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Schießpulver und Geometrie

Als Buch hier erhältlich:

Die unglaubliche Geschichte von Charles Hutton – vom Grubenjungen zum begnadeten Wissenschaftler

England, 1755: Als Sohn eines Schichtmeisters wächst Charles Hutton in den Bergwerken Newcastles auf. Die industrielle Revolution ist in vollem Gange und Kinderarbeit an der Tagesordnung. Mit acht Jahren beginnt auch Charles, in den Kohlegruben zu arbeiten, doch ein Unfall rettet ihn. Eine Zeit lang darf er deswegen die Schule besuchen, erkennt seine Begabung für Mathematik und fängt Feuer.

Er verschlingt die Werke Newtons, besucht weiterführende Abendkurse, verfasst schon bald eigene Lehrbücher und publiziert mathematische Rätsel in den damals beliebten Unterhaltungsmagazinen The Gentleman’s Diary und The Ladies’ Diary.

Nebenbei arbeitet er als Landvermesser, erfindet die Höhenlinien und bekommt eine Stelle an der Königlichen Militärakademie, für die er Newcastle hinter sich und seiner Liebe zum Schießpulver freien Lauf lässt …

Eine Bildungsgeschichte, die ihresgleichen sucht.

»Die Mathematik bildet die Grundlagen unserer Gesellschaft. Dieses wundervolle Buch beleuchtet endlich, warum dem so ist.«
New Scientist

»Benjamin Wardhaugh erzählt die fast unglaubliche Geschichte eines Kohlejungen, der zum größten Mathematiker seiner Zeit und zu einer nationalen Berühmtheit wurde. Mit Stil und Esprit erweckt er sowohl das georgianische Zeitalter als auch die Ära der Kohleindustrie zum Leben.«
Matt Ridley


  • Erscheinungstag: 16.02.2021
  • Seitenanzahl: 356
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673976

Leseprobe

In Erinnerung an Jackie Stedall

1
AUS DER GRUBE

August 1755. Newcastle upon Tyne. Auf den Feldern bringen Männer und Frauen die Ernte ein. Ob bei Sonne oder Regen. Dahinjagende Wolken und aufreibende Plackerei.

Neunzig Meter unter Tage schwingt der junge Charles Hutton bei Kerzenlicht eine zwei Kilo schwere Hacke. Es ist eng und staubig. Charles ist achtzehn Jahre alt und arbeitet seit einem Jahrzehnt mit Unterbrechungen immer wieder in der Kohlengrube. Es sieht aus, als würde er das bis an sein Lebensende machen. Keine ungewöhnliche Geschichte, obwohl er ein cleverer junger Mann ist – er hat eine Begabung für Mathematik und Sprachen –, und eine Zeit lang hoffte er auf ein anderes Leben.

Viele hatten solche Hoffnungen. Doch erstaunlicherweise sollte Charles Hutton tatsächlich das Leben führen, von dem er geträumt hatte. Zwanzig Jahre später konnte man ihn im Slaughter’s in London antreffen, wo er mit dem Präsidenten der Royal Society Austern speiste. Als er 1823 starb, war er Mitglied von wissenschaftlichen Akademien in vier Ländern, und der Lordkanzler schätzte sich glücklich, mit ihm bekannt gewesen zu sein. Harte Arbeit, Talent und ein Gutteil Glück holten Charles Hutton aus dem Bergwerk und ließen ihn zu einer international berühmten Persönlichkeit werden, bescherten ihm Bewunderung, Wohlstand und Zufriedenheit. Der Grubenjunge, der sich zum Professor hochgearbeitet hat, sollte einer der angesehensten britischen Wissenschaftler seiner Zeit werden.

Dies ist seine unglaubliche Geschichte.

*

Die Lage von Newcastle ist ausgezeichnet: ein langer Südhang, der sich zum Fluss hinunter erstreckt. Durch die Stadt hindurch führt die Great North Road, und es sind keine hundertfünfzig Kilometer nach Norden bis Edinburgh und knapp vierhundert Kilometer in südlicher Richtung bis London. Der Fluss verbindet die Stadt an seinem Nordufer mit dem Rest der Welt. Wie es in dem alten Lied heißt:

Fließt der Tyne nun wild oder sanft daher,

bringt Brot für mich und die meinen er;

von allen Flüssen in Nord und Süd

sind mir die schwarzen Wasser des Tyne besonders lieb. 1

Wenn das schwarze Wasser des Tyne unter der Brücke von Newcastle her fließt, hat der Fluss bereits die Penninen und das wilde Northumbria gesehen: Land, um das die Römer und die Pikten, die Engländer und die Schotten gekämpft haben. War sein Wasser einst rot von ihrem Blut, ist es zu diesem Zeitpunkt schwarz vom Kohlenstaub.

Die Stadt war weitläufig und bevölkerungsreich – nur drei englische Städte waren größer. Dennoch war Newcastle zu Anfang des 18. Jahrhunderts nicht zersiedelt. Es gab nur fünf Hauptstraßen innerhalb der alten Stadtmauern und dahinter nach Osten und Westen offenes Land.

*

Wir wissen nahezu nichts über Charles Huttons Eltern, Eleanor und Henry. 2 Wahrscheinlich waren sie von außerhalb in das wohlhabende, wachsende Newcastle gezogen; möglicherweise aus Westmorland auf der anderen Seite der Penninen.

Eleanor und Henry scheinen in Newcastle finanziell nur mäßig erfolgreich gewesen zu sein, doch sie gehörten keineswegs zu den armen Leuten. Henry war »Schichtmeister« in den Bergwerken, ein weniger prestigeträchtiger Beruf als der eines Verwalters, aber bessergestellt als ein reiner Arbeiter. 3 Schichtmeister konnten lesen, schreiben und rechnen; sie führten die Bücher der Bergwerke und verglichen ihre Aufzeichnungen mit denen ihrer Kollegen in den benachbarten Minen. Sie prüften und kalkulierten die Produktionsraten, hielten ein Auge darauf, wie schnell sich die Grube mit Wasser füllte und wie gut die Pumpen arbeiteten. Sie teilten die Arbeit ein, planten und inspizierten. Manche hielten Nachtwache, um Kohlendiebe auf frischer Tat zu ertappen.

Von den Schichtmeistern wurde erwartet, dass sie täglich in die Grube fuhren, aber auch, dass sie jeden Tag mit dem Verwalter sprachen. Sie bewegten sich in zwei Welten: Die eine war die der reichen Bergwerksbesitzer, die andere die der Männer, die das schwarze Gold aus dem Felsen unter ihren Füßen schlugen. Sie trugen Verantwortung und hatten Macht – manche missbrauchten diese, indem sie die Besitzer im Unklaren über die Vorgänge in den Zechen ließen. Viele nutzten ihre Stellung, um hohe Gehälter zu fordern, denn die Kohlewirtschaft expandierte und benötigte für die Erschließung neuer Schächte und Minen erfahrene Schichtmeister. Besonders erfolgreiche Schichtmeister hatten sogar eigene Assistenten und Lehrlinge. Sie waren kleine Götter in ihrem Bereich. 4

In einer Quelle heißt es, Henry Hutton habe als Landverwalter für Lord Ravenscroft 5 gearbeitet, was eine höhere Position bedeutet hätte. Wir wissen nicht, ob das stimmt. Möglicherweise beaufsichtigte Henry Hutton tatsächlich nur eine oder mehrere Minen, die sich auf den Ländereien dieses Adeligen in Northumberland befanden. In jedem Fall war er ein Mann, der weit mehr als nur das Nötigste besaß.

Im Jahr 1737 lebten Eleanor und Henry mit ihren Kindern – drei oder vier Jungen, vielleicht sogar mehr – in einem strohgedeckten Cottage am nördlichen Stadtrand von Newcastle. Im 19. Jahrhundert urteilten Historiker abschätzig über diese – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – »niedere« Wohnform 6 , doch verglichen mit den Hütten der Bergleute 7 war das Cottage luxuriös. Ein Strohdach war definitiv ein Zeichen bescheidenen Wohlstands, ebenso wie die Tatsache, dass die Familie mehr als nur einen Steinwurf vom Eingang des Bergwerks entfernt leben konnte.

Wie Henry Hutton an der Schnittstelle zwischen Landbesitzer und Arbeitern arbeitete (man könnte auch sagen, er war die Schnittstelle), so stand das Haus seiner Familie in mehrfachem Sinn zwischen den Welten. Sidegate, ihre Straße, war eine der ersten, die über die noch vorhandenen mittelalterlichen Stadtmauern hinausführte. Einerseits war man dort umgeben von weitem Land, andererseits gelangte man durch einen Spaziergang den Hügel hinunter direkt in das Gewimmel Newcastles. Richtung Norden führte die Straße über das Great Northern Coalfield, Englands Wohlstandsmotor.

Huttons »niederes« Geburtshaus – verglichen mit den Hütten der Bergleute war das strohgedeckte Cottage jedoch luxuriös.

Charles, Henrys jüngster Sohn, kam am 14. August 1737 zur Welt. Zwei Wochen später machten sich seine Eltern auf den Weg hügelabwärts zur Pfarrkirche St Andrew’s, die direkt hinter der Stadtmauer lag – ein gedrungener Turm, das Innere im anglo-normannischen Stil, ein neues Paar heller Glocken –, und ließen ihn taufen.

