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Polarsternleuchten

Als Buch hier erhältlich:

Folge dem Polarstern zum Glück

Anna traut ihren Ohren nicht, als ihre beste Freundin sie mit einer Reise nach Island überrascht. Schon immer hat sie sich der Insel verbunden gefühlt, schließlich wuchs ihr Großvater dort auf. Doch dieser weigert sich strikt, über seine Vergangenheit zu sprechen. Sie ist fasziniert von der Schönheit der rauen isländischen Natur und begegnet bei ihren Nachforschungen zu ihrer Familie zwei ebenso faszinierenden Männern – dem Redakteur Kristján und dem Farmer Aron. Nach und nach erfährt sie mehr über ihren Großvater, seine langen, einsamen Nächte auf dem Leuchtturm und über die schöne Hekla, die jeden Tag mit ihrem Islandpferd über den Strand von Skarðsvík galoppierte. Aber je mehr sie entdeckt, desto deutlicher spürt Anna, dass das Geheimnis ihres Großvaters auch heute noch Einfluss nimmt. Und dann sind da ja auch noch Kristján und Aron, die Annas eigene Gefühlswelt gehörig durcheinanderbringen ...


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004630

Leseprobe

Vergiss nicht,
der Polarstern leuchtet auch
für dich

Prolog

Zehn Kilometer über dem Meer, zwischen Hamburg und Reykjavík

Unablässig prasselte der Regen gegen das Fenster der Passagiermaschine. Der eisige Wind des Atlantiks rüttelte an den Rotoren, als wollte er den metallenen Rumpf in seine Einzelteile zerlegen. Anna klammerte sich fester an die Plastikarmlehnen, die ihr plötzlich viel zu instabil erschienen. Neben ihr studierte Lia hektisch das Informationsblatt mit den Sicherheitshinweisen. Die Turbulenzen hatten selbst ihre unerschütterliche beste Freundin verstummen lassen. Vor fünf Minuten hatte Lia noch fröhlich geplappert, um sie von den »kleinen Hüpfern« abzulenken, doch nun herrschte Ruhe auf dem Mittelsitz.

Zaghaft riskierte Anna einen Blick durch das Flugzeugfenster. Die Sonne war längst von den finsteren Wolkenbergen des Sommergewitters verdrängt worden. Nur der flackernde Scheinwerfer am Ende der Tragflächen warf ein schwaches Licht auf die Dunkelheit, die sie umgab. Die Maschine senkte sich immer weiter. Nicht mehr lang und sie würde wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Ihr Puls pochte viel zu hastig in ihren Adern. Reiß dich zusammen, versuchte sie ihrem Körper zu befehlen. Immerhin hatte sie bereits Tausende Kilometer in der Luft zurückgelegt.

Früher war kaum ein Monat vergangen, in dem sie nicht stundenlang um den Erdball gejettet war. Doch auch nach fünf Jahren gehörte dies zu den unangenehmsten Seiten ihres Jobs als Reisejournalistin. Daher hatte sie ihre Arbeit als selbstständige Reporterin aufgegeben und sich vor drei Jahren für eine Stelle in der Redaktion des Hamburger Magazins Die Schätze des Nordens entschieden. Seitdem berichtete sie vor allem über nette Wochenendausflüge auf dem norddeutschen Land und brauchte dafür glücklicherweise nur ihren Smart. Ein wenig häuslich, wenn man in Betracht zog, dass sie erst achtundzwanzig war. Zumindest hatten ihr das damals einige Kollegen in Südafrika gesagt, als sie sich zu diesem Schritt entschlossen hatte.

Aber es gefiel ihr so. Die Vorstellung, der unkontrollierbaren Gewalt der Natur ausgeliefert zu sein, war für sie unerträglich. Und nun, da sie in einer Blechbüchse über dem tobenden Atlantik saß, erinnerte sie sich einmal mehr daran, warum jedes Mal eine Zentnerlast Anspannung von ihr zu fallen schien, sobald sie den Fuß auf sicheren Boden setzen konnte.

Anna wagte einen weiteren Blick in die tobende Wolkenmenge, die das Flugzeug umschloss. Schon bald würde sie die rauen Berge und grünen Wiesen Islands sehen. Und die Aussicht auf das, was sie dort erwarten würde, sandte einen Schauer über ihren Rücken. Diesmal ging es nicht nur um einen weiteren Job.

Kapitel 1

Hamburg

Zwei Wochen zuvor

»Das kann doch nicht ihr Ernst sein!« Frustriert schlug Anna gegen die Tür der hanseatischen Villa, die ihren Beschimpfungen jedoch problemlos standhielt.

Während der Hamburger Regen unbarmherzig auf sie niederprasselte, lag ihr Schlüssel in der wohligen Wärme von Lias Handtasche. Das vermutete sie zumindest stark. Ihre beste Freundin hatte in letzter Zeit ein Faible für solche Überraschungen entwickelt, um sie aus dem Haus zu locken. In den meisten Fällen ohne Erfolg. Seit der Trennung von Matteo hatte Anna es vorgezogen, sich in ihre Oase der Ruhe, wie sie ihre Altbau-WG liebevoll nannte, zurückzuziehen, während draußen in den Bars von Hamburg-Hoheluft das Leben tobte. Und Lia.

Seufzend streifte Anna ihre Handtasche von der Schulter und prüfte ein weiteres Mal, ob sich ihr Schlüsselbund nicht doch in einer dunklen Ecke versteckt hatte. Nein, absolut nichts.

Mit unheilvoller Vorahnung zog sie ihr Smartphone aus der Tasche ihres Regenmantels. Tatsächlich. Die Messenger-App kündigte eine neue Nachricht von Lia an, die sie vor einer Stunde erreicht hatte. Als sie noch warm und trocken auf dem Drehstuhl ihres Büros gesessen und ihren Artikel über »Frieslands schönste Inseln« ein letztes Mal Korrektur gelesen hatte. Sie hatte schlichtweg keinen sonderlich großen Drang verspürt, ihre Nachrichten zu checken, als sie die Redaktion verlassen und sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte. Heute Abend wollte sie ihre nächste Reise planen und schon einmal recherchieren, was die Leser besonders an der Umgebung des neu eröffneten Wellness-Gutshofs nahe der Lübecker Bucht interessieren könnte. Die sozialen Medien würden warten müssen, bis sie den Laptop ausschaltete. Das war jedoch gewesen, bevor ihre beste Freundin andere Pläne für sie auserkoren hatte.

Anna öffnete die Nachricht. Dicke Regentropfen landeten auf dem Display und ließen die Buchstaben verschwimmen.

Annita, heute ist Mexikanische Nacht im La Quesadilla – Sombreros, Tapas und Chicos guapos, also beeil dich, und lass deine beste Freundin nicht allein an der Bar sitzen. Das Ignorieren dieser Nachricht ist zwecklos. Hab deine Schüssel …

Das war mal wieder typisch. Aber ganz verübeln konnte sie es Lia nicht. Ein wenig hatte sie in den letzten Monaten schließlich auch ihre beste Freundin im Stich gelassen. Als sie vor drei Jahren zusammen in ihre Traumwohnung in der hanseatischen Jugendstilvilla gezogen waren, hatten sie noch jeden Freitagabend ihre Freundschaft zelebriert. Mit dem Bordeaux aus dem Winzershop im Eppendorfer Weg, französischem Käse und einem kitschigen Liebesfilm. Aber seit Matteos geradlinigem Abgang war Anna nicht mehr nach Heile-Welt-Romantik zumute gewesen. Sie hatte für sich sein wollen, ihre Abende lieber allein mit einem Buch oder vor dem Laptop verbracht.

Was soll’s, dachte sie, schob das Handy zurück in ihren Mantel und schwang sich ihre Handtasche wieder über die Schulter. Bevor sie hier im Regen versauerte, sollte sie der Mexikanischen Nacht vielleicht doch eine Chance geben.

Während sie unter den Alleebäumen den Abendrothsweg entlangeilte, zog sie fröstelnd die Schultern hoch. In den Fenstern der Jugendstilvillen brannte gelegentlich Licht, und sie erhaschte im Vorbeigehen kurze Einblicke in die Leben der Bewohner. Als sie den Falkenried erreichte, boten ihr die hohen Bäume, die sich auch hier entlang des Gehwegs zogen, weiterhin ein wenig Schutz. Doch das half nun auch nicht mehr.

