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So, wie du bist

Als Buch hier erhältlich:

Was ist noch schlimmer, als die neue Chefin zu hassen? Mit ihr ins Bett zu wollen!

Liz arbeitet gemeinsam mit ihren drei MitbewohnerInnen als Redakteurin des queeren Magazins Nether Fields in New York, und hat dort in ihrer großen Freundesgruppe ein Zuhause gefunden. Doch dann steht das Magazin vor dem Bankrott, und nur die Übernahme durch zwei Privatinvestorinnen kann ihre Jobs retten. Nun müsste Liz eigentlich dankbar sein, dass ihre Zukunft weiterhin gesichert ist, doch die Budgetkürzungen, die Daria, die ruchlosere der beiden Investorinnen, vornimmt, machen ihr das reichlich schwer. Kein Bagel-Freitag mehr? Ein passwortgeschützter Farbdrucker? Dazu kommt noch Darias kaum verhohlene Abneigung gegenüber Liz' Artikeln ...

Als die beiden immer mehr Zeit miteinander verbringen, blickt Liz jedoch langsam hinter Darias harte Schale: Sie ist witzig, rücksichtsvoll, und scheint die Art, wie Liz' Gender-Präsentation zwischen Butch und Femme wechselt, zu mögen. Es fällt Liz immer schwerer, sie zu hassen – und die Funken, die zwischen ihnen fliegen, zu ignorieren ...


  • Erscheinungstag: 21.11.2023
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004432

Leseprobe

Für alle, die jemals daran gezweifelt haben, dass es da draußen für sie ein Happy End gibt

1

Es ist allgemein bekannt, dass, wenn man eine Dinnerparty für einen Haufen Lesben schmeißt, mindestens die Hälfte von ihnen garantiert vegan ist. Das war leider auch der Grund, warum Liz’ Mitbewohnerin sie gleich ermorden würde.

Vor der Wohnungstür blieb Liz, die gerade quer durch Crown Heights bis zu ihrem Apartment im zweiten Stock ohne Aufzug gesprintet war, keuchend stehen. Nach einer quälend langsamen Metrofahrt aus Manhattan hatte sie sich auch noch durch die Massen auf der Franklin Avenue boxen müssen: Eltern, die vor dem Karatestudio auf ihren Nachwuchs warteten, Pärchen, die vor dem hippen Pop-up-Restaurant Schlange standen, eine Großfamilie, die mitten auf dem Gehweg grillte, und Dutzende von Menschen, die sehr kleine, sehr langsame Hunde spazieren führten.

Liz sprach ein stummes Stoßgebet, dass Jane heute versöhnlich gestimmt war. Die Party würde auch ohne Streit eine verkrampfte Nummer werden. Dann warf sie mit möglichst dramatischer Geste die Tür auf.

»Ich bin echt das Allerletzte«, stieß sie vornübergebeugt zwischen Atemzügen hervor und stützte die Hände auf die Knie. »Ich weiß es selbst. Spar’s dir einfach. Du bekommst mein Erstgeborenes als Entschädigung.«

Jane, eine Schwarze Frau mit dunkler Haut und langen, dünnen Braids, ließ ein lautes »Hmpf« aus der Küche hören, wo sie eine Pfanne schwenkte, in der allem Anschein nach Zwiebeln brutzelten.

»Du hättest vor zwei Stunden hier sein sollen.« Ohne aufzusehen, ließ Jane die Pfanne los und riss unsanft die Ofenklappe auf.

»Stimmt doch gar nicht.« Liz schnürte ihre Doc Martens auf und ließ sie im Schuhkuddelmuddel neben der Tür liegen. »Ich hätte vor einer Stunde hier sein sollen. Nicht zwei. Du siehst übrigens fa-bel-haft aus. Und wie das duftet! Ist das Risotto?«

»Wir hatten vier Uhr ausgemacht.« Jane zog ein Blech mit Miniquiches aus dem Ofen und stellte es auf dem Herd ab. Noch immer würdigte sie Liz keines Blickes. »Es ist sechs.«

»Ja, aber wir wissen doch beide, dass du vier Uhr gesagt hast, weil du genau wusstest, dass ich mich um eine Stunde verspäte und erst um fünf komme. Also bin ich nur eine Stunde zu spät.« Liz hievte sich auf einen der Barhocker auf der anderen Seite des Küchentresens, der mit einer beachtlichen Anzahl Zwiebelschalen übersät war.

