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Siena Carciofine und die Leiche im Hotel Paradiso

Als Buch hier erhältlich:

In der Liebe und beim Aufklären von Verbrechen ist alles erlaubt!

Auch in ihrem zweiten Fall muss Journalistin und ErmittlerinSiena Carciofine wieder gegen Chaos, Herzschmerz undnatürlich gegen das Verbrechen kämpfen

Siena erschrickt fast zu Tode, als ihre beste Freundin weinend anruft. Sara, eine toughe
Staatsanwältin,weint doch nie?! Offensichtlich hatte ihr MannMatteo eine Affäre und Sara hat ihn kurzerhand vordie Tür gesetzt. In der Arbeit wartet die nächste Überraschung:Journalistin Siena soll etwas über den Mord am Nachtportierim Hotel Paradiso schreiben. Komisch nur, dass sich Matteogenau in diesem Hotel mit seiner Geliebten getroffen hatte.Kann das ein Zufall sein? Und tatsächlich: Im Hotel Paradisofinden sich nicht nur Hinweise auf die schicke Anwaltskanzlei, in der Matteo arbeitet − er selbst ist außerdem plötzlich spurlos verschwunden. Siena beschließt: Sie muss und sie wird herausfinden, wo Matteo ist …


  • Erscheinungstag: 23.05.2023
  • Aus der Serie: Siena Carciofine
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002704

Leseprobe

Schon als kleiner Junge hatte er Spinnen nicht ausstehen können, und es lag eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass er mit Nachnamen ausgerechnet Ragniero hieß. Der deutliche Anklang an das Wort ragno, Spinne, hatte ihm in der Schule den Spitznamen Spider-Man eingebracht. In den frühen 1960er-Jahren hatte einer seiner Klassenkameraden, Aldo Vinci, den Comic von Verwandten direkt aus New York bekommen und Giuseppe den Namen verpasst.

Giuseppe Ragniero hatte sich nicht dagegen gewehrt, denn er hatte sehr wohl begriffen, dass er als Kompliment gedacht war. Und außerdem hatte er sich immer bemüht, sich seine Abneigung gegen Spinnen mit keinem Zucken, keinem Blinzeln, keinem Schaudern anmerken zu lassen. Damals hätte in der Grundschule an einem der ärmlicheren Enden von Florenz schon weitaus weniger ausgereicht, um als Schwächling oder – zu dieser Zeit noch schlimmer – als Mädchen zu gelten.

Giuseppe betrachtete die dicke Spinne außen am Fenster. Die acht Beine verursachten ihm schon beim bloßen Anblick ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut, und außerdem: Wie sollte man einem Lebewesen über den Weg trauen, dessen Augen man nicht erkennen konnte?

Il prudente ha gli occhi aperti. Der Umsichtige hat seine Augen weit offen. Das hatte seine Mutter öfter gesagt. Es war vermutlich die einzige Redewendung, die sie jemals gebraucht hatte, ansonsten war sie sehr wortkarg gewesen. Das Wenige, was sie gesagt hatte, hatte sie normalerweise nicht auch noch mit Redewendungen ausgeschmückt.

Er sah der Spinne zu, wie sie unaufhörlich und unbeirrbar ihr feines Netz spann. Sie bewegte sich schnell und präzise, und die seidenen Fäden gehorchten der Baumeisterin ohne Widerstand. Giuseppe kniff die Augen zusammen. Hässliche Tiere. Wirklich hässliche Tiere. Aber diese Netze … Die waren echte Kunstwerke, das musste man den scheußlichen Viechern lassen.

Giuseppe Ragniero gähnte und legte den Kopf in den Nacken. Die Augen fielen ihm zu, doch ein Geräusch ließ ihn nur Sekunden später wieder hochschrecken. Er setzte sich aufrecht hin und spitzte die Ohren.

Da war es wieder! Ein leises Rascheln.

Langsam stand er auf. Er konnte sich keine Nachlässigkeit erlauben. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel.

Für sein Alter war Giuseppe immer noch geschmeidig und behände, und er bewegte sich lautlos, als er aus der Portierloge hinaus ins dunkle Treppenhaus des Hotels schlüpfte.

Er verharrte und lauschte.

Nichts zu hören.

Es war unwahrscheinlich, dass sich hier jemand unbemerkt die Treppe hinauf- oder herunterschleichen konnte, denn dafür knarzten die alten Stufen viel zu laut. Mit schnellen Schritten war Giuseppe bei der Eingangstür und riss sie auf.

Ein empörtes Fauchen, dann wich die räudige Katze, die in letzter Zeit ständig irgendwo rund ums Hotel auf etwas Essbares lauerte, zurück.

»Via«, fauchte Giuseppe zurück. »Hau ab!«

Katzen mochte er fast genauso wenig wie Spinnen.

Aufmerksam ließ er seinen Blick über die Straße schweifen. Um diese Uhrzeit war niemand mehr unterwegs, und er konnte auch sonst nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches entdecken. Das Licht, das das Hotelschild eigentlich hell erleuchten sollte, flackerte nur noch schwach und unregelmäßig. Er hätte sich längst darum kümmern müssen.

Er betrat das Hotel wieder und ging zurück in seine Loge, sein Reich. Ein Reich, so unauffällig und klein, von dem aus man aber trotzdem große Macht ausüben konnte, wie er gelernt hatte. Von dem aus unsichtbare, aber tödliche Fäden gesponnen werden konnten. Der alte Stuhl gab mit einem resignierten Seufzen nach, als Giuseppe Ragniero sich hineinplumpsen ließ. In diesem schäbigen Etablissement gab es so einiges, um das man sich dringend kümmern müsste, überlegte er. Aber vielleicht war das schon sehr bald nicht mehr seine Sache. Er tätschelte liebevoll die Brusttasche seines abgewetzten Jacketts und spürte das feine Knistern. Dort befand sich der Prospekt der Kreuzfahrt …

Sechs Monate.

Fünf Sterne.

Und beinahe 65 Jahre, die er darauf hatte warten müssen.

Der Alte hatte gedacht, er könnte ihn mit ein paar Brosamen abspeisen. Lächerlich. Ohne ihn könnte er sein ganzes Hamburg doch vergessen! Zum Glück hatte der Fettsack es begriffen und die Zahlungen anständig erhöht. Und drüben im Safe lagerte jetzt sein Schatz. Sein persönliches Eintrittsticket – nicht nur für die Kreuzfahrt, sondern für eine goldene Rente.

Giuseppe Ragniero lehnte sich zurück und wuchtete seine Beine auf den Tisch. Er spähte zur Spinne am Fenster. Das Netz war bereits richtig groß geworden in den wenigen Minuten, die vergangen waren. Filigran und tödlich: Bald würde sich die erste Fliege darin verfangen und hilflos zappeln. Hoffentlich kam das Vieh nicht zu ihm hineingekrochen. Das Fenster ließ sich nicht mehr richtig schließen, und obwohl ihm das Monstrum da draußen ziemlich fettleibig vorkam, konnte man nicht wissen, ob es sich nicht doch durch den Spalt zwängen konnte. Giuseppe gähnte und schloss die Augen. Um das nicht mehr schließende Fenster konnte sich dann demnächst jemand anderes kümmern. Er wäre dann längst auf dem prächtigen Schiff …

»Buonasera. Guten Abend.« Die Stimme hinter ihm schien aus dem Nichts zu kommen, und Giuseppe erschrak fast zu Tode. Er fuhr aus dem Sessel hoch und drehte sich um. Eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit hinter dem Garderobenständer, an dem Ragnieros alter Regenmantel hing. Merda, er war nachlässig gewesen. Während er die Loge verlassen hatte, war offensichtlich jemand hereingekommen. Und er hatte nichts bemerkt, weil er ausgerechnet eine fette, hässliche Spinne beobachtet hatte.

