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ruh

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»Zwischen besonderen familiären Banden, einer noch zarten Liebesbeziehung und der Härte des Alltags schwankt Cemals Bewusstsein. Şehnaz Dosts Roman nimmt uns inmitten einer Gegenwart der Fokussierung auf Körper und alles Körperliche mit auf eine Seelenwanderung, die leichthin alle Zeiten überwindet.« – Julia Franck

Cemal ist Ende 30, Deutschlehrer an einer Grundschule und Vater der kleinen Ekin. Für sie möchte er ein stabiles Umfeld schaffen – was ihm aber zunehmend schwerfällt. Sein Alltag voller Herausforderungen der Diaspora wird nachts immer häufiger durch Träume von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde aufgebrochen. Sie zeigt ihm darin Szenen aus ihrem Leben, und versetzt ihn wie beiläufig an den Ort seiner Kindheit: Ein arabisches Dorf in der Südtürkei, wo Cemal bei den Großeltern gelebt hat, bis er als Achtjähriger seinen Eltern nach Deutschland gefolgt ist – zu einer Familie, die ihm fremd war, die er nun aber lieben sollte.
Cemal watet immer tiefer in dunklen Gewässern, die ihn zunehmend auch im Wachzustand umgeben. In Georg hat er, nach seiner Exfrau Gül, zum ersten Mal einen Partner gefunden, der ihn in seinem Innersten erreicht. Doch Cemal bleibt verschlossen und somit ewiger Zuschauer seiner eigenen Geschichte – dabei muss er endlich lernen, auf sein Innerstes zu hören, um diese Geschichte selbst zu bestimmen.

Ein sprachlich beeindruckender Roman, der sanfte Erschütterung hinterlässt und eine wichtige Erzählung aus der Realität unserer Gesellschaft. Ein Roman wie eine Familienfotografie.


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753001012
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

»HOW DİD YOU FİND ME HERE?
İT MUST BE PERFECT TİMİNG«

– Anderson .Paak

1/

»Meine Urgroßmutter war eine Gelehrte. Sie konnte nicht lesen, aber sie war eine Gelehrte. Sie sagte immer, man darf nicht die Sterne zählen. Sie starb, eine Woche bevor ich auf die Welt kam.«

Es ist dunkel, und er meint Georgs Blick noch deutlicher an seiner Schläfe zu spüren als im Hellen.

»Das war wie ein Erbe von ihr, ich bin damit aufgewachsen. Zähl nicht die Sterne, sonst bekommst du Warzen auf den Händen! Jedes Mal, wenn ich in den Himmel geschaut habe. Meine Schwester hat das ständig gesagt«, fügt er nach einer kleinen Pause hinzu.

»Die kannte sie noch?«

»Ja, die ist ja viel älter als ich. Beide meine Schwestern«, antwortet er und pult am Etikett seiner Bierflasche herum, bis er die Musik wahrnimmt, die von einem anderen, kaum noch sichtbaren Wiesenfleck zu ihnen herüberdröhnt.

Georg hebt seine rechte Hand, er ist wie immer links von ihm, und legt sie ihm zwischen die Schulterblätter. Warm und schwer unterdrückt sie alle Geräusche, und er fühlt sich kurz taub.

»Auf deine Uroma«, sagt Georg und nimmt einen Schluck Bier. Cemal trinkt auch und lässt den Kopf im Nacken. Keine Sterne heute, wie zu jeder Nacht in der Stadt. Aber so auch keine Warzen.

In seinem Kopf trägt Cemal das Lied aus dem Park mit heraus, immer weiter bis zu Georgs Haustür. Can’t Stop. Georg schaut ihn an, was er fühlen, aber nicht wissen kann. Er sieht nicht auf.

»Und?«

»Heute nicht.«

»Das war nicht die Frage.«

So ist das immer mit den klaren Sachen. Müssen nicht ausgesprochen werden, weil sie sich von allein auf überdimensionalen Silbertabletts präsentieren. Noch eine gehäkelte Zierdecke darauf, und man kann an ihrer teeigen Bittersüße verzweifeln. Klar ist es klar. Es geht seit einem Monat – in des einen Zeitgefühl schon und in des anderen nur – nicht mehr bloß um die jeweils heutige Nacht. Stattdessen geht es um alle zukünftigen Nächte. Was für ein Widerspruch, denn alle bisherigen zukünftigen Nächte sind ja mal heutige Nächte und nun auch noch vergangene Nächte gewesen. Cemal ist gut darin, solche Unstimmigkeiten im Universum aufzuspüren. Er tut praktisch den ganzen Tag nichts anderes. Beobachtet, stellt fest, behält für sich. So hat er gelernt, dass die wenigsten Menschen ihre liebevoll arrangierten Konflikte aufbrechen wollen, alles soll bleiben, wie es ist, er kann sich davon ja selbst nicht freisprechen. Aber wer hätte schon mit Georg rechnen können.

