonnen, über das Erlebte, von dem er eigentlich gar nichts mehr hätte wissen können. Das Unterdrücken von Erinnerungen war Auftrag der Scientia. Dazu hielt man die Neulinge direkt nach ihrem Auffinden erst mal im Castillo fest. Rafis Erinnerungen waren damals allerdings noch bruchstückhaft vorhanden gewesen, und Jael hatte die zerrissenen Fetzen zusammensetzen können.

Ein Wohnmobil. Rafi, der während der Fahrt über Tische und Bänke turnte und sich auch auf Anweisung seiner Eltern nicht wieder hinsetzte. Stattdessen unter die Sitzbank hinten krabbelte. Sein Vater, der die Kontrolle verlor. Ein Lastwagen. Ein Knall. Die Gegenfahrbahn. Das Wohnmobil musste die Leitplanke durchbrochen haben. Erst nach Stunden hatte man Rafi aus dem Wrack befreien können.

Verriegelte Türen. Eingesperrt sein. Für ihn war das seither nicht zu ertragen. Und er wählte die Enge nur dann, wenn nichts mehr ging. Wenn er im Begriff war aufzugeben.

»Hey!« Jael hockte sich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Rafi zuckte zusammen, hob dann aber den Kopf. Seine müden Augen, das rot durchwobene Weiß in ihnen drückten Jael unangenehm auf den Magen. »Ich bin zurück, Rafi. Und regle das hier. Okay? Komm aber erst mal raus.«

»Es ist vorbei, oder? Für mich?«

»Nein. Sie wollten dich nur erst mal aus dem Verkehr ziehen. Offiziell heißt es, du hast Grippe. Mehr nicht.« Er redete ihm weiter gut zu, dass er es schaffen würde, dass der Partem sich noch nie gegen einen Entsendeten gestellt hatte.

Rafis Blick blieb trüb, doch irgendwann bewegte er sich. Erst die Beine, dann die Hände, mit denen er sich am Boden abstützte und sich hochstemmte.

Jael fuhr ihm durch die Locken, bevor er ihn an sich zog. »Wir packen das zusammen. Ich pass auf dich auf. Okay?«

Sie setzten sich auf die Bettkante, und er erzählte ihm von Xenia. Es war sein erster Testversuch, hier offen über sie als Immunitin zu reden, und es klappte, seine Stimme blieb klar. Doch Rafi knabberte an den ausgesprochenen Worten.

»Sie ist wirklich eine Immunitin?« Er knetete das Kissen in seinen Händen. »Wie lange weißt du es schon?«

»Vom ersten Moment an. Ich wollte mir nur ganz sicher sein. Wenn ich das echt schaffe, wenn ich sie knacke, dann erleichtert das auch eure Position. Dann lässt der Druck nach. Aber ich wollte euch keine falschen Hoffnungen machen.«

»Xenia also.« Er schüttelte den Kopf. »Echt wahr?«

Jael musterte ihn. Rafi war durchlässiger, als er sein durfte. Ein Anflug von Mitleid verdunkelte seine Augen. Etwas, das er sich selbst nicht erlauben konnte.

»Ja.« Er boxte ihm an die Schulter. »Und damit wir alle hier durchkommen, geh ich mal an die Arbeit.«

An der Tür drehte er sich noch mal um. »Wenn du mir versprichst, dich auf der Straße nicht sehen zu lassen, ist das hier übrigens Geschichte.« Er zog den Schlüssel ab und steckte ihn ein. Dabei glitt sein Blick über den Boden. Und er entdeckte etwas. Aus dem Klamottenberg vor seinen Füßen heraus leuchtete eine himmelblaue Ecke auf. Fienes Karte?

Seine Finger zuckten schon, er hatte Xenia versprochen, sie ihr zurückzugeben, doch er musste warten. Später würde er sie sich holen, unbemerkt, wenn alle schliefen.

In seinem Zimmer zog er sich die Schuhe aus und fingerte unter der Einlegesohle den Zettel heraus, der gestern Nacht unerwartet in seinen Besitz gekommen war. Das blinde Zimmermädchen hatte plötzlich in der Tür gestanden, den Finger auf die Lippen gelegt, dann kurz nach oben genickt, zur Deckenlampe. Kameras! Jael hatte verstanden, war versucht gewesen, sie auffliegen zu lassen, als ihre Lippen plötzlich einen Namen geformt hatten: Marisol.