»O meglio – buonanotte. Oder besser gesagt – gute Nacht«, ergänzte die Gestalt. Der Portier erkannte weder die Person noch ihre Stimme, und bevor er etwas antworten konnte, fielen die Schüsse. Sie trafen Giuseppe Ragniero in die Brust, und er sackte zusammen.

Was für eine Ironie, dass ausgerechnet eine Spinne das Vorletzte gewesen war, das Giuseppe Ragniero, Spider-Man wider Willen, in seinem Leben gesehen hatte. Das Allerletzte war der Lauf einer Pistole gewesen.

»Manaccia!« Siena fluchte, während sie die Piazza del Duomo in Florenz eilig überquerte. Sie hatte auf ihr Handy gestarrt, obwohl sie im Laufschritt unterwegs war, und war prompt gegen einen Mülleimer gelaufen. Sie sollte es eigentlich besser wissen und Situationen, die Zusammenstöße, Ausrutscher oder andere Unfälle begünstigten, grundsätzlich vermeiden. Denn seit sie denken konnte, begleiteten Missgeschicke Siena Carciofine durch ihr Leben. Das lag nicht nur an ihren schlechten Augen, gegen die sie meistens eine Brille oder Kontaktlinsen trug (außer, sie vergaß es). Es lag daran, dass durch ihren Kopf ständig Tausende Gedanken schwirrten und sie davon abhielten, genügend auf das Hier und Jetzt zu achten.

Als Siena einer Gruppe von Touristen, die alle gleichzeitig das Handy zückten, um den berühmten Dom zu fotografieren, auswich, fiel ihr das eigene Telefon, das sie immer noch anstarrte, fast aus der Hand. »Doppiamerda!« Siena fluchte noch lauter und ließ das Smartphone in ihre gelbe Fransentasche gleiten.

Seit Tagen und Wochen starrte sie dieses Teil nun schon an, aber Fabrizio Straghetti meldete sich offenbar auch dann nicht, wenn sie das Handy noch so ausdauernd hypnotisierte. Nun gut, sie musste zugeben: Offiziell hatte er ihre Handynummer gar nicht. Aber bitte! Sie hatte doch bei den Befragungen auf der Questura zum Doppelmord in den Weinbergen alle ihre Kontaktdaten angeben müssen. Alle. Und es konnte doch für einen hochrangigen Polizisten nicht schwer sein, an diese Unterlagen zu kommen! Dann konnte man sich die Handynummer doch ganz leicht herausfischen …

Wenn man es wirklich wollte.

Und wenn man nicht so korrekt war wie Fabrizio Straghetti.

Siena seufzte. Und wenn doch sie selbst ihm zuerst schrieb? Also, natürlich keine Nachricht auf dem Handy, denn sie hatte seine Nummer ja erst recht nicht. Aber eine E-Mail an die Dienstadresse? Die war im Internet angegeben, Siena hatte das schon etwa fünfzig Mal überprüft. Sie hatte außerdem in einem sehr schwachen Moment recherchiert, ob er sich auf irgendeinem sozialen Netzwerk finden ließ – Fehlanzeige. Das hatte sie aber ehrlich gesagt auch nicht überrascht.

Ein Tropfen landete direkt auf ihrer Nase. Sie schaute prüfend in den Himmel. Ihre Wetter-App hatte recht behalten: Dunkle Wolken türmten sich bedrohlich über dem rot-weiß-grünen Dom mit seiner mächtigen Kuppel auf. Siena zögerte. Sie war eigentlich auf dem Weg in die Redaktion, aber sie hatte heute so gar keine Lust auf die Arbeit. Und ein bisschen Zeit war noch bis zur Konferenz.

Kurz entschlossen wandte sich Siena nicht nach rechts in Richtung San Lorenzo, sondern lief nach links in Richtung der Piazza Repubblica. Und gerade als sie die Tür des altehrwürdigen Caffè Gilli aufstieß, begann es wie aus Eimern zu schütten.

Siena ließ sich an einem der kleinen runden Tische nieder und atmete tief durch. In ihrem Lieblingsfilm, Frühstück bei Tiffany, ging die Hauptfigur in den prächtigen Juwelierladen auf der Fifth Avenue, um zur Ruhe zu kommen. Und genau das, was für Holly Golightly im Film der Juwelier Tiffany’s war, das war für Siena das Caffè Gilli. Sie ließ ihren Blick über die Holzvertäfelung, den Stuck und die Kronleuchter schweifen. Nichts und niemand konnte einem etwas anhaben, solange man in diesem Café saß. Noch nicht einmal die Zeit hatte hier eine Chance: Die elegante Bar und die großen Fenster, in denen sich Kuchen, Törtchen und feinste Patisserie türmten, hatten sicher schon vor Jahrzehnten genauso ausgesehen. Oder sogar schon vor Jahrhunderten, denn immerhin rühmte sich das Caffè Gilli damit, das älteste Café von ganz Florenz und fast dreihundert Jahre alt zu sein. Das fanden natürlich auch die Touristen interessant, die während der Hauptreisezeit hier nur so hineindrängten. Und die jeweiligen Pächter fanden es sogar hochinteressant, weil es bedeutete, dass sie für einen Cappuccino fast fünf Euro verlangen konnten.

Siena bestellte einen Espresso und schaute durchs Fenster auf die Piazza Repubblica hinaus. Es war mit einem Schlag dunkel geworden, und die Menschen, die draußen unterwegs waren, wuselten wie aufgeschreckte Ameisen zu Geschäften, Bars oder Hauseingängen, um sich irgendwie gegen den herunterprasselnden Regen zu schützen.

Apropos Ameisen.

Ihr Blick wanderte zu den Arkaden, die den großen Platz an einer Seite säumten. Dort hinten befand sich die Bar, in der sie Fabrizio Straghetti zum ersten Mal begegnet war. Sie schloss kurz die Augen und spürte sofort wieder das Kribbeln auf ihren Armen, in ihrem Magen, in ihrem ganzen Körper. Das Kribbeln, das jeden Gedanken an ihn begleitete.

Schluss jetzt! Das musste endlich aufhören.

Immerhin war Fabrizio der Chef von Luca, mit dem sie doch eigentlich eine Affäre hatte. Gehabt hatte, verbesserte sich Siena in Gedanken selbst. In den letzten sechs Wochen hatte sie Luca auf Abstand gehalten. Zwei- oder dreimal hatten sie sich zwar auf einen Drink getroffen, aber Siena hatte sich dabei ertappt, dass sie immer nur auf Informationen über seinen Chef gelauert hatte. Und Luca Bruni war nun einmal auch Polizist und nicht unbedingt auf den Kopf gefallen. Nach der dritten Nachfrage von Siena nach der Arbeit und den Kollegen hatte er sie mit seinen unverschämt blauen Augen durchdringend gemustert und gefragt: »Willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?«

Siena wurde rot, wenn sie nur daran dachte. Sie nahm die Espressotasse und stürzte den Inhalt in einem großen Schluck herunter. »Manaccia!« Das brannte wie Feuer. Der Kaffee war noch viel zu heiß gewesen. Siena hielt sich den Mund und ignorierte die Familie am Nebentisch, die zu ihr herüberstarrte. Offenbar war ihr der Fluch etwas zu laut entwischt.

Sie fischte erneut ihr Handy aus der Tasche. Eine ungelesene Nachricht. Ihr Herz klopfte schneller, obwohl es aus den genannten Gründen ja eigentlich ausgeschlossen war, dass die Nachricht von Straghetti kam. Siena öffnete sie. Enzo Innocenti, ihr Chef und Freund seit Studientagen, hatte geschrieben: Konferenz beginnt fünfzehn Minuten später.

Siena ließ das Handy sinken. Umso besser. Sie beobachtete den Regen, der schon größere Pfützen auf der Piazza hinterlassen hatte. Vielleicht konnte sie noch hier im Trockenen ausharren, bis diese Sturzflut vorbei war.