Frierend und triefend vor Regenwasser zog sie die Ladentür des La Quesadilla auf, und ein Schwall, in dem sich Wärme, der Geruch von mexikanischem Essen und lateinamerikanische Gitarrenmusik mischten, umfing sie. Das Restaurant war Lias und ihr Lieblingsladen. Hier gab es nicht nur fantastische karibische Spezialitäten, auch die außergewöhnliche Deko hatte es ihnen seit ihrem ersten Besuch angetan. Die bunten Tiermasken, die an den Wänden hingen, waren genauso faszinierend wie das bemalte Skelett, das wirkte, als würde es tanzen. Die Kissen auf den Bänken zeigten entweder Frida Kahlo oder mit Blumen verzierte Totenköpfe. Und auf den Holztischen lagen gestreifte Tischtücher in allen Farben des Regenbogens. Der Laden war ein echtes Unikat, und an einem Freitagabend kam es einem Wunder gleich, ohne Reservierung einen Tisch zu ergattern.

Auch heute war das Restaurant so gut besucht, dass Anna sich an den wartenden Freundesgruppen vorbeiquetschen musste, um nach Lia Ausschau zu halten. Im hinteren Teil des Lokals entdeckte sie schließlich ihren brünetten Lockenkopf. Lia winkte ihr von einem Tisch zu, auf dem zwei Mojitos und eine Portion Nachos bereitstanden.

»Du siehst so aus, als könntest du ein feuriges Getränk gebrauchen«, sagte sie mit einem frechen Zwinkern, als Anna sich vor ihr aufbaute und sie vorwurfsvoll anfunkelte. »Bevor du etwas sagst: Der Kellner starrt schon die ganze Zeit herüber, weil ich zwei Mojitos bestellt habe und seit einer Stunde niemand gekommen ist, der sie mit mir trinkt. Also setz dich bitte hin und lass mich nicht wie eine versetzte alte Jungfer aussehen.«

Mit einem mürrischen Grummeln ließ Anna ihre triefende Handtasche auf den leeren Stuhl neben ihr fallen und schlüpfte aus dem Regenmantel. Sie hängte ihn über den Holzstuhl und ließ sich auf das Polster gleiten. Hastig strich sie sich ihre nassen blonden Haarsträhnen aus der Stirn, die der Wind ihr ins Gesicht geweht hatte. Großartig. Zu allem Übel sah sie vermutlich aus, als hätte sie einen Bridget-Jones-Regenpfützen-Moment hinter sich.

»Das ist echt das Höchste! Schlüsseldiebstahl ist rechtlich verfolgbar, Cecilia Leonore«, knurrte sie, wohl wissend, wie sehr ihre Freundin es hasste, wenn man sie mit den zwei Vornamen ansprach, die ihr wohlhabendes Blankeneser Elternhaus ihr verpasst hatte.

Lias Kiefer zuckte kurz, doch sie hatte sich erstaunlich gut im Griff und schob ihr lächelnd den Mojito zu. »Bevor du die Anklage formulierst, könntest du dich mal ein wenig entspannen. Das hast du in der letzten Zeit viel zu selten getan.«

»Ich habe einen Job, der viele Überstunden erfordert … und außerdem ist ein Abend am Laptop auch entspannend«, sagte Anna trotzig und nahm einen Schluck von dem Mojito.

Lias hochgezogene Augenbraue verriet ihr, dass sie keineswegs überzeugt war. »Ehrlich, Anna, du verschanzt dich seit Wochen hinter deiner Arbeit. Das kann doch nicht alles sein.«

»Momentan ist es das aber für mich.« Sie nahm einen Nacho und tauchte ihn in die cremige Guacamole.

»Dann solltest du was ändern. Ich habe mir das jetzt lange genug mit angesehen. Es ist fünf Monate her, dass dieser Italo-BWLer sich aus dem Staub gemacht hat. Er hat dich nicht verdient.« Lia legte eine Hand auf ihre. »Du weißt, dass ich für dich da bin. Aber ich erkenne dich gar nicht mehr wieder. Du hast immer so vor Lebensenergie gesprüht. Seit Matteo kommt es mir vor, als würdest du nicht einmal mehr mich an dich heranlassen.«

Anna fiel es schwer, Lias Blick standzuhalten. Ihre Freundin hatte recht. Als Matteo ihr aus heiterem Himmel gesagt hatte, dass sie ihn langweilen würde, hatte sich etwas tief in ihr Herz gebohrt. Wie oft hatte er beteuert, dass er sie lieben würde? Er hatte ihr das Gefühl gegeben, als wäre ihre Beziehung das, wonach jeder Mensch suchte – die wahre Liebe. Doch das war alles Show gewesen. Langweilig wurde es ihm auch erst, nachdem sie miteinander geschlafen hatten.

»Anna?« Lia drückte ihre Hand.

»Es hat mir einfach den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich weiß, er hat mich nicht zu schätzen gewusst und mich nicht geliebt. Aber jeder Mann könnte doch das gleiche Spiel abziehen.«

»Liebe ist eben immer ein Risiko.« Lia stupste sie aufmunternd an. »Aber mir geht es ja gar nicht darum, dass du übermorgen deinen Traummann heiraten sollst.«

»Nicht? Ich hätte schwören können, du hast Jan-Hendrik etwas anderes erzählt«, entgegnete sie trocken. Der bedauernswerte Kerl war Lias Kollege und arbeitete wie ihre Freundin als PR-Manager in der renommierten Agentur Kampinski Communications. Auf Lias Geburtstagsparty hatte sie sich nicht einmal fünf Minuten lang mit ihm unterhalten, doch ihre unbarmherzige Freundin hatte das zum Anlass genommen, ihm eiskalt Annas Interesse vorzugaukeln. Vor zwei Wochen hatte er in seinem besten Anzug auf ihrer WG-Couch gewartet, als sie nach der Arbeit die Tür aufschloss. Sie verspürte immer noch Gewissensbisse, wenn sie daran dachte, wie enttäuscht und verletzt er sie angesehen hatte, als sie ihm erklärte, dass es sich um ein Missverständnis handelte und sie niemals in Betracht gezogen hatte, irgendwo mit ihm hinzugehen. Auch nicht in das Dreisternerestaurant, in dem er bereits einen Tisch für sie reserviert hatte.

Nachdem Matteo sie wie ein ausgedientes Spielzeug aus seinem Leben verbannt hatte, ging ihr Bedürfnis, sich auf ein weiteres fehlgeschlagenes Exemplar der männlichen Spezies einzulassen, gegen minus einhundert.

Lia grinste. »Das war ein Versuch, dich mal wieder an den Mann zu bringen. Leider ist er kläglich an deiner unbezwingbaren Starrköpfigkeit gescheitert.«

Anna schnitt eine Grimasse. »Wenn es dir also nicht um meine erfolgreiche Vermittlung auf dem Heiratsmarkt geht, worum dann?«

»Ich möchte meine alte Freundin zurück. Ich möchte, dass du wieder richtig strahlst und mit mir zusammen träumst und planst und lachst.« Lia nahm Annas andere Hand in ihre und sah ihr in die Augen. »Und deshalb habe ich dich heute hierhergelockt. Auf uns wartet ein Abenteuer. Ein neuer Abschnitt.«

Argwöhnisch betrachtete Anna ihre Freundin. »Was hast du ausgeheckt?«

Lia grinste triumphierend. »Wir fliegen nach Island.«

Island. Vor Annas Augen erschienen Bilder vom saftigen Grün der Inselwiesen, vom kargen Hochland, den pulsierenden Geysiren, von der tosenden Brandung an einem der zahllosen Strände, von rauem Vulkangestein und der reißenden Strömung der Wasserfälle. Als sie an das Rauschen des Wassers dachte, konnte sie beinahe die feinen Tropfen auf ihrem Gesicht spüren, die der Wind zu ihr herübertrug.

Sie fühlte sich der Insel so nah. Das hatte sie immer schon getan. Und doch war Island bisher nur ein Bild, zusammengesetzt aus tausend Stückchen ihrer Erinnerung. Aus den Bilderbüchern und Fotobänden, die ihr isländischer Großonkel ihr zu jedem Geburtstag geschickt hatte, bis sie volljährig war. Aus den Sagen, die ihre Mutter ihr früher jeden Abend vor dem Schlafengehen vorlesen musste. Aus jedem Film, jedem Roman, den sie gierig in sich aufgesogen hatte. Doch ihre Liebe zu dem Land hatte sie wie alles andere seit Matteo von sich gewiesen. Im Schmerz über ihn war alles irrelevant geworden, das ihr zu naheging und sie wieder verletzen könnte.