Die ersten paar Jahre war alles, wie es sein sollte. Charles spielte mit anderen Kindern auf der Straße, manchmal kam es zu Raufereien. Die Damen mochten den kleinen Charles, sie fanden ihn ungewöhnlich brav und wohlerzogen. 8

Die Huttons schickten einige, vielleicht sogar all ihre Kinder zur Schule. Der Weg von ihrem Cottage nach St Andrew’s führte an dem Gallowgate vorbei (dem Galgentor, doch zu Huttons Zeit wurde höchstens alle paar Jahre noch ein Delinquent gehenkt 9 ). An der Ecke von Gallowgate stand ein Haus, das in die Straße hineinragte, und in dem eine alte Schottin eine Einrichtung unterhielt, die man damals optimistisch als Schule bezeichnete. 10 Der »Unterricht« bestand darin, dass sie den Kindern anhand der Bibel Lesen beibrachte. Oder es zumindest versuchte. Charles Hutton ist sie nicht als fähige Lehrerin in Erinnerung geblieben: Wenn sie ein Wort selbst nicht verstand, sagte sie den Kindern, sie sollten es überspringen, denn es wäre »Latein«. Lesen lernte er trotzdem.

*

Im Sommer des Jahres, in dem Charles sechs wurde, starb sein Vater. Schon bald darauf verheiratete sich seine Mutter wieder. Ihr blieb wohl keine echte Wahl, schließlich hatte sie mehrere Kinder durchzufüttern, von denen das jüngste gerade einmal fünf Jahre alt war. Der neue Vater hieß Francis Frame und hatte eine etwas niedrigere Position als Henry Hutton. Als »Steiger« in einem der Bergwerke war er ein Arbeiter, der darüber hinaus jedoch auch für die Aufsicht seiner Kollegen zuständig war. 11 Ein Steiger musste nicht unbedingt lesen, schreiben und rechnen können, da ein System aus Markierungen und Kerbhölzern es ermöglichte, auch ohne diese Fähigkeiten zurechtzukommen. Er verdiente nur halb so viel wie ein Schichtmeister und arbeitete hauptsächlich unter Tage. Außerdem musste er in der Nähe der Grube wohnen, denn die Schichten fingen oft frühmorgens an, manchmal schon um Mitternacht. Um nicht erst zwei, drei Kilometer im Dunkeln zur Arbeit zu laufen, verließ die Familie das Haus in Newcastle und bezog ein neues Heim weiter nördlich, direkt auf dem Kohlefeld. So wurde für Charles Hutton die Kohle von etwas, das bisher im Hintergrund existiert hatte, etwas, mit dem der Vater gearbeitet hatte, zu einer unmittelbaren Realität.

Hunderttausende Tonnen davon wurden jedes Jahr flussabwärts verschifft, und der Markt wuchs und wuchs. 12 Die Industrielle Revolution und die Erfindung der Dampfmaschine ließen im Laufe des 18. Jahrhunderts Großbritanniens Bedarf an Kohle in die Höhe schnellen. Das Geschäft mit der Kohle fand nun nicht mehr nur im unmittelbaren Umkreis des Flusses statt, sondern weitete sich nach Norden und Süden aus; neue Bergwerke wurden erschlossen und neue Bahnstrecken gebaut, um sie anzufahren. Landbesitzer investierten hohe Summen für das Auffinden lohnender Flöze, aber sie sagten sich auch – und waren selbst davon überzeugt –, dass sie der Gesellschaft einen Dienst erwiesen: Indem sie für einen Nachschub an Kohle sorgten, sorgten sie gleichzeitig für Beschäftigung.

Die sogenannte Grand Alliance, der Verband der Kohlebergwerkbesitzer, ließ neue Zechen in North Tyneside erschließen, wo Kohleschätze für Hunderte von Jahren verborgen lagen. 13 Nun waren die dortigen Dörfer – Jesmond, Heaton, Long Benton – die Welt der Familie Hutton. Das hier war ein echtes Kohlerevier. Die Landschaft des Great Northern Coalfield war von Gruben und Bergarbeiterdörfern geprägt. Die Hügel, die Felder, der Fluss und die dahinjagenden Wolken waren kaum mehr als ein malerischer Hintergrund dafür. Überall gab es Bäche, die steile Täler erzeugten und vorgaben, wo man bauen, wo man gehen – und wo man graben konnte. Das Wasser floss in die Gruben, und eine Mine in North Tyneside konnte mitunter zwölfmal so viel Wasser wie Kohle führen. Pferde trotteten im Kreis um einen Göpel, wickelten auf diese Weise die Seile auf, an denen die Eimer befestigt waren, mit denen das Wasser abgeschöpft und hinaufgebracht wurde, und wickelten die ab, an denen sich die Männer in die Schächte hinabließen.

Die Mitglieder der Grand Alliance waren technikaffin und setzten an den Eingängen zu den Bergwerken neue, von Thomas Newcomen entwickelte Maschinen – Vorläufer der Dampfmaschine – ein, die diese Arbeit zum Teil verrichteten. 14 Die Maschinen waren günstiger im Unterhalt als Pferde, aber sie waren laut und verstärkten den allgemeinen Lärm und verdickten die ohnehin staubgeschwängerte Luft. Man kann sich das heute, da die Gruben geschlossen sind und auf den ehemaligen Zechengeländen schicke neue Häuser stehen, kaum noch vorstellen. An einem klaren Tag ist es möglich, von Long Benton, wo die Huttons arbeiteten, bis zu den Kirchturmspitzen in Newcastle und über das dahinter liegende hügelige Land auf der Südseite des Flusses zu blicken. Dort gibt es nach wie vor offene Felder, die heute als Sport- und Spielfelder genutzt werden, und die lange ehemalige Bahnstrecke hinunter zum Fluss ist ein friedlicher Fußweg, gesäumt von Hecken, in denen die Vögel singen.

Im Jahr 1740 sah es dort ganz anders aus. Die Förderwagen liefen auf hölzernen Schienen, und vom Bergwerk in Long Benton und seinen Nachbarn kamen endlose Prozessionen von Pferdewagen, mit denen die Kohle hinunter zu den Anlegeplätzen am Flussufer gebracht wurde. Die Kirchtürme von Newcastle mögen trotz der Wolken von Kohlenstaub und Rauch sichtbar gewesen sein, aber sie gehörten zu einer fernen, unerreichbaren Welt.

Vermutlich lebten die Huttons in einer der Unterkünfte, die fast alle Bergwerke für die Bergleute bereitstellten. 15 Diese Hütten existieren schon lange nicht mehr, doch damals standen sie dicht an dicht und so nah am Grubeneingang aufgereiht wie möglich. Sie waren trostlos und gleichförmig, üblicherweise mit zwei Zimmern und einer Dachkammer. Sehr wenige hatten einen Garten, in dem Gemüse angebaut und Hühner oder sogar ein Schwein oder eine Kuh gehalten werden konnten. Auf dem Great Northern Coalfield war es Tradition, etwas später zumindest, preisverdächtig großen Lauch zu ziehen.

Die Bergwerksdörfer lagen räumlich und sozial abgeschieden: eine eigene Umgebung, bestimmt von der Arbeit, die hier verrichtet wurde. Die Bergleute bildeten eine enge Gemeinschaft, in der Hochzeiten und Taufen (und jede andere Gelegenheit) ausgelassen gefeiert wurden, mit dröhnenden Dudelsäcken und dröhnenden Männerstimmen, übermütig, vulgär, unverstellt. 16

Besuchern aus der Mittelschicht erschienen die Bergleute und ihre Familien in der Regel barbarisch und unzivilisiert. 17 Das bedeutet wohl nichts anderes, als dass es in ihren Kneipen laut herging, ihre Häuser nicht makellos waren und es um ihre Kenntnis der Heiligen Schrift nicht gerade zum Besten bestellt war. Ihre Welt war vielleicht rau und einfach, aber keineswegs verwahrlost.

Stolz pflegten die Bergleute ihr Erscheinungsbild. Wie Seeleute konnte man sie sofort anhand ihrer Kleidung erkennen: karierte Hemden, Jacken und Hosen, eine rote Halsbinde und graue Strickstrümpfe. Lange Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Und natürlich der Schatten des Kohlenstaubs, der sich kaum herauswaschen ließ. Er bildete Ringe um die Augen und ließ die Schnitte und Schürfwunden, die man sich bei der Arbeit unter Tage zuzog, zu charakteristischen blauen Narben zuwachsen.

*

Charles Hutton hatte seinen Stiefvater Francis Frame als freundlichen Mann in Erinnerung. Aber er war nicht Lord Ravenscrofts Landverwalter oder etwas Vergleichbares, und es war nicht zu leugnen, dass die Zukunftsaussichten der Familie sich damit verschlechtert hatten. Wahrscheinlich hatte ohnehin nie infrage gestanden, wo die Söhne einmal tätig sein würden, aber falls Hoffnungen bestanden hatten, dass sie es einmal zu Schichtmeistern und Steigern bringen würden, konnten sie nun wohl nicht mehr erwarten, als einfache Hauer zu werden.

Im Alter von sechs, spätestens aber mit acht Jahren war der kleine Charles alt genug, um zu arbeiten. In einem Bericht heißt es, er habe eine Zeit lang eine Wettertür in der Grube betätigt. 18 Das war die typische Einstiegstätigkeit für den Sohn eines Bergarbeiters, eine, die von den Jüngsten ausgeübt wurde. Verschiedene Abschnitte in den Gruben waren durch Wettertüren voneinander getrennt. Normalerweise waren diese geschlossen, damit die Luft nur in bestimmten Bereichen zirkulierte, um das Risiko von Gasansammlungen zu reduzieren, die zu einer Explosion führen konnten. An jeder Wettertür saß ein Junge, der an einem Seil ziehen musste, um sie zu öffnen, und sie wieder schloss, wenn Männer oder Kohle hindurchgekommen waren. Das war eine langweilige, aber äußerst wichtige Aufgabe: Wenn ein Wettertürjunge einschlief und die schlechte, gashaltige Luft die Kerzen erreichte, konnte eine Explosion die gesamte Mine zerreißen. Einsamkeit, Stille und Dunkelheit waren schlimmer als in jedem Gefängnis. Man lernte, sich im Dunkeln nicht zu fürchten.