Wieder wanderte ihr Blick zu den Arkaden. Und wenn doch sie sich zuerst bei ihm meldete? Aber was, wenn seine Dienstmails von irgendjemand anderem gelesen wurden? Und was sollte sie bitte schön schreiben? Sie kannten sich ja im Prinzip kaum. Andererseits … Immerhin hatte er sie doch im dunklen Treppenhaus umarmt. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht. Er hatte ihr eine rote Rose vor die Tür gelegt! Da war es doch nicht abwegig zu glauben, dass da noch etwas nachkommen würde. Oder? Und wer wusste schon, was im Treppenhaus noch passiert wäre, wenn das Licht nicht wieder angegangen wäre …

Vielleicht sollte sie einfach in die Questura fahren, in sein Büro stürmen und …

Sienas Handy klingelte. Sie hielt es immer noch in der Hand und erschrak dermaßen, dass sie es auf den Boden fallen ließ. Sie beugte sich hastig vor, um es wieder aufzuheben, und dabei schubste sie noch den Kaffeelöffel herunter, der ein erstaunlich lautes Klirren von sich gab. Jetzt drehten sich alle Gäste im Café zu ihr um. Das Handy klingelte unbeirrt weiter.

Hastig fischte Siena Geld aus ihrem Portemonnaie und legte es auf den Tisch. Dann schnappte sie ihre Tasche und das Handy, das endlich verstummt war. So schnell sie konnte, verließ sie das Café und bemühte sich dabei nach Kräften, nicht noch gegen einen Tisch zu stoßen oder mit der Tasche an einem Stuhl hängen zu bleiben.

Draußen überquerte sie rasch die Straße und stellte sich gegenüber vom Café in einem Hauseingang unter. Sie schaute auf ihr Telefon. »Ah no, Madonna«, murmelte sie. Offenbar war der Absturz so unglücklich gewesen, dass die Scheibe des Displays zersprungen war. Ein Spinnennetz aus Rissen überzog den gesamten Bildschirm. Trotzdem leuchtete brav die Information über einen Anruf in Abwesenheit auf: Er war von Sara, ihrer besten Freundin. Siena drückte auf die Anruftaste und stellte erleichtert fest, dass das Handy auch mit Spinnennetz noch zu funktionieren schien. Die Verbindung wurde aufgebaut, und Sara war sofort am Apparat.

Als Siena die Stimme ihrer besten Freundin hörte, zog sich ihr Magen zusammen, und ihr wurde heiß. Sara weinte. Und das war in den über fünfzehn Jahren ihrer Freundschaft bisher genau drei Mal vorgekommen.

Einmal vor Schmerzen, als Sara sich das Knie verdreht hatte. Sie hatte betrunken versucht, in ihre eigene Wohnung zu klettern (Schlüssel vergessen). Einmal, als die Ärzte in der Schwangerschaft mit Saras zweitem Kind, dem kleinen Paolo, den Verdacht geäußert hatten, er könnte einen Herzfehler haben (der Verdacht hatte sich nicht bestätigt). Und einmal bei der Beerdigung von Saras Opa, den sie vergöttert hatte (und das nicht erst, seit er ihr ab dem Alter von sechzehn Jahren heimlich immer ein paar seiner Zigarillos abgegeben hatte).

Und jetzt!

Sienas Gedanken schlugen Purzelbäume. Neben dem knapp einjährigen Paolo hatte Sara noch die fünfjährige Emilia, Sienas Patenkind. War sie vielleicht wieder einfach so in den Pool gesprungen, wie schon einmal? Hatte es dieses Mal vielleicht niemand bemerkt? Ihr Herz schlug unangenehm stark gegen die Rippen in ihrem Brustkorb. »Sara, um Himmels willen, was ist los? Geht es den Kindern gut?« Siena registrierte, wie atemlos sie klang, und sie wusste, dass sie jetzt eigentlich besser ruhig bleiben sollte. Ein Fels in der Brandung sein – so wie Sara es für sie schon so oft gewesen war. Aber sie konnte es nicht. Saras Schluchzen war voller böser Vorahnungen. Doch dann räusperte sich ihre beste Freundin und brachte einen Satz ohne Schluchzen hervor: »Ich weine vor Wut

Erleichterung durchströmte Siena, und sie musste sich einen Augenblick an die Hauswand lehnen, weil ihre Knie ganz weich wurden. Wenn Sara vor Wut weinte, dann konnte mit den Kindern schon einmal nichts Schlimmes passiert sein. Ein lauter Donnerschlag grollte in diesem Moment über die Piazza. Und Saras nächste Sätze trafen Siena wie ein zweiter Donnerschlag: »Es geht um Matteo. Ich habe ihn gerade hinausgeworfen.«

Siena setzte sich auf die Treppenstufe des Hauseinganges und fuhr sofort wieder hoch. Die Stufe war trotz der Überdachung nass geworden. Das bedeutete, dass ihre Jeans jetzt ein riesiger nasser Fleck am Po zierte. Egal. Siena konzentrierte sich wieder auf Sara. »Er hat eine Affäre. Stronzo!«

Siena spürte Saras Wut bei diesen Worten durchs Telefon. Sie holte Luft und wollte irgendetwas Vernünftiges, Beruhigendes sagen, aber Sara kam ihr (wie meistens) zuvor. »Und bevor du fragst: Ja, es ist sicher. Er hat es zugegeben.« Jetzt klang die Stimme ihrer besten Freundin wieder so klar, wie Siena es von ihr gewohnt war. Immerhin war Sara Staatsanwältin, und vernünftige Ansagen waren ihr Spezialgebiet. Diese Ansagen machte sie jedem, der sich dafür gerade anbot: Angeklagte bei Gericht, Anwälte der Gegenseite, beste Freundin, Kinder, Ehemann – niemand blieb verschont. Apropos Ehemann. Siena schüttelte ungläubig den Kopf. Matteo? Eine Affäre? Er bewunderte Sara doch so offensichtlich, er war doch so ein begeisterter Vater. Als hätte Sara das Kopfschütteln durchs Telefon gesehen, sagte sie trocken: »Du kannst es ruhig glauben. Es ist der Klassiker: Ich habe eine Streichholzschachtel mit einem Hotel-Logo bei ihm entdeckt und ihn gefragt, ob er sich in diesem Hotel mit seiner Geliebten trifft. Das sollte ein Scherz sein.«

Siena war nicht sicher, ob Sara gerade wieder ein kurzer Schluchzer entwischt war, aber im nächsten Moment sprach sie ganz gefasst weiter: »Und er hat einfach Ja gesagt. Dass er sich dort mit ihr trifft. Hotel Paradiso.« Sara spuckte den Hotelnamen voller Verachtung aus. »Ich habe es gegoogelt. Eine richtig schäbige Kaschemme. Stronzo

Siena öffnete erneut den Mund, doch da erklang am anderen Ende ein lang gezogenes Heulen. Es klang wie die Alarmanlage eines kaputten Autos. »Scusa, Siena, Paolo hat sich die Finger eingeklemmt, ich muss Schluss machen. Ich melde mich wieder.« Damit legte Sara auf und ließ Siena verdattert im Regen stehen. Wortwörtlich. Sie starrte auf das Handydisplay mit dem Spinnennetz und versuchte, die Informationen, die sie gerade erhalten hatte, irgendwie zu verarbeiten. Dabei fiel ihr auf, dass sie selbst in diesem Telefonat keinen einzigen Satz gesagt hatte.

Das Handy summte wieder. Es war eine Nachricht von Alessia, ihrer Lieblingskollegin. Wo bleibst du?

»Cavolo.« Siena steckte ihr Handy ein und rannte los. Der Regen durchweichte ihre Jeansjacke und das gelbe Shirt darunter. Die glatten schwarzen Haare hingen schon nach kurzer Zeit in nassen Strähnen herunter. Egal. So fiel der Fleck am Po wenigstens nicht mehr so sehr auf.