Jael kannte sie, gut sogar, die Küchenhilfe aus dem Domicilius. Soweit es die Distanzregel zwischen Personal und Bewohnern zugelassen hatte, waren sie sich sogar recht nah gewesen.

Nachdenklich strich er jetzt über den Zettel.

Falls du mal andere Wege willst.

Darunter stand eine Telefonnummer.

Andere Wege gehen? Klang ganz nach den Rebellen. Hatten sie Marisol für sich gewonnen? Das Domicilius bereits infiltriert?

Nicht sein Problem. Der Kampf zwischen den Rebellen und dem Partem ging ihn nichts mehr an. Er war bald durch hier. Warum also noch die Pferde scheu machen?

Jael stand auf, nahm den Zettel mit ins Bad und zerriss ihn, bevor er die Fetzen in der Toilette versenkte.

Frisch geduscht und umgezogen versammelte er den Rest der Truppe um sich herum im Esszimmer.

Überraschung löste sein Bericht nicht aus, eher eisiges Schweigen, das Geno durchbrach. »Warum hast du das uns gegenüber verschwiegen?«

Am liebsten hätte er sich ihn geschnappt. Genickbruch, ein Griff nur. Geno hatte Xenia an die anderen verraten. Er hatte sie in Gefahr gebracht. Doch Jael blieb ruhig und gab erneut seine Erklärung ab. Bevor sie ihn dann weiter auf die Anklagebank drängen konnten, wies er sie an, den Befehlen des Partems zu folgen. »Nichts steht ab jetzt über dem Ziel, Xenia einzufangen. Ihr macht alle weiter euren Job und haltet mir den Rücken frei. Der Partem wird hier erscheinen, davon könnt ihr ausgehen. Vielleicht an der Schule, als Postbote, als was auch immer. Von daher: Gebt euer Bestes. Ach, und …« Er bedachte Chrystal mit einem scharfen Blick. »Nie wieder verschließt hier irgendjemand irgendwelche Türen. Rafi ist unter Kontrolle.«

»Wie viel Zeit hast du bekommen?« Ihre Frage traf ihn beim Verlassen des Wohnzimmers im Rücken.

»Die Zeremonie wird in vier Wochen stattfinden. Bis dahin muss ich sie so weit haben.«

Oder besser: eine Alternative finden. Jael schnappte sich eine Flasche Wasser aus der Küche und zog sich in sein Zimmer zurück. Linda wäre eine geeignete Kandidatin. Seine Partnerin in Physik. Er hatte sie entleert, ihr die freundschaftliche Liebe genommen. Nichts, was er nicht rückgängig machen konnte. Ihr Stift lag noch im Koffer. Und so wie sie schon an ihm dranhing, müsste es ein Leichtes sein, ihr Herz zu gewinnen. Um Xenia zu verschonen. Nur würde der Partem sie nicht ziehen lassen. Sie würden jemand anderen auf sie ansetzen. Geno womöglich?

Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und trank die Flasche fast in einem Zug leer. Wie er es auch drehte und wendete, es gab nur eine Lösung: Xenia musste weg. Raus aus der Stadt. Am besten raus aus dem Land. Das war ihre einzige Chance, zu überleben.

Sie hatte versucht, ihn anzurufen, auch mehrmals geschrieben. Am besten, er ging gleich zu ihr.

»Jael?« Chrystal fing ihn im Treppenhaus noch ab. »Wir müssen noch über Miriam sprechen. Ich habe Anweisung erhalten, sie fertigzumachen. Und …« Ein unschuldiges Lächeln legte sich auf ihre Lippen. »Da du ja, was das angeht, meisterhaft bist, könnte ich deine Hilfe brauchen.«

Ihr bereits angedachter Plan klang nicht schlecht. Sie unter Medikamente setzen, um sie dann ausrasten zu lassen.

Er sicherte ihr seine Unterstützung zu, sehr gerne sogar, denn er wusste schon, wen er dafür nutzen konnte. Linda! Manchmal verteilte das Glück tatsächlich Geschenke. Als ehemalige beste Freundin von Miriam wäre sie ein perfekter Lockvogel, um sie in Rage zu bringen. Und er? Hätte mit der Aktion einen ganz offiziellen Grund, ihre Nähe zu suchen. Für seine ganz eigenen Zwecke. Linda als Ersatz für Xenia zu nutzen.

