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README.txt – Meine Geschichte

Als Buch hier erhältlich:

Die persönlichen, aufschlussreichen Erinnerungen einer der wichtigsten Aktivistinnen unserer Zeit

Im Jahr 2010 veröffentlichte Chelsea Manning geheime Militärdokumente, die sie als Geheimdienstanalystin für die US-Armee im Irak auf der Speicherkarte ihrer Digitalkamera herausgeschmuggelt hatte. Die Armee klagte sie in zweiundzwanzig Punkten im Zusammenhang mit dem unerlaubten Besitz und der Verbreitung von geheimen Dokumenten an und verurteilte sie zu fünfunddreißig Jahren Militärgefängnis. Am Tag nach ihrer Verurteilung erklärte Manning ihre Geschlechtsidentität als Frau und begann die Transition. Im Jahr 2017 verkürzte Präsident Barack Obama ihre Haftstrafe, und Chelsea Manning wurde aus dem Gefängnis entlassen.

In ihren Erinnerungen erzählt Manning von ihrem Einsatz für mehr institutionelle Transparenz und Rechenschaftspflichten der Regierung und von dem Kampf um ihre Rechte als Transfrau. Sie schildert ihre schwierige Kindheit, ihre Kämpfe als Heranwachsende, was sie dazu brachte, dem Militär beizutreten, und beschreibt den unbändigen Stolz, den sie auf ihre Arbeit hatte. Wir erfahren bisher unbekannte Details, wie und warum sie die Entscheidung traf, geheime Militärdokumente an WikiLeaks zu schicken, und welche Folgen dieses Handeln für sie hatte.

Chelsea Mannings Memoiren zählen zu den eindrücklichsten Zeugnissen des digitalen Zeitalters.


  • Erscheinungstag: 22.11.2022
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749902071

Leseprobe

Die in diesem Buch dargelegten Ansichten sind die der Autorin und spiegeln nicht zwangsläufig die offizielle Politik oder Einstellung des US-Verteidigungsministeriums oder der US-Regierung wider. Die Freigabe zur Veröffentlichung durch das US-Verteidigungsministerium beinhaltet keine Einvernehmlichkeit, was geäußerte Ansichten oder die sachliche Richtigkeit des Materials betrifft.

Dieses Buch ist den tapferen trans Kids gewidmet, die darum kämpfen, in einer feindlichen Welt im Einklang mit sich selbst leben zu können. Ihr macht mich stolz.

HINWEIS DER AUTORIN

Ich gestehe: Ich bin auf extreme Weise mit dem Internet aufgewachsen. In der U.S. Army bin ich zu einem All-Source Intelligence Analyst ausgebildet worden. Ich bin es gewohnt, den gesamten Kontext auszuwerten und dafür möglichst viele Details zu erfassen – und sie weiterzugeben. Außerdem bin ich Aktivistin im Kampf für Transparenz. Dieses Buch hingegen beruht auf nur einer einzigen Quelle, die nur eine Perspektive wiedergibt. An manchen Stellen schreibe ich über bestimmte Ereignisse oder Gruppen bewusst vage. Einige Namen wurden geändert (mit entsprechendem Hinweis). Es gibt Dinge, die in den Medien über mich berichtet wurden, auf die ich hier weder eingehen noch sie bestätigen oder dementieren kann. Manches unterliegt nach wie vor der Geheimhaltung. Bis zu einem gewissen Grad darf ich mich nur eingeschränkt über bestimmte Dinge äußern.

Das mag unbefriedigend sein. Doch ich habe bereits schwerwiegende Konsequenzen zu tragen gehabt, weil ich Informationen weitergegeben habe, die meiner Überzeugung nach von öffentlichem Interesse sind. Dennoch ist dieses Buch eine aufrichtige Darstellung dessen, was ich erlebt, erfahren und geglaubt habe.

1.

BARNES & NOBLE, MARYLAND
8. FEBRUAR 2010

Das kostenlose Internet in der Filiale der Buchhandelskette Barnes & Noble ist … ziemlich langsam. Insbesondere wenn man ein verschlüsseltes Netzwerk nutzt, mit einem ständigen Wechsel zwischen Netzknoten auf der ganzen Welt, um den eigenen Standort zu verschleiern und seine Anonymität sicherzustellen. Aber damit musste ich klarkommen. Ich hatte mir vorgenommen, fast eine halbe Million Berichte zu Vorfällen sowie Protokolle zu bedeutenden Aktivitäten, sogenannte significant activity logs (SIGACTs) hochzuladen, die ich auf einer Speicherkarte aus Bagdad mitgebracht hatte. Es waren sämtliche Berichte, die die U.S. Army über Vorfälle im Irak und in Afghanistan archiviert hatte, zu jedem Ereignis, das ein Soldat für wichtig genug erachtet hatte, um es aufzuzeichnen und zu melden. Es waren Schilderungen zu Kampfhandlungen mit feindlichen Streitkräften oder zu Sprengstoffexplosionen. Sie enthielten Todeszahlen und Koordinaten sowie nüchterne Kurzdarstellungen zu unübersichtlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Zusammen ergaben sie ein pointillistisches Bild von endlosen Kriegen.

Der Balken der Anzeige fürs Hochladen wuchs nur langsam. Aber dies war meine einzige Möglichkeit, denn über den Mittelatlantikstaaten tobte ein Schneesturm, teilweise war der Strom ausgefallen, und ich hatte ein Ticket für einen Flug in zwölf Stunden.

Die Dokumente hatte ich in meiner Kamera nach Amerika eingeschmuggelt, als Daten auf der SD-Karte. Bei der Zollabwicklung der Navy waren sie glatt durchgegangen. Um sie außer Landes zu bringen, hatte ich sie zunächst auf DVD-RWs gebrannt, beschriftet mit Titeln wie Taylor Swift, Katy Perry, Lady Gaga oder Manning’s Mix. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Nachdem ich ihren Inhalt auf die Speicherkarte überspielt hatte, zertrümmerte ich mit meinen Stiefeln die DVDs auf dem Kies vor den Wohncontainern und verbrannte die Bruchstücke mit dem übrigen Müll in unserer Feuertonne.

Auf einem Stuhl im Café der Buchhandlung sitzend, trank ich einen dreifachen Espresso und kam allmählich runter, hörte elektronische Musik – Massive Attack und The Prodigy –, während ich das weitere Hochladen abwartete. Die sieben Datenblöcke brauchten jeweils zwischen dreißig Minuten und einer Stunde. Wegen einer Zeitüberschreitung aufgrund des langsamen Internets musste ich mehrfach von vorn beginnen. Ich machte mir Sorgen, ob ich das gesamte Datenvolumen bis 22:00 Uhr noch verschickt bekäme, bevor Barnes & Noble schließen würde. Falls nicht, dachte ich, dann eben nicht. Dann wäre es vorbei. Dann hätte es nicht sein sollen. Ich würde die Speicherkarte in die Mülltonne werfen und es kein zweites Mal versuchen.

Aber am Ende erfüllte das WLAN seine Aufgabe. Um 21:30 Uhr war die letzte Datei hochgeladen. Es war kein Augenblick der Begeisterung. Ich war todmüde und musste am nächsten Tag um 4:30 Uhr zum Flughafen fahren, zum Antritt einer mehrtägigen Reise, die zurück in den Irak führte. Ich verließ die Buchhandlung. Weil mein Gepäck schon im Mietwagen auf dem Parkplatz verstaut war, legte ich mich einfach auf dem Rücksitz schlafen, trotz der Eiseskälte. Ich gab das Auto zurück und stieg in die Metro, die mich in den seltsam menschenleeren Stunden vor Morgengrauen zum Washingtoner Ronald Reagan Airport brachte.

Ich überlegte mir nicht, welcher Gefahr ich mich aussetzte. Ich versuchte nur, jeden Tag zu überleben. Innerlich Distanz wahren konnte ich gut. Ich kämpfte mit meiner Geschlechtsidentität und arbeitete in einer Armee, in der es Leuten wie mir offiziell verboten war, sich im Dienst offen zu sich selbst zu bekennen.