Als Siena die Redaktion am Borgo di San Lorenzo erreichte, war sie völlig außer Atem. Sie musste unten im Treppenhaus kurz innehalten und nach Luft schnappen. Und als sie schließlich die Redaktionsräume betrat, wurde sie von Stille empfangen. So ein Mist! Die Konferenz hatte also schon begonnen, und sie war wieder einmal zu spät dran. Aus dem größten Raum des Büros drang leises Gemurmel durch den Korridor bis zu ihr. Siena lief schnell darauf zu. Ihr blieb keine Zeit mehr, sich zumindest die tropfnassen Haare abzutrocknen. Und noch weniger, ihre wirren Gedanken zu sortieren. Sara, Matteo, Stronzo. Das alles musste sie jetzt beiseiteschieben. Durchnässt und atemlos, wie sie war, betrat sie den Konferenzraum.

Enzo blickte von seinem Laptop auf und grinste. »Lass mich raten: Dein Fön war kaputt.«

»Fast.« Siena grinste zurück. »Ich wollte den Wet Look aus der Donna nachstylen, und das hat ein bisschen gedauert.«

Enzo lachte, genauso Guido und Susanna, die beiden Programmierer. Jeder in der Redaktion wusste, dass Siena mit Frauenzeitschriften nichts anfangen konnte und vermutlich noch nie in ihrem Leben irgendeinen »Look« nachgestylt hatte. Alessia lächelte und nahm rasch ihre Jacke vom Stuhl neben sich, sodass Siena sich zu ihr setzen konnte. Nur Davide verzog keine Miene. Aber der ging zum Lachen sowieso in den Keller. Oder – noch schlimmer – er lachte vielleicht auch einfach gar nie.

Siena ließ sich neben Alessia auf den Stuhl fallen. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie unangenehm die nassen Klamotten an ihr klebten. Sie rutschte auf der Sitzfläche hin und her. Hoffentlich war Enzo nicht in Redelaune und das hier schnell vorbei. Im nächsten Moment erinnerte sie sich mit schlechtem Gewissen an einen ihrer Vorsätze, den sie gerade schon wieder im Begriff war über den Haufen zu werfen: Eigentlich wollte sie sich in Zukunft wieder mehr in der Arbeit engagieren und das durch zahlreiche konstruktive Beiträge in den Konferenzen auch Enzo gegenüber zum Ausdruck bringen.

Sie hatte es im Job ziemlich schleifen lassen seit der Sache mit den Morden. Und Luca. Und Fabrizio Straghetti. Und in letzter Zeit war sie außerdem viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, auf ihr Handy zu starren … Siena seufzte und zuckte im nächsten Moment zusammen. Offenbar hatte sie ziemlich laut geseufzt, denn Guido, der gerade etwas erklärte, verstummte, und alle sahen irritiert zu ihr herüber. Siena räusperte sich, lächelte und nickte ihm zu. Guido erklärte daraufhin weiter irgendwelche Hintergründe und Details, die sie nicht im Geringsten interessierten. Dafür, dass sie bei einem Onlineportal arbeitete, war Siena sowieso relativ wenig an Technik und Digitalem interessiert. Aber als sie in ihrem Beruf als Lehrerin nach nur zweieinhalb Jahren das Handtuch geworfen hatte, da war ihr Studienfreund Enzo als Retter in die Bresche gesprungen. Er hatte ihr einen Job als Redakteurin angeboten, und weil Siena von Natur aus neugierig, sprachgewandt und abenteuerlustig war, hatte sie kurzerhand zugesagt. (Na gut, ein bisschen auch, weil sie sich die hämischen Kommentare ihrer Mutter über ihre Arbeitslosigkeit und Faulheit ersparen wollte. Und irgendwie die Miete für ihre Wohnung in der Via Ghibellina, unweit von einem der schönsten Plätze der Stadt, Santa Croce, bezahlen musste.)

Damals, vor fast sechs Jahren, war Toscana in Diretta noch ein kleines Start-up-Unternehmen gewesen. Nicht mehr als eine fixe Idee von Enzo, die sein reicher Vater, ein alteingesessener florentinischer Geschäftsmann, großzügig bezuschussen musste. Doch Enzo hatte es tatsächlich mit Beharrlichkeit und seiner ganz eigenen Art von Bauernschläue geschafft, ein florierendes Business aufzubauen. Auf dem Portal mit Nachrichten aus der Region schalteten inzwischen alle Restaurants, Hotels und Geschäfte, die Rang und Namen hatten, ihre Anzeigen. Clubs und Galerien ließen sich die Ankündigung ihrer Events etwas kosten. Je mehr Reichweite die Geschichten auf der Seite vorweisen konnten, desto mehr kosteten auch die Anzeigen. Daher war Enzo ganz wild darauf, mit den Storys und Berichten auf Toscana in Diretta möglichst viele Klicks zu erreichen. Und er hatte einen sehr guten Riecher dafür, welche Geschichten ankamen: vor allem Fußball, Prominente und Verbrechen. Am besten eine Kombination aus allen dreien.

»Polizeibericht« hörte Siena wie aufs Stichwort in diesem Moment Davide sagen und horchte auf. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass nicht mehr Guido an der Reihe war. Davide, der übereifrige, korrekte und humorlose Kollege, zog seine fein gezupften Augenbrauen hoch und starrte sie an. »Natürlich«, bemerkte er. »Bei dem Wort Polizei haben wir die Aufmerksamkeit unserer lieben Siena sofort wieder.«

Alle grinsten, denn jeder wusste, dass Siena sich sehr für Polizeiarbeit jeder Art interessierte, und alle hatten außerdem mitbekommen, dass sie eine Weile mit Luca Bruni ausgegangen war. Zum Glück wusste aber niemand, dass sie heimlich von einem ganz anderen Polizisten träumte. Und das musste auch so bleiben, sonst …

»Straghetti«, sagte Davide in diesem Moment.

Siena erstarrte. Wusste Davide etwas? Aber wie? Woher? Ihr wurde heiß, und ihre Wangen glühten.

»Ist was, Siena?« Wieder Davides kühle, ruhige Stimme. »Du wirst ja ganz rot.«

Siena räusperte sich, doch bevor sie etwas antworten konnte, hakte zum Glück Enzo ein. Er war von Natur aus sehr ungeduldig, und wenn er Klicks witterte, umso mehr. »Ja, was hat dieser Kommissar … Stragoni gesagt?« Enzo klang bereits genervt.

»Straghetti«, korrigierte Siena ihn, ohne nachzudenken.

Enzo sah verwirrt zu ihr herüber, und sie vermied seinen Blick. »Wie auch immer, ich will wissen, ob wir eine Story haben«, knurrte er.

»Er hat nur eine kurze Pressekonferenz gegeben, aber es gibt wohl einige Anhaltspunkte dafür, dass es ein Raubüberfall war«, fasste Davide die Informationen zusammen. »Die Loge war durchwühlt, und die kleine tragbare Kasse wurde mitgenommen. Junkies, würde ich sagen.«

Siena versuchte, ihre rasenden Gedanken zu sortieren. Loge? Junkies? Kasse? Und vor allem: Straghetti! Worum ging es hier? Warum konnte sie nicht ein Mal, ein einziges Mal, in den Konferenzen richtig zuhören?

»Eventuell kann einer von euch sich trotzdem einmal in diesem Hotel umsehen«, sagte Enzo. Er wollte die Vorstellung von vielen Klicks nicht so einfach aufgeben – und lokale Verbrechen waren eigentlich ein Garant dafür.

»Hotel Paradiso, in der Nähe der Piazzale Donatello«, sagte Davide und nickte. »Geht klar.«

Hotel Paradiso? Plötzlich hörte Siena Saras wütende, verächtliche Stimme. Hotel Paradiso

»Stronzo«, murmelte sie.