Kälte schlug im entgegen, als er das Haus verließ. Jael sah sich prüfend um. Schwarze Autos waren nicht zu sehen, doch er war sich sicher, dass ab jetzt jeder seiner Schritte beobachtet wurde. Unruhe beschlich ihn. Die Frau mit dem Kinderwagen? Der Mann, der hinten an der Bushaltestelle stand? Fröhlich pfeifend überquerte er die Straße und lief auf Xenias Haus zu. Eine Dame mit Hund kam gerade heraus, und Jael schlüpfte, bevor die Tür hinter ihr wieder ins Schloss fiel, unbemerkt hinein.

Auf sein Klingeln oben hörte er Schritte, ein leises Klackern. Xenia trug keine Absätze.

Dann öffnete sich die Tür. »Oh! Ja bitte?«

Claire Morin. Bisher hatte er sie nur aus der Distanz gekannt, jetzt stand sie direkt vor ihm. Obwohl Wochenende war, trug sie ein schmal geschnittenes Kostüm, dazu Schuhe mit Keilabsätzen, die ihr ein paar Zentimeter mehr Größe verliehen. Die Locken hatte sie klassisch hochgesteckt. Nur ihrem Gesichtsausdruck fehlte die Professionalität, die sie mit ihrer Aufmachung auszustrahlen versuchte. Sie kam ihm verkrampft vor.

Jael begrüßte sie, nannte seinen Namen und fragte dann mit einem scheu wirkenden Lächeln nach Xenia.

»Tut mir leid, sie ist nicht da. Aber … Sie sind einer von den Neuen drüben, oder?«

»Ja, das stimmt.« Er musterte sie. Irgendetwas ging gerade in ihrem Kopf vor. Ihre Professionalität hatte jetzt auch ihren Blick erreicht.

»Xenia hat schon viel von Ihnen erzählt. Auch von der tollen Feier. Von der Wohnung. Nur …« Sie schüttelte den Kopf. »Was danach passiert ist … mit Miriam, meine ich … ein Drama.«

»Ganz furchtbar, ja.« Jael klaute sich ihre Betroffenheit, hatte dabei aber Schwierigkeiten, seine Verwunderung zu verstecken. Sie log, was Xenia betraf, da war er sich sicher. Dazu Miriams Selbstmordversuch. War das wirklich ein Gesprächsthema zwischen Tür und Angel? Oder verfolgte sie hier ganz andere Ziele? Sein Kopf begann zu puzzeln. Sie war Psychologin. Miriam brauchte eine – und hatte sie womöglich in Claire schon gefunden?

Interessiert trat er näher. »Kennen Sie Miriam denn? Ich meine, wissen Sie, wie es ihr jetzt geht?«

»Nein, nein. Gar nicht. Ich hörte nur über Xenia von ihr.«

Sicher. Das zu schnelle Blinzeln ihrer Augenlider war ihm nicht entgangen, doch er nickte und setzte dann erneut sein scheues Lächeln auf. »Apropos Xenia, wissen Sie, wo sie ist?«

»Nein, leider nicht. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Vielleicht bei Felix?« Sie wischte sich eine Locke aus der Stirn, und Jaels Blick blieb an ihrer Uhr kleben. Ein leicht zu öffnender Verschluss. Dazu ein kurzes Gespräch über die Liebe zu ihrer Arbeit? Sie hatte doch eh zu wenig Zeit für Xenia. Etwas, das er ganz schnell ändern könnte.

Jael gab vor, nicht sicher zu sein, ob er Xenias Nummer richtig eingespeichert hätte, zog sein Handy aus der Tasche und entsperrte es. »Vielleicht können Sie mir helfen?«

Der Abstand zwischen ihnen verringerte sich, als sie auf sein Display sah. Also Zugriff?

»Doch, das ist ihre Nummer.« Sie blickte auf, und das Licht im Treppenhaus brach sich in ihren Augen. Braun. Sie hatten die gleiche Farbe, das gleiche Goldbraun. Nur lag in ihnen kein verführerischer Glanz, nichts, was ihn anzog. Seine Vermutung bestätigte sich: Sie war keine Immunitin. Und doch schlug sein Herz plötzlicher schneller. Irritiert lauschte er in sich hinein. Xenia. Es war, als würde sie durch Claires Augen zu ihm sprechen, ihn bitten, es nicht zu tun.