Man lernte auch sonst einiges. Wer in der Grube anfing, begann keine Ausbildung im gewöhnlichen Sinne, sondern tauchte in eine eigene Kultur ein. Die ausschließlich männliche Gesellschaft hatte ihre eigenen Sitten und Gebräuche: Uralte Scherze wurden ebenso weitergegeben wie die Idee eines Draufgängertums angesichts der Gefahr, die sie ständig umgab. Viele Männer starben in den Gruben: durch Explosionen, weil eine Kerze die gashaltige Luft entzündet hatte (es gab noch keine Sicherheitslampen), einstürzende Schächte oder weil sie erstickten. Schlagwetter und matte Wetter nannten die Bergleute die schlechten Arten von Luft, die besonders in den Bergwerken des Nordens verbreitet waren. 19 Ab 1750 forderten die Bergwerksbesitzer die Zeitungen auf, keine Berichte mehr über Explosionen in den Gruben zu veröffentlichen, weil sie schädlich für die Moral und für das Geschäft waren. 20

Durch Erfahrung bekam man ein Gefühl für die Minen und den Geruch der verschiedenen Lüfte, ob sie gut und schlecht waren. Und man erwarb das instinktive Wissen eines Bergarbeiters um Gefahr. Man lernte auch, wie man sich an das Seil zu klammern hatte, mit dem man in den Schacht hinuntergelassen und aus ihm herausgezogen wurde, denn Metallkörbe, in denen man hinunterfuhr, gab es noch nicht. Man hielt sich einfach am Seil fest, ein Bein in einer Schlinge. 21 Wurden die Hände müde, stürzte man in den Tod – ein Schacht konnte über dreißig Meter tief sein. Erschreckten sich die Pferde, die das Seil zogen, und gingen durch, war man ebenfalls verloren. Genau das geschah Francis Frame bei einem Unfall in der Long-Benton-Mine, nachdem Charles schon nicht mehr dort arbeitete. 22 Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall zu sterben, lag für einen Grubenarbeiter wohl bei fünfzig Prozent. 23

Zu dem Zeitpunkt, als die Ausbeutung von Kindern in den Bergwerken Gegenstand offizieller Untersuchungen wurde – in den 1840er-Jahren –, hatte sie das Ausmaß einer nationalen Schande erreicht. 24 Die Jungen arbeiteten in Schichten von zwölf bis achtzehn Stunden, die um Mitternacht begannen. Sie sahen die Sonne nur an einem Tag in der Woche. Sie erkrankten an Rachitis, Bronchitis und Emphysemen, und ihr Wachstum war gestört. Sie fielen einfach um vor Erschöpfung.

Es gibt keinen Grund davon auszugehen, dass die Bedingungen ein Jahrhundert zuvor besser waren, aber Charles Hutton kam um die schlimmsten Erfahrungen herum. In einigen Dörfern gab es Schulen und auch in einigen Zechenkolonien, wobei die Verhältnisse von Bergwerk zu Bergwerk verschieden waren 25 In dem einen herrschte fast durchgängiger Analphabetismus, im nächsten wurde den Bergleuten Schulunterricht für ihre Kinder vertraglich zugesichert. Hutton besuchte solche Schulen. Er war aufgeweckt, und die Nachbarn meinten, der Bursche könne es weit bringen, und drängten seine Eltern, ihm weiterhin den Schulbesuch zu erlauben. Und das taten sie: Charles war der Hoffnungsträger der Familie, während seine Brüder weiter in die Grube fahren mussten.

Das dürfte daheim und im Dorf sicher für Zündstoff gesorgt haben. Das Fehlen der wenigen Pennys am Tag, die er mit der Arbeit als Klappenjunge verdient hätte, mag kein echtes Opfer für die Familie gewesen sein. Aber die Tatsache, dass die anderen auf ein Leben in den Kohleminen vorbereitet wurden und er nicht, machte sicher einen großen Unterschied – und wohl kaum einen erfreulichen.

Ungefähr zu dieser Zeit zog sich Charles eine Armverletzung zu. 26 In der Geschichte, die er Jahre später darüber erzählte, war die Ursache dafür wahlweise ein Unfall oder eine der üblichen Raufereien mit anderen Kindern auf der Straße. Als er es seinen Eltern endlich gestand, war es zu spät, und der Knochen konnte nicht mehr richtig zusammenwachsen, wodurch Charles sein Leben lang Probleme mit dem rechten Ellbogen hatte. Ein weiterer Grund, zumindest vorerst statt seiner Hände seinen Geist zu schulen.

Charles besuchte die Schule in dem Dorf Delaval, gleich hinter dem Hügel. Dort brachte ihm ein Lehrer namens Robson das Schreiben bei. 27 Es ist gut möglich, dass er aus einer neuen, in Newcastle erschienenen Grammatik lernte: Mit Anne Fishers New Grammar sollten die Schüler Rechtschreibung, Syntax, Aussprache und sogar Etymologie anhand einer Reihe sorgfältig aufeinander aufbauender Übungen lernen. 28 Im Gegensatz zu anderen Grammatiklehren verfolgte sie einen pragmatischen Ansatz, und in ihrem Programm war Zeit für Diktate aus Zeitungen (sie bevorzugte den Londoner Spectator) sowie Fehlersuchspiele eingeplant. Wie jeder Lehrbuchautor köderte sie die Schüler mit ehrgeizigen Versprechen: Wer das Buch durchgearbeitet habe, sei in der Lage, druckreif zu schreiben, höfliche und zweckmäßige Konversation betreiben und einen angemessen formulierten Brief an jegliche Standesperson schreiben zu können. London und die damit verbundenen kosmopolitischen Werte bildeten den Hintergrund ihres Denkens. Auf der anderen Seite war sie fest im Norden verankert, und ihre Auffassung von einer korrekten Aussprache stammte eindeutig von dort. Die folgenden Wörter zum Beispiel sollten so ausgesprochen werden, als wäre das O ein A, sagte sie: Compasses, Conjure, London.

Der junge Hutton hatte nicht nur das Glück, die Schule besuchen zu dürfen, er bekam auch Geld für Bücher mit Erzählungen und Gedichten und – vielleicht noch wertvoller – Zeit, sie auch zu lesen. Er mochte besonders die »Border Ballads«, die traditionellen Lieder von North Tyneside und der schottischen Grenzregion: True Tom und sein Besuch im Elfenland, Tam Lin und seine Rettung vor den Feen. 29 Mit einer seiner lebenslangen Angewohnheiten begann Hutton bereits in früher Jugend: dem Sammeln von Büchern.

*

Der Alltag jener Jahre wurde mehr als einmal durch Ereignisse unterbrochen, die sich woanders als im Nordosten Englands abspielten. Im September 1745, als Hutton acht Jahre alt war, führte der Marsch des Thronprätendenten Charles Stuart (bekannt als Bonnie Prince Charlie) und seiner Armee nach Süden zu einer Panik in Newcastle. 30 Einige Bürger unterzeichneten schnell eine Loyalitätsbekundung zu König Georg II. Andere mauerten die Stadttore zu und brachten Kanonen in Position, um den Ansturm der Jakobiten abzuwehren. Manche flohen aus den umliegenden Dörfern in die zweifelhafte Sicherheit der Stadt. Wieder andere flohen mit allem, was sie tragen konnten, noch weiter in den Süden.

Was Newcastle anging, entwickelten sich die Ereignisse eher als Farce denn als Tragödie. Charles Stuart und seine Armee kamen nicht einmal in die Nähe der Stadt, sie nahmen eine westliche statt der östlichen Route durch England. Die zugemauerten Tore wurden wieder freigeräumt, die Kanonen abgebaut, die Soldaten des Königs marschierten weiter. Die Menschen kehrten in ihre Häuser und zu ihrer Arbeit zurück, manche von ihnen sicher mit einem Gefühl der Scham.

Ein Augenzeuge des Vorfalls von 1745 war ein Besucher, dessen Anwesenheit noch weitreichende Folgen haben würde – sowohl für Newcastle als auch für Charles Hutton. John Wesley kam 1742 zum ersten Mal in die Stadt. Er war einer der erwähnten Beobachter aus der Mittelschicht und schockiert angesichts der Trunkenheit, des Fluchens und der Nichteinhaltung des Sabbats, die er dort vorfand. Die Gegend sei mehr als reif für seine Mission, war er überzeugt.

Wesley predigte auf den Feldern und in den Kirchen, darunter Huttons alte Pfarrkirche St Andrew’s (wo ihm die Gemeinde bemerkenswert gesittet erschien), und in einigen der Bergarbeiterdörfer. 31 Mit der Zeit wurde Newcastle sein Hauptquartier in Nordengland, der dritte Punkt eines Dreiecks, dessen Basis London und Bristol im Süden bildeten, und er sollte über die Jahre immer wieder dorthin zurückkehren.

Wesley, der Begründer des Methodismus war ein kleiner adretter Mann mit Talar und Beffchen. Er war Tutor in Oxford gewesen und verstand sich auf ruhige, vernünftige Diskussionen. Aber er hatte auch in Nordamerika gepredigt und wusste, wie man die Herzen der Zuhörer erreichte: mit einer explosiven Mischung aus einfacher Sprache und maßvoller Rhetorik.

Die Reaktionen waren spektakulär: Menschen heulten auf, weil sie die Stiche ihrer Sünden spürten, oder fielen aus Furcht vor dem Zorn Gottes zu Boden. Die dramatischen persönlichen Veränderungen waren von Dauer, zumindest bei einigen, auch nachdem Wesley weitergereist war. Der junge Charles Hutton war zutiefst beeindruckt und fing an, sich selbst als Methodisten zu betrachten und zu bezeichnen.