Er starrt auf die längst zugefallene Glastür. Das Licht im Treppenhaus geht aus und wieder an, ein Menschenumriss taucht auf. Georg vielleicht nochmals? Nein, eine Nachbarin. Cemal nickt ihr leicht zu, sie schaut mit zusammengeschnürten Augenbrauen an ihm vorbei, er setzt sich in Bewegung. Er weiß, dass Georg jetzt oben seine Stan Smiths auszieht, sich ein weiteres Bier aufmacht und zum Grübeln und ihm Nachblicken auf den Balkon geht. Vielleicht wie an ihrem ersten Abend, als sie sich vor der Tür nach einer Ewigkeit des Schweigens verabschiedeten, Cemal sich schließlich in Richtung U-Bahn losbewegte und nach einigen Schritten einen schrillen Laut hörte, ein Pfeifen. Ging weiter, hörte es noch mal. Blieb stehen, richtete den Blick in einer Ahnung auf die Balkonfront des Hauses. Im ersten Stock nahm Georg seine Fingerspitzen aus den Mundwinkeln und grinste breit.

Nun vögeln sie seit einem halben Jahr, und er fragt sich, manchmal, ernsthaft, womit er sein Leben vorher verbracht hat. Stimmengewirr im Herzen, nach innen gerichtete Bilder, schön und beunruhigend, zu mächtig, seine Wangen röten sich, als hätte ihm die Wahrheit höchstpersönlich eine verpasst. Unsicherheit macht üblicherweise seinen Heimweg aus. So lange, bis er, immer mit dem rechten Fuß zuerst, in seine Wohnung eintritt und der Rosavibe ihn wieder einlullt. Ekin ist inzwischen sechs Jahre alt und im Schnitt auch nur einmal die Woche oder sogar nur alle vierzehn Tage da, aber ihre frühlingsblumige Aura hat sie mit ihrem ersten Wochenende in den viel zu kühlen Altbau mitgebracht und seither nicht mehr ausziehen lassen.

Er hatte damals aus Nervosität den Schlüssel zweimal fallen lassen, bevor er es endlich zustande brachte, die Wohnungstür aufzuschließen. Gül behielt Ekin so lange geduldig auf dem Arm, die kleinen Tochterarme um ihren Hals unter dem haselnussigen hochgesteckten Haar geschlungen. Es roch frisch renoviert. Seine Prinzessin war nicht begeistert. Ihre Füße tapsten vorsichtig über den Dielenboden, als sie sich von ihren Eltern ermutigt auf das kleine Zimmer links vom Wohnungseingang zubewegte. Cemal hatte eine Fähnchenkette gekauft und  E K İ N  mit einem aus der Schule geliehenen Glitzerstift darauf geschrieben. Die Reviermarke hing nun über dem Kinderbett, welches exakt dasselbe Modell wie in Güls Wohnung war. Darauf eine rosa Wolke aus Kissen und Decken, darauf ein neues Stofftier. Bisschen Bestechung kann nicht schaden, hatte Cemal sich gedacht. Während die Kleine schüchtern einen Zeigefinger in die Gesichtsmitte des Oktopus drückte, blickte er zu seiner Ex hinüber.

»Tamam mı«, fragte er tonlos.

Sie atmete ebenso tonlos, aber dafür sehr geräuschvoll durch den Mund aus.

Wie bei allen Stadtmenschen schien ihre gesamte Beziehung hauptsächlich unter dem Vorzeichen von Wohnungsfragen gestanden zu haben. Ihr Unwohlsein in seiner WG, sein zugewiesener Platz auf der Couch im Wohnzimmer ihrer Eltern, das Aufspüren eines beobachtungsfreien Orts zur richtigen Zeit. Platzangst bei Massenbesichtigungen, stets ein neues Stechen bei Absagen, weil da immer so ein Gefühl zurückblieb, Stadtteildiskussionen. Letzten Endes hatte Güls Vater über Bekannte eine gepflegte Wohnung in direkter Familiennähe klargemacht. Nachdem die Mitglieder ebendieser Familie sich wieder und wieder den samstäglichen Streifzügen durchs Einrichtungshaus angeschlossen hatten, die Schwiegermutter in der Küchenplanungshölle, die Schwägerinnen ein Sofa nach dem anderen testend, der Schwiegervater unter den UV-Pflanzenlampen in der Gartenabteilung, sah sich das junge Paar einen Monat vor der Hochzeit gezwungen, auf Heimlichkeit beim Möbelkauf zu setzen. Mittwochs, wenn Gül früher aus dem Büro konnte, fuhr sie nun entgegen aller zu Hause aufgestellter Behauptungen nicht mehr direkt ins Fitnessstudio, sondern zu Cemals Arbeit, wo sie in ihrem dunkelblauen VW Golf im Halteverbot gegenüber dem Schulhof ausharrte, bis ihr Verlobter mit schnellen Schritten und ordnerschwerer Tasche auf sie zukam. Dann schnippte sie ihre Zigarette aus dem Fenster und räumte die CD-Hüllen vom Nebensitz ins Handschuhfach. Alles Gekaufte entluden sie in der neuen Wohnung, deren Schlüssel sie bereits ihr Eigen nennen konnten, auch das war dem Schwiegervater zu verdanken.