Als ich Ende Januar 2010 im nördlichen Virginia gelandet war, war ich körperlich und seelisch am Ende gewesen. Ich hatte mich auf den kurzen Urlaub gefreut, auf eine Auszeit vom Irak und der Arbeit – und auf Dylan (nicht sein richtiger Name), meinen damaligen Freund, der am College in Boston studierte. Als ich ihn besuchte, war ich keine vier Monate im Ausland gewesen. Aber er war durch das Sozialleben am College vereinnahmt und zeigte sich mir gegenüber in meinen wenigen Tagen bei ihm emotional distanziert. Er wollte über nichts sprechen, was eine gemeinsame Zukunft betraf. Ich befürchtete, dass unsere Beziehung zu Ende sein könnte, und kehrte nach Maryland zu meiner Tante zurück.

Ich nahm die Washington Metro nach Virginia, zum Tysons Corner Center. Ich war schon zahlreiche Male dort gewesen – womit man eben seine Zeit totschlägt, wenn man in der Vorstadt wohnt, man fährt zur Mall. Diesmal machte ich in der Metro allerdings ein Selfie von mir mit blonder Perücke, eines, das später zu meinem Leidwesen auf der ganzen Welt ausgestrahlt werden sollte. Ich trieb mich zum Shoppen im Einkaufszentrum herum: Bei Burlington Coat Factory besorgte ich mir einen rosa Mantel, bei Sephora Make-up. Weil ich nach legerer Business-Kleidung suchte, ging ich zu Nordstrom und zu Bloomingdale’s. Den Verkäuferinnen erzählte ich, die Klamotten seien für meine Freundin, sie habe ungefähr meine Größe. Nach einem Fast-Food-Lunch fuhr ich zurück nach Hause, zog meine neuen Kleider an und setzte mir die langhaarige blonde Perücke auf. Als Frau gekleidet, bummelte ich den Rest des Tages durch Cafés und Buchläden. Ich genoss die Freiheit, die Flucht und die Möglichkeit, die Kleidung zu tragen, die mir gefiel, und mich der Welt so zu präsentieren.

Beim Transsein geht es – zumindest für mich – weniger darum, eine Frau zu sein, die in einem Männerkörper eingesperrt ist, als vielmehr darum, sich von Geburt an als eine Person zu fühlen, die mit dem im Widerspruch steht, was die Welt von ihr erwartet. In den Wochen vor meinem Urlaub hatte ich mir ausgemalt, wie es sein würde, mit langem Haar anstatt mit meinem Igelschnitt unter die Leute zu gehen, etwas Feminines anstelle meiner üblichen Uniform zu tragen. Ich schaute mir auf YouTube Videos von trans Frauen an, die ihre Verwandlung dokumentierten, neben meinen üblichen Streifzügen durchs Internet: Computerspiele, Alternativweltgeschichten und Wissenschaftsvideos.

Aber ich wollte mich nicht nur von den Zwängen einer Welt befreien, die Bewertungen vornahm. Mich beschäftigte noch etwas Dringlicheres. Deswegen setzte ich mich mit meinem Laptop in die Filiale von Barnes & Noble. Die Dateien auf der Speicherkarte enthielten brisante Informationen über die Regierung und die Komplexität des Krieges.

Sie im Internet hochzuladen war nicht meine erste Wahl gewesen. Ich hatte zunächst versucht, sie über die traditionelleren Medien veröffentlichen zu lassen. Die Erfahrung war frustrierend gewesen. Ich misstraute dem Telefon und wollte das Material auch nicht per E-Mail verschicken. Vielleicht würde ich überwacht. Nicht einmal Münzfernsprecher waren richtig sicher. Ich ging in Filialen von großen Ketten – hauptsächlich Starbucks – und bat darum, ihr Festnetz zu benutzen, weil ich angeblich mein Mobiltelefon verloren oder eine Autopanne hatte. Ich rief in den Zentralen der Washington Post und der New York Times an und bat um ein Gespräch mit einem Journalisten, der die Brisanz des von mir angebotenen Materials erkennen würde. Ich erreichte jemanden bei der Post und konnte mit ihm kurz reden. Bei der Times hinterließ ich eine Nachricht mit meiner Skype-Nummer, wurde aber nie zurückgerufen. Ich gab nur an, dass ich bei den Streitkräften arbeite. Ich versuchte, ihnen die Sprengkraft meines Materials deutlich zu machen. Was ich anzubieten habe, ist alles über zwei Kriege, sagte ich am Telefon. So sieht eine asymmetrische Kriegsführung aus, ohne Auslassungen; in vollem Umfang. Ich wollte, dass diese Informationen veröffentlicht würden, von einem auflagenstarken Blatt, das sich gegen Angriffe zu Wehr setzen konnte.

Aber ich trat auf der Stelle. Der Reporter, den ich erreichte, begriff nicht, wie sensibel das Material war, das ich veröffentlichen wollte, und ebenso wenig, dass ich die Informationen nur digital übermitteln konnte und keine Zeit hatte, einen vernünftig abgesicherten Informationskanal einzurichten. In der Redaktion verstanden sie auch nichts von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung: Signal, die übliche leicht zugängliche App für vollverschlüsselte Textnachrichten, wurde von den Nachrichtenmedien damals noch nicht benutzt. Und ebenso wenig verstanden sie, welchen gewaltigen Umfang das von mir angebotene Material hatte. (Dass ich mich sehr vage und unbestimmt ausdrückte, war wohl auch nicht hilfreich.)

Nachdem ich bei der Times und der Post nichts erreicht hatte, kehrte ich ins Haus meiner Tante zurück. Allmählich sah es so aus, als würde ich nach all den eingegangenen Risiken keinen Reporter mehr an die Angel bekommen, bevor ich in den Irak zurückkehren würde. Aber ich wollte es noch bei einer letzten Tageszeitung, bei Politico, versuchen. Ich plante, zu deren Verlagssitz im Norden Virginias zu fahren, einfach hineinzuspazieren und die Daten persönlich zu übergeben.

Dann brach der Schneesturm los: das »Snowmageddon«, wie Twitter und die Lokalnachrichten es nannten. Rasch verschwand das kaum gegen Winterwetter gewappnete Washington unter gut einem halben Meter Schnee. Bei meiner Tante fiel der Strom aus. Es sah so aus, als würde ich zwei weitere Tage meines Urlaubs verlieren. Ich war völlig eingeschneit. Die Internetverbindung brach zusammen. Bis sie wieder laufen würde, konnte ich nicht warten. Ich stand vor der Rückreise in den Irak. Und wenn ich mein Vorhaben bis zur Abreise nicht umgesetzt bekäme, würde ich es niemals umsetzen.

Weil ich im Haus keine Schaufel fand, musste ich mich am Morgen meines letzten Urlaubstags mit bloßen Händen, wenn auch mit Handschuhen, durch die Schneemassen kämpfen. Zwei Stunden marschierte ich bis ins Zentrum von Rockville und mietete bei dem Carsharing-Anbieter Zipcar ein Auto, blieb damit aber in einer riesigen Schneewehe stecken. Ich brauchte zwei weitere Stunden, um es – erneut nur mit Händen – wieder flottzubekommen. Als ich es schließlich aus dem Schneeberg herausmanövriert hatte, suchte ich nach einem Geschäft, das trotz des Schneesturms geöffnet war – einem mit Internetzugang. Bis zu den Büros von Politico im nördlichen Virginia zu gelangen war praktisch unmöglich. Bei diesen Straßenverhältnissen waren schon kurze Fahrten schwierig. Also setzte ich auf diese letzte Option.

Im Jahr 2008, während meiner nachrichtendienstlichen Ausbildung, hatte unser Ausbilder – ein Veteran des Marine Corps mit Privatvertrag – über WikiLeaks als eine Website geredet, die sich radikale Transparenz auf die Fahnen schrieb, und darauf hingewiesen, dass wir sie nicht besuchen sollten. (Später sollte er das ganze Vorkommnis abstreiten.)