Sprachlos starrte sie Lia an. »Weshalb?«

»Du brauchst eine Ablenkung. Du musst zu dir selbst finden. Was könnte da besser sein, als deinen Traum zu verwirklichen und dorthin zu fliegen, wo du schon immer hinwolltest, und das zu tun, was du schon immer tun wolltest – nämlich deinen Roman zu schreiben?«

Anna zog zweifelnd die Stirn kraus. »Das ist nur eine Träumerei, Lia. Nichts davon ist in realistischer Nähe.«

»Argh, wie ich diesen Matteo verfluche. Hör dir nur mal zu! Bevor du ihn kanntest, hast du an dich geglaubt und gewusst, dass du deine Träume verwirklichen kannst.« Lia drückte ihre Hände noch etwas fester. »Komm schon, das wird großartig. Wir erkunden ein aufregendes Land, baden in heißen Quellen, verlaufen uns im Hochland, schwimmen mit den Walen. Und dann hast du genug Inspiration, um in einer ruhigen isländischen Hütte deinen Roman zu schreiben.«

Lias unerschütterlicher Enthusiasmus ließ ihre Zweifel langsam schmelzen. »Übertreibst du nicht ein wenig?« Sie lachte. »Aber gut, ich wäre bei unserem Islandabenteuer dabei, wenn ich nicht an meinen Redaktionsstuhl gefesselt wäre.«

»Alles schon geregelt.« Lia strahlte feierlich. »Erinnerst du dich noch an Freyja?«

»Was für eine Frage.« Lia, Freyja und Anna hatten sich ein Apartment geteilt, als sie für zwei Semester an der University of Exeter studierten. Während Freyja und Lia kaum eine Party auf dem Campus (oder außerhalb des Campus) ausließen, ging Anna lieber zu gemütlichen Filmabenden mit ein paar Kommilitonen. Aber das hatte ihrer Freundschaft nie einen Abbruch getan. Ihre Kochabende in der Gemeinschaftsküche waren legendär gewesen. Umso schwerer war ihnen der Abschied gefallen, als Freyja nach einem Jahr wieder in ihre Heimat Island zurückkehrte und Lia und Anna nach Hamburg. Über die große Distanz war die Freundschaft zu Freyja irgendwann eingeschlafen. Seit einem Jahr hatte Anna nichts mehr von ihr gehört.

Lia holte tief Luft. »Ich habe sie angeschrieben, sie arbeitet jetzt für einen Reiseveranstalter, der Hochlandtouren auf der Insel anbietet. Zufälligerweise wäre ihr Chef sehr an einer Berichterstattung über seine Touren interessiert. Ich habe Freyja den Kontakt eurer Redaktion gegeben, und sie war hellauf begeistert. Dein Chef fand das Thema auch nicht gerade uninteressant für eure Auslandskolumne. Ich konnte aushandeln, dass ich es dir heute sagen darf: Du wirst auf Recherchereise nach Island fliegen!«

Anna starrte Lia fassungslos an. Und sie hatte gedacht, ihre Freundin langsam einschätzen zu können. Aber diese Gerissenheit toppte mal wieder alles. »Und soll einen Reisebericht verfassen?«

Lia nickte. »Genau, drei Artikel für ein Island-Spezial in der Ausgabe eures Magazins. Die genaue Einweisung erhältst du Montag von deinem Chef. In zwei Wochen sitzen wir schon im Flieger.«

Verblüfft griff Anna nach ihrem Mojito. »Aber wieso gerade ich? Herr Schneyder hätte jeden aus der Redaktion für den Auftrag auswählen können.«

Auf Lias Gesicht breitete sich ein verschmitztes Lächeln aus. »Freyja hat natürlich darauf bestanden, mit der Journalistin ihres Vertrauens zusammenzuarbeiten.«

Anna hatte das Gefühl, als wäre ein Schluck ihres alkoholischen Kaltgetränks nicht ausreichend für diese Wucht an Informationen. Also nahm sie einen zweiten und lächelte Lia dann zu.

»Auf Island!« Ihre Freundin streckte ihr das Mojito-Glas hin, und Anna stieß mit ihrem eigenen dagegen.

»Auf Island!«, sagte sie feierlich. Doch bevor sie sich auf dieses Abenteuer einließ, musste sie noch eine Sache erledigen. Etwas hatte sie Lia verschwiegen. Und sie hoffte, dass es sie nicht einholen würde.

Kapitel 2

Hüsby nahe Schleswig

Eine Woche später

Die Kieselsteine sprangen links und rechts mit lautem Knirschen und Klackern aus der Fahrspur, als Anna ihren Smart in die letzte Abzweigung lenkte. Über ihr brannte die Sonne auf die Felder herab, und die flirrende Hitze drang durch die geöffneten Fenster in das Innere des Wagens. In der Luft hing der schwere Duft der Bäume am Wegesrand und der gemähten Heuwiesen dahinter. Es war ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch.

Die Straße endete in einer Zufahrt, und Annas tapferer kleiner Cityflitzer kämpfte sich den staubigen, mit Schlaglöchern übersäten Feldweg entlang. Als sie vor einer guten Stunde in Hamburg losgefahren war, hatte sie sich entschlossen gefühlt. Doch je näher sie der vertrauten Umgebung kam, desto nervöser wurde sie.

Das Wäldchen, das sie umgab, öffnete sich zu einem kleinen reetgedeckten Hofensemble, und sie parkte den Wagen vor dem Natursteinschuppen, den sie schon als Kind geliebt hatte. Damals hatte sie sich vorgestellt, irgendwann einmal einen Bauernhof zu führen, dessen Stall genau so aussehen und einer Menge Schafe Platz bieten sollte. Und vielleicht einem Pony.

Sie atmete tief durch, nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Kaum hatte sie die Autotür hinter sich geschlossen, erklang freudiges Gebell, und aus der Tür des Wohnhauses schoss ein schwarzes Fellknäuel direkt auf sie zu.

»Sammy, da bist du ja.« Sie lachte und streichelte dem Mischlingshund liebevoll über das Fell, während dieser ekstatisch um ihre Beine lief und sie beinahe zu Fall brachte.

»Der Junge hat dich genauso vermisst wie ich.« In der Holztür des eingeschossigen Bauernhauses stand ein alter Mann in Tweedjackett und ausgewaschenen Jeans, dessen weiße Haare ihr aus der Ferne entgegenleuchteten.

»Hallo, Opa!« Anna lief ihm entgegen, dicht gefolgt von Sammy. »Ich habe euch auch vermisst«, sagte sie, als ihr Großvater sie in eine enge Umarmung zog. Sie betrachtete sein sonnengegerbtes Gesicht, aus dem ihr seine blauen Augen entgegenstrahlten, die ihren eigenen so sehr ähnelten. »Du siehst erholt aus. Der Sommer hat dir gutgetan.«

»Das kann genauso an Elses Apfelkuchen liegen. Von dem bekomme ich gar nicht genug. Sie hat ihn heute frisch gebacken, du kannst ihn also gleich selbst probieren.«

Anna schmunzelte. Seit die verwitwete Else Scheel aus dem Nachbardorf ihrem Großvater im Haushalt half, kam er gar nicht mehr aus der Schwärmerei heraus. So hatte sie ihn in all den Jahren seit dem frühen Tod ihrer Großmutter noch nie erlebt. Und sie freute sich unsäglich, wenn er wieder einmal von der »gescheiten und hinreißenden Else« sprach. Jedes Mal hatte sie dann die Hoffnung, dass er den Verlust seiner großen Liebe ein Stückchen mehr verwinden und etwas mehr Glück in sein Leben lassen könnte.

Sie schob die Gedanken beiseite und folgte ihm durch die Diele und das rustikale Wohnzimmer auf die Terrasse, die von einem großzügigen Garten umgeben war. Auf dem gedeckten Holztisch standen ein Teeservice und ein aufgeschnittener Apfelkuchen, der so köstlich duftete, wie er aussah. Sie setzten sich, und Anna legte ihnen jeweils ein Kuchenstück auf den Teller.

»Es ist schön, dass du mich so spontan besuchst«, sagte ihr Großvater, während er einen Bissen nahm und absichtlich ein großes Stück vom Teller fallen ließ, damit Sammy auch ja nicht verhungerte. »Geht es dir gut in Hamburg?«

Anna goss ihnen Tee ein. »Ja, beruflich läuft alles hervorragend. Lia beschwert sich nur regelmäßig, dass ich zu viel arbeite.«

»Zu unserer Zeit hat man zu sagen gepflegt: Harte Arbeit hat noch niemandem geschadet. Aber wenn man sich heute die Fälle der Burn-out-Patienten ansieht, kann ich das nicht gerade bestätigen.«

Seit ihr Großvater vor acht Jahren in Rente gegangen war, vermisste er die Arbeit in seiner Praxis sehr. Er war der Dorfarzt gewesen, der Mann, dem im Umkreis von fünfzehn Kilometern jeder vertraute. Jetzt half er gelegentlich den jüngeren Kollegen mit seinem Wissen aus oder hatte ein offenes Ohr für die Menschen im Ort, die weiterhin zu ihm kamen, da sie schon ihr ganzes Leben lang bei ihm in Behandlung gewesen waren.