Am Tag der Wohnungsübergabe hatten sie diesen sehr süßen Moment, nachdem der Vermieter gegangen war. Sie schlenderten durch die Wohnung, helle, riesige Fenster überall außer im Bad, dort blieben sie vor dem hässlichen Waschtisch, der unbedingt ausgetauscht werden musste und es laut Vereinbarung auch durfte, stehen und strahlten einander Reflexionen im Spiegel an. Sie waren glücklich, sie hatten eine Ahnung von der bevorstehenden guten Zeit, es war das perfekte Setting für eine kleine Nummer. Wenn also an all den Möbelkaufmittwochen nach dem Verräumen und Abmessen und gedanklich Einrichten noch Zeit war, vögelten sie wieder im Bad, um diesen sehr süßen Moment zu reproduzieren, danach fuhr Gül zum Sport, um die Passform ihres Hochzeitskleides nicht dem Zufall zu überlassen, und Cemal baute vor der Geräuschkulisse dessen, was der gigantische neue Fernseher an Programm ausspuckte, Möbel auf. Alles, was seine Hände zusammenschusterten, war ihm gleich. Die Wohnwand, die Schlafzimmerkommoden, der Couchtisch und der Schuhschrank. Alles entsprach Güls Geschmack, denn man war sich einig, dass er selbst keinen hatte. Nicht wegen der Möbel also, aber wegen allem anderen formten diese allein verbrachten Abende die neue Wohnung nach und nach zu einem Zuhause für Cemal. Rückblickend hätte er es vielleicht als dunkles Omen erkennen sollen, dass er seine erste Nacht als verheirateter Mann nicht mit Gül verbrachte. In einem Fußgängerkonvoi bestehend aus dem Brautpaar, den drei jüngeren Schwestern der Braut, dem Trauzeugen des Bräutigams und dessen jüngerem Bruder torkelte man laut flüsternd durch die Nacht auf Güls Elternhaus zu. Zum Abschied hob Gül ihr Kinn für einen Kuss an, die durch den Alkohol noch helleren Mädchen- und noch dunkleren Jungsstimmen machten Publikumsgeräusche, und im nächsten Moment fand Cemal sich allein in der Mittwochabendwohnung wieder, die er nach der Hochzeitsfeier mit Gül gemeinsam bewohnen würde. Metin und Mesut waren offenbar schon weg, wenngleich er sich nicht erinnern konnte, sich verabschiedet zu haben. Er streckte sich mittelschwer betrunken auf dem kilim im Wohnzimmer aus. Dieser Teppich war sein Lieblingsstück in der Wohnung. Die Zukunft winkte ihm wohlgesonnen zu. Die Decke drehte sich. Cemal schloss die Augen.

Im Dorf war alles, auf das er sich gelegt hatte, hart gewesen. Die karyola: die schmale Liege im Wohnzimmer der Großeltern. Der nackte Steinboden, auf dem er sich manchmal zur Kühlung ausstreckte, immer nur für zwei Sekunden, bis auch schon jemand mit ihm schimpfte, er solle nicht auf dem Boden liegen. Er verstand nie, warum. Und sein Bett, die Matratze, die einfach nur aus Härte zu bestehen schien, darauf weitere, kleinere Härtepolster als Kissen. In der Hoffnung, es könne die Ungemütlichkeit vergessen machen und ihn zum Einschlafen bewegen, sang Selkan ihm stets ein Lied vor. Jahrelang tat sie das, bis sie eines Sommers heiratete, in ein anderes Haus zog, ihn zurückließ. Sechsjährig und allein versuchte er, sich damit zu trösten, dass er ja bereits sein ganzes bisheriges Leben von ihr in den Schlaf gesungen worden war, was doch wohl als Quelle guter Erinnerungen und des Trostes reichen musste. Er hatte zwar schon – wie es Kindern eben manchmal zu eigen ist – eine Ahnung davon, wie kurz sechs Jahre tatsächlich sein können, wenn man noch gar nicht so recht angefangen hat zu leben, und wie lang eine einzige Nacht sein kann, wenn man sich sehr allein fühlt. Und doch hofft man so jung immer auf das Beste und kann daher wohl auch die eigenen Ahnungen unbefangener ignorieren.

Jetzt ist Cemal zwar nicht alt, biologisch jedenfalls nicht, aber alt genug, um vieles besser zu wissen und keine Lehren für sein Handeln daraus zu ziehen. Der Schmerz ist derselbe geblieben. Diese große Fremdheit, die doch nichts gegen das war, was noch kam. Neue Sprache, neues alles: schrille Stimmen der Mitarbeiterinnen im Ausländeramt, dem aggressiven Summen der Mücken im Dorf bei Nacht ähnlich, das kriegt man nur mit dem Duft frisch gebackener börek, über Stunden hinweg aufgebrühtem Tee und einer Manço-Kassette wieder aus dem Kopf, aber eben nie aus dem Herzen – wieder der Schlafplatz im dörflichen Haus und seine Unfähigkeit, sich daran zu erinnern, wie die Decke dort aussah, eine Bühnenkulisse, in der es keine Decke gibt –, warum, so fragt er sich, ist dieser Teil seines Selbst nun einfach weg, das kann doch nicht sein, vielleicht heilt er sich damit, dass er die Erinnerungen vermischt und so tut, als hätte er von seinem Bett im Dorf aus damals den Sternenhimmel gesehen, dessen Bewohner er nie zählen durfte – aber an die Steine, den Staub von der karyola aus erinnert er sich noch so überdeutlich, als blickte er aus einer anderen Dimension darauf, von einem undefinierbaren Außen –, Gül schwieg, und er selbst schwieg auch, es gab ohnehin nichts zu sagen und nichts zu ändern, und wichtig ist nur, dass das Kind es irgendwie gut hat, auch wenn man das alles so nicht wollte, und man hat es irgendwie okay gemacht –, und nun ist er hier im Rosavibe seiner Wohnung nach einem weiteren viel zu guten Sonntag mit Georg und legt sich auf den Boden und schließt und öffnet die Augen, doch sie verstellen sich, als er nach oben blickt, und so schließt er sie erneut.