Ich teilte zwar das Anliegen von WikiLeaks, sich für Transparenz einzusetzen, war aber der Meinung, dass die Reichweite dieser Seite für die Zwecke, die ich verfolgen wollte, zu begrenzt war. Den meisten Menschen war die Plattform WikiLeaks damals noch kein Begriff. Ich befürchtete, die Informationen, die sie veröffentlichte, würden nicht ernst genommen. Da ich bei den traditionellen Printmedien aber gescheitert war, sah ich in WikiLeaks nun meine einzige Möglichkeit: Die Veröffentlichung dieser Informationen sollte ja einzig darauf abzielen, die Amerikaner auf das aufmerksam zu machen, was wir im Irak und in Afghanistan anrichteten. In einem Post an einen der Chatrooms, für den ich angemeldet war, teilte ich mit, dass ich Informationen über die wahren Kosten der Kriege im Irak und Afghanistan besäße und dass sie mit der Weltöffentlichkeit geteilt werden müssten. Als Antwort postete jemand einen Link zu WikiLeaks’ Uploadformular im Netz.

Diese Website war meine letzte Chance, die Daten zu veröffentlichen. Aber mit nur noch einem halben Tag Urlaub hieß das jetzt oder nie. Ich fühlte mich völlig allein, war aber optimistisch, dass es zum Nutzen der Gesellschaft sei – sofern die Informationen nur die verdiente Aufmerksamkeit bekämen.

Ich versuchte es bei einigen Starbucks-Cafés in der Gegend, hatte aber kein Glück. Am Ende – gegen 14:00 Uhr – fuhr ich bei Barnes & Noble vorbei, weil ich wusste, dass die Filialen kostenloses WLAN anboten. Ich setzte mich hin, zog meinen Laptop heraus und öffnete einen anonymen Browser.

Aufgrund dessen, was mir passiert ist, weiß inzwischen jeder, dass die Regierung einen zu vernichten versucht, jeden erdenklichen Vorwurf für eine Anklage zusammenzimmert, wenn man die Wahrheit über ihre Handlungsweisen ans Licht bringt. (Als »nuts and sluts« werden Whistleblower*innen in den Kreisen der Mächtigen gerne dargestellt – als durchgedreht, besoffen und irgendwie abartig.)

Doch was ich damals tat, hatte zuvor noch niemand getan, sodass auch niemand die Konsequenzen kannte. Daniel Ellsberg, der während des Vietnamkrieges die Pentagon Papers veröffentlich hatte, blieb eine Haftstrafe erspart, weil das Weiße Haus unter Nixon illegal Beweismittel gegen ihn beschafft hatte (mit einem angeordneten Einbruch in die Praxis seines Psychiaters, um nach diskreditierendem Material zu suchen). Ins Gefängnis war deswegen noch niemand gekommen. Ellsberg war mir damals noch kein Begriff, aber ich hatte von Thomas Drake gehört, einem Whistleblower bei der NSA, der unter Anklage nach dem Espionage Act stand. Ihm drohten 35 Jahre Haft, aber kurz vor Verfahrensbeginn schloss er einen Deal und kam mit einer Bewährungsstrafe und gemeinnütziger Arbeit davon.

Natürlich machte ich mir Gedanken über mögliche Konsequenzen. Bei einer Entdeckung würde ich in Untersuchungshaft kommen, aber ich rechnete damit, dass ich höchstens aus dem Dienst entlassen oder meine Sicherheitsfreigabe verlieren würde. Meine Arbeit war mir wichtig. Meinen Job zu verlieren war eine erschreckende Aussicht – vor Eintritt in die Army war ich obdachlos gewesen –, aber ich dachte, wenn ich vor ein Kriegsgericht käme, würde damit nur die Glaubwürdigkeit der Regierung erschüttert. Zu keinem Zeitpunkt rechnete ich damit, mein ganzes Leben im Gefängnis zu verbringen, oder mit Schlimmerem.

Die vier Monate, die ich im Irak verbrachte, hatten mein Verständnis von der Welt und von diesen Kriegen verändert. Ich stand jede Nacht um 22:00 Uhr in der Wüste auf. Ich ging von meinem kleinen Wohncontainer zum Büro, einer Basketballhalle aus der Zeit Saddam Husseins, die das Militär in ein nachrichtendienstliches Operationszentrum umgewandelt hatte. Ich nutzte drei verschiedene Computer, von denen zwei als geheim eingestufte Informationen enthielten, las aktuelle E-Mail-Benachrichtigungen und schaute mir Videoaufnahmen zu Ereignissen in Ostbagdad an.

Sich ein Bild anhand der eingehenden Berichte zu verschaffen war, wie aus einem Feuerwehrschlauch zu trinken: Das Militär nutzte mindestens ein Dutzend verschiedener Agenten zur Aufklärung, Überwachung und Ausspähung, die dem Auswerter alle eine unterschiedliche Sicht von der Stadt, ihren Bewohnern und den überwachten Plätzen vermittelten. Meine Aufgabe bestand darin, distanziert und emotionslos zu analysieren, wie sich militärische Entscheidungen und Veränderungen in der personellen Besetzung auf diesen gigantischen blutigen »Krieg gegen den Terror« auswirkten. Aber meine tägliche Realität ähnelte mehr der Arbeit auf einer Unfallstation.

Ich verbrachte Stunden damit, jeden Aspekt des Lebens der Iraker, die um uns herum starben, kennenzulernen: wann sie morgens aufstanden, ihr Beziehungsstatus, ihre Vorlieben beim Essen, bei Alkohol und Sex und ob sie sich an politischen Aktivitäten beteiligten. Ich überprüfte jede einzelne Person, mit der sie elektronisch kommunizierten. Ich sezierte jedes Detail ihres Lebens. Manchmal wusste ich über sie wahrscheinlich mehr als sie selbst. Wie ich feststellte, waren sie uns – der militärischen Besatzungsmacht – als Menschen scheißegal. Außerhalb meiner Abteilung konnte ich mit niemandem über meine Arbeit reden. Auch nicht über diesen Krieg, der sich vor Ort ganz anders gestaltete als das, was ich zu Hause, vor meinem Eintritt in die Army, über ihn gelesen oder in den Fernsehnachrichten gesehen hatte.

Der Gedanke, dass die Informationen, zu denen ich Zugang hatte, mit realer Macht verbunden waren, kam mir immer häufiger in den Sinn. Ich versuchte ihn ständig zu verdrängen, aber er kehrte jedes Mal wieder zurück. Inzwischen wurde behauptet, die sieben Jahre des Krieges, all diese toten Amerikaner und die noch immer ungezählten Todesopfer unter den Irakern und Afghanen hätten sich gelohnt. Der Fokus des Establishments hatte sich verschoben: Es gab eine Rezession zu bewältigen. Menschen im eigenen Land verloren alles, was sie hatten. Die Debatte um die Gesundheitsversorgung war jeden Abend Thema in den Nachrichten.

Und trotzdem saßen wir immer noch im verdammten Dreck. In jedem Szenario, das ich durchspielte, würden wir noch viele Jahre im Irak bleiben. Selbst wenn wir versuchten, die Truppen zu reduzieren, würde jedes neue Aufflammen der Gewalt – und das war zu erwarten – eine Rückkehr zu einer starken Truppenpräsenz erfordern und weitere Menschenleben kosten. Das ganze System war so ausgelegt, dass die Öffentlichkeit diese Zwangslage niemals richtig verstehen würde.

Ich war ständig mit zwei Realitäten konfrontiert: die eine, die ich beobachtete, und die andere, an die die Amerikaner zu Hause glaubten. Die Informationen, die sie erhielten, bestanden in weiten Teilen aus verzerrten oder unvollständigen Darstellungen – ein unversöhnlicher Gegensatz, der mir ständig auf frustrierende Weise zu schaffen machte.

Für einen Nachrichtendienst zu arbeiten, ohne sich dabei vorzustellen, die vielen Geheimnisse offenzulegen, in die man Einblick hat, ist eigentlich unmöglich. Ich weiß nicht mehr genau, wann mir die Idee zum ersten Mal durch den Kopf ging. Vielleicht gleich nach meiner Grundausbildung 2008, als ich erste Erfahrungen als Nachrichtendienstanalytiker sammelte und mit geheimem Material in Berührung kam. Es ist, als habe man eine Linie überschritten, eine Trennwand durchstoßen, mit diesem Wissen, das sich nicht einfach in ein Nichtwissen verwandeln lässt und einem Macht über die Regierung gibt – aber auch der Regierung Macht über einen selbst. Man wird ausgebildet, absolviert Tests und bekommt als Tabu eingeimpft, niemandem etwas darüber zu verraten, womit man sich beschäftigt, niemals. Dieses Verbot gewinnt allmählich die Kontrolle darüber, wie man über alle Dinge denkt, wie man in der Welt handelt. Aber die Macht des Verbots ist fragil, insbesondere sobald Linien als willkürlich gezogen erscheinen.