»Tja, manchmal lässt es sich nicht ändern.« Anna seufzte. »Zugegebenermaßen habe ich mich in der letzten Zeit allerdings in meiner Arbeit verkrochen und kaum etwas anderes an mich herangelassen. Deshalb hat Lia die Zügel in die Hand genommen und mich vor vollendete Tatsachen gestellt, um mich aus meiner Lethargie zu reißen. Sie hat eine ganz besondere Reise arrangiert.« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und schaute ihren Großvater an, gespannt auf seine Reaktion. »Wir fliegen nach Island.«

Die Gabel ihres Großvaters fiel klirrend zu Boden, und seine Gesichtszüge gefroren.

»Opa?« Anna wollte sich bücken, um die Gabel vor Sammys schlabbernder Schnauze in Sicherheit zu bringen, da umfasste ihr Großvater plötzlich ihren Arm.

»Nein. Du wirst nicht fliegen.« Mit festem Blick sah er ihr in die Augen.

Verunsichert legte sie ihre Hand auf seine. »Wieso nicht? Weshalb darf niemand von uns über Island sprechen? Es ist unsere Vergangenheit – deine und Großonkel Magnús’ Heimat.«

Verärgert entzog er sich ihrer Hand und stand auf. »Wag es nicht, Anna. Diese verdammte Insel ist nicht meine Heimat!« Wütend fuhr er sich durchs Haar.

»Bitte, Opa, reg dich nicht auf. Ich möchte nur wissen, was passiert ist, dass niemand in dieser Familie es wagt, in deinem Beisein über Island zu sprechen.«

Schnaufend atmete er aus. »Das geht dich nichts an. Niemand aus dieser Familie wird je wieder diese verfluchte Insel betreten. Und das ist mein letztes Wort.«

Schockiert sah sie ihn an. So außer sich hatte sie ihren stets besonnenen Großvater noch nie erlebt. Aber sie wollte sich davon nicht beeindrucken lassen. Ihre Eltern hatten sich nie sonderlich dafür interessiert, nach Island zu reisen. Sie bevorzugten die sonnigen Strände von Kreta. Doch Anna hatte es seit ihrer Kindheit zu der mystischen Insel hingezogen. Und obwohl sie wusste, dass ihr Großonkel Magnús dort lebte, war das auch schon die einzige Information, die sie zu ihren Wurzeln auf der Insel besaß. Auf dem Absenderfeld seiner Geburtstagspäckchen hatte nie eine Adresse gestanden. Niemand wusste, wo er wohnte. Keiner, außer einem.

»Ich werde eine Reportage über Island schreiben. Und ich möchte Großonkel Magnús besuchen. Bitte, Opa, sag mir, wo ich ihn finden kann.«

Der Blick ihres Großvaters wurde noch finsterer. »Mein Bruder hat vor vielen Jahren entschieden, sich an diesen gottverdammten Ort zu ketten. Er hatte die Chance, mir zu folgen. Doch er hat es nicht getan. Er hat sich gegen die Familie entschieden.«

»Was soll das alles bedeuten? Was ist geschehen?«

»Ein letztes Mal, Anna. Du wirst keinen Fuß auf diese Insel setzen. Und schon gar nicht wirst du nach deinem Großonkel suchen. Hast du mich verstanden?« Seine Augen funkelten warnend.

»Nein. Das Versprechen kann ich dir nicht geben. Ich werde fliegen.« Entrüstet stand sie ebenfalls auf und stemmte die Arme in die Hüfte. Sammy tanzte nervös zwischen ihnen hin und her und hechelte.

Ihr Großvater schnaufte wütend. »Ich wünschte, du würdest mich nicht dazu zwingen. Aber so sei es. Wenn du nach Island fährst, dann geh, hier bist du nicht mehr willkommen.«

Entsetzt starrte sie ihn an. »Du kannst doch nicht …«

»Geh!« Sein Schrei tönte durch den Garten, und Sammy fiepte erschrocken auf. Zitternd vor Wut richtete ihr Großvater seinen Zeigefinger auf die Pforte, die zur Auffahrt führte.

Wortlos griff Anna ihre Handtasche, strich Sammy kurz über den Kopf und ging erhobenen Hauptes an ihrem Großvater vorbei Richtung Tor, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie hörte tippelnde Schritte hinter sich, doch ein lautes »Hier« ihres Großvaters rief Sammy wieder an seine Seite. Als sie die Pforte erreicht hatte, drehte sie sich ein letztes Mal um. Der Mann, den sie gerade noch liebevoll Opa genannt hatte, stand vor der gedeckten Kaffeetafel. Aus seiner Miene sprach die pure Wut. Neben ihm saß ein traurig dreinschauender Sammy.

Schnell wandte Anna sich ab, um ihre Tränen zu verbergen. Als sie den Smart erreichte, riss sie die Tür auf und setzte sich schwungvoll hinter das Lenkrad. Es dauerte keine Minute, und sie brauste vom Hof.

Die Straßen von Hüsby kamen ihr seltsam fremd vor. Der Schock über das, was gerade geschehen war, ließ sie blind werden für die idyllische Umgebung, die sie so liebte. Früher hatte sie jedes Jahr ihre Sommerferien hier verbracht, und der kleine Ort nahe der Schlei fühlte sich wie eine zweite Heimat für sie an.

Normalerweise hielt sie auf jeder Rücktour im nahe gelegenen Schleswig, um noch einen Abstecher in die Buchhandlung zu machen. Ihre Buchhandlung. Zum ersten Mal hatte ihr Großvater sie mit dorthin genommen, als sie acht gewesen war. Bei jedem Besuch bewunderten sie die Rosen, die am sandgelben Mauerwerk des Ladens emporrankten und ihm etwas Verwunschenes verliehen. Und während sie die bis zur Decke gefüllten Regale durchstöberten, wusste ihr Opa zu jedem Klassiker eine Anekdote zu erzählen. Die Liebe zu den Büchern hatte er ihr vererbt. In seinem Bibliothekszimmer sammelte er originale Erstausgaben der literarischen Klassiker. Er war der Grund, dass sie das Schreiben zu ihrem Beruf gemacht hatte. Und dass sie schon so lange davon träumte, einen eigenen Roman zu verfassen. Die Belletristik war eine ganz andere Sache als die kurzen Reportagen, die sie für das Magazin tippte. »In der Belletristik fühlt der Geist sich frei«, pflegte ihr Großvater zu sagen. »Da findet er Platz, sich zu entfalten.«

Doch bisher war sie nie dazu gekommen, ihrem Geist diese Freiheit zu gewähren. Der Stress auf der Arbeit, die gemeinsamen WG-Abende mit Lia – irgendetwas war immer los gewesen und hatte sie beschäftigt gehalten. Und seit der Trennung von Matteo hatte sie erst recht jegliche Motivation verloren, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.

Als der Wegweiser nach Schleswig vor ihr auftauchte, setzte sie entschieden den Blinker in die entgegengesetzte Richtung. Heute wollte sie einfach nur noch fort. Schon der Gedanke an den Buchladen ließ sie von Neuem schluchzen. Mit bebenden Schultern bog sie auf die Schnellstraße ab, die sie Richtung Hamburg führte. Draußen wandelte sich das Sonnenlicht langsam, nahm einen goldenen Schimmer an und verlieh den Feldern und Wiesen einen besonderen Zauber. Aber in ihr herrschte blanker Aufruhr.

Noch nie hatte etwas ihren Großvater und sie derart entzweit. Aber sie würde nicht klein beigeben. Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang damit arrangiert, dass Island ein Tabuthema in ihrer Familie war, obwohl alles in ihr danach rief zu erfahren, was auf der Insel geschehen war – und wo ihre Wurzeln lagen. Obwohl es ihr bei ihren Auslandsreisen ein Leichtes gewesen wäre, sich über den Willen ihres Großvaters hinwegzusetzen und einfach auf die Insel zu fliegen – sie hatte es nie getan. Weil sie ihn liebte und respektierte und ihm Zeit geben wollte. Weil sie die Hoffnung hegte, dass er eines Tages selbst einlenken und erkennen würde, dass es albern war, sie weiterhin wie ein kleines Kind zu behandeln. Doch nun war es genug. Ihre Mutter mochte diese Geheimniskrämerei bis heute akzeptieren, da sie nichts an der Insel reizte. Doch sie würde das nicht tolerieren. Etwas in ihr rief nach Island. Und sie würde es nicht länger ignorieren.