»Danke für das Kompliment«, sagte Enzo und deutete eine Verbeugung an. Alle lachten. Alle, außer Davide natürlich. Der klappte seinen High-End-Laptop zu, auf dem er bei jeder Konferenz eifrig irgendwelche Notizen tippte, und stand auf. »Hotel Paradiso, bin schon unterwegs«, sagte er. Enzo schüttelte den Kopf. »Nein, nicht du. Siena fährt zum Hotel«, ordnete er an. Siena zuckte zusammen. In ihrem Kopf wirbelten so viele Gedanken durcheinander – Sara, Matteo, Straghetti –, und sie hatte absolut nicht mitbekommen, worum es hier eigentlich ging. Ein Toter im Hotel, okay. Irgendetwas von Raub und Junkies hatte Davide erzählt, auch okay. Aber wann war das Ganze passiert, wer war der Tote – und was bitte schön sollte sie dort machen?

»Siena? Bist du bei uns?«, drang Enzos ungeduldige Stimme zu ihr durch.

Sie räusperte sich. »Si, certo. Sicher. Ich frage mich nur, was ich dort soll. Die werden mich doch nicht durchlassen.« Sie bemerkte selbst, wie zaghaft sie geklungen hatte. Enzo zog die Augenbrauen hoch. Das erste Anzeichen dafür, dass er auf dem Weg war, ernsthaft genervt zu sein. »Ich habe doch gerade gesagt, dass die Spurensicherung längst durch ist«, erklärte er langsam und deutlich. Siena nickte. Reiß dich zusammen, Siena. In allen deinen Träumen UND Tagträumen bist du Numero Quattro, Agentin ohne Furcht und Zweifel. Und jetzt stellst du dich so an? Sie griff nach ihrer Tasche. Außerdem … Enzo schickte sie und nicht Davide, der sich wieder hingesetzt hatte. Das hieß doch, dass er ihr mehr zutraute und …

»Davide, du kümmerst dich ums Goldengate. Das ist unsere wichtigste Story im Moment. Wir brauchen jeden Klick«, kam just in diesem Augenblick die nächste Anweisung von Enzo. Davide warf Siena einen triumphierenden Blick zu. Oder bildete sie sich das nur ein?

Goldengate beherrschte in der Tat die lokale Presse wie kein anderes Thema. Der Kapitän der florentinischen Fußballmannschaft AC Florenz war im superedlen Ristorante d’Oro intensiv turtelnd mit einer bekannten Schauspielerin gesichtet worden, während seine Ehefrau wegen einer Risikoschwangerschaft zu Hause ans Bett gefesselt war. Und weil Ristorante d’Oro übersetzt so viel wie »Goldenes Restaurant« hieß, hatten die Medien in Anlehnung an die berühmte Watergate-Affäre daraus »Goldengate« gemacht.

Na wunderbar. Also traute Enzo ihr eben nicht so viel zu wie Davide. Sie wurde nur mit irgendeinem unwichtigen Thema betraut, während Davide die Top-Storys bekam. Sie seufzte und stand auf. Das Einzige, was sie persönlich am Goldengate interessierte, war, wie man so dumm sein konnte, mit seiner Geliebten in eines der angesagtesten Lokale der Stadt zu gehen.

Unten auf der Straße überlegte sie kurz. Ihre Klamotten waren immer noch unangenehm nass, aber der Regen hatte aufgehört, und die Herbstsonne schien aus einem jetzt wieder blitzblauen Himmel. Sie beschloss, erst einmal nach Hause zu gehen und sich trockene Kleidung anzuziehen. Und dann würde sie mit dem Rad zum Hotel Paradiso fahren.

Siena ärgerte sich, dass sie nicht gleich in der Früh das Fahrrad genommen hatte. Aber sie hatte den Schlüssel für das Fahrradschloss nicht gefunden und beschlossen, lieber zu Fuß zu gehen und nicht noch mehr Zeit mit Suchen zu verschwenden. Es war Dienstag, und jeden Dienstag traf sich das gesamte Team um zehn Uhr im Konferenzraum, um sich über den aktuellen Stand der Dinge auszutauschen und eventuelle Probleme anzusprechen. Und obwohl Enzo an sich ein sehr entspannter Chef war, hielt er diesen Termin jede Woche in Ehren und schätzte es gar nicht, wenn jemand zu spät erschien. Deshalb war Siena lieber direkt losgegangen. Als sie dann die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, war ihr ganz plötzlich wieder eingefallen, wo der Schlüssel lag: Sie hatte ihn am Abend vorher auf dem Badschrank abgelegt. Sie war mit dem Schlüssel in der Hand eilig zur Wohnungstür hereingestürzt, weil sie so dringend auf die Toilette musste, war direkt ins Bad gerannt und hatte den Schlüssel dort abgelegt. Na ja, immerhin wusste sie es jetzt und musste nicht die ganze Wohnung auf den Kopf stellen, sondern konnte sich in Ruhe etwas Trockenes anziehen.

Apropos anziehen. Siena blieb abrupt stehen, weil sie aus dem Augenwinkel in einem Schaufenster etwas leuchtend Gelbes entdeckt hatte. Sie betrachtete die Auslage näher. Es war ein gelber Kurzmantel, leicht tailliert, aus Wolle, mit einem breiten Gürtel und einer Kapuze. Er sah so kuschelig aus, dass Siena sich am liebsten auf der Stelle die feuchten Klamotten vom Leib gerissen hätte und in den gelben Mantel geschlüpft wäre. Gelb war ihre Lieblingsfarbe, seit sie denken konnte. Definitiv bereits, seit sie ein Teenager gewesen war. Denn mit dreizehn hatte sie ihr Kinderzimmer mithilfe ihrer Oma und deren Untermieter Gianni in ein Jugendzimmer verwandeln dürfen. Mit neuen Möbeln und einer neuen Wandfarbe. Und Siena hatte sich schon damals Wände in Sonnengelb gewünscht. Die Farbe war jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, stellenweise schon recht abgeschabt, aber immer noch da. Sienas Blick streifte die kleine Tafel mit den Preisen, die ganz dezent am Rand des Schaufensters platziert worden war. Cappotto con Cappuccio 220 stand da. Mantel mit Kapuze, 220 Euro. Siena riss sich vom leuchtend gelben Anblick los und ging weiter. 220 Euro für einen Mantel, das überstieg im Moment eindeutig ihr Budget. Schließlich war die Miete, die sie monatlich für eine eigene Wohnung im Zentrum von Florenz berappen musste, kein Pappenstiel. Während sie die Via Ghibellina entlangging, versuchte sie sich einzureden, dass der Mantel sowieso nicht zu ihrem Stil passte. Er war schmal geschnitten, und das Material sah edel aus. Das war nichts für sie. Oder? Ihre Schritte wurden langsamer. Was war eigentlich ihr Stil? Was passte zu ihr? Sie hasste Shopping und machte sich eigentlich auch wenige Gedanken über Klamotten. Hauptsache, sie waren bequem, schnürten nicht ein und klafften nicht an irgendwelchen ungünstigen Stellen auf, sodass man ständig nervös daran herumzupfen musste. Sie erinnerte sich mit Missfallen an jenes wunderschöne, bunt gestreifte Wickelkleid aus Viskose, das sie sich einmal spontan geleistet hatte. Erst in der Redaktionskonferenz war ihr aufgefallen, dass es keine Möglichkeit gab, sich damit so hinzusetzen, dass nicht mindestens ein Oberschenkel frei lag. Sie hatte es die ganze Zeit mit einer Hand zugehalten und danach nie wieder angezogen. Abgesehen von der Bequemlichkeit war Siena an Kleidung eigentlich immer am wichtigsten gewesen, dass sie sich nicht zu ähnlich kleidete wie ihre Mutter. Die hatte ihren künstlerischen Hippie-Style perfektioniert, und Siena hatte feststellen müssen, dass auch sie selbst leider sehr stark zu bunten Mustern, fließenden Stoffen und auffälligem Modeschmuck tendierte. Schon mehrmals hatte sie sich ein Kleid oder eine Schlabberhose extra nicht gekauft, weil sie sicher war, dass auch ihre Mutter genau zu diesem Teil gegriffen hätte. Das würde bei diesem schicken, teuren Wollmantel sicher nicht passieren, überlegte sie. Vielleicht am Ende des Monats, wenn das Gehalt überwiesen wurde …

Sie hatte ihr Haus erreicht und stieß die schwere Tür auf. Oben in der Wohnung im dritten Stock schälte sie sich aus den feuchten Klamotten und fischte den Schlüssel fürs Fahrradschloss aus dem Körbchen mit den Tampons, das auf dem Badregal stand. Dann fiel ihr ein, dass sie in der Konferenz so gut wie nichts mitbekommen hatte. In Unterwäsche hockte sie sich im Schneidersitz auf den Badvorleger und las in ihrem Handy rasch alles nach, was es zu wissen gab.