Vielleicht keimte die Idee in mir auch in Fort Drum, im Norden des Bundesstaates New York, auf. Dort war ich stationiert, bevor ich erstmals irakischen Boden betrat. In der Sommerhitze transportierte ich eine große Box mit Festplatten, deren Daten als geheim eingestuft waren. Besorgt fragte ich mich, was wohl geschähe, wenn ich meinen Auftrag vermasseln und die Kiste nicht richtig im Auge behalten würde. Wenn sich jemand so eine Festplatte schnappen und die Daten einsetzen würde, was würde passieren? Ich wusste natürlich, dass dies für mich selbst Konsequenzen haben würde: eine strenge Untersuchung, Vorwürfe wegen Pflichtverletzung, vielleicht eine Degradierung oder sogar die Entlassung.

Aber welche Wirkung hätte es, wenn die aktuellen Informationen nach draußen dringen würden? Würde es tatsächlich etwas verändern, wenn diese ominösen Mitteilungen und weitschweifigen Berichte an die Öffentlichkeit kämen? Ich kannte die offizielle Version, warum sie unter Verschluss bleiben mussten – wir wurden dazu ausgebildet, Geheimhaltung als eine Frage von Leben und Tod zu betrachten –, aber ich konnte mir schwerlich die realen Folgen in der Welt vorstellen, ob wirklich Schlimmes geschehen würde. Ich hinterfragte immer öfter die Begründung dafür, warum eine solche Menge an Informationen unter der Decke gehalten werden musste. Warum hüteten wir so viele Geheimnisse? Die Entscheidungen zur Geheimhaltung folgten offenbar keiner schlüssigen inneren Logik.

Wie willkürlich die Linien gezogen waren, wurde mir allerdings erst sechs Wochen nach meiner Ankunft im Irak richtig bewusst. Unser Pressebüro hatte mich gebeten, einen Ereignisbericht zu erstellen, eine umfassende Einschätzung: eine Analyse mit detaillierten Beispielen zu sämtlichen bedeutenden Aktionen, die im Irak in den letzten beiden Monaten stattgefunden hatten.

Sieben Stunden später händigte ich den Bericht einem Major und einem Lieutenant Colonel in einer Kurierbox mit einem Geheimhaltungsvermerk aus. Die Offiziere, die Verantwortlichen für die Öffentlichkeitsarbeit, gingen ihn rasch durch und reagierten erfreut. Sie entfernten kurzerhand die Marken für die Klassifizierung. Ich fragte sie, was sie mit dem Bericht jetzt anstellen würden.

Sie gaben ihn an die irakische Presse weiter. Ich war schockiert. Der nachrichtendienstliche Report, den ich ausschließlich für den internen Gebrauch erstellt hatte, wurde jetzt zu einer öffentlichen Angelegenheit. Todeszahlen, Zwischenfälle, alles.

Gemessen am Status quo waren wir bei der Aufstandsbekämpfung einige Monate lang erfolgreich gewesen, und das wollte das Büro für Öffentlichkeitsarbeit auch bekannt machen. Der Bericht ließ das Militär in einem positiven Licht erscheinen. Er enthielt keine sensiblen Informationen, so der Befund, nichts, was globale Folgen haben konnte. Aber warum war er dann überhaupt erst als Geheimsache etikettiert worden?

Ich fragte einen Offizier von der Pressestelle, warum er die Marken für die Geheimhaltung entfernt habe und warum dies so schnell möglich gewesen sei. Seine Antwort – ehrlich, kurz und bündig – hat sich mir ins Gedächtnis eingeprägt: Das System der Geheimhaltung diene ausschließlich der US-amerikanischen Regierung. Wenn Material der Öffentlichkeitsarbeit diene, dann werde es auch freigegeben. Mit anderen Worten, so schien er sagen zu wollen, existierte das Klassifikationssystem für Verschlusssachen nicht, um Geheimnisse zu schützen, sondern um die Medien zu kontrollieren. Nicht nur ich war also davon überzeugt, dass dieses Material auch veröffentlicht werden konnte. Die Oberen sahen es ebenso, zumindest wenn es ihnen passte. Ab diesem Augenblick fragte ich mich, ob die Öffentlichkeit nicht ein Recht darauf hätte, über die gleichen Informationen zu verfügen wie ich. Wenn wir Journalisten vollständig ins Bild setzen konnten, wenn es genehm war, wieso dann nicht grundsätzlich? Immerhin handelte es sich um Dokumente von historischem Wert.

In diesem Monat fing ich damit an, systematisch Berichte über sämtliche bedeutenden Aktivitäten (SIGACTs) aus dem Irak und Afghanistan herunterzuladen – als eine erweiterte Version der Bereitschaft, mit der unsere Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit Material freigegeben hatten. Zusammen enthielten sie etwas, das der Wahrheit über diese beiden Kriege näher kam.

2.

MITTLERES OKLAHOMA
1987

Die Bilder, die ich vom mittleren Oklahoma im Gedächtnis behalten habe, muten wie schöne, vergilbte Schnappschüsse an: Ein endlos goldener Glanz liegt über der Landschaft, über dem braunen, von der Sonne versengten Gras, über dem Boden aus rostroter Tonerde und sogar über dem bescheidenen Haus, in dem ich aufgewachsen bin – mit seiner schwarz-weißen Fassade und der kleinen Hobbyfarm dahinter: Schweine, Pferde, eine Kuh, Hühner und Grünzeug.

Wir lebten auf gut zwei Hektar Land in einer schmalen Senke direkt am Oklahoma State Highway 74. Die Gegend bestand hauptsächlich aus Gesträuch und Löss, aber mit einem kleinen Teich und Bäumen am Rand von Crescent, einer einst aufstrebenden Stadt, die inzwischen schrumpft. Um in der Stadt Geld zu verdienen, aber auf dem Land zu leben, fuhr mein Vater in seinem rotbraunen Nissan-Pick-up täglich 45 Minuten nach Oklahoma City und wieder zurück. Crescent war während der ersten Siedlungswelle in Oklahoma gegründet worden, auf geraubtem Land der Ureinwohner, die entlang des Cimarron River lebten. Jahrzehnte vor meiner Geburt hatte die Eisenbahngesellschaft in der Nähe unseres Hauses einen langen Damm für Schienen gebaut. Er durchbrach als Einziges die Ebene. Wenn man sich auf ihn stellte, sah man die Mais- und die Weizenfelder, die verstreuten Ölbohrtürme und die blanken Gleise, die direkt in die Stadt führten. In Crescent lebten rund tausend Einwohner. Jeder wusste alles über jeden – Segen oder Fluch, je nachdem, wer man war.

Meine Familie stammte ursprünglich nicht aus der Prärie. Sie war in den Achtzigern, einige Jahre vor meiner Geburt hergezogen, weil mein Vater Brian Edward Manning eine Anstellung in der elektronischen Datenverarbeitung bei der Hertz Corporation gefunden hatte. Er war in einer aus Irland eingewanderten Arbeiterfamilie in den westlichen Vororten Chicagos aufgewachsen und in seiner späten Jugendzeit unstet herumgezogen. Mit siebzehn Jahren verließ er das Elternhaus, probierte im sogenannten »Pfannenstiel Floridas« kurzzeitig ein College aus und brach das Studium ab. Lernen war nichts für ihn, Party machen dagegen schon. Zurück in Chicago, wartete er nicht darauf, nach Ende des Vietnamkrieges zum Militär eingezogen zu werden. Stattdessen beschlossen er und mein Onkel Michael, in die Navy einzutreten – nach einem besonders feierfreudigen Wochenende, wie er erzählt. Der Navy schrieb er immer das Verdienst zu, ihm im Leben eine Struktur, einen Weg gegeben zu haben.