Jael ließ seine Hand sinken und verfluchte sich gleichzeitig dafür. Seit wann nahm er Rücksicht auf andere?

Einen netten Abschied bekam er noch geregelt, drehte sich dann weg und eilte die Treppe hinunter.

Manipulierte Xenia ihn? Schwächte sie ihn schon aus der Distanz heraus? Ihn, als Electos?

Dunkles Gift breitete sich in ihm aus und verätzte seine Adern. Er brauchte das Gegenmittel, er musste entleeren, bevor es ihn verschlang. Wenn nicht Claire, dann jemand anderen. Die alte Dame mit Hund! Sie kam gerade zurück, und Jael ging ihr zielstrebig entgegen.

Stufe 5: Die fürsorgliche Liebe. Es war lächerlich einfach. Ein kurzes Verheddern seiner Füße in der Leine. Eine freundliche Entschuldigung. Ein interessiertes Gespräch über den Köter, seine Rasse, sein samtweiches Fell, und er hatte ihre Liebe. Dazu ein kleines Medikamentendöschen aus ihrer Handtasche, das er sofort in seiner Jackentasche verschwinden ließ.

Im Weitergehen riss die Dame ihren Hund so grob mit sich fort, dass Leute sich nach ihr umsahen. Auch Jael gab sich empört, überquerte dann aber mit schnellen Schritten die Straße. Er musste die gestohlene Liebe loswerden, und zwar schleunigst. Die Schwäche griff bereits nach seinem Körper, ließ den Boden unter seinen Füßen schwanken.

»Wow. Stufe 5. Macht dich aber ganz schön fertig, oder? Für einen Electos

Geno! Er lauerte im Hauseingang und hatte alles beobachtet.

Jael schob ihn wortlos zur Seite. Sein kurzes Ausholen dabei bemerkte Geno nicht, das Hervorschnellen seines Ellenbogens dann schon, nur zu spät. Mit Wucht traf er ihn, direkt unter dem Kinn. Sein Kopf flog nach hinten und knallte gegen die Wand. Leider fing das Geländer seinen Sturz dann auf. Ein paar gebrochene Rippen hätten ihm nicht geschadet.

»Stell dich mir nie wieder in den Weg, verstanden?«

Jael stieg über ihn hinweg.

Er hätte ihn töten können, damit aber Ärger provoziert, den er sich nicht leisten konnte.

Vier Wochen nur. Mehr Zeit blieb ihm nicht, und er hatte keinen Tag zu verschenken.

Einen Moment gab er sich, um wieder zu Kräften zu kommen, bevor er erneut die Wohnung verließ. Mit Lindas Stift in der Tasche. Ob sie zu Hause war?

XENIA

Danton und Partner. Agentur Schwertmann. Ihr Finger glitt über die Klingelschilder an Jaels Haus, und Unbehagen stieg in ihr auf. War das alles fake? Die Kanzlei? Die Agentur? Nie sah sie hier jemanden, weder Anzug tragende Anwälte noch irgendwelche Kunden. Selbst die kleine Frau aus der Wohnung unten war wie vom Erdboden verschluckt.

Oder von der Organisation verschluckt worden?

Sie zögerte, drückte dann aber doch die Klingel.

»Ja? Wer ist da?« Akroms Stimme schallte ihr entgegen.

»Ich bin’s, Xenia. Ist Jael da?«

»Nein, tut mir leid, er ist grad weg. Soll ich ihm …«

»Ne, schon gut.« Sie bemühte sich um einen lockereren Tonfall. »Ich ruf ihn einfach an. Ciao.«

Er ist grad weg. Das bedeutete, er war vorher da gewesen. Xenia drehte die Erkenntnis wie eine Münze in der Hand. Licht und Schatten. Ihm war nichts passiert, er hatte nicht untertauchen müssen oder war verschleppt worden. Anderseits hieß es aber auch: Er hätte sich melden können. Nur ein kurzes Lebenszeichen auf ihre unzähligen Nachrichten.

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