Es ging nicht darum, die Church of England, die anglikanische Staatskirche, zu verlassen – das kam für Wesleys Anhänger erst sehr viel später. Vielmehr wollte man sich selbst und seine oder ihre Beziehung zu Gott neu definieren, einen neuen Sinn dafür bekommen, wie das Leben und das Individuum sein konnten. 32 Das war zugleich primitives und experimentelles Christentum, mit Glaubenssätzen, die auf der Heiligen Schrift basierten, aber persönlich erlebt und emotional beglaubigt waren, sich in den privaten Angewohnheiten widerspiegelten und in das eigene innere und äußere Sein integriert waren.

Einige Anekdoten über den jungen Charles haben mit seiner Frömmigkeit zu tun. 33 Er warf seine Bücher mit weltlichen Geschichten weg. Er baute im Wald eine Hütte, in der er auf dem Schulweg beten konnte. Er las fromme Traktate. Mit der Zeit ließ sein Eifer ein wenig nach, aber er blieb Methodist – später mit einer Neigung zum Unitarismus – bis über sein dreißigstes Lebensjahr hinaus.

Einige der praktischen Eigenarten, die sich Hutton bis zuletzt bewahrte, erwarb er damals. Sie bildeten die Basis für einen Großteil seines erfolgreichen Erwachsenenlebens. »Sei niemals ohne Beschäftigung«, schrieb Wesley, »aber beschäftige dich nie mit Banalitäten.« 34 Hutton genoss bis ins hohe Alter den Ruf, seine Gedanken und seine Zeit gut organisieren zu können. Als hart arbeitender, disziplinierter, heiterer und zugleich ernster Mann hätte er ein Vorbild für Abhandlungen wie Wesleys Charakter eines Methodisten abgegeben. Aber die vielleicht wichtigste Lektion, die Hutton von Wesley lernte, war, dass man sich selbst neu erfinden, die eigene geistige Welt und den Charakter formen konnte. Man konnte sein Schicksal nach seinem Willen beeinflussen, sowohl in der nächsten Welt als auch – mit etwas Glück – in dieser.

*

In seiner frühen Jugend lebte Hutton mit seiner Familie in dem Dorf Heaton und besuchte keinen Kilometer entfernt die Schule in Jesmond. Sein Lehrer Jonathan Ivison war ein Anwärter auf ein geistliches Amt: ein Universitätsabsolvent, der auf seine erste Pfründe wartete. 35

Wie Wesley war auch Ivison für Hutton ein Bindeglied zu einem noch unbekannten Universum. Er war kein spektakuläres Beispiel für weltlichen Erfolg, aber er repräsentierte eine völlig andere Art zu leben, erreichbar durch Bildung. Und sein Unterricht stellte einen direkten Zugang zu Teilen dieser Bildung dar. Ivison brachte Hutton etwas Latein und Mathematik bei – und wie sich zeigte, war sein Schüler für beides begabt. Ganz neue Welten waren so zu entdecken, und mit klassischer Literatur oder schwindelerregenden abstrakten Gedankengebilden in Algebra oder Geometrie konnte man sich sein Leben lang beschäftigen. Huttons Talent fürs Rechnen blieb nicht unbemerkt und war für seine Familie wahrscheinlich der Beweis, dass es nach wie vor eine vernünftige Entscheidung war, ihn die Schule besuchen zu lassen. Zudem lernte er angewandte Geometrie und Landvermessung: Anregungen für den Geist, aber auch Fähigkeiten, die eines Tages im Bergbau nützlich werden konnten.

Sein anhaltender schulischer Erfolg machte Hutton in jeder Klasse zu einem Liebling seiner Lehrer. Offenbar war sein Verhältnis zu Ivison ziemlich vertraut. Hutton war ehrgeizig und strebte in allen Fächern Spitzenleistungen an, wofür ihn die anderen Schüler beneideten. 36

Aber die Uhr tickte. Hutton konnte nicht für alle Zeiten der Hoffnungsträger der Familie bleiben. Falls sich nicht eine unerwartete Gelegenheit ergab, konnten seine Familie und sein Umfeld ihm höchstens eine Laufbahn in den Kohlebergwerken ermöglichen; vielleicht konnte er sich zum Steiger oder mit viel Glück zum Schichtmeister hocharbeiten. Mit vierzehn endete für die Knaben seiner sozialen Schicht die Schulbildung. Dann begannen sie zu arbeiten oder begannen eine Lehre. In Huttons Fall war nicht ganz klar, was nun folgen würde.

Tatsächlich ist es uns nach wie vor unklar. Jonathan Ivison erhielt im Herbst des Jahres 1751, da war Hutton vierzehn, seine Pfarrstelle und trat nach einer eilig durchgeführten Weihe einige Tage später sein Amt als Vikar in Whitburn an. Whitburn, gelegen an der Küste im County Durham, war über vierzehn Kilometer von der Schule in Jesmond entfernt – neunzehn, wenn man die Straße nahm –, es war also kaum möglich, zwischen den beiden Orten zu pendeln. Schulen waren damals provisorische Einrichtungen, und es gab keinen Grund, warum ausgerechnet diese weiterbestehen sollte, wenn ihr einziger Lehrer nicht mehr da war.

Ivisons Gehalt betrug jedoch nur fünfundzwanzig Pfund im Jahr, das reichte kaum zum Leben. Er brauchte dringend mehr Geld. In einem Bericht heißt es, Hutton sei Ivisons Assistent gewesen. 37 Gut möglich, dass er als Ersatz für seinen Lehrer eingesprungen ist, sodass die Schule an den Tagen geöffnet bleiben konnte, an denen dieser seinen Pflichten in der neuen Gemeinde, die eine halbe Tagesreise entfernt lag, nachkam. Es war nicht allzu ungewöhnlich, dass derjenige Schüler, der am weitesten im Stoff war, half, die jüngeren zu unterrichten – und niemand stellte je infrage, dass Hutton der beste Schüler in dieser oder jeder anderen Klasse war, die er je besuchte.

Jedenfalls musste Hutton mehrere Jahre lang nicht wieder in die Grube fahren. In keiner Quelle finden sich Hinweise darauf, dass er irgendwann die Arbeit des »Schleppers« verrichtete, zu der jugendliche Bergleute üblicherweise herangezogen wurden, um die schweren Weidenkörbe voller Kohle vom Kohlenstoß zum Schacht zu ziehen oder zu schieben. 38

Doch Hutton sollte nicht für immer verschont werden. Durch eine Lohnabrechnung der Long-Benton-Mine aus dem September 1755, da war er achtzehn, wissen wir, dass er als Hauer in der »Rose« genannten Zeche arbeitete, und zwar unter seinem Stiefvater Francis Frame, der dort Steiger war. 39

*

Man steckt ein Bein durch die Schlaufe im Seil und hält sich dann etwa eine Minute lang gut fest für die rasende Fahrt über neunzig Meter in die Tiefe. 40 Am Boden des Schachts herrscht außerhalb der Reichweite von ein paar kleinen Kerzen vollkommene Dunkelheit. In alle Richtungen gehen lange düstere Stollen ab. Es ist drückend heiß. Kohlewände, nasser Boden. Fossilien in der Decke erinnern einen an das Gewicht des Felsens, an die unaufhaltsame, erdrückende Kraft über den Köpfen. Ständiger Lärm vom Rauschen des Wassers und dem fernen Stampfen der Maschinen. Förderkörbe voll Kohle werden von Mannschaften erschöpfter Jungen vorbeigeschleppt. Schmutzige, abgekämpfte Männer eilen in der Finsternis hin und her.

So wenig Kleidung wie möglich: kurze Hosen, Halbschuhe, Baumwollkappe (oder noch weniger). Hammer und Zwei-Kilo-Hacke. 41 Am Kohlenstoß knien, sitzen, gebückt stehen. Oder liegen. Die Flöze waren teilweise nur achtzig Zentimeter hoch, und Hutton war ein groß gewachsener junger Mann. Rinnsale von Schweiß fließen durch den Kohlestaub im Gesicht.

Zuerst macht man vertikale Schnitte von oben nach unten, teilt den Kohlenstoß in einzelne Quader ein. Dann werden sie einer nach dem anderen unterschrämt, also freigestochen – eine Arbeit, die Geschick und Kraft verlangt. Als Nächstes werden Spalten ins obere Ende der Stücke gehauen und die Kohle Schicht für Schicht abgetragen. 42 Das konnte ein, zwei Stunden dauern. Danach ging es wieder von vorne los. Und dann wieder, den ganzen Tag lang. Ein Hauer konnte vier Tonnen oder mehr pro Schicht abbauen. Die Schlepper holten die Kohle schnell mit Weidenkörben ab, in denen sie nach oben ans Tageslicht geschickt wurde.

Schweißtreibende Arbeit unter Tage: ein Hauer am Kohlenstoß

Die Arbeit war hart, schmutzig und gefährlich. Aber Hauer gehörten zur Grubenelite. 43 Eigentlich ist es erstaunlich, dass Hutton die Arbeit schon im Alter von achtzehn Jahren verrichten durfte, ohne dass er sich über Jahre mühselig über die Stationen des Schleppers und des Lehrhauers hatte hocharbeiten müssen. Vielleicht hatte Francis Frame seine Position in der Grube eingesetzt, um das zu ermöglichen. Hauer wurden relativ gut bezahlt, in der Regel besser als Arbeiter auf anderen Gebieten wie zum Beispiel in der Landwirtschaft. Und ihre Arbeitszeiten waren moderater als die der Wettertürjungen und der Schlepper: sieben oder acht Stunden am Tag, von frühmorgens an.

Die Sterne funkeln am Firmament

auf dem Weg zur Zeche;

nicht ihr Leuchten ist mir präsent,

sondern die Dunkelheit, mit der ich rechne.