2/

Seine Lider trennen sich einmal und treffen sich einmal. Es ist Montag. Er reibt sich die Augen. Dienstag: Elternabend. Dieser Tag wird niemals enden. Aber dank des unüberwindbaren Konstruktes Zeit taucht trotzdem irgendwann der Mittwoch auf, dann der Donnerstag, der Freitag. Cemal blinzelt und blinzelt, aber er wird den Dienstag nicht los. Um zwei macht er Feierabend und holt sein Herz ab. Dieses Jahr wird sie eingeschult, fällt ihm ein, während er die fünf Stufen zur Eingangstür der Kita hinaufhechtet, oh Gott. Sie sitzt an einem steinerweichend kleinen Tisch auf einer steinerweichend kleinen Bank neben ihrer besten Freundin Zoe. Die beiden arbeiten an einem gemeinschaftlichen Bild, das sich nicht vom Viereck des Blattes beschränken lassen will und sich in energisch gezogenen roten und gelben Strichen auf der Tischplatte ausbreitet. Ekin sieht ihn bereits, als er noch ein paar höfliche Floskeln mit dem Erzieher wechselt. Ein Abschiedswinken für Zoe und eine stürmische Umarmung für Cemal. Jetzt ist er gestorben und im Himmel. Rosavibe.

Den Plüschoktopus mag Ekin zwar immer noch, doch ihr größter Schatz ist ein kleiner Schminkkoffer. Der existiert genau deshalb nur ein Mal und wird von Güls Wohnung zu Cemals Wohnung hin und her getragen. Sein Inhalt ist in ständigem Fluss. Mal verschwindet ein funkelnder Ring, mal kommt ein neues Puderdöschen dazu. Ekin hat einen festen Ablauf in den Verschönerungsmaßnahmen etabliert, die sich häufig gar nicht auf sie selbst, sondern auf Cemal konzentrieren. Erst lackiert sie ihm die Nägel, dann malt sie seine Wangen rot an, und zum Schluss steckt sie ihm kleine Spängchen in den Bart und schüttelt sich vor Lachen. Er kann es nicht beschwören, aber er vermutet stark, dass ihr dieser letzte Schritt der liebste ist.

In ihrem Alter hatte er keine genaue Vorstellung davon, wie sein Vater aussah. Zwar gab es Bilder: das Hochzeitsfoto seiner Eltern im Wohnzimmer und noch ein paar weitere Aufnahmen, die Kadir über die Jahre geschickt hatte. Aber diese Eindrücke waren nicht genug. Wie bei ihrer Hochzeit sahen seine Eltern da schon lange nicht mehr aus. Zum Beispiel hatte Kadir auf dem Foto mit den leicht verschoben wirkenden Farben noch eine Fülle an Haupthaar, die es auch dann schon eindeutig nicht mehr gab, als Cemal gerade laufen lernte. Ersatzweise hatte sein Vater sich einen stattlichen Schnurrbart wachsen lassen, der sein Gesicht so gar nicht mehr mit dem glatt rasierten Anblick des kolorierten Fotos in Einklang bringen ließ. Neben ihm Nurcihan, die Braut: maskenhaft stark geschminkt, ein unüberbrückbarer Gegensatz zu ihrem wirklichen Leben, in dem sie sich niemals künstliche Farbe auf das Gesicht legen ließe. Bis heute versetzt diese puppenhafte Starre Cemal in dasselbe Staunen wie vor über drei Jahrzehnten, wenn er bei Familienbesuchen das Hochzeitsportrait an der Wand im Wohnzimmer sieht. Eine fremde Realität.

Nach zwei kurzen Tagen ist Ekin zurück in ihrem anderen Zuhause und Cemal wieder im Trott. Auf dem Gang kommt ihm Herr Spittel entgegen und fordert zum Gespräch ins Rektoratszimmer auf, »gerne jetzt«. Das Büro vom Spittel ist am Ende des Korridors, man geht in großen Schritten, um schnell anzukommen, da es während des Weges nichts zu sagen gibt. Der Spittel ist zwar durchaus ein Direktor, der mal nach dem Wohlbefinden seiner Mitarbeitenden fragt, aber er tut das sehr selektiv, und Cemal gehört nie zu den Auserkorenen. Trotzdem hat der Chef sich jetzt also dazu entschlossen, ihn nicht nur zu sehen, sondern sogar nach ihm zu suchen und ihn sich zu schnappen.