Bei ihm klang das Wort »Militär« glamourös. Die U.S. Navy stationierte ihn als Analytiker im Vereinigten Königreich, in einer Militärbasis der Royal Air Force in Wales, die einige Minuten Fahrt östlich von St. Davies in Pembrokeshire lag. Er stieg zum Petty Officer auf und arbeitete mit abgehörtem Geheimmaterial bei der Überwachung eines Netzwerks aus Unterwassermikrofonen, die zwischen Island und Großbritannien sowjetische (und manchmal zur NATO gehörige) Atom-U-Boote ausspähten. Er erzählte mir, er habe mit Geheimdokumenten gearbeitet und eine Uniform der Royal Navy getragen, zur Anpassung und um Spione zu verwirren – für mich, der ich in Oklahomas ziemlich ruhiger und öder Prärie aufwuchs, klang das wie aus einem Agentenfilm oder einem Roman von Tom Clancy.

In Wales lernte er auch meine Mutter Susan Mary Fox kennen. Sie stammte aus einer Arbeiterfamilie aus Haverfordwest, einer Stadt, errichtet um eine Normannenburg, inmitten einer Region, die mit ihren steilen und grünen Hügeln das genaue Gegenteil der flachen ausgebleichten Ebenen des amerikanischen Mittleren Westens war. Die Familie hatte neun Kinder, davon acht Mädchen. Sie lebten in einer kleinen Sozialwohnung mit drei Schlafzimmern, in denen ein Einzelbett gerade so Platz fand. Als sie in einem kleinen Pub am Castle Square meinen Vater, den Amerikaner, kennenlernte, musste ihr die Bekanntschaft wie ein märchenhafter Ausweg erschienen sein. Sie heirateten am Tag nach seinem 21. Geburtstag, und später im selben Jahr wurde meine Schwester Casey geboren. Am gleichen Tag, dem 17. Dezember, aber elf Jahre später, 1987, kam ich zur Welt. Ich erhielt den Namen Bradley, der inzwischen mein Deadname ist.

Danach lebten meine Eltern keineswegs lange glücklich und zufrieden. Sie erwarben zwar die Statussymbole eines komfortablen Lebens der Mittelschicht – mein Vater machte an einem Community College einen Abschluss in Computerwissenschaft, der ihm am Ende die Stelle bei Hertz verschaffte –, aber die Ehe stand auf tönernen Füßen. Von den Auseinandersetzungen meiner Eltern bekam ich als Kind nichts mit. Für mich war die Familie schlicht sinnvoll – so wie der Lauf der Welt, in der die Sonne im Osten auf- und im Westen unterging. Allerdings waren meine Eltern beide Trinker, von der Art, für die Alkohol Flucht aus dem Alltagsleben bedeutet.

Dad begnügte sich mit Bier. In unserem Mülleimer stapelten sich die leeren Blechdosen. Zu Hause angekommen, legte er seine Sachen ab, steckte sofort eine eisgekühlte Bierdose in einen Styroporbehälter und öffnete sie. An Wochenenden oder Feiertagen trank er so viel, dass er sich schon am frühen Nachmittag kaum noch auf den Beinen halten konnte. Mom war Wodka und Rum gewöhnt. Ein Schuss Absolut oder Bacardi fehlte in keinem Getränk. Ihr Tag begann damit, Spirituosen in einen Becher mit heißem englischem Tee zu gießen. Sie trank auch, als sie mit mir schwanger war. Wie ich später von ihr erfuhr, hatte sie in den Jahren zwischen Caseys und meiner Geburt zwei Fehlgeburten erlitten. Heute frage mich, ob und wie sehr sie das belastet hat.

Während meiner Kindheit war meine Mutter entwaffnend einfühlsam und hatte ein schlichtes und herzliches Lächeln. Sie nahm Menschen immer beim Wort. Dabei war sie auch verschlossen und zuweilen nicht in der Lage, das Leben einer Erwachsenen zu führen. Sie machte keinen Führerschein und konnte nicht mit Geld umgehen. Und der Alkohol verschärfte ihre Schwierigkeiten, sich in der Welt zu behaupten. Im Gesicht ähnelte ich ihr, aber anhand ihrer rosigen Wangen war ihr der Alkoholismus anzusehen. Zudem rauchte sie Kette, Mentholzigaretten Salem 100, die ihre Zähne – tatsächlich Zahnersatz nach einer Schlägerei in einer Bar in jungen Jahren – dunkelgelb einfärbten.

Meine Eltern konnten beide charmant sein, aber mein Vater hatte einen egoistischen Zug. Mit seinen 1,58 Metern – etwas kleiner als meine Mutter – war er witzig und pfiffig und wirkte wahrscheinlich auf die meisten Menschen sanftmütig. Aber zu Hause prügelte er, explodierte plötzlich und ließ seine Frustration an meiner Schwester und mir aus. Fitness und ein gutes Aussehen waren ihm sehr wichtig: Er ging jeden Tag joggen und machte Rumpfbeugen, Liegestütze und Klimmzüge, als sei es eine Religion. Und er war Meister in der Kunst, völlig überzeugend kompletten Quatsch von sich zu geben.

Casey musste schnell erwachsen werden. Der Alkoholismus meiner Eltern begleitete ihre Jugendzeit. Sie wurde zu meiner Bezugsperson und meinem Babysitter und kümmerte sich auch um meine Eltern, wenn sie einen über den Durst getrunken hatten. An einem grauen Herbsttag saß meine Mutter auf unserer Veranda, rauchte eine Mentholzigarette nach der anderen und beobachtete in dem Pekannussbaum über uns ein Eichhörnchen, das an Nüssen nagte und Schalen fallen ließ. Eine traf meine Mutter am Kopf. Casey verschwand im Haus und tauchte, Dads Luftgewehr schwingend, wieder im Eingang auf. Sie stellte sich unter die braunen und orangefarbenen Blätter und zielte angespannt mit ausgestreckten Armen auf das Hörnchen. Der Schuss hallte in der Ferne in den Bergen wider. Sie hatte es verfehlt. Sie korrigierte ihre Atmung und legte erneut an. Peng! und plopp!, das Eichhörnchen fiel aus dem Baum. Casey kümmerte sich einfach um die Dinge.

Blond und blauäugig wie ich, war sie schon als Teenager mit einem himmelblauen Ford Tempo unterwegs, als ich noch in den Kindergarten ging. Heute bedeutet sie mir alles, und damals habe ich sie vergöttert. Sie hatte einen eigenen Telefonanschluss, trug ein typisches Neunzigerjahre-Polka-Dot-Kleid und mochte Bettlaken mit Zickzack-Muster. Ihre Wände waren mit Postern, Zeitungsausschnitten und Collagen zugepflastert. Sie brachte ganze Tage damit zu, tausendteilige Puzzles zu legen, klebte sie anschließend auf Karton und hängte sie an die Wand. Und ihr Zimmer war auch ein Zoo, mit Dutzenden von Tieren: Vögel in Käfigen und Terrarien voller Eidechsen, Frösche und Kröten. Reptilien liebte sie über alles.

Ich wollte nicht nur ihr Zimmer; ich wollte wie sie sein: Mit fünf oder sechs Jahren schlich ich mich heimlich in ihr Refugium und probierte ihre Sachen an. Im frühen Teenageralter experimentierte sie mit einem Cowgirl-Look. Ich erinnere mich noch an die Stiefel, die Gürtelschnallen, die T-Shirts mit dem Pferdeaufdruck und die Rüschenfransen, die ich an mir ausprobierte. Ich liebte ihren Schminktisch mit dem Spiegel und den Glühbirnen, die die Farbe wechselten, auf dem Rahmen. Lange Momente schaute ich mich daraufhin prüfend an, wie sich mein Aussehen mit diesem Lippenstift, jener Grundierung oder dieser Aufhellung veränderte. Nachdem ich mehrmals Chaos angerichtet hatte, reichte es Casey. Sie hängte ein Schloss an ihre Zimmertür. Ich versuchte es zu knacken, kam aber nicht weit.