Keine Rast, kein Frieden herrschen dort in den Seelen aller,

nur Hast, Mühsal und Zwist,

und das süße Leben ist

bald nichts als ein Becher bittere Galle. 44

Das schrieb Joseph Skipsey, der »Grubendichter«, in den 1860er-Jahren, aber diese Worte galten vielleicht genauso für Hutton wie für viele, viele andere Männer hundert Jahre zuvor.

Charles Hutton hatte kurz das Leben eines Provinzlehrers kennengelernt und in sich ein aufkeimendes Talent sowohl für Sprachen als auch für Mathematik gespürt. Er hatte mehr als einmal einen Blick auf eine Welt, die größer war als die der Bergwerke, erhascht, und zwar in den Personen von John Wesley und Jonathan Ivison, die beide studiert hatten und auf verschiedene Weise für das standen, was das Leben sonst noch zu bieten hatte.

In einem in Newcastle gedruckten Pamphlet für Kinder schrieb John Wesley, man solle sich nie mehr wünschen, als man habe. 45 Aber so fromm Hutton auch war und wie sehr er den Willen der Vorsehung ansonsten akzeptierte, ist kaum vorstellbar, dass er sich nicht doch mehr wünschte.

Wir können davon ausgehen, dass Charles Huttons Rückkehr in die Mine ein Zeichen für die Not – vielleicht sogar Verzweiflung – der Familie war. Die Hoffnung, dass er irgendwie ein besseres oder zumindest anderes Leben führen konnte, wenn er weiter die Schule besuchte, schien sich zunächst nicht zu erfüllen. Kinder, die jünger waren als er, verdienten bereits ihren eigenen Lebensunterhalt. Der geliebte jüngste Sohn war einige Jahre bevorzugt worden, aber das musste irgendwann ein Ende haben. Es heißt, er sei »aus der Schule genommen« worden 46  – und man hat fast den Eindruck einer brutalen Entführung aus seinem natürlichen Element in die nun vermutlich sehr fremde Welt der Kohlegruben.

Die Zechen mit ihrem Becher bitterer Galle hätten sein Schicksal werden können. Eine Zeit lang hatte er sicher keinen Anlass gehabt zu erwarten, dass sich das noch einmal ändern würde. Aus zwei Gründen geschah es doch.

Zum einen war Hutton ein schlechter Hauer. Die Lohnabrechnungen zeigen, dass er weniger Kohle abbaute als seine Kumpel und deshalb seltener – sehr viel seltener – eingesetzt wurde als sie. Im Alter erklärte Hutton seine unzureichende Leistung am Kohlenstoß mit seiner Armverletzung. Vielleicht stimmt das, wobei ansonsten nie die Rede davon ist, dass ihn der Arm in seinem späteren Leben anderweitig beeinträchtigt hätte. Möglicherweise hatte Hutton durch den Schulbesuch und seine vergleichsweise geringe Erfahrung in der Zeche weniger Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit als nötig.

Der andere Grund war, dass Hutton in seiner arbeitsfreien Zeit versuchte, mithilfe seiner Beziehungen einen Weg aus dem Bergarbeiterleben heraus zu finden und eine ganz andere Laufbahn einzuschlagen. Wir wissen nicht, wie er das in den Wintermonaten 1755/56 genau anstellte. Aber an irgendeinem Punkt war ihm klar, dass er in der Lage sein würde, das Bergwerk zu verlassen. Eines Tages kam es zu einer Szene, als er »freigestellt« wurde. 47 Ob aus eigener Schuld oder weil ein geschickterer Mann zur Hand war, jedenfalls zettelte er deswegen Ärger an. Er sagte dem Steiger, dass er bald nicht mehr unter seiner Fuchtel stehen, sondern ein respektableres Leben führen würde. Die Auseinandersetzung muss ziemlich viel Aufsehen erregt haben, und Männer, die sie miterlebt hatten, erinnerten sich noch siebzig Jahre später daran.

Aber Hutton sprach – wenn auch auf unfeine Art – die Wahrheit aus. Jonathan Ivison war nun seit vier Jahren Vikar in Whitburn. Bis dahin hatte er die Schule in Jesmond irgendwie mitgezogen, doch nun war es an der Zeit, sie endgültig jemandem zu übergeben, der in der Nähe wohnte und vertrauenswürdig war. Ivison wusste jemanden. Wahrscheinlich traf er eine Absprache mit dem Besitzer des Gebäudes, in dem sich die Schule befand. Und vermutlich sprach er auch mit Francis Frame. Denn er wollte, dass Charles Hutton seinen Posten übernahm.

Im Alter von achtzehn Jahren war Hutton rechtlich gesehen noch nicht erwachsen und theoretisch zu jung, um sich selbstständig zu machen oder ein Gewerbe auszuüben. (Vor allem – und das war hier vielleicht entscheidender – war er zu jung, um irgendeinen bindenden Vertrag mit dem Bergwerksbesitzer abgeschlossen haben zu können.) Aber man kann sich kaum vorstellen, dass seine Eltern irgendwelche Einwände gegen ein Angebot hatten, das den untauglichen Hauer weg vom Stoß holen würde, wo er geeigneteren, kräftigeren Männern eher im Weg stand, und ihm – wenn er sich nicht dumm anstellte – ein Einkommen verschaffen und sogar eine Karriere bieten konnte. So umklammerte Charles Hutton eines Tages im März 1756 ein letztes Mal das Seil, das ihn aus der Tiefe der Grube holte.

2
MATHEMATIKLEHRER

Herbst 1758. High Heaton, in der Nähe von Newcastle. Stille (zumindest beinahe). Jungen sitzen an einer Reihe von Pulten. Griffel quietschen über Tafeln, Schreibfedern kratzen über Papier. Die Felder werden wieder einmal abgeerntet. Die Plackerei im Bergwerk ist höllisch wie immer. Aber Charles Hutton arbeitet nun nicht mehr unter Tage, sondern im ehemaligen Schulzimmer von Jonathan Ivison.

Der junge Lehrer sitzt vorn, von wo aus er seine Schüler im Blick hat. Einer nach dem anderen kommt zu ihm, zeigt ihm seine Ergebnisse und wird gelobt oder getadelt. Kann er die Wörter buchstabieren, die der Klasse aufgegeben wurden? Ist seine Schrift ordentlich genug? Kann er den aufgetragenen Abschnitt lesen? Hat er die Summe richtig und anhand der korrekten Methode errechnet? Weiß er die Antworten auf die Fragen im Katechismus? Dann bekommt er eine neue Aufgabe, neue Anweisungen oder eine Definition, die er in sein Heft abschreiben soll, und wird damit zurück an sein Pult geschickt.

Im Laufe des Tages und der Woche wechseln sich Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion ab. Lesen lernen die Jungen wahrscheinlich aus dem gleichen Buch von Ann Fisher, aus dem Hutton es selbst gelernt hat. Dann gibt es noch ein Rechenbuch, und sie lesen die Bibel. Montags beginnt das Ganze von vorn.

Wie war der junge Charles Hutton als Lehrer? Wie ging er mit seinen Schülern um? Streng oder freundlich? Setzte er ihnen die Lerninhalte vor oder versuchte er, sie den Schülern zu entlocken? Wir wissen es nicht.

Früh übt sich: Ein Lehrer und seine Schüler. Der Beruf des Lehrers war jedoch nicht sonderlich geachtet – im Gegenteil, ein gebildeter Mann galt als gescheitert, wenn er an einer Schule unterrichtete.

Aber die Bücher, die er später schrieb, geben etwas von der Art zu denken wieder, die auch seinen Unterricht geprägt haben wird. Sie deuten auf einen Mann hin, der seinen Unterrichtsstoff perfekt organisiert hat und seinen Schülern jedes Mal etwas Neues beibrachte – einen neuen Kniff, eine komplexere Variante, um den wachsenden Geist herauszufordern. In den Klassenzimmern jener Zeit arbeiteten die meisten Kinder still, während der Lehrer Einzelne nach vorn rief. 48 Da jeder Schüler auf einem anderen Stand war und individuelle Unterstützung brauchte, erforderte diese Methode von dem Lehrer ein hohes Maß an geistiger Beweglichkeit.

Man kann sich gut vorstellen, dass die Schüler unter einem Lehrer, der den Stoff nicht aus dem Effeff beherrschte oder sich zu sehr auf das Lehrbuch verließ, den Großteil der Zeit die gleichen, nur halb verstandenen Aufgaben bearbeiteten und die Schwächeren unter ihnen schnell auf der Strecke blieben. Aber für außergewöhnliche, umsichtige Lehrer bot dieses System maximale Flexibilität und Freiheit. Es funktionierte, wenn man seinen Unterrichtsstoff klar vor Augen und vor allem in kleine Schritte unterteilt hatte. Hutton beherrschte das anscheinend hervorragend. Im Laufe seines langen Lebens machte er sich einige Feinde und wurde – berechtigt und unberechtigt – kritisiert. Aber niemand leugnete, dass er ein ausgezeichneter Lehrer war.

Er war begabt, voller Energie und arbeitete hart. Die Schule in High Heaton war tagsüber und abends geöffnet und wurde nicht nur von Knaben, sondern auch von Bergarbeitern aus dem Ort besucht, manche von ihnen frühere Kollegen von Hutton. 49 Die Kinder strömten regelrecht in seinen Unterricht. Irgendwann waren es so viele, dass das Klassenzimmer zu klein wurde. 50 Hutton organisierte einen Raum in der nahe gelegenen Stote’s Hall, und so fand der Unterricht dort statt.

Vom ehemaligen Wohnhaus von Sir Robert Stotte stehen heute nur noch die Torpfosten und das Torhaus. Aber alte Fotos zeigen, dass es ein imposantes Gebäude war. Es stand oberhalb des kleinen Tals von Jesmond Dene, und man kann heute noch Huttons etwa eine Viertelstunde dauernden Gang von einem Dorf in das andere nachvollziehen. Zuerst geht es leicht bergauf über damaliges Ackerland, dann hügelabwärts durch ein ziemlich tiefes, bewaldetes und nie bewirtschaftetes Tal. Gewundene Pfade boten weite Aussichten zwischen den Bäumen hindurch. Das war ein Weg in eine völlig andere Welt als die der Bergwerke, unendlich weit entfernt vom Kohlenstoß des Rose Pit.