Entschlossen trat sie aufs Gas und brachte den Smart fast an seine Belastungsgrenze. Durchatmen, dachte sie und zwang sich, ihre Finger zu entspannen, mit denen sie das Lenkrad fest umklammerte.

Wenn sie nach Hause kam, würde sie erst einmal Lia davon erzählen müssen. Bisher hatte sie ihr das Island-Problem verschwiegen. Es war ihr zu persönlich vorgekommen. Eine Familienangelegenheit, die man nicht einfach so mit Freunden teilte. Doch nun stand es fest: Lia und sie würden gemeinsam nach Island fliegen, und das hieß, dass ihre beste Freundin alles erfahren musste. Denn diese Reise bedeutete nicht nur, dass sie einen schönen Urlaub auf der Insel verbringen und, wie Lia vorgeschlagen hatte, endlich den Roman schreiben würde, den sie schon immer schreiben wollte. Es wäre ihre Chance, herauszufinden, was damals geschehen war. Und sie würde sie ergreifen.

Als sie schließlich in die belebten Straßenzüge von Hoheluft-Ost einbog, verflog ihre Entschlossenheit, und sie stöhnte genervt auf. Der Abendrothsweg war wie an jedem Samstagabend hoffnungslos überfüllt. Die Chance auf einen Parkplatz war hier unwahrscheinlicher als ein Lottogewinn. Sie drehte drei Runden um den Block, gab schließlich auf und hielt am Bordstein vor einer Kastanie. Seufzend zog sie ihr Handy aus der Tasche und tippte ein Auto-Emoji und »SOS« in ihre Nachbarschafts-WhatsApp-Gruppe. Ein Stoßgebet und wenige Minuten später kam tatsächlich die Erlösung. Lennard aus der WG zwei Häuser weiter erbarmte sich.

Hey, kannst meinen haben, ich muss los. Bin in zwei Minuten unten.

Schnell schickte sie drei betende Hände und eine Sonne zurück. Er rettete ihr wirklich den Abend. Heute hatte sie einfach keine Nerven für die Unzulänglichkeiten des Großstadtlebens.

Kaum hatte er seinen roten Polo ausgeparkt, schoss sie hinter ihm in die Lücke und winkte ihm noch einmal dankbar zu. Obwohl sie früher häufig zu denselben WG-Partys gegangen waren, hatten sie lange nicht mehr miteinander gesprochen. Er war derjenige, der ihr Matteo vorgestellt hatte.

Hastig wandte sie den Blick ab und stieß die Autotür auf. Das war kein Thema, das sie jetzt vertiefen wollte. Und wenn schon … der Parkplatz ist wohl das Mindeste, was er mir schuldet, dachte sie und zog eine bittere Grimasse. Natürlich war das ungerecht. Schließlich hatte er ihr ja nicht persönlich das Herz gebrochen. Er war nur mit dem Schuft befreundet, der dafür die Verantwortung trug.

Energisch schlug sie die Autotür zu, offenbar so laut, dass einen Baum weiter zwei Tauben die Flucht ergriffen. Ja, Lia hatte recht. Sie war womöglich etwas verbittert geworden. Und sie wusste selbst, dass sie damit nur ihr eigenes Leben erschwerte und sich die Chance nahm, nach vorne zu sehen.

Als sie die geschwungene Eisenpforte zu ihrem Vorgarten erreichte, hielt sie kurz inne. Ihre Wohnung lag im Hochparterre der Villa, und durch das geöffnete Erkerfenster konnte sie sehen und hören, dass Lia am Klavier saß. Das gute Stück hatte ihre beste Freundin auf dem Ohlsdorfer Flohmarkt aufgetrieben und darauf bestanden, dass es perfekt für ihre WG wäre. Obwohl ihr nicht nach Lachen zumute war, musste Anna grinsen. Die schiefen Töne von Clean Bandits Symphony, die gerade in die Hamburger Abendluft hinausdrangen, waren es allemal wert gewesen.

Kaum drehte sie den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür, verstummten Klaviertöne und Katzengejammer wie auf Knopfdruck, und sie vernahm tippelnde Schritte auf dem Parkett. Wenig überraschend empfing Lia sie bereits mit verschränkten Armen und erwartungsvoller Miene, als sie den ersten Fuß in die Wohnung setzte.

»Und? Verrätst du mir nun, was du heute so Geheimnisvolles angestellt hast?« Lia war noch nie eine Meisterin der Geduld gewesen. Für gewöhnlich konnte sie ihre Neugier nie sonderlich gut verbergen.

Anna schloss die Tür hinter sich und warf ihre Tasche auf die Bank unter der Garderobe. »Ja, gleich.« Der Gedanke an den Nachmittag ließ ihr das Herz schwer werden. Offenbar bemerkte nun auch Lia, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

»Hey, was ist denn los?« Sie kam näher und zog Anna in ihre Arme. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht so drängen.«

»Schon gut.« Anna spürte, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen.

»Was hältst du davon, wenn ich uns erst mal einen ordentlichen Kaffee mit Schuss koche?« Lia hielt sie eine Armlänge von sich und musterte sie mit wackelnden Augenbrauen.

Es sah so furchtbar dämlich aus, dass Anna lachen musste. »Ja, das klingt perfekt.«

Kurz darauf saßen sie mit zwei Friesenpötten auf dem roten Stoffsofa und schlürften den wohltuenden Kaffee, aus dem heißer Dampf aufstieg, der verdächtig beißend in den Augen brannte. Lia hatte ihr ganz eigenes Maß, wenn es um »einen Schuss Rum« ging. Und heute hatte Anna absolut nichts dagegen einzuwenden.

»Also …« Lia räusperte sich taktvoll. »Geht es um die Reise?«, fragte sie dann vorsichtig, und Anna wusste, wie viel Selbstbeherrschung das ihrer Freundin abverlangte.

Sie nahm noch einen Schluck und ließ die Schultern sinken, die sie verspannt nach oben gezogen hatte, ohne es zu bemerken. »Ja … aber keine Sorge, es klappt alles, wir fliegen.«

Lia nickte erleichtert. Aber die Sorgenfalte verschwand nicht von ihrer Stirn. »Was ist es dann?«

Anna zögerte. Es kostete sie wirklich Überwindung, so viel von ihrer Familiengeschichte zu offenbaren. Andererseits handelte es sich hier um Lia, ihre beste Freundin, mit der sie schon im Studium allen Widrigkeiten getrotzt hatte. Also fasste sie sich ein Herz und redete. Sie erzählte ihr von dem Tabu, von dem mysteriösen Vorfall, der zu der Flucht ihres Großvaters geführt hatte, und dem erschütternden Besuch bei ihm an diesem Nachmittag.

Als sie schließlich verstummte, sah Lia sie sanft an und griff nach ihrer Hand. »Es tut mir so leid, dass du wegen mir in diese Situation geraten bist. Wenn ich diese Reise nicht angeleiert hätte …«

»Unsinn«, unterbrach Anna sie. »Die Reise ist die beste Idee, die du haben konntest. Du hast absolut recht. Ich muss hier rauskommen. Alles einmal hinter mir lassen. Ich träume schon so lang davon, nach Island zu fliegen. Und es wird höchste Zeit, dass ich das in die Tat umsetze und herausfinde, was meine Familie mit der Insel verbindet.«

»Richtig so.« Lia stupste sie an, und das typische Grinsen breitete sich wieder auf ihren Lippen aus. »Ich bin stolz auf dich. Scheint ja doch noch ein bisschen von meiner alten Anna Banana in dieser Hülle zu stecken. Ich dachte schon, die Inquisition des Italieners hätte sie dir ausgetrieben.«

Anna verzog gequält die Miene. »Sehr lustig.« Anna Banana. Den Spitznamen hatte Lia ihr während des Studiums verpasst. In der ersten Woche, in der sie sich kennengelernt hatten. Wenn sie so daran zurückdachte, musste sie sich korrigieren. Lia lernte man nicht kennen. Lia fand einen und entschied, ob man in ihr Leben gehörte. Und wenn Letzteres der Fall war, war man im gefährlichen Lia-Strudel gefangen. Niemand, den sie kannte, versprühte eine so fröhliche, faszinierende und gelegentlich überaus nervtötende Energie wie ihre beste Freundin. Und man konnte sich dem nur schwer wieder entziehen.

Was für ein Glück, dachte sie und stupste zurück, aber die Banana-Geschichte muss ich ihr trotzdem nicht verzeihen.

Für den Moment fühlte sich das Leben schon wieder viel leichter an. Sie würde nach Island fliegen. Und vielleicht war ihr Großvater ja nur schrecklich überrumpelt von ihrer Ankündigung gewesen. Während der hochprozentige Kaffee sie von innen wärmte, glaubte sie immer fester daran, dass er sich in den nächsten Tagen bei ihr entschuldigen würde. Funkstille hatte zwischen ihnen noch nie geherrscht.