Cemal war noch nicht oft im Büro vom Spittel. Jedes Mal wenn er den Raum wieder verlässt, weiß er bereits Sekunden später nicht mehr, ob man aus dem Raum sehen kann, dabei müsste es unmöglich sein, bei der dominanten Glasfront des Gebäudes die Existenz von Fenstern infrage zu stellen. Nun setzt er sich auf den ihm zugewiesenen Platz und nimmt den Ort in sich auf. Es ist doch ganz klar: Die Fenster sind rechts neben dem Schreibtisch, erstrecken sich über die ganze Wandbreite, werden an den Seiten nur ein bisschen von schlecht platzierten Ordnerregalen verdeckt. Obwohl die Sonne durch sie scheint und all den Staub im teppich- und stahlmöbellastigen Büro enttarnt, hat der Spittel das Deckenlicht eingeschaltet, das in der Raummitte und somit genau über den beiden Konferenzstühlen vor dem Schreibtisch angebracht ist. Vielleicht ist er, jetzt, wo er Cemal endlich in sein Sichtfeld genommen hat, besessen davon, jede Kleinigkeit an ihm zu erfassen. Trotzdem setzt der Chef nun erst mal seine Brille ab und schweigt für einige Sekunden. Normalerweise, beginnt er schließlich, müsse er sich keine Gedanken über Elternsprechtage machen. Dann ist er wieder still. Cemal schweigt auch, wartet darauf, dass der Rektor fortfährt. Als nichts kommt, runzelt er die Stirn, lehnt sich in seinem Stuhl nach vorne und hofft, dass das auf den Spittel wie eine Ermutigung zum Weitersprechen wirkt. Der Spittel braucht aber keine Ermutigung, er spricht, wann er will und wie er will. Als sein Schweigen gerade qualvoll genug geworden ist, setzt er von neuem an: Ihm seien da einige Dinge zu Ohren gekommen, »Herr Danisman« könne sich sicher schon denken, worum es gehe. Cemal verneint höflich.

»Nein«, wiederholt der Spittel, und es ist beeindruckend: Er schafft es, diese Silbe irgendwo zwischen Frage und Aussage zu betonen, gerade so, dass man sich verspottet fühlt, ohne es zu begreifen, nur im Unbewussten kommt es an. Er steht auf, geht am Schreibtisch und an seinem Mitarbeiter vorbei zum Schrank an der gegenüberliegenden Wand, schenkt sich einen Kaffee aus der Pumpkanne ein und verharrt einen Moment in Cemals Rücken. Das ist gar nicht so schlecht, weil es Cemal Zeit gibt, unbeobachtet mit den Augen zu rollen. Der Spittel hält sich für einen Meister der Psychospiele, dabei hallen seine Schritte noch nicht mal über Stein, sondern werden von vierzig Jahre altem Teppichboden auf ein dumpfes Klopfen reduziert. Er kehrt mit einer Tasse ohne Untersetzer zurück an seinen Platz, stellt sein Getränk auf der Schreibtischunterlage ab und setzt seine Brille auf. Nun wieder besonders scharf sehend, fokussiert er wahllos Punkte in Cemals Gesicht. Er wisse ja, sagt er schließlich, dass man sich gegen die eigenen Befindlichkeiten nicht immer wehren könne, aber an seiner Schule müsse die Professionalität gewahrt werden. Cemal fragt sich, ob dem Spittel klar ist, dass seine Wortwahl und Intonation ihn wie die obligatorische Figur des alten Offiziers in einer Peter-Alexander-Schmonzette klingen lassen – wahrscheinlich schon, vielleicht ist das Büro deshalb ähnlich schlecht ausgeleuchtet wie die »Heimatfilme« aus den Fünfzigern. Seinen Chef hingegen fragt er, was genau damit gemeint sei. Der Rektor antwortet schlicht, dass Cemal doch letzte Woche beim Elternabend »ungehalten« geworden sei, ob er das etwa schon vergessen habe. Er sagt das mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er dabei gewesen, als kenne er Cemal besser, als Cemal sich selbst kennt. Die Fenster sind riesig und verschlossen, lassen also Licht, aber keine Luft rein, und nicht einmal ihre Lichtdurchlässigkeit ist gewollt, sie wird durch die Halogenstrahler an der Decke verspottet. Cemal spürt den Staub, den er in den letzten Minuten in diesem schlecht riechenden, schlecht eingerichteten, schlecht beleuchteten und schlecht belebten Raum eingeatmet hat, auf seinen Stimmbändern. Wörter können jetzt nicht mehr raus, können dem Spittel nicht entgegensetzen, dass die Abmahnung, die in diesem Moment auf der anderen Seite des Schreibtischs ausgesprochen wird, nicht gerechtfertigt ist. Eine Abmahnung weswegen eigentlich? Weil er sein »Temperament zu zügeln« habe, weil »die Eltern finden, dass Sie sich um die einen Kinder mehr kümmern als um die anderen. Solche Bedenken muss man ernst nehmen und darf nicht unverschämt werden«, oder ganz banal, weil er keinen Beamtenstatus hat und Angriffe dann so lächerlich einfach zu langfristigen Schäden führen können? Der Spittel hat das Gespräch in die große Pause gepresst, die entgegen allem, was ihr Name suggeriert, nur fünfzehn Minuten dauert. Cemal muss zurück in den Unterricht. Er schluckt seinen Ärger runter, schluckt und schluckt, es schmeckt trocken und abgestanden, und geht in sein Klassenzimmer.