Dennoch war der Beruf des Lehrers nicht sonderlich geachtet – im Gegenteil, ein gebildeter Mann galt als gescheitert, wenn er an einer Schule unterrichtete. Wobei »Schule« ein großes Wort für den einen Raum ist, den ein Gönner bereitgestellt hatte und in dem Hutton Pennys dafür einsammelte, dass er Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte und sie ein paar Geschichten aus der Bibel auswendig lernen ließ. Die Meinung des Chemikers und unitarischen Theologen Joseph Priestley war typisch: »Wie die meisten anderen jungen Männer mit einer gewissen Allgemeinbildung hatte ich einen großen Widerwillen gegen das Geschäft des Schulmeisters entwickelt und habe oft gesagt, dass ich ihm jede andere Beschäftigung vorziehen würde, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.« 51 Besonders der Grundschulunterricht wurde im Allgemeinen als Arbeit für alte Frauen, Witwen oder andere Menschen mit einer eher niedrigen gesellschaftlichen Position betrachtet. 52 Zudem wurden die langen, fordernden Stunden nicht gerade großzügig entlohnt: Die Bezahlung lag nur wenig über der eines Arbeiters, man hatte keine Gelegenheit aufzusteigen und keine Aussicht auf eine Rente. 53

Eine formelle Lehrerausbildung gab es nicht. 54 Unbegabte Universitätsabsolventen stolperten in den Beruf hinein und durch ihn hindurch, mittellose Kirchenmänner übten ihn mit einer tiefen Abscheu aus, die sie an den Kindern ausließen (ein gewisser Dr. Parr aus Harrow brüstete sich damit, dass er keinen Jungen mehr als einmal pro Unterrichtsstunde schlug 55 ). Eine typische zeitgenössische Beobachtung beschreibt verächtlich, was in einer kleinen Amateurschule wie der von Hutton vor sich ging:

Reuben Dixon, der unglückliche Knecht,

führt eine Schule mehr schlecht als recht,

voll mit lauten, wilden Lumpenbuben,

deren Väter schuften in den Gruben. 56

In der Tat verlangte die Position als Lehrer von aufsässigen Jungen, die nur wenige Jahre jünger waren als er selbst, mehr natürliche Autorität, als Charles Hutton je besessen hatte. Manche erinnerten sich mit einem Schaudern an ihn als einen Lehrer, der für die »strikteste Disziplin« sorgte und es manchmal »mit der Strenge übertrieb«. 57 Einem Schüler aus jener Anfangszeit war im Gedächtnis geblieben, dass Hutton im Klassenzimmer »etwas wichtigtuerisch« geworden war. 58 Man könnte es auch aufgeblasen nennen. Eine Zeit lang trug er stolz einen langen akademischen Talar und dazu, um das Bild zu vervollständigen, eine rote Kappe. Selbst seinen besten Freunden war er peinlich. Bei einer Wahl in der Gemeinde erschien er in diesem Aufzug, und »seine Freunde, deren Unterstützung er als Raupe wohl bekommen hätte, fanden seine Verwandlung in einen Schmetterling so abstoßend, dass sie ihm ihre Stimmen verweigerten und er die Wahl verlor«. 59

Damals war Hutton noch sehr jung, und diese Phase hielt nicht allzu lange an. Doch seine herausragenden Fähigkeiten als Lehrer blieben. Er beschloss bald, dass das Klassenzimmer in Stote’s Hall für ihn nicht die Endstation sein würde. Mit der ungeheuren Energie und Selbstdisziplin, die immer wieder an ihm auffielen, machte er sich an seine persönliche Weiterbildung. Er las, was er in die Finger bekam: keine Groschenhefte oder Liebesgeschichten, sondern die schwierigsten und neuesten Mathematikbücher. 60 Newtons Arbeiten und die seiner Zeitgenossen und Schüler: Christiaan Huygens, Roger Cotes. Descartes und seine Anhänger. Lehrbücher über das Eichen und Messen. Die Werke von Huttons Zeitgenossen in Großbritannien und anderen Ländern. 61

Zusätzlich zu seiner eigenen Tätigkeit als Lehrer und seiner Lektüre ging er abends den Hügel nach Newcastle hinunter und besuchte den Unterricht eines Mr. Hugh James, der sich auf Mathematik spezialisiert hatte. 62 Huttons Bildungsprogramm war anspruchsvoll, und seine Mutter sorgte sich um seine Gesundheit. 63 Aber der junge Mann wusste, wo er seine Zukunft sah, und hatte beschlossen, sein Ziel um jeden Preis zu verfolgen.

*

Doch es war seine Mutter, die im März 1760 starb. 64 Am 17. des Monats wurde sie neben ihrem ersten Ehemann auf dem Friedhof der St-Andrew’s-Gemeinde in Newcastle beerdigt.

Hutton war zweiundzwanzig Jahre alt. Wir wissen nicht, wie das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter war, als sie starb, oder ob er sein Elternhaus bereits verlassen hatte. Was wir wissen, ist, dass er keine drei Wochen später nach St Andrew’s zurückkehrte, um zu heiraten. 65 Seine Braut Isabella war vier Jahre älter als er und Schneiderin. In der Heiratserlaubnis ist ihr Mädchenname ebenfalls mit Hutton angegeben, also war das Paar vielleicht verwandt. Die wenig angemessene Hast deutet auf ein nicht mehr rekonstruierbares Familiendrama hin, vielleicht eine Verbindung von zwei Liebenden, die von den Familien nicht gutgeheißen wurde.

Bald bekam das junge Paar einen Sohn, der auf den Namen Henry getauft, von seinen Eltern aber Harry genannt wurde. 66

Die junge Familie bezog Räume in Newcastle selbst, unweit des Fleischmarktes: zentral und lebendig, aber auch erfüllt von Lärm und üblen Gerüchen. Nur eine Woche nach seiner Hochzeit kündigte Hutton eine neue Schule in den Zeitungen der Stadt an:

BALDIGE ERÖFFNUNG

Am Montag, dem 14. April 1760, am oberen Ende des Fleischmarktes, den Eingang hinunter, der früher als Salutation Entry bekannt war, in Newcastle, eine Schule für Schreiben und Mathematik, wo jedermann umfangreich und zügig auf den Beruf vorbereitet wird und wo jene, die einen regulären Kurs über die Künste und Wissenschaften absolvieren möchten, eine vollständige, umfassende Ausbildung in diesen Fächern bekommen. 67

Er warb damit, Schreiben, Arithmetik und Stenografie zu unterrichten, außerdem eine lange Reihe mathematischer Fächer: Buchhaltung, Algebra, Geometrie, Vermessungslehre, Trigonometrie, Kegelschnitte, Mechanik, Statistik, Hydrostatik, Infinitesimalrechnung. Falls das den Schülern nicht genügte, würden sie auch an die praktische Anwendung dieser Gebiete herangeführt: Navigation, Vermessungskunde, Artillerie, Uhrmacherei, Geografie und Astronomie.

Das wirkt alles etwas überstürzt, verfrüht, unnötig riskant. Hutton hatte erst vier Jahre zuvor die Zechen endgültig hinter sich gelassen, er war ziemlich unbekannt, und seine Gebühren waren doppelt so hoch wie die der Konkurrenz. 68 Die Liste der angekündigten Fächer versprach eine unmöglich zu leistende Bandbreite an Expertenwissen, darunter die zahlreichen praktischen Fächer, in denen der Zweiundzwanzigjährige keinerlei Erfahrung hatte. Er legte die Latte sehr hoch in der Hoffnung, als Lehrer in eine andere Liga aufzusteigen: ein Spezialist für die mathematische Ausbildung, nicht mehr auf die Schinderei angewiesen, den Jüngsten Lesen und Schreiben beibringen zu müssen. Freunde rieten ihm, das Angebot einzugrenzen und die Preise zu senken. 69 Er schlug ihren Rat in den Wind – und das Ergebnis waren finanzielle Schwierigkeiten, weil viele potenzielle Schüler in den Jahren, in denen Huttons Familie wuchs, durch die hohen Kosten abgeschreckt wurden.

Der Baum des mathematischen Wissens

Aber es gab einen echten Bedarf an fachmännischem Mathematikunterricht für die Jungen ab vierzehn. In einer Epoche, in der ein Viertel der Bevölkerung des Landes nicht lesen konnte, hatten die Eltern im Norden den Ruf, viel Wert auf die Bildung ihrer Kinder zu legen und talentierte, gut ausgebildete Jungen nach London zu schicken, wo sie in Kontoren und im Handel arbeiteten. 70 Der Handel wurde im 18. Jahrhundert ausgeweitet, und die Nachfrage nach diesen Jungen nahm zu. Sie wurden Buchhalter, Buchprüfer, Landverwalter, Landvermesser, Seefahrer (man denke an James Cook, der mit einem ehemaligen Kohletransportschiff aus Whitby die Welt umsegelte; während er noch im Kohlegeschäft tätig war, lernte er zwischen seinen Fahrten in den Schulen von Newcastle so viel über Mathematik, wie er konnte 71 ). Schulen schossen wie Pilze aus dem Boden und Newcastle wurde nach London die Stadt mit dem höchsten Bildungsstand in Großbritannien: vier Armenschulen und die prestigeträchtige Trinity House School waren in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gegründet worden, und seine angesehene höhere Schule entwickelte sich prächtig. 72 Ein paar Landbesitzer beschäftigten Schulmeister für ihre Angestellten, und es kam durchaus auch vor – zum Beispiel in den Eisenhütten Newcastles –, dass Angestellte sich zusammentaten und selbst eine Schule finanzierten. 73 Hutton hatte sich einen wachsenden Markt ausgesucht.