Heute empfinde ich meine Kindheit so, als sei penibel auf eine strenge Cisgender-Entwicklung geachtet worden. Selbst meine Versuche, mir die Welt zu erschließen, verliefen auf einem binären Pfad. Als ich vier Jahre alt war, fragte ich meinen Vater, ob ich wie meine Schwester leben würde, wenn ich groß wäre, mit Make-up und Kleidern. Er sagte mir, ich müsse rausgehen und »Sachen für Jungs« machen. Er verbot mir meinen Lieblingsfilm, Arielle, die Meerjungfrau, anzuschauen, und stopfte mein Zimmer mit Kriegsspielzeug voll: Modelle von Kampfjets, G.I.-Joe-Action-Figuren mit Plastikpanzern und Gewehren. Selbst meine Bettdecke war auf Militär getrimmt, mit Aufdrucken von F-14- und F-16-Jets. Ich steckte Caseys ausrangierte Barbie in die Unform von G.I. Joe und schickte sie auf Missionen. Nachdem ich meinen Vater immer wieder mit der Frage bedrängt hatte, warum ich denn ein Junge sein müsse, erklärte er mir schließlich den biologischen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen. Sein Herumdrucksen gipfelte in dem unbeholfenen Satz: Da unten gibt’s einen Unterschied.

Genderrollen waren in Oklahoma so hart und festgestampft wie der Boden des Landes, und ich passte nicht in sie hinein. »Mädchenjunge! Du bist ja so ein Mädchen – wieso?«, sagten die Kinder. »Bist du vom anderen Ufer oder andersrum?« (Mit anderen Worten: Bist du schwul oder bist du schwul?) Ich müsse mich zur Wehr setzen, verlangte mein Vater. Wegen seiner geringen Körpergröße war er selbst schikaniert worden, und ich sollte so reagieren wie er: mit Fäusten zurückschlagen. Ich war flink und gewieft, und das sollte ich mir seiner Meinung nach zunutze machen.

Als ich sechs Jahre alt war, schenkte mir mein Vater etwas, in dem ich ein besseres Ventil fand: einen großen beigefarbenen PC von IBM. Die Games, die ich auf ihm spielte, zogen mich in eine andere Welt hinein und wirkten damals wie Hightech, kreativer als alles, was hier, mitten im Nirgendwo verfügbar war. Ich spielte SimCity, eine frühe Simulation der Stadtentwicklung: Klein- und Großstädte bauen, Wohn-, Gewerbe- und Industriegebiete anlegen und sie mit Straßen und Leitungen verbinden. In Spielen mit Figuren trat ich immer als Mädchen auf: Jessica, Alice oder Chelsea. Mein Vater führte mich in Kriegsspiele mit Flugsimulationen ein. Ich flog den F-15 Eagle und den F-16 Fighting Falcon sowie die sowjetischen Su-25 und Su-27. Ich lernte Luftkampfmanöver, Bomben abwerfen, Tieffliegerangriffe, Trudeln, Täuschkörper ausstoßen und Leuchtkugeln verschießen. Es war nicht nur spannend, sondern auch ein Weg, meinem Vater näher zu sein.

Ebenso Programmieren. Mein Vater brachte mir das Codieren bei, kaum dass ich Lesen gelernt hatte. Zunächst verstand ich es nicht richtig: Ich tippte nur genau das ein, was mir die Anleitung vorgab, aber als ich zehn Jahre alt war, dachte ich mir eigene einfache Spiele aus und programmierte sie, so einen Skiläufer, der im Slalom einen Berg hinabfährt. Meine erste Website legte ich mit zehn Jahren an – eine einfache Fanseite für ein beliebtes Nintendo-64-Spiel.

Im selben Jahr küsste ich zum ersten Mal einen Jungen. Ich nenne ihn hier Sid. Er wohnte eine Radstrecke weit entfernt, war weißblond, braun gebrannt, bleistiftdünn und ganz verrückt nach der Glitzerwelt der World Wrestling Federation. Bei ihm zu Hause trugen wir auf einer großen Schaumstoffmatte Ringkämpfe aus, mit Bungee-Seilen, die er für einen Ring umfunktioniert hatte, wie echte Profis. Als wir an einem Tag rangen, näherte ich mich ihm sanft und küsste ihn – ganz spontan, aus einem sehnsüchtigen Impuls heraus. Er küsste mich zurück. Aber andere Kinder hatten uns beobachtet. Als Sid es bemerkte, schob er mich beiseite. Weg von mir, du Schwuchtel. Ich hörte nicht mehr auf zu weinen.

In Oklahoma war »homosexueller Verkehr« bis 2003 eine Straftat. Was ich getan hatte, sprach sich herum. Als es der Busfahrer von anderen Schülern mitbekam, meldete er es der Schule, die daraufhin einschritt. Am nächsten Tag holte mich der Rektor aus der Klasse. Dad, der Busfahrer, Sid und sein Vater saßen in seinem Büro. Die Schule erwog einen vorübergehenden Ausschluss. Ich bin nicht sicher, ob sich mein Vater überhaupt Gedanken machte, ob der Vorfall ein echtes Anzeichen dafür sein könnte, dass ich schwul war. Ihn kümmerte nur, dass man ihn von der Arbeit weggeholt hatte und er eine Stunde hergefahren war. Er wirkte peinlich berührt.

Ich versicherte meinen Eltern und den Vertretern der Schule, dass ich es nicht wieder tun würde, worauf sie sich gegen einen Ausschluss vom Unterricht entschieden. Aber ich wäre lieber nach Hause geschickt worden. Dann wären mir die Hänseleien und Gerüchte erspart geblieben. Ich wusste damals nicht einmal, was schwul bedeutete, und ich wette, dass es auch die Kinder, die mich so beschimpften, nicht wussten. Es sei einfach irgendetwas Schlimmes, dachten wir alle, die übelste Beschimpfung, die es gab. Ich wollte die ganze Sache nur vom Hals haben.

Jahre später sagte mir meine Mutter, sie habe immer geglaubt, dass ich schwul sei. Sie ging verständnis- und liebevoll damit um. Von meiner Geschlechtsidentität verstand sie allerdings nichts, und ich denke, sie wollte an eine vorübergehende Phase glauben, die sich auswachsen würde. Es war wie eine Fremdsprache für sie. Doch obwohl sie sonntags zur Messe ging und wahrscheinlich die Republikaner gewählt hätte, wenn sie jemals an die US-Staatsbürgerschaft gekommen wäre, war sie – anders als die meisten unserer Nachbarn – keine eingefleischte konservative Christin.

Mein Vater war nach außen hin zwar ebenfalls konservativ – im mittleren Oklahoma ein absolutes Muss –, hatte aber so etwas wie eine liberale Ader. Er redete darüber, wie schrecklich Bill Clinton doch sei und dass man den »Dems« nicht über den Weg trauen könne, und plapperte die Argumente nach, die er in den Talkradio-Sendungen hörte, die damals gerade im Kommen waren. Was ihn – und viele sogenannte liberale Konservative, wirklich aufregte, waren die US-Bundesbehörden, die bei einem missglückten Sturm auf ein Sektenhauptquartier im texanischen Waco 1993 Menschen, auch Frauen und Kinder, getötet hatten. Damals war ich sechs Jahre alt gewesen. Die Wörter Waco, David Koresh, Janet Reno und ATF hatten bei den meisten von uns einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. In unserer Gemeinde herrschte überall die Furcht, dass die Feds, die Bundesbehörden, wieder zuschlagen, sich in unser Leben einmischen, uns unsere Feuerwaffen wegnehmen, von Haus zu Haus ziehen und konservativen Leuten aus der Arbeiterschicht einen neuen Lebensstil aufzwingen könnten. Ich glaube nicht, dass sich Außenstehende vorstellen können, wie die Ereignisse von Waco unsere Welt geprägt haben. Für viele Menschen aus der Gegend sind es Ereignisse aus jüngster Zeit.