»Hat ja richtig gut geklappt.« Jane war kurz angebunden. »Jetzt bleibt keine Zeit mehr, die Rote Bete zu dämpfen.«

»Zum Glück habe ich für dieses besondere Problem die ultimative Lösung parat«, sagte Liz betont optimistisch. »Ich hab nämlich gar keine Rote Bete geholt.« Sie klaubte ein paar Zwiebelschalen auf im Versuch, so auszusehen, als machte sie sich nützlich.

Da endlich drehte Jane sich um. »Ist das dein Ernst?«

Liz setzte ihren allerbesten Dackelblick auf. »Der Laden hatte schon zu, als ich ankam.«

Heftiger als nötig knallte Jane den Deckel auf einen der Töpfe. »Dann erzähle ich eben allen, dass es deine Schuld ist, dass wir nichts Veganes haben.«

»Nein!« Liz ließ die Zwiebelschalen fallen und faltete bettelnd die Hände. »Bitte nicht! Charlotte zwingt mich sonst wieder, Videos über Massentierhaltung anzuschauen, und das pack ich heute echt nicht. Ich bin eine zarte Seele, schon vergessen?«

Jane fixierte die mittlerweile karamellisierten Zwiebeln, die sie nun auf einen Teller beförderte. Liz musterte ihre Mitbewohnerin und fürchtete schon, sie könnte wirklich sauer sein.

»Tut mir echt leid, Jane.« Liz wurde ernst. »Du hast ja recht. Ich hätte früher da sein sollen, ich hätte die Rote Bete mitbringen sollen, aber …«

In dem Moment prustete Jane los. Sie hob einen der Deckel an und hielt den Topf schräg, sodass Liz die perfekt gedämpfte Rote Bete darin sehen konnte.

»Katie!«, brüllte Jane. »Ich schulde dir zehn Kröten.«

Hinter ihnen ertönte ein triumphierendes Kreischen. Eine der vom Wohnzimmer abgehenden Türen ging auf, und ihre Mitbewohnerin Katie steckte den Kopf aus ihrem Zimmer.

»Ich hab’s gewusst!« Nur mit einem limettengrünen Handtuch bedeckt, kam Katie in die Küche geflitzt. »Lizzie ist die Königin der Fünf-Stunden-Dates! Ich wusste, dass sie es nie im Leben schafft, noch Rote Bete zu holen.«

»Ich bin überhaupt nicht …«

»Halt, halt, halt!«, unterbrach sie Jane. »Wo hast du sie kennengelernt? Auf Tinder, Her oder Lex?«

Liz brach mitten im Satz ab und kniff die Augen zusammen. »Wieso?«

»Ach, nur so«, sagte Jane mit Unschuldsmiene. Katie kicherte.

Liz verschränkte die Arme und sah argwöhnisch zwischen den beiden hin und her. »Her«, gab sie schließlich zu.

»Ha!« Jane ballte die Siegerfaust.

»Buuuh!«, rief Katie. »Na gut, das macht dann fünf weniger für dich. Aber ich krieg immer noch fünfzehn von neulich im Scissors, als du behauptet hast, Liz lässt sich von dem Dragking abschleppen, und ich gewettet hab, dass sie kneift.«

»Könnt ihr mal aufhören, aus allem in meinem Leben eine Wette zu machen?« Liz widmete sich wieder den Zwiebelschalen. »Außerdem hab ich überhaupt nicht gekniffen.«

»Hast du wohl.« Jane tätschelte ihr die Schulter. »Der war echt heiß, und du hast’s voll verkackt.«

»Wie war überhaupt dein Date?« Katie setzte sich auf einen der Barhocker, was ihrer spärlichen Handtuchbedeckung alles abverlangte. Katie war eher kurvig und somit die einzige Mitbewohnerin, in deren Hosen Liz hineinpasste. Ihr Hautton war ein warmes Braun, und wenn ihr lockiges Haar nicht gerade tropfnass vom Duschen war, trug sie es meist hochgesteckt, damit der Undercut zur Geltung kam.

Liz tigerte stöhnend zum Kühlschrank. »Furchtbar.« Sie griff nach einer Dose White Claw mit Ananasgeschmack und reichte Brombeere an Katie und Mango an Jane weiter.

»Warum sind alle deine Dates furchtbar?«, fragte Jane. »Du musst mal lernen, die Freaks auszusortieren.«

»Was ist denn passiert?«, wollte Katie wissen.