Jetzt ist er zu spät dran, die Kinder sind nicht mehr zur Aufmerksamkeit zu bewegen, er lässt sie sich in Gruppen zusammenfinden und gibt ihnen Textaufgaben. Öffnet das Fenster, das seinem Pult am nächsten und von den Gruppentischen am weitesten entfernt ist, damit keines der Kinder einen Zug abbekommt. Starrt raus, will so tief wie möglich einatmen, aber auch so unauffällig wie möglich. Als ob die Kids ihn jetzt noch beachten würden. Sie haben zu Beginn der Stunde eine Ahnung von Freiheit gespürt, weil sie unbeaufsichtigt waren, davon rücken sie jetzt nicht mehr ab. Cemals Brustkorb hebt und senkt sich, weil er ihn dazu zwingt, weil er seinen Körper an die Notwendigkeit regelmäßigen Atmens erinnert. Bis vier zählen und dabei Luft holen, bis vier zählen und dabei innehalten, bis vier zählen und dabei ausatmen. Nach zwei Runden ist er so weit, dass er sich den betreffenden Abend wieder vergegenwärtigen kann, ohne das Luftholen sein zu lassen. Derselbe Vater desselben Kindes fing denselben Kleinkrieg wie immer an, beäugte ihn argwöhnisch, während Cemal ein paar Worte zur Begrüßung an die Eltern richtete. Das war Phase eins. In Phase zwei, die ebenfalls wie jedes Mal dieselbe war, ging Herr Sowieso dazu über, Cemal zu unterbrechen und über Generationen hinweg kuratierte Feindseligkeiten zu platzieren – ein Mann, der alle Codes kennt. Wenn man alle Codes kennt, und immer kennen sie sie, ist der Rest ein Leichtes: Herr Sowieso gewinnt den Eindruck, nicht alleine mit seiner Meinung zu sein, dass jemand wie Cemal kein angemessener Lehrer, geschweige denn Klassenlehrer, geschweige denn Deutschlehrer sein könne, und wird zunehmend direkter. Sowieso junior könne »in so einem Umfeld« doch unmöglich was lernen. Sowieso juniors Leistung verschlechtere sich dadurch, dass die meisten Kinder in der Klasse gar nicht richtig Deutsch sprächen und »hier« nichts zu suchen hätten. Aber es sei ja nur logisch – ein »Herr Danisman« würde natürlich die »ausländischen« Kinder besser benoten. »Die halten ja alle zusammen.« Cemal spürt seine Ohren heiß werden vor Zorn, weiß aber, dass er mit Sachlichkeit nicht weiterkommen wird, will sich nicht auf eine Diskussion einlassen, muss dem Wahnsinn aber auch ein Ende setzen, die anderen Eltern im Klassenzimmer wissen schon gar nicht mehr, auf welchen Raumwinkel sie ihre verlegenen, ausweichenden Blicke noch richten sollen, und die Agenda des Elternabends ist voller wichtiger Punkte. Was tut Cemal also? Er fixiert Herrn Sowieso mit seinem Blick, schaut ihm fest in die Augen, kanak style, was Herrn Sowieso für eine Sekunde aus dem Konzept und somit punktuell zum Schweigen bringt. In genau diese kurze Pause hinein sagt Cemal gut hörbar und betont gelassen: »Sind Sie dann jetzt fertig mit Ihren Parolen. Dann können wir ja weitermachen.« Denn was Herr Sowieso nicht weiß (und was ihm wahrscheinlich auch völlig egal wäre): Eines der ersten Dinge, die Cemal in Deutschland gelernt hat, war, dass sich aufregen dürfen ein Luxus ist und sich abregen erst recht. Im Raum sind dreißig erwachsene Menschen, aber in ihrem Schweigen wirken sie alle so kindlich wie ihre Zöglinge, als deren Fürsprechende sie eigentlich hier sind. Cemal räuspert sich in die Stille und geht wieder zur Tagesordnung über, immerhin steht die Fahrradprüfung bevor.

Da er sich die luxuriöse Wut nicht gegönnt, sondern im Gegenteil: sich zusammengerissen hat, ist Cemal nicht davon ausgegangen, dass sich der Abend über seine zeitlichen Grenzen hinaus zu einem Vorfall entwickeln würde. Das ist seine eigene Schuld, er hätte damit rechnen müssen. Hat er aber nicht, Herr Sowieso hat sich beim Rektor beschwert, der Rektor hat ihn und seine Beschwerde mit offenen Armen empfangen, und hier sind wir nun. Egal, hilft ja nichts. Im nächsten Moment steht er in der S-Bahn und starrt nach draußen, im übernächsten sitzt er im Schneidersitz auf dem Boden vor seinem Sofa und schlägt das erste Klassenarbeitsheft auf.