Mathematikunterricht auf diesem Niveau bedeutete Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sowie die Berechnung von Quadrat- und Kubikwurzeln 74 (für Letzteres hatte Hutton eine eigene Methode entwickelt 75 ). Er bedeutete Bruchrechnen mit natürlichen Zahlen und Kommazahlen: wie man die Brüche las, wie man sie schrieb und wie man mit ihnen rechnete. Er bedeutete, mit dem ungeheuer komplizierten britischen Einheitensystem umgehen zu lernen: Grains, Scruples und Drams für Medikamente; Yards, Poles und Furlong für Längen; Firkin, Kilderkin und Barrel für Bier und vieles, vieles mehr. Er bedeutete, Währungen umzurechnen, was ähnliche Schwierigkeiten mit sich brachte: Wie viele flämische Gulden bekomme ich für einhundertdreiundsiebzig Pfund, vierzehn Shilling und zwei Pence, wenn ein Pfund fünfunddreißig Stuivers und dreieinhalb Penningen wert ist? 76

Vor allem bedeutete er, Verhältnisse zu verstehen oder – im Fall der etwas weniger Begabten, die die Mehrheit stellten – eine Reihe auswendig gelernter Regeln anzuwenden, um auf bestimmte Fragestellungen mit Proportionalitäten die richtige Antwort zu geben. Wenn acht Yard Stoff vierundzwanzig Shilling kosten, wie viel kosten dann sechsundneunzig Yard? 77 In wie vielen Tagen können acht Männer eine Arbeit abschließen, für die fünf Männer vierundzwanzig Tage brauchen? 78 Ein Kind bekam im Laufe seiner Schulzeit gut und gerne Hunderte, wenn nicht Tausende solcher Aufgaben vorgesetzt.

Das war trockener Stoff, aber Hutton gelang es, ihn zu vermitteln, und mit der Zeit wuchs die Zahl seiner Schüler. Im Jahr 1764 zog er vom Hügel hinunter in das elegantere, aber etwas unglücklich »Back-Row« (Hintere Reihe) genannte Viertel, wo er, seine Schule und seine Familie sich ein Haus mit einem Tanzlehrer namens Stewart teilten. 79 Hutton übernahm den Verkauf der Eintrittskarten für die öffentlichen Bälle dieses Mannes. 80 Stewarts Preise (eine halbe Guinea als Eintritt und eineinviertel Guineas für sechs Tage Unterricht pro Woche) begrenzten seine Schüler wohl auf die Wohlhabenderen, trotzdem störte eine Tanzschule im Haus sicher sowohl Huttons Unterricht als auch das Privatleben seiner Familie.

Wir wissen wenig darüber, wie dieses Leben aussah. In einem seiner Bücher schreibt Hutton – auf der Suche nach einem einprägsamen Bild –, ein dreiseitiges Prisma sei »etwas Ähnliches wie eine Hutschachtel«. 81 Das ist nicht falsch – aber Hüte in Hutschachteln waren ein Vergleich, der ihm ein paar Jahre zuvor noch nicht in den Sinn gekommen wäre. Ein Bewunderer bemerkte sehr viel später, dass Hutton »sich seiner herausragenden Fähigkeiten früh bewusst war und den Rang in der Gesellschaft für sich beanspruchte, die sie ihm versprachen«. 82 Das verschweigt höflich die Tatsache, dass der materielle Erfolg ihm ermöglichte, sich zu verhalten und zu kleiden wie ein Mitglied der Mittelschicht und in jeder Hinsicht eines zu sein. Hutton war nun unbestreitbar dem Raupenstadium entkommen und ein Schmetterling geworden.

Doch Kritik blieb nicht aus. Manche erinnerten sich an ihn als »einen sehr bescheidenen, zurückhaltenden Mann« in jener Zeit, 83 aber wir erfahren auch, dass er während der Vermessung von Newcastle auf der Straße einen Jungen niedergeschlagen hat. 84 Bei diesem oder einem anderen Vorfall bezichtigte ihn jemand, nichts weiter als ein Grubenjunge zu sein, und Hutton gab zurück, wenn er – der Kritiker – selbst einer gewesen wäre, würde er nach wie vor in die Grube fahren. Die Erinnerungen an die Kappe und den Talar blieben präsent – noch siebzig Jahre später erinnerten sich zwei Zeitgenossen an die rote Kopfbedeckung.

Drei weitere Kinder wurden geboren: Isabella, Camilla und Eleanor (von der Familie Ellen genannt). 85 Sie wurden in einer nonkonformistischen Kirche am Hanover Square getauft.

Als dieses Buch geschrieben wurde, war der Hanover Square ein Abrissgelände. In der Nähe verliefen die alten Stadtmauern. Züge rumpeln über die nahe gelegene Überführung, und es ist nicht einfach, sich den ehemals einzigen offenen Platz Newcastles vorzustellen. Die Kirche dort wurde 1727 gegründet; 1767 kam eine Schule dazu. Nach einigen Umbauten war die Kirche im Jahr 1810 groß genug, um eine Orgel und sechshundert Besucher aufzunehmen. 86 Zur Gemeinde gehörten prominente Lokalpoeten, Zeitungsverleger und Politiker.

Nach seinem Glaubenswechsel in der frühen Jugend war Hutton eine Weile ein eifriger Methodist gewesen. In einem Bericht heißt es sogar, er habe Predigten verfasst und gehalten, doch leider hat keine von ihnen, falls das wahr ist, die Zeitläufte überstanden. 87 Seine Verbindung zur Kirche am Hanover Square könnte darauf hindeuten, dass er zu diesem Zeitpunkt der Bewegung den Rücken gekehrt hatte, die damals nach wie vor die Church of England von innen heraus hatte reformieren wollen.

Die Kirche am Hanover Square erlangte später tatsächlich den Ruf, unitarisch zu sein, und Huttons Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde deutet darauf hin, dass er und seine Frau sich für radikalere Arten protestantischen Abweichlertums zu interessieren begannen. 88 Sie verkehrten in Kreisen, die sogar die traditionellen Grundpfeiler der Glaubenslehre wie die Dreifaltigkeit, die Buße und die Göttlichkeit von Jesus infrage stellten. 89 Sein privates Engagement wird nirgendwo erwähnt, aber ein größerer Zirkel von Unitariern und Sympathisanten radikaler Ideen – politisch wie religiös – prägten Huttons berufliche Entwicklung noch lange nach seinem Weggang aus Newcastle.

Das konnte ernsthafte praktische Folgen haben. Nicht-Anglikaner sahen sich an vielen Stellen potenzieller Diskriminierung ausgesetzt: an Nachlassgerichten, in Bezug auf Eheschließungen, an Schulen und an Universitäten. 90 Und das Gesetz mit dem bedingt zutreffenden Namen, die Toleranzakte (Toleration Act) von 1688, schließt ausdrücklich sowohl Leugner der Dreifaltigkeit wie auch Katholiken von seinen Regelungen aus. Nach dem Blasphemie-Gesetz (Blasphemy Act) von 1697 drohte ihnen bis zu drei Jahre Gefängnis und der Verlust der Grundrechte. Die Durchsetzung geschah nur lückenhaft, aber die Gefahr einer Strafe und der Abwendung von Freunden war durchaus real. Von Huttons geistlichem Wohltäter Ivison findet sich in Huttons Leben nach dessen Umzug nach Newcastle keine Spur mehr.

*

Huttons Arbeit schritt in einem bemerkenswerten Tempo voran. Materiell war er ohne Zweifel erfolgreich. Sein Aufstieg gipfelte vorerst in einem letzten Umzug in die Westgate Street und damit in eine von Newcastles wohlhabenderen Wohngegenden. 91 Erneut stand er vor dem Problem ungeeigneter Gebäude und löste es, indem er ein Grundstück erwarb und sein eigenes Wohnhaus samt Schule darauf baute. Es war ein vornehmer georgianischer Gebäudekomplex mit Kellern und anderem Komfort. 92 Die Huttons hatten nun Zugang zu allem, was die blühende, wachsende Stadt zu bieten hatte.

Die alten Stadtmauern (sie waren ab 1763 allmählich eingestürzt) umgrenzten ein Areal von nicht einmal achtzig Hektar, 93 aber auf diesem kleinen Gebiet konzentrierte sich das Kapital und ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung Nordenglands. Das Stadtbild prägten teils hohe, elegante Gebäude, aber auch weite, offene Flächen rings um die zahlreichen Kirchen. 94 Anfang der 1770er-Jahre verfügte die Stadt über dreihundert Straßenlaternen und eine gut organisierte Nachtwache. 95 Die Unterstadt war durch die Kamine in den Häusern häufig verraucht, das Flussufer wurde vom geschäftigen Treiben in den dortigen Lagerhäusern und dem Schiffsverkehr auf dem Tyne beherrscht (ganz zu schweigen von der zunehmenden Zahl von Armensiedlungen in der Nähe des Black Gate), doch hier befanden sich ein kleines Stück bergauf offene Felder, auf denen zum Teil attraktive Lustgärten entstanden.

Newcastle, 1745: Das Flussufer wurde vom geschäftigen Treiben in den dortigen Lagerhäusern und dem Schiffsverkehr auf dem Tyne beherrscht.