Liz öffnete die Dose mit der Alkohol-Sprudel-Mischung und nahm einen tiefen Schluck. »Ich dachte eigentlich, es läuft ganz gut. Doch dann sagt sie mir am Ende plötzlich, dass es ihr leidtut, aber sie datet gerade keine Löwen.«

Jane und Katie setzten den haargleichen mitfühlenden Blick auf, was nur den Verdacht erhärtete, der Liz schon nach etwa der Hälfte der U-Bahn-Fahrt beschlichen hatte: Ihr Date hatte sie bloß schonend abblitzen lassen.

»Also ich finde, du bist noch mal davongekommen.« Jane machte den Herd aus und trat zu ihnen an den Küchentresen. »Wer zu viel auf Astrologie gibt, hat sie doch nicht mehr alle. Weißt du noch, die eine, die dir ernsthaft verklickern wollte, eure Seelen seien sich in einem früheren Leben schon mal begegnet?«

Liz verzog das Gesicht. »Stimmt. Das war übel.«

»Kommt schon«, sagte Katie. »Das war doch irgendwie romantisch.«

»Warum? Hast du das Gefühl, deine und Lydias Seelen sind sich in einem früheren Leben schon mal begegnet?«

Katie senkte den Blick, drehte die Ziehlasche ihrer Dose ab und schwieg. Liz wünschte, sie hätte einfach die Klappe gehalten – Witze über Katies unerwiderte Liebe zu Lydia gingen zu weit.

»Tut mir leid, Katie«, sagte Liz. »War blöd von mir. Ich hab bloß schlechte Laune, weil ich dieses Jahr schon ungefähr vierzig beschissene Dates hatte. Verzeihst du mir?«

»Schon okay. Wenigstens hast du überhaupt irgendwelche Dates! Seit mir dieser Typ geschrieben hat, Dominikanerinnen ›schmecken einfach besser‹, hab ich Tinder nicht mehr angefasst.« Katie verdrehte die Augen und lachte. Liz lachte mit und war froh, dass Katie nicht nachtragend war. Zum wohl hundertsten Mal nahm sie sich vor, erst zu denken und dann zu reden.

»Und, wie schlimm, meint ihr, wird die Party heute?«, wechselte sie schnell das Thema.

»Am Essen wird sie jedenfalls nicht scheitern.« Jane deutete über ihre Schulter Richtung Herd. »Aber ich schätze, erst sind alle total depri, bevor sie dann stockbesoffen und selbstzerstörerisch werden.«

»Wie es sich eben für eine gute Hurra-nächste-Woche-sind-wir-arbeitslos-Party gehört«, sagte Liz. Jane, Liz, Katie und Lydia wohnten nicht nur zusammen, sondern arbeiteten auch alle für die Nether Fields, ein Onlinemagazin für queere Frauen sowie nichtbinäre und trans* Personen. Was ihr immer wie der perfekte Plan vorgekommen war, hatte, das musste Liz nun zugeben, durchaus seine Schwächen. Zum Beispiel, dass sie kurz davorstanden, alle auf einen Schlag ihr Einkommen zu verlieren.

Jane seufzte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass wir wirklich dichtgemacht werden«, sagte sie kopfschüttelnd. »Wenn es nach mir ginge, würde ich nie woandershin. Ich meine, mich ganz in trans* Themen zu vertiefen bei einem durch und durch queeren Magazin mit einer Person of Color als Chefredakteurin? Besser geht’s doch nicht.«

»Du bist eine sensationelle Journalistin, Jane«, sagte Katie. »BuzzFeed und Autostraddle werden sich nur so um dich reißen, und dann wird alles gut.«

»Ja, aber nicht mehr so wie vorher.« Jane sah aus, als würde sie gleich weinen.

Schuldbewusst nippte Liz an ihrem Getränk – einerseits, weil sie das Thema überhaupt erst angeschnitten hatte, und andererseits, weil sie nicht alles sagte: Auch wenn sie natürlich todtraurig war, dass die Nether Fields vor dem Aus standen, war sie insgeheim auch ein bisschen froh. Im Gegensatz zu Jane, die auf ernste Themen angesetzt war, war Liz für die Ratgeberkolumne zuständig und schrieb über Sex und Beziehungen – Dildobewertungen, Dos und Don’ts beim queeren Dating und alle Jahre wieder den obligatorischen Artikel: »Bringt es die Schere wirklich?« (Antwort: Klar, wenn du irre gelenkig bist.) Als sie gleich nach dem College beim Magazin angefangen hatte, war das noch schön und gut gewesen, doch vier Jahre später war irgendwie die Luft raus. Liz wollte mehr aus ihrem Leben machen. Und nun, da das Magazin eingestellt wurde, hatte sie auch einen Plan. Nur hatte sie diesen Plan ihren Freund*innen noch nicht eröffnet.