Im Hotel Paradiso war der Nachtportier erschossen worden. Er war offenbar in seiner Loge überrascht worden, hatte den Eindringling konfrontiert und war dann frontal mit zwei Schüssen getötet worden. Die kleine tragbare Kasse mit nur wenigen Hundert Euro war gestohlen und die Schubladen des Tisches in der Portierloge waren durchwühlt worden. Man vermutete, dass der Eindringling den Portier gar nicht hatte erschießen wollen, sondern erschrocken war, als er plötzlich vor ihm stand.

Siena runzelte die Stirn. Wenn man in eine Portierloge eindrang, wieso war man dann überrascht, dort einen Portier vorzufinden? Und wenn man ein Junkie auf der Suche nach Bargeld war, wieso hatte man eine Waffe dabei? Siena las weiter.

Im Hotel gab es keine Gäste, denn der Besitzer war vor einigen Monaten nach Mailand gezogen und hatte offenbar kein Interesse mehr an dem Etablissement. Lediglich der Portier verrichtete dort noch Hausmeisterdienste, aber vermutlich sollte das Hotel bald verkauft werden. Und weil niemand im Hotel gewesen war, hatte auch niemand die Schüsse gehört. Der Postbote hatte den Portier am Morgen gefunden, denn er hatte die Post immer direkt in der Loge abgelegt. Siena fröstelte bei der Vorstellung, welcher Anblick sich dem ahnungslosen Briefträger geboten hatte. Sie überflog den nächsten Absatz.

Der Tote, Giuseppe Ragniero, war ein waschechter Florentiner gewesen, achtundsechzig Jahre alt und seit dreißig Jahren im Hotel tätig.

Siena seufzte. Der arme Mann hatte sich vielleicht schon sein schönes Rentnerleben ausgemalt, und dann …

Bumm!

Siena zuckte zusammen. Die Flasche mit dem Shampoo, die sie heute Morgen offenbar zu sehr am Rand des winzigen Abstellbords in der Dusche platziert hatte, war genau in diesem Moment heruntergefallen. Sie runzelte die Stirn. Sollte das ein Zeichen des Universums sein? Und wenn ja, was sollte sie damit anfangen? »So ein Quatsch«, sagte sie laut und stand auf. Die Spurensicherung hat die Arbeit bereits beendet … viele unterschiedliche Fingerabdrücke … noch keine konkreten Hinweise … Polizei ermittelt …, las sie weiter, während sie in ihr Schlafzimmer ging und ihre geliebte gelbe Haremshose und ein schwarzes T-Shirt mit einer Hand aus dem Kleiderschrank fischte. Dabei fielen etliche andere T-Shirts aus dem Fach und auf den Boden. Egal. Siena schob sie mit dem Fuß beiseite. Aufräumen konnte sie auch nachher.

Fünf Minuten später schwang sie sich auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg in Richtung Piazzale Donatello, zum Hotel Paradiso.

Vor dem Gebäude lungerten keine Kamerateams herum, und niemand wuselte in einem weißen Overall ins Haus und wieder heraus. Die Spurensicherung ist durch – Siena rief sich Enzos Worte ins Gedächtnis. Nirgends war ein Polizeiauto zu sehen, und weiträumig abgesperrt war das Gelände auch nicht. Es war überhaupt nirgends Absperrband zu sehen, stellte Siena fest, als sie in einigen Metern Entfernung vom Rad stieg. Kein Mensch interessiert sich für das hier, dachte sie.

Ein einzelner uniformierter Polizist stand am Eingang zum Hotel – und selbst der war vertieft in die Zeitung La Nazione, in der das Goldengate natürlich Thema Nummer eins war. Und kein Mensch interessiert sich für einen toten alten Mann, wenn ein lebendiger junger Mann fremdgeht, dachte Siena.

Als sie sich dem Polizisten, der am Eingang Wache hielt, näherte, blickte er auf. Er sah fast noch wie ein Teenager aus, ein bisschen pickelig und schlaksig. Das war gut – vielleicht hatte sie dadurch leichteres Spiel. Und außerdem wirkte er ein kleines bisschen schuldbewusst, das war sogar noch besser. Sie kramte ihren Personalausweis aus der Tasche und streckte ihn schon im Näherkommen dem jungen Beamten entgegen. »Da bin ich«, verkündete sie forsch. »Wie vereinbart.«

Der Polizist kniff die Augen zusammen, um auf die Schnelle irgendetwas auf dem Ausweis zu entziffern, und schaute Siena dann verdutzt an.

»Wie vereinbart?«, wiederholte er verwirrt.

»Hat man Ihnen denn nicht Bescheid gegeben?«, fragte Siena. »Ich soll noch ein paar Tatortfotos machen.« Das stimmte ja auch. In gewisser Weise. Noch bevor der Polizist etwas antworten konnte, fragte Siena: »Sind Sie alleine?«

Jetzt sah der junge Mann wirklich verunsichert aus. »Mein Kollege holt nur kurz Kaffee«, begann er und verstummte. Wahrscheinlich hatten die beiden die Anweisung erhalten, auf jeden Fall zu zweit auf dem Posten zu bleiben. Wunderbar. Siena lächelte ihn herzlich an und sagte: »Jeder braucht mal eine Kaffeepause. Das müssen die Chefs ja nicht unbedingt wissen.«

Der Polizist nickte, doch er wagte es dennoch nicht, Siena durchzulassen. Er griff nach seinem Handy. »Ich kläre das nur eben mit Commissario Barga.«

»Der ist zu Tisch und möchte nicht gestört werden«, unterbrach Siena und lächelte noch einmal ihr freundlichstes Lächeln. Gut, dass man auf dem schwarzen Shirt die Schweißflecken nicht sehen konnte, die sich in rasender Geschwindigkeit unter ihren Armen ausbreiteten. Der Milchbubi-Polizist wusste jetzt gar nicht mehr, was er tun oder auch nur denken sollte. Er ließ das Handy sinken und starrte Siena an. Weitermachen, Numero Quattro, spornte die sich innerlich an. Sie räusperte sich. »Es geht ganz schnell«, sagte sie und betrat das Hotel, bevor er widersprechen konnte.