Und wieder: blinzeln, blinzeln. Er ist über den Diktaten weggenickt. Das Telefon hat ihn geweckt, und jetzt bemüht er sich, seine Augen richtig aufzubekommen. Eine Nachricht von Georg, nicht allzu gehaltvoll, ein schlichtes: »Wie war dein Tag?«, doch das reicht schon. Erst lächelt er. Aber schon im nächsten Moment fällt ihm, das Handy so in der Hand, mit Schrecken ein, dass er heute gar nicht mit Ekin gesprochen hat. Ganz toll, Cemal. Resigniert und milde ächzend, steht er vom Teppich auf und geht zum Zähneputzen ins Bad, unvorsichtig auf Filzstiftkappen und die Ecken einiger herumliegender Hefte tretend.

3/

Seit Kurzem träumt Süveyde mit offenen Augen. Wenn sie die Köpfe der Okraschoten abschneidet, und wenn der verrückte Hahn der Nachbarsfamilie ohne Sinn und Verstand vor sich hin kräht und, abends, wenn die Sonne untergeht und alles sich färbt. Immer nur kurz, ein schneller Blick auf das Wasser, und dann kehrt sie auch schon wieder zurück. Blinzelt den Bach weg und vergegenwärtigt sich den vielen Staub, der sie umgibt. Aufgewirbelt von allem, was über den Boden geht: Der Staub löst sich zwischen kleinen Erdklumpen und Steinen und Erdklumpen, die wie Steine aussehen und genauso hart sind und wehtun, wenn man auf sie tritt, manchmal dann aber doch auseinanderfallen. Sie bereiten Süveyde die größten Sorgen, denn sicherlich blitzen sie dem Pferd doch in die Hufe, wenn es den Wagen zieht. Aber es beschwert sich nie. Oder Süveyde nimmt es nicht wahr, denn bisher hat sie sich nicht in seine Nähe getraut, Vaters Ermutigungen zum Trotz und Mutters Warnungen zu Ehren. Das große weißhaarige Tier sieht zwar aus wie eine Wolke, aber vielleicht würde es ihm nicht gefallen, wenn ihre kleine staubbenetzte Menschenhand seine Flanke berührt, ich traue mich, wenn ich größer bin.

Es ist vier Uhr morgens, als Cemal mit diesem Satz im Kopf aufwacht. Ich traue mich, wenn ich größer bin. Ohne das Licht einzuschalten, die Nacht ist erstaunlich hell, holt er sich ein Glas Wasser und legt sich wieder hin. Weil er schlecht darin ist, den Alltag abzuschütteln, träumt er oft komische Sachen, die ihm den Unsinn, den er tagsüber erlebt, nachts in noch mal beachtlich unsinnigeren Bildern und Aktionsketten erneut zeigen. Dass sein Klassenraum in einem Telefonmast versteckt ist, an den er nur herankommt, wenn er einen haushohen Spiegel hochklettert. Dass Georg ihn schon immer als Teil eines Weltenordnung verändernden Plots belügt. So was eben. Aber vom Dorf hat er lange nicht mehr geträumt. Und von seiner Urgroßmutter hat er, solange er sich erinnern kann, überhaupt noch nie geträumt. Jetzt, da es passiert ist, ist ihm unwohl, weil gerade wegen ihr, wegen Süveyde, Träume in seiner Kindheit fast schon wichtiger waren als die Wirklichkeit. Fast jeden Morgen erzählte seine Großmutter Cevhere davon, was sie nachts geträumt hatte. Oder vielmehr von wem. Die Erinnerung daran, im Schlaf anderen Menschen begegnet zu sein, lebenden oder toten, reichte offenbar schon, um ihre Welt zu verrücken. So war auch die Schilderung einer Handlung nicht erforderlich.

»Ich habe dich in meinem Traum gesehen, Habib«, sagte sie oft und blickte ihn mal gütig, mal belustigt, mal irritiert an.

»Letzte Nacht habe ich meine Mutter gesehen«, sagte sie auch häufig. Dann schwieg sie nur mit einem kleinen Lächeln und blickte ins Nirgendwo. Hin und wieder kam es vor, dass sie sich nicht erinnerte. An solchen Tagen setzte sie zerstreut den Teekessel ab und fragte ins Nichts: »Wen habe ich bloß letzte Nacht gesehen?«

Das Träumen war ihr so wichtig, weil ihrer Mutter zu Lebzeiten eine Hellsichtigkeit nachgesagt worden war, die sich eben meist im Schlaf entfaltete. Was Süveyde träumte, passierte. Als Cevhere schwanger war, wusste ihre Mutter es, bevor sie selbst es wusste. Und dass es ein Junge würde, wusste ihre Mutter auch vor allen anderen. Die Erinnerung an dieses Familienmärchen ermüdet Cemal und regt ihn zugleich auf. Wenn Süveyde alles sah, würde er ihr am liebsten in Person vorwerfen, sah sie dann auch all das Verlassen und Verlassenwerden, das noch kommen sollte, angefangen bei ihrem ersten männlichen Nachkommen? Kadir, Sohn von Cevhere, früher Enkel von Süveyde, später Vater von Cemal, mag zu großer Opferbereitschaft fähig gewesen sein, für die Familie ins gurbet, aber ist irgendjemandem klar, so will Cemal fragen, worin dieses Opfer so wirklich bestand?