***

Fünf Tage später

Doch ihre rumgeschwängerte Gewissheit blieb unerfüllt. Eine knappe Woche verging, ohne dass sie etwas aus Hüsby hörte. Und obwohl sie mehrmals versucht hatte, ihren Großvater zu erreichen, blieben ihre Anrufe und Nachrichten unbeantwortet. Einen Tag vor ihrem Abflug hielt Anna es nicht mehr aus. Sie hatte vermeiden wollen, ihre Eltern in die Sache mit hineinzuziehen. Aber das Zerwürfnis lastete so schwer auf ihr. Sie würden es sowieso erfahren.

»Er hat was?« Die Stimme ihrer Mutter klang schrill durch den Telefonhörer.

»Ich wurde quasi aus der Familie verstoßen. Oder aus seiner Definition von Familie.« Anna zog ihre Füße dichter an sich heran und schlang die Arme um ihre Knie. Sie saß zusammengekauert in ihrem Lieblingsohrensessel, eingehüllt in ihren Frotteebademantel, und presste sich den Hörer des altmodischen pinken Telefons, in das sich Lia »auf den ersten Blick verliebt« hatte, ans Ohr.

»Das kann er nicht machen. Dazu hat er kein Recht.« Empört schnappte ihre Mutter nach Luft. »Bei aller Liebe. Er ist mein Vater, und ich kenne ihn und seine schwierige Art, wenn es um seine Vergangenheit und Island geht. Aber das ist zu viel. Ich werde …«

»Nein, Mama, schon gut. Lass ihn erst einmal durchatmen. Er wird sich wahrscheinlich selbst besinnen. Vielleicht habe ich ihn zu sehr mit allem überrannt, und er braucht bloß ein wenig mehr Zeit.« Das hoffte sie zumindest. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass ihr geliebter Opa sie nicht nur im Affekt abgewiesen hatte, sondern ernsthaft und für immer. Bei dem Gedanken bahnte sich eine neue Tränenwelle ihren Weg und floss ihre Wange hinab.

»Schätzchen«, die Stimme ihrer Mutter klang nun besorgter, »vergiss nicht, dass er dich lieb hat. Keiner von uns weiß, was auf Island passiert ist. Aber ich versichere dir, dass du seit deiner Geburt sein Sonnenschein warst. Er wird sich bestimmt bei dir entschuldigen.«

Anna wischte sich mit dem Handrücken über die Wange und seufzte. »In Ordnung, Mama. Das hoffe ich.«

»Soll ich vorbeikommen?«

Das Haus ihrer Eltern lag in Ellerbek, einer kleinen Gemeinde vor der Stadtgrenze Hamburgs. Mit dem Auto waren es gerade einmal zwanzig Minuten, doch so sehr Anna das Angebot ihrer Mutter zu schätzen wusste, die Vorbereitungen für die Reise drängten allmählich, und sie wollte ihre Mutter nicht noch weiter beunruhigen.

»Nein, nein, schon gut. Unser Flieger geht morgen Vormittag um elf, und ich muss noch die letzten Sachen packen. Das ist eine gute Ablenkung.« In dem Moment hörte sie das Klicken der Wohnungstür. »Lia ist auch gerade nach Hause gekommen.«

»Okay, dann bist du ja versorgt. Pass auf dich auf, mein Schatz, und genießt euren Urlaub.«

»Danke. Grüß Papa und King Louis.« Der verwöhnte Yorkshireterrier ihrer Eltern war durch eine etwas zu gut gemeinte Fütterung mittlerweile beinahe auf das Doppelte seines Idealgewichtes herangewachsen. In Ko-Entwicklung zum Bauch ihres Vaters.

»Das mache ich, Liebes. Dein Vater schmuggelt dem Hund gerade ein Stück von seinem Hühnchen zu und denkt, dass ich es nicht merke.«

Davon war auszugehen. Anna konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Dann lass dir nicht alles wegessen. Tschüss, Mama.«

Als sie den quietschpinken Hörer wieder auf die Gabel gelegt hatte, schmunzelte sie noch immer. Jedes Mal, wenn sie mit ihren Eltern telefonierte, drang ein wenig Idylle durch den Telefonhörer in ihr Leben. Ihre Mutter Alva strahlte mit ihren blonden langen Haaren und den funkelnden blauen Augen eine nordische Eleganz aus, die jeden in ihren Bann schlug. Das war schon zu ihrer Studienzeit so gewesen. Als Annas Vater sie während einer Ruderregatta in Heidelberg zum ersten Mal gesehen hatte, war es von der ersten Sekunde an um ihn geschehen. Er hatte damals für Heidelberg gerudert, und Alva war zu der Regatta gekommen, um einen anderen Sportler anzufeuern, der ihr Hochschulteam Marburg vertrat. Zwei wetteifernde Universitäten und eine Liebe, die sich in dem Tumult fand. Ein bisschen wie bei Romeo und Julia, nur mit einem Happy End natürlich, hatte Anna immer gedacht. So etwas wünschte sie sich für ihre Zukunft.

»Schluss mit Rumsitzen und Grübeleien über unentspannte Großväter, wir müssen die Checkliste durchgehen!« Schwungvoll warf Lia eine fünfseitige DIN-A4-Liste auf den Couchtisch vor dem Sofa und riss Anna damit aus den Gedanken.

»Mein Gott, Lia.« Ihre Freundin konnte manchmal ziemlich impulsiv und etwas zu direkt sein. Andererseits holte Anna das meist aus jeder noch so schlechten Laune heraus.

»Keine Sorge, das meiste habe ich bereits geprüft.« Lia machte es sich auf dem Sofa bequem, schnappte sich die Liste und platzierte ihre Füße auf dem Couchtisch. Die steckten in kitschigen Herzchensocken. Typisch. »Es fehlten nur ein paar letzte Dinge, die ich gerade besorgt habe.«

Anna streckte ihre Beine wieder auf dem Hocker vor ihrem Sessel aus und nahm die Tasse Tee, die auf dem Beistelltisch neben ihr stand.

»Trekkingschuhe, Check. Regenhose, Check. Regenschirm, Check. Ersatzregenschirm, Check.«

»Nun sei mal nicht ganz so pessimistisch. Es ist möglich, dass man auf Island auch mal die Sonne sieht.«

»Ha, das sagt man über den Hamburger Winter ebenfalls. Und seien wir mal ehrlich, Anna. Wie oft passiert das wirklich?« Mit einer vorwurfsvoll hochgezogenen Augenbraue schaute Lia zu ihr herüber.

Beide mussten lachen.

»Nichts gegen den Hamburger Winter«, erwiderte Anna dann. »Ich liebe es, drinnen am Kamin zu sitzen, während vor dem Fenster der Wind peitscht. Das ist so gemütlich.«

»Na, dann wird das ohne Zweifel dein Traumurlaub.« Lia zwinkerte ihr zu. »Aber ein paar schicke Outfits sollten wir nicht vergessen. Freyja hat bereits angekündigt, dass sie uns das Nachtleben von Reykjavík näherbringen möchte.«

Anna schaute von ihrer Teetasse auf. »Klingt interessant.«

»Das ist das Maximum an Enthusiasmus bezüglich einer Partynacht, das ich in den letzten fünf Monaten aus deinem Mund gehört habe. Chapeau, der Urlaub tut dir jetzt schon gut.«

Lia hatte recht. Bis zu dem furchtbaren Streit mit ihrem Großvater hatte sie sich allein durch den Gedanken an den bevorstehenden Urlaub schon befreit gefühlt. Doch wenn Lias positive Energie nicht alles überstrahlte, kam wieder der Schmerz zurück, den ihr das Zerwürfnis mit ihrem Opa zugefügt hatte. Für sie war es einfach unerklärlich. Noch nie zuvor hatte er auch nur das Wort gegen sie erhoben. Was immer auf Island geschehen war – sie würde alles daransetzen, es herauszufinden.

Kapitel 3

Skarðsvík, Island

Sommer 1963

Das tiefe Blau des Ozeans verschluckte alles um ihn herum. Wenn er den Kopf wandte, konnte er im fernen Nebel gerade noch die Umrisse der Lavafelsen erahnen, die hoch und bedrohlich an der Küste ins Wasser ragten. Vor ihm lag nur die Weite des Meeres. Obwohl es Sommer war, verdeckten graue Wolkentürme die Sonne, und ein unbarmherziger Nieselregen prasselte auf ihn nieder. Mit einer Hand wischte Gunnar sich die Regentropfen aus dem Gesicht und richtete den Blick wieder aufmerksam nach vorn. Das Rattern des Außenbordmotors vermischte sich mit dem dumpfen Klatschen der Wellen, die gegen die Seiten des Holzbootes schlugen, während der Bug die wogende See durchschnitt. Nicht mehr lang, dann müsste er sie sehen. Suchend ließ er den Blick über die kabbelige Oberfläche des Wassers wandern. Noch zeigte sich nichts, nur ein paar hungrige Möwen zogen über ihm ihre Kreise. Er wusste, sie würden kommen, er musste bloß Geduld haben.