Mein Vater besaß ebenfalls Feuerwaffen – wie fast alle im ländlichen Oklahoma, wo man dauernd Schüsse von Jägern oder Sportschützen hörte. Aber auch wenn ihm der Besitz wichtig war, äußerte er sich zu gesellschaftlichen Themen selten. Wenn er überhaupt – und nur in Gesellschaft – über christliche oder familiäre Werte redete, wirkte es jedes Mal gekünstelt. Es war Theater, um sich zwanghaft anzupassen. Dass Dads Gedanken ständig um eine mächtige und gefährliche Obrigkeit kreisten, die uns bis nach Hause verfolgen und sich in unser Leben einmischen könnte, entsprang einem stark freiheitsliebenden Zug. Dabei war staatlicher Einfluss weit weg und etwas Fremdes. Wir lebten eher wie in der Wildnis. Ich sah so gut wie nie einen Polizei- oder Krankenwagen. Was noch am ehesten mit etwas Staatlichem in Verbindung gebracht werden konnte, war mein Schulbus und eine Dampfwalze, die im Auftrag der Lokalverwaltung ungefähr einmal im Monat die ungeteerte Straße vor unserem Haus platt walzte.

Und doch rückten die größeren Besorgnisse und Gefahren der Außenwelt bedrohlich nahe an Crescent heran. Ich war sieben Jahre alt, als ich an einem heißen Frühlingstag, heiter und ohne ein Wölkchen am Himmel, draußen einen wuchtigen Donnerschlag hörte. Wie sich herausstellte, war es kein heftiges Gewitter gewesen, sondern eine gewaltige Explosion im knapp fünfzig Kilometer entfernten Oklahoma City – die eines in die Luft gesprengten Lasters, der mit Ammoniumnitrat beladen gewesen war. Unsere Lehrer*innen waren bis ins Mark erschüttert und gerieten in Panik: Sie ließen uns alle zusammen in einem Raum antreten und zählten uns auf Vollständigkeit durch. Ich erinnere mich an einen Fernsehbericht über das Ereignis. Aber richtig verstanden oder gehört habe ich nur, dass jemand zahlreiche Menschen getötet hatte: 168, darunter kleine Kinder in der Tagesstätte des Bundesgebäudes, das angegriffen worden war. Der Täter Timothy McVeigh hatte die Tat am 19. April, genau zwei Jahre nach dem tödlichen Ausgang der Belagerung von Waco, begangen.

Die Tragödie des Sprengstoffanschlags ganz in unserer Nähe führte mir schon in der Kindheit die große Bedeutung des Terrorismus vor Augen. Ich erkannte von klein auf, wie sinnlos der Verlust von Menschenleben sein konnte und dass Amerikaner unserem Land einen ebenso schrecklichen oder noch schrecklicheren Schaden zufügen konnten wie äußere Bedrohungen. Immerhin war mein erster Eindruck von einem Terrorakt nicht das Werk ausländischer Fanatiker, sondern das eines weißen Amerikaners, eines Rechtsextremisten, mitten im amerikanischen Nirgendwo.

Gewalt zog sich damals unterschwellig durch mein Leben. Mein Vater prügelte mich immer wieder windelweich. Er misshandelte jeden, der ihm nahestand. Mich schlug er mit einem Gürtel oder einer Fliegenklatsche, und wie ich es empfand, manchmal willkürlich, verwirrend und ohne Bezug zu irgendetwas, das ich getan hatte. Er ließ seine Wut auf die Welt an mir aus. Was hatte ich falsch gemacht? Warum liebte er mich nicht? Antworten bekam ich nie. Wenn ich vor Schmerz weinte, drohte er mir, weiter auf mich einzuschlagen, bis ich zu brüllen aufhören und keine Schwäche mehr zeigen würde. Schon voller blauer Flecke biss ich dann die Zähne zusammen.

Den schlimmsten Abend erlebte ich mit elf Jahren – ein Jahr nach meinem großen Ärger an der Schule. Ich schrieb auf dem Familiencomputer im Esszimmer an einem einseitigen Aufsatz für den Gemeinschaftskundeunterricht in der fünften Klasse. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, kam mein Vater nach Hause und begann aus irgendeinem Grund, besonders viel Alkohol in sich hineinzugießen. Binnen einer Stunde hatte er blutunterlaufene Augen und hielt sich kaum noch auf den Beinen. Mit einem Tritt versuchte er mich aus dem Esszimmer zu befördern. »Geh mir aus dem Weg!«, brüllte er. Ich sagte ihm, dass ich Hausaufgaben machen müsse. »Das ist mein Haus, zahl Miete oder scher dich zum Teufel!«, rief er. Ich war verwirrt. Ich war elf Jahre alt. Und ich musste Hausaufgaben machen.

Er stapfte ins elterliche Schlafzimmer, kam mit seinem Gürtel zurück und drohte mir erneut. Aber der Gürtel erschreckte mich nicht mehr. Er legte mich übers Knie, zog mir die Hosen herunter und drosch auf meinen Hintern ein. Während er zuschlug, riss ich ihm den Gürtel weg. Daraufhin packte er mich am Hemdkragen und zog mich in die Höhe.

Jetzt zahlten sich die Jahre aus, in denen ich mich flink und gewieft im Ringkampf mit größeren Kindern hatte messen müssen. Mit seinen ausgestreckten Armen machte er einen Fehler. Ich packte sie, drehte sie um und drängte ihn zurück. »Lass mich verdammt noch mal los!«, schrie er und schleuderte mich gegen die Wand. Beim Aufprall meinte ich die Adern unter meiner Haut platzen zu spüren. Jetzt drehte ich ihm einen Arm noch stärker um. Als er vor Schmerz aufschrie, ließ ich von ihm ab und ging hinaus. Dann setzte ich mich wieder an den Computer, als sei nichts geschehen.

Als ich aufschaute, sah ich über mir meinen Vater, wie er betrunken sein Luftgewehr Kaliber 12 schwang. Ich versuchte, durch die Eingangstür ins Freie zu entkommen, aber der Riegel war vorgeschoben, den er in seiner paranoiden Angst vor der Staatsgewalt angebracht hatte. Meine Mutter, ebenfalls betrunken, versuchte sich zwischen uns zu stellen und ihn mit Worten zu stoppen. Er wandte sich ihr zu und brüllte auf sie ein, bis ich schließlich die Tür aufbekam. Draußen war der Himmel rosa und grün – ein Gewitter war im Anzug. Ich rannte ziellos davon, um seiner Wut zu entkommen und meine eigene loszuwerden. Als das Gewitter näher heranzog, ging ich zurück und trat wieder ins Haus. Meine Mutter saß neben dem Luftgewehr auf dem Boden und starrte vor sich hin. In sich zusammengesackt, murmelte mein Vater etwas vor sich hin.

Der Vorfall hatte ein Nachspiel. Ich hatte die Hausaufgaben nicht fertig bekommen und war von blauen Flecken übersät, und beides fiel meiner Gemeinschaftskundelehrerin auf. Sie nahm mich beiseite, worauf ich ihr erzählte, was passiert war. Die Lehrerin schaltete die Behörden ein: Eine Sozialarbeiterin kam in die Schule, um den Fall zu untersuchen, aber das hatte ich dann doch nicht gewollt. So schwierig das Leben mit meinen Eltern sein konnte, ich liebte sie und konnte mir kein Leben anderswo vorstellen – schon gar nicht in einer Pflegefamilie. Ich log die Sozialarbeiterin wegen der blauen Flecken an und hielt meinen Vater aus der Sache heraus. Aber unsere Beziehung blieb distanziert. Er zeigte niemals Zuneigung, gab mir nie die Anerkennung, nach der ich mich so sehr sehnte.

Mit der Pubertät kamen neue Komplikationen in mein Leben: Ich verliebte mich in meine besten Freunde, vor allem in einen Jungen, bei dem ich von meinen Gefühlen überrollt wurde. Ich hatte den Eindruck, er könne meine Gefühle irgendwie erwidern, und sie für mich zu behalten, kam mir eh zu schmerzhaft vor. Schließlich offenbarte ich mich ihm. Freundlich, aber deutlich sagte er mir, dass er meine Empfindungen schlicht nicht teile – aber behielt die Sache für sich. Doch ich hatte auch einem anderen Freund davon erzählt, der daraufhin die Neuigkeit an der ganzen Schule verbreitete. Ich stritt alles ab und verleugnete meine Gefühle erneut.