Nach dem hellen Sonnenschein draußen kam Siena das Innere des Paradiso stockdunkel vor. Sie versuchte, sich an das wenige Licht zu gewöhnen, und schaute sich um. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und sie musste sich zwingen, ein paarmal tief durchzuatmen. Sie befand sich in einer tristen kleinen Lobby mit einem einzigen, etwas abgeschabten Sessel und einer traurig-verwelkten Topfpflanze. Der erste Eindruck machte dem Namen des Etablissements, Paradiso, nicht gerade alle Ehre. Ein großes Bild schmückte die Lobby, es zeigte eine düstere Szene: Ein Kahn ruderte auf eine zerklüftete Felseninsel zu, auf der dunkle, fast schwarze Zypressen einen Kontrast zu den hellen Felsen bildeten. An Bord des schmalen Ruderbootes stand eine weiß verschleierte Gestalt. Siena spürte eine Gänsehaut auf ihren Armen und wandte sich ab. »Alles sehr einladend hier«, murmelte sie. Zu ihrer Linken erkannte sie eine Glasscheibe, hinter der sich der Empfangstresen befand. Und direkt neben der Glasscheibe entdeckte Siena eine Tür. Weil sie befürchtete, dass der Polizist sie jeden Moment wieder zurückpfeifen würde, öffnete sie, ohne lange zu überlegen, die Tür und betrat den kleinen Raum, der sich dahinter befand. Sie konnte gerade so einen Aufschrei unterdrücken, denn das Erste, worauf ihr Blick fiel, war Blut. Viel Blut. Es bildete einen großen dunklen Fleck auf dem Boden, und auch auf dem Sessel, der in der winzigen Loge stand und wohl einmal beige gewesen war, waren rote Flecken zu sehen. Sogar an der Wand erkannte Siena einzelne dunkelrote Spritzer. Beim Gedanken an den alten Mann, der hier im Sessel gesessen hatte, spürte Siena einen bitteren Geschmack im Mund. Sie schloss die Augen und schluckte. »Numero Quattro«, flüsterte sie wie eine Beschwörungsformel. Langsam ließ der schale Geschmack wieder nach. Siena schaute zum Fenster, vor dem eine fette Spinne ein kunstvolles Netz gewoben hatte, in dessen Zentrum das Insekt jetzt reglos verharrte. Das Spinnennetz ließ Siena kurz an ihr zerborstenes Handydisplay denken. Mist, darum musste sie sich ja auch noch kümmern. Sie trat näher heran und betrachtete das feine Netz, das in den darauf fallenden Sonnenstrahlen glitzerte. Dessen Besitzerin war allerdings ein wirklich großes Exemplar, und Siena drückte vorsichtig gegen das Fenster, das einen winzigen Spalt offen stand. Dabei bemerkte sie, dass es sich gar nicht mehr richtig schließen ließ – und dann durchfuhr es sie wie ein heißer Blitz: Sie hatte am Tatort etwas berührt, ja sogar versucht, ein bedeutsames Detail zu verändern! Ein offenes Fenster oder ein geschlossenes – das machte ja wohl einen gewaltigen Unterschied. Schnell wandte sie dem Fenster samt Spinnennetz den Rücken zu und ließ den Blick über den Schreibtisch schweifen, der neben dem Sessel das einzige Möbelstück in der Loge war. Wenn man den Garderobenständer in der Ecke nicht mitrechnete, an dem ein blauer Regenmantel hing.

Die Schubladen waren herausgerissen, vereinzelte Blätter und Visitenkarten lagen auf dem Boden. Ob die Polizei wohl irgendetwas mitgenommen hatte? Oder war der Fall so eindeutig, dass man nicht länger ermitteln musste? Ohne lange darüber nachzudenken, zückte Siena ihr Handy und machte ein paar Fotos von dem Raum. Plötzlich blieb ihr Blick an einer Postkarte hängen, die auf dem Boden direkt vor ihren Füßen lag. Diese Ansicht erkannte sie sofort: den Hamburger Hafen. An der Uni hatte sie sich mit einer deutschen Studentin aus Heidelberg angefreundet. Sabine war nach dem Studium in Florenz nach Hamburg gezogen, und Siena hatte sie dort schon mehrmals besucht. Sie liebte die Stadt mit dem nordischen und für sie sehr exotischen Flair, und am allermeisten liebte sie den Hafen. Instinktiv bückte sie sich und hob die Karte auf. Sie betrachtete die Ansicht einen Augenblick und drehte die Karte um. Doch bevor sie lesen konnte, was darauf stand, hörte sie schnelle Schritte und eine schneidende Stimme: »Was genau machen Sie hier?«

Der Kollege mit dem Kaffee war zurück und offenbar nicht so naiv wie sein Partner. Blitzschnell ließ Siena die Karte in ihrer Tasche verschwinden und drehte sich um. Der neue Polizist stand in der Tür der Loge und sah ziemlich sauer aus.

Ruhe bewahren, Siena.

»Dürfte ich hier mal kurz durch, bitte?«, fragte sie mit einem strahlenden Lächeln, drängte sich an dem Beamten vorbei in die schäbige Lobby und marschierte zielstrebig weiter nach draußen. Je schneller sie von hier verschwand, desto besser. Was hatte sich Enzo nur wieder dabei gedacht, sie hierherzuschicken?

»He«, rief der Kaffeeholer ihr nach. Er klang nun ebenfalls etwas verwirrt. Siena nickte dem jungen Beamten draußen, der jetzt einen Becher in der Hand hielt, freundlich zu. »Eine angenehme Pause wünsche ich«, sagte sie. »Und wie gesagt, die Bargas und Straghettis und wie sie alle heißen, müssen davon ja nichts wissen.« Bei der Erwähnung von Straghetti schienen beide Polizisten kurz zu erstarren. Kein Wunder. Er war ein ranghoher, angesehener und ziemlich erfolgreicher Polizist. Siena musste sich anstrengen, seinen Namen ungerührt auszusprechen. Aber dieser Name war nun einmal der einzige, den sie parat hatte und mit dem sie sich ein bisschen glaubwürdiger machen konnte. Sie ging mit rasendem Puls auf ihr Fahrrad zu.

»He«, rief ihr der zweite Polizist nach. »Wo ist denn Ihr Equipment für Tatortfotos?«

Siena öffnete das Fahrradschloss mit zittrigen Händen und stieg auf. »Das macht man heute doch alles mit dem Handy«, rief sie zurück.

Dann trat sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, kräftig in die Pedale. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Sie hoffte inständig, dass die beiden Beamten keinen direkten Kontakt zu Straghetti hatten und ihm somit auch nichts von einer seltsamen Frau in gelber Schlabberhose berichten konnten, die am Tatort Handyfotos gemacht hatte. Das wäre wirklich das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Das Allerletzte.

Erst, als sie sich wieder der Via Ghibellina näherte, trat sie langsamer in die Pedale. Und ihre Gedanken kehrten zurück zu dem, was heute Morgen passiert war und was sie in der letzten Stunde erfolgreich verdrängt hatte: Sara, Matteo und die Geliebte. Die Geliebte, die er ausgerechnet im Hotel Paradiso getroffen hatte. Siena hielt an und fischte ihr Handy aus der Tasche. In Windeseile tippte sie eine Suchanfrage. Nein, nichts: Es gab in ganz Florenz tatsächlich nur ein einziges Hotel Paradiso. Es bestand kein Zweifel. Matteo hatte seine Geliebte ausgerechnet in dem Hotel getroffen, in dem sie gerade die Blutspritzer an der Wand betrachtet hatte. Was für ein absurder Zufall.

Oben in der Wohnung stellte sie den Espressokocher auf den Herd und rief Enzo an. »Ich war drin«, sagte sie anstelle einer Begrüßung, und es gelang ihr nicht, dabei bescheiden zu klingen.

»Du warst drin? Wo drin?«, fragte Enzo verständnislos.

»Wo wohl? Im Hotel Paradiso. Am Tatort.« Sie betonte jedes Wort.

»Aha«, machte Enzo.

»Aha? Das ist alles? Ich habe die Blutspritzer gesehen, die Blutlache. Ich musste zwei Polizisten austricksen!« Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Da machte sie sich zum Affen und riskierte auch noch, Straghetti ernsthaft zu verärgern – und dann kam kein Lob? Genauer gesagt: überhaupt keine Reaktion?

»Gut, Siena, aber das hatte ich ja gar nicht erwartet«, sagte Enzo beiläufig.

Wie bitte? Sie sagte nichts.