Ein Stück fuhr er weiter gen Horizont, bevor er den Motor ausstellte und sich treiben ließ. Erwartungsvolle Stille breitete sich um ihn aus, einzig die Wellen schlugen nach wie vor im melodischen Takt gegen sein Boot. Die Welt fühlte sich seltsam entrückt an, wenn er hier draußen war. Dann gab es nur ihn, nur den Moment in dieser unendlichen Weite.

Eine Böe trieb ihm einen weiteren Schauer eisiger Regentropfen ins Gesicht, und er zog die graue Strickmütze tiefer in die Stirn. Einige Meter vor dem Boot erhoben sich zwei schäumende Wellenkämme. Und dann, ohne weitere Ankündigung, schoss eine meterhohe Fontäne in die Luft, und eine schwarze Rückenflosse tauchte auf. Schräg daneben noch eine kleinere. Und ein Stück weiter links eine zweite große, durch die ein scharfer Schnitt verlief, der von einer alten Verletzung herrührte.

Gunnar saß ganz ruhig da und schloss seine Hand um die hölzerne Sitzfläche des Motorboots. Die Orcas kamen näher, schwammen nur noch drei Meter von der Reling entfernt. Sie hatten Nachwuchs bekommen, das Kalb hielt sich dicht an der Flanke seiner Mutter und spie von Zeit zu Zeit eine Minifontäne empor. Fasziniert betrachtete Gunnar das Naturschauspiel. Fühlte sich die Mutter bedroht, könnte sie ihn innerhalb weniger Sekunden töten. In seinem kleinen Boot hatte er einem sechs Tonnen schweren, sieben Meter langen Raubwal nichts entgegenzusetzen. Doch Gunnar wusste, dass die friedliebenden Tiere ihn gewähren lassen würden, solange er sich ruhig und leise verhielt.

Seitdem er als kleiner Junge das erste Mal mit seinem Vater hierhergekommen war, um den Zug der Wale zu beobachten, zog es ihn immer wieder auf das offene Meer. Und sobald er seine Arbeit auf dem Leuchtturm erledigt hatte, schnappte er sich das alte Boot und fuhr hinaus. Bei jeder Tour entdeckte er etwas Neues, und wenn er bei seiner Rückkehr an dem kleinen Steg vor dem Leuchtturm anlegte, fühlte er sich, als hätte er mehr über die Natur und ihre geheimen Wunder gelernt.

Die Wale zogen weiter gen Westen, und mit einem letzten Emporstrecken ihrer imposanten Schwanzflossen schienen sie sich zu verabschieden, bevor sie in tiefere Meeresgründe hinabtauchten. Eine Weile verharrte Gunnar noch ganz ruhig, dann startete er den Motor und nahm Kurs auf die Küste. Je näher er dem Ufer kam, desto deutlicher erkannte er die Lavafelsen, die sich aus dem goldenen Sand von Skarðsvík erhoben. Der Strand war menschenleer, hier hinaus verirrte sich selten jemand, auch wenn das Farbenspiel des türkisblauen Wassers, das sich an den schwarzen Felsen brach und im hellen Sand verebbte, einmalig schön war.

Der Regen hatte langsam nachgelassen und am Himmel brachen erste Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Gunnar öffnete die oberen Knöpfe seiner Öljacke. In der Ferne entdeckte er eine Bewegung am Strand. Ein schneeweißes Islandpferd jagte im gestreckten Galopp hinter den Felsen hervor und schoss wie ein Pfeil den goldenen Strand entlang. Die langen roten Haare seiner Reiterin, in denen sich die Sonnenstrahlen fingen, schwebten wie ein Feuerblitz dahin, während sie durch den Sand stoben. Gunnars Herz setzte für einen Schlag aus. Obwohl er sie schon oft hier gesehen hatte, überwältigte ihr Anblick ihn, als wäre es das erste Mal.

Er drehte das Boot und beschleunigte, sodass er parallel zu Pferd und Reiterin vor der Küste durchs Wasser schoss. Sie hatte ihn bemerkt, wandte den Kopf und grinste ihn herausfordernd an. Dann lehnte sie sich noch dichter an den Hals der Schimmelstute und trieb sie weiter an. Gunnar grinste zurück und beschleunigte. Doch Pferd und Reiterin flogen über den Strand und waren kurz darauf hinter einem schwarzen Felsen verschwunden. Einige Sekunden später sah er sie auf dem Weg davongaloppieren, der zwischen grünen, von Geröll durchsetzten Wiesen ins Landesinnere führte. Er drosselte den Motor und blickte ihnen nach. Schon bald waren sie in der Ferne verschwunden. Eines Tages würde er ihr sagen müssen, was er empfand. Sein Herz ließ ihm keine Wahl.

Gunnar schüttelte den Kopf über sich selbst, brachte das Boot wieder auf Kurs und beschleunigte in Richtung Westen. Hinter zwei Felsvorsprüngen kam der Steg in Sicht, auf den er zusteuerte. Schwungvoll warf er die Festmacher an Land und vertäute das Boot an den Holzpollern. Dann stapfte er nachdenklich über die maroden Stegbretter, bis er den Pfad erreichte, der die Steilküste emporführte. Als er am Rand der Klippe angekommen war, erstreckte sich vor ihm die Wiese, an deren Ende der weiße Leuchtturm majestätisch emporragte. Neben diesem lagen zwei weitere Gebäude aus weiß getünchtem Stein, in denen sein Vater eine Schafherde hielt und das Stroh für die Tiere lagerte. Doch aus den Stallungen drang kein Geräusch zu Gunnar herüber. Jetzt im Sommer standen die Schafe den ganzen Tag im Hochland, und er vermisste das leise Blöken, mit dem die Herde jeden Besucher begrüßte.

Hinter den Fenstern des Leuchtturms brannte Licht, und der Geruch von gebratenem Fisch stieg ihm in die Nase. Er würde es gerade rechtzeitig zum Abendessen schaffen.

Als er die schwere Holztür aufstieß, umfing ihn die Wärme des Ofens, der den Wohnraum beheizte. Es dauerte keine Sekunde und ein aufgeregt fiependes Wollknäuel schoss aus der Küchentür auf ihn zu und sprang an ihm hoch. »Runter, Odin«, sagte er und schob den karamellfarbenen Islandhund von sich. Doch der ließ sich nicht beirren und stürzte sich ein zweites Mal auf ihn, während er versuchte, ihm das Gesicht abzulecken. »Pfui, Junge, ist ja gut. So lange war ich nun auch nicht fort.« Gunnar tätschelte Odins Kopf und streifte sein Ölzeug ab.

»Beeil dich, der Fisch wird kalt«, donnerte die grollende Stimme seines Vaters aus der Küche.

Schnell zog Gunnar die Gummistiefel aus und betrat die Küche, zusammen mit Odin, der sich schnurstracks wieder in sein Körbchen vor dem Kachelofen verzog. Gunnars Vater Erik, ein hagerer Mann, dessen wettergegerbtes Gesicht von dem harten Leben und der Arbeit erzählten, die er am Leuchtturm verrichten musste, saß am Kopfende des alten Holztisches und schnitt bereits ein Stück des Herings ab. Seine weißen Haare schimmerten im schwachen Schein der Glühbirne, doch selbst in diesem Dämmerlicht leuchteten seine Augen eisblau.

»Entschuldige, faðir«, murmelte Gunnar und ließ sich auf der Holzbank neben Eriks Stuhl nieder.

»Schon gut, nun iss.« Der Blick seines Vaters wurde weicher, und er schob Gunnar einen Teller zu, auf dem ein Hering und ein paar Kartoffeln lagen.

»Du solltest dir mal ein Beispiel an mir nehmen«, sagte sein jüngerer Bruder Magnús neben ihm und grinste breit, während er sich eine Gabel voll in den Mund schaufelte.