Insgeheim pflegte ich ein noch größeres Geheimnis. Beim Experimentieren mit meiner Geschlechtsidentität ging ich jetzt weiter, als mich nur ins Zimmer meiner Schwester zu schleichen. Ich suchte kleine Geschäfte in der Stadt auf – das Einkaufszentrum war zu weit entfernt, und meine Eltern wollte ich um die Fahrt nicht bitten – und klaute Sachen, die ich dann vor meinem Spiegel zu Hause aus- oder anprobierte: Make-up oder Büstenhalter, in die ich Socken stopfte. Doch dann warf ich die Sachen in den Müll und nahm mir fest vor, so etwas nie wieder zu tun.

Das Internet war der einzige Raum, in dem ich meine Identität ohne Angst vor den Folgen ausprobieren konnte. Meine Familie hatte sich schon früh – 1993 – beim Internet-Einwahldienst von AOL angemeldet, und in den Chatrooms, in denen ich über unser 14,4-k-Modem unterwegs war, tauchten immer mehr Leute auf, die ich als meinesgleichen empfand. Diese Welt verstand ich, fühlte mich frei in ihr. Hier musste ich keine Konsequenzen fürchten. Die Räume waren voller tüftelnder Hacker, mit denen ich über Spiele oder Filme chattete, zwischen Fragen zur Fehlerbehebung, Codierungstipps und Vorschlägen für Hardware-Konfigurationen. Oft sprachen wir auch über unseren Alltag und unsere Vorstellungen vom Leben – Unterhaltungen, nach denen ich mich sehnte.

Im Internet war ich ein Erwachsener oder zumindest behauptete ich das. Mit zwölf oder dreizehn Jahren begann ich queere Chatrooms zu besuchen und redete dort mit Leuten über Liebesaffären und »Cybersex«. Sie fragten nach ASL – »Alter, Sex, Location« – sowie Körpermaßen und Größe. Und sie fragten nach Fotos, doch ich schaffte es, mich rauszureden. Genauso wie ich mich nie mit jemandem aus den Foren traf. Dazu war ich viel zu ängstlich. Das Internet war für mich vor allem als Informationsquelle nützlich. Ich weiß nicht mehr, wie viele Male ich das Wort gay in Suchmaschinen eintippte. (Meistens bekam man dann Pornos serviert.) Ich suchte auch mehrmals unter Transgender, ohne genau zu wissen, was das Wort bedeutete. Mit diesen Ergebnissen konnte ich noch weniger anfangen. Transsexuell war das Wort, das ich immer hörte, das aber immer auch einen komischen Beigeschmack hatte: Es waren die Prostituierten aus der Serie Law & Order (»Die Aufrechten«) oder ein bärtiger Mann mit Perücke, der in der Jerry Springer Show als Lachnummer herhalten musste. Weil ich mich mit diesen Leuten nicht identifizierte, fühlte ich mich mangels Vorbildern auch nicht trans.

Was mich abgesehen von der Suche nach Informationen in Genderfragen am Internet wirklich begeisterte, war der Datentausch, insbesondere von Musik. Ich stand auf Eminem und anderen Rap, den ich als markig, als anders empfand. Ich fand es klasse, wie diese Musik die Nachrichtensprecher*innen im Fernsehen aus dem Konzept brachte und kontroverse Debatten entfachte. Wie die elektronische Musik, die ich inzwischen ebenfalls hörte, sprengte sie in Oklahoma City, wo die Radiosender meistens Classic Rock und Countrymusic spielten, bei Weitem die Norm. Die CDs bei Walmart waren viel zu teuer und üblicherweise zensierte Versionen. Wenn ich von Freunden Zugriff auf gute Musik bekam, brannte ich sie folglich auf CDs. Als 1999 die Börse Napster online ging, empfand ich das als logische Fortsetzung der Tauschpraxis und zugleich als eine Offenbarung, als Verheißung auf Musik, die mich auf anderen Wegen niemals erreicht hätte. Dabei lud ich Musik nicht einfach nur herunter: Ich mischte sie, nutzte frühe DJ-Software und Werkzeuge zur Klangbearbeitung, um sie zusammenzuschneiden, zu wiederholen, neu abzumischen und selbstständig eigene, neue Musik zu erschaffen.

Doch als ich eines Tages den Status meiner Downloads überprüfen wollte, stellte ich fest, dass Napster abgeschaltet worden war. Die Verheißung kostenloser Musik hatte zu große Aufmerksamkeit geweckt und war für die mächtigen Musikkonzerne zu einer Bedrohung geworden. Damit war meine wichtigste kreative Quelle versiegt, einfach so. Die angeführte Begründung, das Urheberrecht, klang für mich so altbacken und abstrus, als stamme es aus der Zeit der Pferdekutschen oder der Butterherstellung im eigenen Haus. Und ich konnte es einfach nicht fassen, dass Freunde von mir im Gefängnis landen konnten, nur weil sie Musik heruntergeladen hatten.

Diese Vorstellung war absurd. Daten zu kopieren erschien als mir das Natürlichste überhaupt, das Normalste auf der Welt. Die Idee, dass Musik herunterzuladen oder Informationen zu teilen Diebstahl sein könne, kam mir nicht ehrlich vor. Es fühlt sich intuitiv falsch an. Informationen waren doch keine materiellen Dinge, die man verpacken und bei Walmart verkaufen konnte.

Ich las über die Ideen von Richard Stallman, der bekanntermaßen postuliert hatte, dass Informationen so frei wie die freie Meinungsäußerung sein müssten und nicht nur ab und zu wie Freibier ausgegeben werden dürften. Zum ersten Mal machte ich mir ernsthafte Gedanken über die Möglichkeiten des Staates, sich in mein tägliches Leben einzumischen, und überlegte mir, wie ich politisch dagegen angehen konnte. Wegen der hohen Lizenzgebühren verzichtete ich auf die Nutzung von Microsoft-Produkten und wechselte zu Linux, das idealistische Experiment in Sachen Open-Source-Software. Die Benutzeroberfläche war weniger gut, aber die Programme kosteten nichts – ein Konzept, an das ich glaubte. Man konnte Veränderungen vornehmen, und je mehr Leute sich an der Weiterentwicklung des Programms beteiligten, desto besser wurde es. Damals war das revolutionär. Die Open-Source-Community empfand sich als eine Bewegung. Leute schlossen sich unabhängig vom geografischen Ort zusammen. Das Internet expandierte.

Als Jugendlicher war ich eine Nervensäge. Ich war gewieft – und überheblich. In der Schule herauszuragen – insbesondere in Geografie, den Naturwissenschaften und Mathematik – wurde für mich zu einer Notwendigkeit, um mein Anderssein in etwas Positives umzumünzen. Im Schulwettbewerb Science Fair wurde ich ausgezeichnet, stützte unser Schulteam und gewann diesen Wettbewerb als Erster an meiner Schule auf Bundesebene. Ich glaubte, ich könnte alles lernen, und falls ich etwas noch nicht wüsste, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ich es mir angeeignet hätte. Zum Spaß las ich mich durch eine Enzyklopädie, und merkte mir die Fakten. Als ich etwas älter war, arbeitete ich mich systematisch durch den Kanon der abendländischen Philosophie, angefangen mit den alten Griechen.

Die Welt draußen, hinter der Tür meines Zimmers, war schwieriger zu verstehen. Meine Eltern kamen nicht miteinander aus, und wie mir inzwischen klar war, konnten beide nicht für sich selbst sorgen. Manchmal schafften sie es nur unter großen Mühen, sich anzukleiden oder sich ein Essen zuzubereiten. Sie betranken sich sinnlos, stritten miteinander und wurden mitunter handgreiflich. Ich saß allein in meinem Zimmer und weinte, wenn ich meinen Vater herumbrüllen hörte oder wenn er meiner Mutter drohte, sie zu verprügeln oder zu verlassen. Manchmal hörte ich, wie er sie packte. Der Lärm, wenn er um sie herumstampfte, hallte durch die papierdünnen Wände meines Zimmers. Ich hörte auch die Schritte meiner Mutter – ein Knarren wie bei einem linkischen Tanz. Sie torkelte und goss weitere Drinks in sich hinein.

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