»Ich habe doch gesagt, du sollst ein Foto von außen machen und beobachten, ob sich etwas tut. Ob Polizei da ist, wie die Stimmung vor Ort ist. Ich habe nicht erwartet, dass du die Staatsgewalt überwindest.«

Lachte er jetzt etwa? Siena war drauf und dran aufzulegen, da dämmerte ihr in einem Hinterstübchen ihres Kopfes, dass Enzo das vermutlich tatsächlich in der Redaktionskonferenz so gesagt hatte. Sie hatte nur nicht zugehört. Wegen Straghetti und wegen dieser verdammten Ameisen.

»Hör zu, Siena«, sagte Enzo jetzt. »Goldengate ist in vollem Gange. Die Ehefrau hat auf Instagram gepostet …«

»Interessiert mich nicht«, unterbrach Siena ihn. »Hast du Arbeit für mich?«

»Ja, mach mir doch bis morgen bitte den Vorbericht zur Klassik auf der Piazza Signoria, okay? Ciao ciao!«

»Che cavolo«, fluchte Siena und knallte das Handy unsanft auf den kleinen Bistrotisch. Für einen größeren Tisch war in der winzigen Küche kein Platz. Ein Blubbern und Zischen drang an ihr Ohr. »Che cavolo!«

Der Kaffee brodelte bereits und lief über den Rand der silbernen Kanne. In der Küche breitete sich ein leicht verbrannter, bitterer Geruch aus. Siena löschte die Flamme des Gasherds und riss die Kühlschranktür auf. Sie schenkte sich ein Gläschen Limoncello ein und stürzte es in einem Zug herunter. Dann ließ sie sich auf einen ihrer zwei Barhocker sinken und griff nach ihrem Handy. Es wurde Zeit, sich mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen! Sie wählte Saras Kontakt aus und ließ es lange läuten, aber ihre beste Freundin ging nicht ans Telefon. Eilig tippte Siena stattdessen eine Nachricht: Wie geht es dir? Ich bin hier, wenn du reden willst. Ich kann auch gerne zu dir kommen. Bitte melde dich! Sie fügte drei Herz-Emojis hinzu und schickte die Nachricht ab. Dann blieb sie etwas ratlos und kraftlos einfach sitzen.

Sie fühlte sich ziemlich unwohl in diesem Augenblick. Sie machte sich einerseits natürlich Sorgen um Sara, andererseits verfolgte sie auch der Anblick der Blutflecken mehr als erwartet. Dazu kam noch der Ärger über Enzo und – wenn sie ehrlich war – auch der Ärger über sich selbst. Schließlich hatte ja sie in der Konferenz nicht richtig aufgepasst. Und vor allem hoffte sie nach wie vor, dass Straghetti niemals und unter keinen Umständen von ihrem Auftritt im Hotel Paradiso erfahren würde. Siena knetete nervös ihre Finger und versuchte, das Unvermeidliche noch etwas hinauszuzögern. Aber es half nichts.

Sie brauchte eine Zigarette, und zwar dringend. Sie befand sich gerade in einer Nichtraucherphase und hatte schon zwei Wochen lang durchgehalten. Sie dachte kurz nach. Okay, da war dieser Abend in der Bar al Centro mit Alessia gewesen. Eventuell hatte sie da eine einzige, klitzekleine Zigarette geraucht. Aber zehn Tage hielt sie es jetzt ganz bestimmt schon durch!

Siena stand vom Barhocker auf und griff nach ihrer Tasche. Befand sich in deren Untiefen nicht noch irgendwo eine angebrochene Schachtel? Ungeduldig wühlte sie in der Tasche und kippte den gesamten Inhalt schließlich kurzerhand auf dem Bistrotisch aus. Diverse Taschentücher (benutzt und unbenutzt), ein Labello, zwei Tampons, ein Halstuch, das Notizbuch mit den Zitronen, zweieinhalb Kugelschreiber (von einem fehlte das Innenleben), einige Münzen, und was zum Teufel war das? Siena betrachtete das zerknitterte Stück Karton einen Moment lang verständnislos, dann strich sie es glatt und erinnerte sich wieder: Es war die Ansichtskarte vom Hamburger Hafen, die sie vorhin in der Loge instinktiv hastig in die Tasche gestopft hatte. Auf der Rückseite befand sich ein Stempel mit einer Adresse in Hamburg. Anwaltskanzlei stand da in der ersten Zeile der Anschrift. Siena hatte sich redlich bemüht, für die Besuche bei Sabine ein wenig Deutsch zu lernen, aber richtig gut war sie nie darin geworden. Sie befragte schnell Google Translate. »Ah, studio legale«, murmelte sie. Darunter waren zwei Telefonnummern gekritzelt worden. An der Vorwahl erkannte Siena sofort, dass eine der beiden eine Festnetznummer in Florenz war. Aus einem Impuls heraus tippte Siena die Nummer in ihr Handy. Sie wusste eigentlich nicht genau, warum sie das tat – aber sie war eben von Natur aus neugierig. Sehr neugierig. Und impulsiv. Nach wenigen Sekunden bereits meldete sich am anderen Ende eine Frauenstimme: »Studio Legale Dante a Firenze, come posso aiutare, wie kann ich helfen?« Die Stimme klang ein wenig gelangweilt, aber trotzdem professionell freundlich. Eben wie jemand, der es gewohnt war, täglich viele Anrufe entgegenzunehmen.

Siena legte vor Schreck direkt wieder auf. Aber es war nicht die leicht näselnde Frauenstimme gewesen, die sie so aus dem Konzept gebracht hatte. Studio Legale Dante. Das war die große Anwaltskanzlei, bei der Saras Ehemann Matteo angestellt war. Siena ließ sich wieder auf den Barhocker sinken und starrte abwechselnd die Postkarte und ihr Handy an. Noch so ein eigenartiger Zufall. Und er betraf schon wieder Matteo. Mit einem sehr flauen Gefühl tippte Siena die zweite Telefonnummer, die auf der Rückseite der Postkarte stand, in ihr Handy ein. Servizio legale 24/7 war handschriftlich neben dieser Nummer notiert worden. »Juristische Dienstleistungen rund um die Uhr«, murmelte Siena. Du bildest dir da jetzt nur irgendetwas ein, das kann jede Handynummer sein. Doch als Siena die letzte Ziffer eingetippt hatte, meldete ihr Smartphone auch schon, dass diese Nummer bereits in ihren Kontakten gespeichert war: Siena schluckte, als Matteos lächelndes Kontaktfoto auf dem Display erschien. Sie legte das Handy schnell auf den Tisch, so als wäre es plötzlich glühend heiß.

Was hatte das zu bedeuten? Matteo traf in irgendeinem viertklassigen Hotel seine Geliebte. Genau da wurde der Portier ermordet. Und genau in dessen Loge befand sich eine Postkarte mit der Nummer von Matteos Arbeitgeber und dazu noch mit seiner privaten Handynummer. War das jetzt der Beweis für die Affäre? Aber warum sollten seine Kontaktdaten dann in der Loge des Portiers liegen? Und dazu noch die Nummer seines Arbeitgebers und der Hinweis auf die juristischen Dienstleistungen? Wenn das kein Codewort für irgendwelche eigenartigen Rollenspiele war, dann musste es doch eher bedeuten, dass Matteo irgendwie beruflich mit dem Hotel Paradiso zu tun hatte? Außerdem hatte sie doch gelesen, dass im Hotel in den letzten Monaten gar keine Gäste mehr gewesen waren … Oder war das eventuell ein ganz eigenes Business: inoffizielles Vermieten von Zimmern für heimliche Treffen? Ganz ohne Dokumente, ohne Unterlagen, ohne Beweise? Ihre Gedanken wollten gleichzeitig in verschiedene Richtungen losgaloppieren.

Ruhig bleiben. Fokussieren. Was half beim Fokussieren? Nervös sah Siena sich in der Küche um und knetete ihre Hände.

Meditation?

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