Kadir war knapp vierzig Jahre alt, als er mit einer gerade erworbenen Packung Milupa unterm Arm die Lohnabrechnung für seine neue Stelle aus dem Briefkasten herausholte, sofort prüfte und verstand: Das wird noch lange nichts mit der Rückkehr ins memleket. Er stiefelte die Treppe zur Dachgeschosswohnung hinauf, in der er schon viel zu lange mit Frau und Kindern wohnte und von der er es nicht erwarten konnte, sie endlich zu verlassen, dem Vermieter den Schlüssel mit flacher Hand auf den Schreibtisch zu knallen und sich nach einem letzten, vernichtenden Blick abzuwenden. Babayiğit style. Er schloss die Tür auf, beorderte die beiden Töchter zum Verräumen der Einkäufe (er hatte nur etwas Gemüse kaufen wollen, aber dann dieses Milupa im Sonderangebot entdeckt und – wer weiß: in väterlicher Vorfreude? – gehamstert) und bat die Frau zum Gespräch nach nebenan.

»Nurcihan, unsere Kraft wird nicht reichen«, sagte er, noch während er die Tür hinter sich schloss.

»Was?«

»Wir können noch nicht zurück, wir können es uns nicht leisten.«

Sie sagte nichts. Sie schaute auch nicht auf. Als er den Raum wieder verlassen wollte, es war ja alles geklärt, sprach sie ihn doch noch an.

»Mach du, was du willst. Aber dieses Kind wird nicht hier geboren.«

Wenn Cemal von diesem Augenblick wüsste, diesem Moment, in dem zwei Menschen aus unterschiedlichen Absichten heraus aneinander vorbeiredeten und damit den Grundstein für seine elternlose Kindheit legten, würde ihm das helfen? Er fühlt sich schon bedient mit dem, was er weiß: Sechs Monate nach diesem Nichtgespräch entbindet Nurcihan im Haus ihrer Schwiegereltern. Sie hat ihre Prophezeiung wahr gemacht und ist mit der jüngeren Tochter Selkan in die Türkei gezogen. Da Nurcihan keine Mutter, keinen Vater und keine Geschwister mehr hat, leben sie bei Kadirs Eltern und Großmutter. In dem winzigen hinteren Zimmer des Steinhauses kommt Cemal zur Welt. Und in diesem Zimmer lebt er, bis er acht Jahre alt ist. Wie ein hartnäckiger kleiner Olivenbaum breitet er seine Wurzeln aus und wächst vor sich hin, unbeirrt von allen Spuren, die frühere Bewohnerinnen des Zimmers auf dessen Boden hinterlassen haben. Erst war da die Urgroßmutter, verstorben wenige Tage vor Cemals Geburt. Als hätte sie rechtzeitig Platz für ihn machen wollen. Anschließend die Mutter, die Schwester, schließlich er selbst. Nach nicht einmal zwei Jahren reiste Nurcihan ab, alleine, zurück nach Deutschland. Seine Schwester berichtet heute noch davon, wie süß er mit seinen tränennassen Apfelbäckchen ausgesehen hatte, wenn er nach der Mutter weinte. Cemal hasst es, wenn sie das tut. Aber so, wie er in der Dachgeschosswohnung in der deutschen Kleinstadt nichts vom leisen Ehekrieg zwischen seinen Eltern mitbekam (weil er ein Embryo mit unausgereiftem Gehör war), bekam er auch nicht mit (weil er ein Eineinhalbjähriger mit einem massiven Lebensproblem war), dass Selkan stets mit ihm weinte und die Mutter nicht weniger schmerzlich vermisste.

Nurcihan war also zurück in der Dachgeschosswohnung, zurück bei Kadir und zurück bei der älteren Tochter. Büşra hatte bei Nurcihans Rückkehr gerade ihre Ausbildung begonnen, sechzehnjährig, zielstrebig, und füllte ihre Tage mit dem Übersetzen von Amtsbriefen für den Vater, dem Üben des Zehnfingersystems auf der Schreibmaschine und dem heimlichen Schwärmen für ihren Mitschüler Lars aus dem Berufskolleg. »Büşra, die schönste Bürokauffrau – was machst du bloß mit mir«, rief er ihr immer nach, wenn sie an ihm vorbeiging. Und sie verdrehte die Augen und biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lächeln. Vor einigen Jahren, während der Sommerferien in der Türkei, hatte büyük nene Süveyde sie einmal im Hof zu sich gerufen, mit der Hand über Büşras Haar gestrichen und gesagt, ein hübscher Mann mit hellen Augen sei ihr Schicksal. Und Lars hatte blauere Augen als jedes nazar boncuk.

Cemal ist von Büşras jugendlichen Lebenswelten genauso ahnungslos wie von Selkans mit ihm geteilter kindlicher Sehnsucht nach der Mutter, genauso ahnungslos wie von den unerfüllten Versprechungen zwischen seinen Eltern. Jetzt gerade versucht er, mit einem weiteren Schluck Wasser die Erinnerung an das Dorf und das Nicht-er-Sein und den Bach und das Pferd und alles Mögliche fortzuspülen. Lässt den Kopf zurück aufs Kissen sinken und wartet, wartet auf das gedankliche und gefühlte Nichts einer Tiefschlafphase.

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