»Ach wirklich? Das wüsste ich aber.« Gunnar strubbelte ihm durch das aschblonde Haar. Magnús war erst sieben gewesen, als ihre Mutter sie verlassen hatte. Als älterer Bruder hatte Gunnar mit zehn Jahren alles versucht, um ihm einen Teil des Kummers zu nehmen, den er selbst schmerzlich spürte. Wenn er Magnús im Dunkel des Zimmers leise weinen gehört hatte, war Gunnar zu ihm hinübergelaufen und hatte ihm die Geschichte der Trollkuh Hvítserkur erzählt. Das war die Lieblingsgeschichte seines kleinen Bruders gewesen, und er hatte sich ständig neue Abenteuer der unvorsichtigen Kuh überlegen müssen, die vom Sonnenaufgang überrascht worden war und seither versteinert vor der Nordküste der Insel ausharren musste.

Heute, zehn Jahre später, kam Magnús immer noch zu ihm, wenn er Sorgen hatte. Ihren Vater wollten sie selten mit ihren Problemen belasten. Seit seine Frau ihn Hals über Kopf verlassen hatte und mit einem amerikanischen Offizier aus ihrem Leben verschwunden war, schien jeder Tag ein Kampf für ihn zu sein. Doch er hatte sich stets bemüht, seinen Söhnen ein gutes Leben zu bereiten. Egal, wie sehr die Arbeit an ihm zehrte, die er dafür verrichten musste.

Nun war es Gunnars und Magnús’ Pflicht, ihn zu unterstützen. Bald, wenn ihr Vater zu alt wurde, um den Leuchtturm zu halten, würde er den Hof und das Amt an Gunnar weitergeben. Mit diesem Wissen war Gunnar aufgewachsen. Als Erstgeborener würde er das Vermächtnis antreten. Niemals hatte dies für ihn zur Debatte gestanden. Denn er wusste, mit welchem Stolz es seinen Vater erfüllte, sein Lebenswerk in die Hände seines Sohnes zu legen, das er bereits von seinem Vater, Großvater Einar, geerbt hatte.

»Ich war heute auf dem Hof von Sigurd.« Erik ließ die Gabel sinken und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das neben ihm auf dem Tisch stand. »Lars Johansson soll diesen Sommer gute Pferde haben. Die Wege ins Hochland zu den Schafen werden immer beschwerlicher für mich. Ich brauche ein kräftiges, robustes Tier, mit dem ich zur Herde reiten kann.«

Gunnar durchfuhr es heiß und kalt. Er hätte schwören können, dass sich eine leichte Röte auf seine Wangen stahl. Lars war bekannt für seine guten Reitpferde. Und für seine schöne, wilde Tochter Hekla. Eben jene atemberaubende Gestalt, die wenige Minuten zuvor neben ihm über den goldenen Strand von Skarðsvík gejagt war. Mit aller Kraft versuchte er, sich zusammenzunehmen und sich vor seinem Vater und seinem Bruder nichts anmerken zu lassen.

Er trank einen Schluck Wasser, nickte dann und sagte so nüchtern wie möglich: »Im alten Stall könnte ich noch eine Box einrichten.« Dort standen schon ihre betagten Ponys Ljúfur und Aegir. Die beiden hatten sie vor einigen Jahren von einem alten Nachbarn übernommen, der nicht mehr für sie sorgen konnte. Inzwischen waren sie fast dreißig Jahre alt und genossen ihren Ruhestand auf dem Hof und den saftigen Weiden.

»Ein junges Pferd?« Magnús schaute erstaunt. »Kannst du denn überhaupt reiten, Vater?«

Erik schnaubte amüsiert. »Auf Island kann jeder reiten, mein Sohn. Das solltest du eigentlich wissen.«

»Ja, natürlich. Ich habe dich nur noch nie auf einem Pferd gesehen.«

»Hier auf dem Leuchtturm brauchte ich lange Jahre auch keines. Aber früher als Junge hat mein Vater mich zu den benachbarten Höfen zum Reitunterricht geschickt, genau wie ich euch.« Erik sah von einem zum anderen und lehnte sich dann zufrieden in seinem Holzstuhl zurück. »Und da ich auf euer gutes Auge und euer Verhandlungsgeschick vertraue, werdet ihr morgen zum Hof von Lars fahren und ein gutes Reitpferd aussuchen.«

Gunnar wäre beinahe die Gabel aus der Hand gefallen. Er sollte auf den Hof fahren? Und verhandeln? Vermutlich würde er vor Heklas Vater nicht ein vernünftiges Wort über die Lippen bekommen. Zum Glück würde Magnús mit dabei sein, der viel und gern redete. Doch es wäre peinlich, würde er sich von seinem kleinen Bruder die Verhandlung aus der Hand nehmen lassen.

»Ich helfe morgen aber Tomas mit der Ernte«, entgegnete Magnús.

»Dann wird nur Gunnar fahren.« Erik nickte ihm wohlwollend zu. »Du wirst sowieso bald alles hier übernehmen. Ein guter Test also, ob du deinen Aufgaben und der Verantwortung bereits gewachsen bist, mein Junge.«

Am liebsten hätte sich Gunnar eine Ausrede einfallen lassen. Sein Vater ahnte nicht, was er da von ihm verlangte. Und Gunnar konnte es ihm keinesfalls sagen. Seit ihre Mutter sie ohne einen Abschied zurückgelassen hatte, war ihr Vater keineswegs gut auf Frauen zu sprechen. Und von Gefühlen, die man für eine von ihnen hegte, durfte man sich erst recht nichts vor ihm anmerken lassen.

Es gab also kein Zurück. Wohl oder übel musste er morgen zum Hof von Lars Johansson fahren. Er konnte nur hoffen, dass Hekla sich so weit wie möglich von ihm fernhalten würde.

Kapitel 4

Halbinsel Snæfellsnes, Island

Sommer 1963

Der Dodge holperte über die unebene Straße, die nach Hellissandur führte. Auf halber Strecke ins Dorf bog Gunnar rechts ab und folgte einem Schotterpfad vorbei an grünen Wiesen, auf denen vereinzelt ein paar Schafe standen. Im Hintergrund ragten die rauen Felsen des Hochlands in den strahlend blauen Himmel. Der Wind drückte gegen die Seite des Wagens, doch die Wärme der Sonnenstrahlen verbreitete heute das Gefühl eines Sommertages. An einem felsigen Hügel führte der Weg nach rechts, und in der Ferne kam der Hof von Lars Johansson in Sicht. Vor dem weißen Wohnhaus, das am Ende der Straße lag, war alles still. Von Pferden oder Menschen fehlte jede Spur. Auch die Stallgebäude, die den Hof links und rechts einrahmten, wirkten verlassen.

Gunnar stellte den Wagen vor dem Haupthaus ab und stieg aus. Er wandte sich um, doch es schien, als wäre niemand zu Hause, der sein Kommen hätte bemerken können. Beinahe verspürte er etwas Erleichterung darüber. Aber er wusste, wie enttäuscht sein Vater wäre, würde er ohne ein Pferd nach Hause kommen. Also stieg er die vier Treppenstufen zur Eingangstür des Hauses hoch und klopfte. Nichts rührte sich. Er wartete noch einen Moment, dann lief er die Stufen wieder hinab und steuerte auf eins der Stallgebäude zu. Fünf Jahre waren vergangen, seit er das letzte Mal auf dem Hof gewesen war. Früher hatte er hier den Reitunterricht besucht. Und schon damals war Hekla etwas Besonderes für ihn gewesen. Zusammen mit Björn und Ala, den Kindern von den Nachbarhöfen, waren sie nach den Reitstunden oft über die Wiesen und den Strand galoppiert. Einmal hatte er all seinen Mut zusammengefasst und Heklas Hand genommen, als sie vorausgeritten waren. Doch sie hatte nur gelacht und war davongejagt. Seitdem hatte er den Hof und ihre Nähe gemieden. 

Als er nun das Tor zu den Stallungen aufschob, empfing ihn der Duft von frischem Heu. Aber die Boxen waren verlassen. Er drehte sich wieder um und ging zum Wagen zurück. Da hörte er plötzlich das Klappern von Hufen, die eilig über den Schotter trabten.

»Gunnar. Hast du dich verlaufen?« Heklas melodische Stimme ließ sein Herz für einen Moment stillstehen.

Er räusperte sich und wandte sich um. Da stand sie. Ihre langen roten Haare wehten im stürmischen Westwind, und ihre zierliche Gestalt ragte stolz über dem Kopf des weißen Islandpferds empor, auf dem sie saß. Mit argwöhnischem Blick fixierten ihn ihre türkisblauen Augen.

»Nein, eigentlich nicht. Ich möchte ein Pferd kaufen.« Er versuchte, ihr mit ebenbürtiger Selbstsicherheit zu begegnen.

Überrascht musterte sie ihn. »Tatsächlich. Nachdem ich dich seit Ewigkeiten nicht mehr hier gesehen habe, hätte ich alles darauf verwettet, dass du dich nie wieder auf eines setzen würdest.«

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