Die Stadt bot eine ganze Reihe typischer Vergnügungen: Abonnementkonzerte sowohl in den öffentlichen Sälen als auch im Sommer unter freiem Himmel. 96 Zwischenstopps von berühmten Musikern auf dem Weg von London nach Edinburgh, die häufig in der Stadt haltmachten und ein oder zwei Konzerte gaben, um die Reisekosten einzuspielen. Charles Avison, in Newcastle geborener und beheimateter Komponist und Konzertveranstalter, war eine nationale Berühmtheit. Es existierten ein Literaturclub und Theater, 97 außerdem wissenschaftliche Vorlesungen 98  – Newcastle war die erste Provinzstadt, in der es so etwas gab –, die von lokalen Privatgelehrten gehalten wurden, ebenso wie von landesweit bekannten Größen, die auf ihren Vortragsreisen die Stadt besuchten. Fast das gesamte Jahrhundert hindurch erschienen zwei Wochenzeitungen. Newcastle hatte eigene Geschichten und Legenden, Dichter und Liedermacher. Es gab Geschäfte, Kneipen, Clubs, Gesellschaften, Mode, Essen und Wein.

Letztlich war all das der Kohle zu verdanken – und das war schwer zu übersehen, wenn man irgendwo in der Nähe des Flusses oder der Bergwerke lebte. Auch Charles Hutton wird diese Tatsache wohl nicht vergessen haben. Der Handel mit Kohle war so lukrativ, schätzten Zeitgenossen, dass Newcastle trotz all der Produkte, die es importierte, Jahr für Jahr Gewinn machte und über mehr Geld pro Kopf verfügte als jede andere Stadt im Königreich. 99

Auch mit Mathematikern waren Newcastle und seine Umgebung reich gesegnet. William Emerson, in ganz England bekannt, lebte im nahe gelegenen Hurworth. 100 Seine betont exzentrische Art und seine Kleidung (selbst gewebtes Leinen, große Schlapphüte und formlose alte Jacken) brachten ihm in der Heimat den Ruf eines Hexenmeisters ein. Hutton und er standen in Briefkontakt und wurden Bekannte, aber zwischen dem ungeselligen Emerson und dem ehrgeizigen Hutton sprang der Funke nicht so recht über. Dann gab es da noch John Fryer, der Hutton bei seinen Landvermessungsarbeiten half. 101 Er war außerdem Huttons Assistenzlehrer in der Westgate Street.

Die Schule hatte einen eigenen Eingang. 102 Kürzere und nüchterne Anzeigen wiesen nun darauf hin, dass dort die »Jugend für die Armee, die Marine und die Kontore« ausgebildet würde. 103 Außerdem biete sie »eine vollständige Einweisung in die Theorie und Praxis der Landvermessung und den Gebrauch der entsprechenden Instrumente« an. Die höhere Schule von Newcastle schickte ihre Schüler für fortgeschrittenen Mathematikunterricht in Huttons Schule. 104 Kein ganz und gar ungewöhnliches Arrangement – jeder wusste, dass private Lehranstalten besser in der Vermittlung von Mathematik und Naturwissenschaften waren als die öffentlichen Schulen –, aber auch eine erfreuliche Bestätigung für Hutton und seine Arbeit. 105

Huttons neu gewonnene Zugehörigkeit zur Mittelschicht brachte mit sich, dass er als Privatlehrer für die lokale Oberschicht tätig sein konnte. Wie ein Biograf es ausdrückte, qualifizierten Huttons »Auftreten sowie seine Talente« ihn für diese Rolle. 106 Robert Shaftoe war einer dieser Auftraggeber. 107 Sein Haus in Benwell Hall gehörte zu den beeindruckenderen Anwesen der Gegend. Die Art, wie Hutton seine Kinder unterrichtete, imponierte Shaftoe so sehr, dass er selbst anfing, am Unterricht teilzunehmen und seine Mathematikkenntnisse, die er wahrscheinlich auf dem College erworben hatte, aufzupolieren. 108 Zusätzlich erlaubte er dem jungen Mann, seine beachtliche Bibliothek zu nutzen. Newcastle besaß einige Leihbüchereien und litt keinen Mangel an Buchhändlern, aber der Zugang zu einer umfassenden privaten Sammlung war für Hutton, der nach wie vor unermüdlich seine Weiterbildung betrieb, ein Segen. Im Laufe der Jahre lernte er zusätzlich zu seinen früh erworbenen Lateinkenntnissen etwas Französisch, Italienisch und Deutsch. 109 Im Jahr 1772 hatte er genug über Geografie gelesen, um öffentliche Vorlesungen zu dem Thema anzubieten (für »Damen und Herren«), zu einem Preis von einer halben Guinea pro Kurs. 110 Wie viele Interessenten er fand, ist nicht überliefert.

Huttons Schule entwickelte sich zu einer Art Bildungszentrum. In den Weihnachtsferien 1766/67 hielt er dort eine Fortbildung über Mathematik für andere Lehrer ab, 111 und ungefähr zur selben Zeit begannen externe Dozenten sie als Veranstaltungsort zu nutzen. 112 Caleb Rotherham deckte Geografie, Astronomie und andere naturwissenschaftliche Gebiete ab; ebenso der beliebte James Ferguson. 113 Ferguson war ein Hausgast und trat abends privat vor Huttons Freunden und Familie auf – wobei Hutton schockiert war, als er herausfand, wie wenig der Mann über Geometrie wusste. Huttons Schule war in gewisser Weise ein Vorläufer der Literary and Philosophical Society, der Literarischen und Philosophischen Gesellschaft, die dreißig Jahre später in Newcastle gegründet werden sollte – und deren erster bezahlter Dozent eben der erwähnte Caleb Rotherham war.

Sein Arrangement mit der höheren Schule von Newcastle brachte Hutton zwei seiner berühmtesten Schüler, zumindest ganz sicher seine schillerndsten: John Scott war der Sohn eines Kohlehändlers und Bessie Surtees die Tochter eines reichen Bankiers. 114 Beide besuchten Huttons Schule, um dort in Mathematik unterrichtet zu werden, vermutlich aber war dies nicht der Ort, an dem ihre jugendliche Romanze aufblühte. 115 Scott ging 1772 nach Cambridge, aber die Liebe war stärker: Im November kehrte er zurück und brannte mit Bessie durch (über eine Leiter gelangte er durch ein Fenster in den ersten Stock). Der Skandal – oder das Liebesabenteuer, je nach Ansicht – wurde bis ins 19. Jahrhundert immer wieder aufgewärmt, und bis heute kann man in Bessie Surtees’ Heimatstadt Newcastle Andenken an sie erwerben.

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Ein Landpfarrer irgendwo in England, irgendwann im 18. Jahrhundert. An seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Es ist April. Das Fenster steht offen, die Sonne scheint herein. Vor ihm liegt ein Manuskript mit mathematischen Übungen. Lösungen zu Aufgaben aus Magazinen, ins Reine geschrieben.

Er schreibt die Ergebnisse für dieses Jahr noch ordentlicher ab und ergänzt ein paar Vorschläge für Probleme, die das Magazin in der nächsten Ausgabe drucken könnte. Sehr geehrter Herr. Anbei mein kleiner Beitrag zum diesjährigen Diary, in der Hoffnung, dass er Ihr Interesse weckt. Ihr ergebenster Diener. Schreibsand abschütteln, falten, versiegeln.

Eine Szene, die sich im georgianischen Zeitalter jedes Jahr überall in England viele Male – Hunderte Male – wiederholt. Einige Monate später, ungefähr im Oktober, kamen die jährlich erscheinenden Journale auf den Markt: The Ladies’ Diary, The Gentleman’s Diary, The Mathematical Repository und einige andere. Manche Leser konnten sich darüber freuen, ihren Namen, ihre mathematische Arbeit, gedruckt zu sehen – einige gewannen kleine Preise. Andere suchten vergeblich nach ihrem Namen und ihren Lösungen und mussten verschämt zu dem Schluss kommen, dass ihre Ergebnisse falsch gewesen waren.

*

Wäre Hutton nichts anderes als ein erfolgreicher Provinzlehrer gewesen, wäre seine Geschichte bemerkenswert, aber nicht außergewöhnlich. Tatsächlich waren die meisten Mathematiklehrer im georgianischen Zeitalter Aufsteiger aus der Arbeiterschicht: durch eigene Kraft erfolgreich gewordene Männer, die privat geführte Lehranstalten besucht oder sich selbstständig mithilfe von Lektüre weitergebildet hatten. 116 Schulen überall in Großbritannien bezeugten, wie erfolgreich diese Männer Schüler anzogen und ihnen Unterricht auf hohem Niveau boten, um sie dann hinaus in die Welt der immer zahlreicher werdenden Berufe, die Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse verlangten, zu schicken.

Hutton reichte das nicht. Durch Publikationen erhoffte er sich eine größere Anerkennung und eine Aussicht auf höhere Entlohnung. Er versuchte sein Ziel über eine bemerkenswerte Institution des georgianischen Zeitalters zu erreichen: das mathematische Journal.

Nun, da es sie nicht mehr gibt, ist es schwer, sich diese Zeitschriften vorzustellen, aber in ihrer Hochzeit erschienen Dutzende von ihnen monatlich oder jährlich. 117 Sie druckten unter anderem mathematische Probleme und die Lösungen der Leser dazu ab: Man konstruiere ein Dreieck anhand seiner Basis, einer Seite und der Linie, welche die gegenüberliegende Seite halbiert. Gesucht ist ein Bruch, bei dem sich, wenn man seinen Kehrwert abzieht, eine Quadratzahl ergibt. Wie oft kann man die Summe fünfzehn mit einem Kartenspiel erreichen? Das war kein Sudoku und auch kein Grundrechnen. Die Aufgaben waren mitunter schwierig zu lösen und verlangten die Anwendung von Algebra, Geometrie und manchmal sogar Infinitesimalrechnung. Da sowohl die Aufgaben als auch die Lösungen von Lesern eingesandt wurden, stellte sich unvermeidlich ein Angebereffekt ein, der dazu führte, dass die Probleme mit der Zeit immer schwieriger wurden und die Lösungen immer raffinierter.

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