Zum Glück flog in dem Moment die Tür auf, und Lydia platzte in das betretene Schweigen, schwer bepackt mit zwei Sixpacks Hard Seltzer und mehreren Tüten, aus denen längliche Flaschenhalse ragten.

»Wir müssen in eine Wohnung mit weniger Stufen ziehen«, schnaufte Lydia. »Ich schwitze mein ganzes heißes Outfit voll.« Dey zeigte an sich herunter: Über den hautengen silbernen Elastanshorts wallte eine Hemdbluse zum Zuknöpfen, die aber vor allem aufgeknöpft war. Lydia war gertenschlank, weiß und androgyn mit kahl rasiertem Kopf und einem so selbstbewussten Auftreten, dass selbst die unterirdischste Klamotte an demm noch irgendwie gut aussah. Katie stand auf, um Lydia zu helfen.

»Ist das etwa Schnaps?«, fragte Jane. »Willst du uns umbringen?«

»Vielleicht«, sagte Lydia fröhlich. »Leute, das ist unsere letzte Chance auf eine heiße Büroaffäre. Da müssen wir uns doch Mut antrinken.«

Katie, die gerade dabei war, die Dosen noch irgendwie in den Kühlschrank zu stopfen, schaute hoch.

»Aber keine Sorge. Für uns hab ich was Besonderes.« Lydia wühlte in einer der Tüten und zog vier Fläschchen hervor. Unter dem Schriftzug FIREBALL spuckte ein roter Drache Feuer. Schmeckt wie der Himmel, brennt wie die Hölle, versprach das Etikett. Sofort brach allgemeiner Protest aus: Jane behauptete, sie sei zu alt, Liz beteuerte, von Whiskeylikör werde ihr schlecht, und Katie erklärte, Fireball sei einfach widerlich. »Keine Widerrede!«, würgte Lydia sie alle ab. »Unser Leben steht vor dem Wendepunkt. Wer weiß schon, was wir übernächste Woche machen? Also feiern wir diesen Moment – als Arbeitskolleg*innen, als Mitbewohner*innen und als beste Freund*innen.«

Lydia zog die anderen dicht zu sich heran und verteilte mit ernster Miene die Fireball-Fläschchen.

»Wir verlieren nächste Woche nicht bloß irgendeinen Job.« Lydia sah sich im Kreis um. »Wir verlieren eine Freundin. Die Nether Fields sind vielleicht nur ein kleines Onlinemagazin, das keine Kohle bringt, aber auch ein saucooler queerer Space, der schon zig Leuten geholfen hat. Und heute Abend lassen wir es hochleben!«

»Hört, hört!«, riefen alle.

»Dieses Magazin hat so vielen so viel bedeutet«, fügte Jane mit einem leichten Zittern in der Stimme hinzu. »Es hat queeren Menschen gezeigt, dass sie gesehen werden. Darauf sollten wir stolz sein.«

Katies Augen füllten sich mit Tränen. Lydia räusperte sich. Liz’ Magen war ein einziger Knoten. Lydia und Jane hatten recht – die Nether Fields waren eine der wenigen Publikationen, die queere Menschen sichtbar machten. Sie nach fast zwei Jahrzehnten zu verlieren, war ein herber Schlag für die Community. Wie egoistisch war Liz bitte, dass sie in so einem Moment Erleichterung, ja, sogar so was wie Vorfreude empfand?

»Auf uns, die wir so viel Mühe und Herzblut in dieses Magazin gesteckt haben.« Katie hob ihr Fläschchen.

»Auf unsere Leser*innen«, ergänzte Lydia und tat es ihr gleich.

Alle blickten Liz erwartungsvoll an. Doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, den Untergang des Magazins eigenhändig heraufbeschworen zu haben, als sie mal wieder spätabends in letzter Minute einen verhassten Artikel runtergetippt hatte und überall lieber gewesen wäre als am Schreibtisch.

Katie legte eine Hand auf Liz’ Arm. Die anderen warfen ihr mitfühlende Blicke zu. Offenbar dachten sie, Liz sei von ihren Gefühlen überwältigt.

Jane hob ihren Shot. »Und auf jedes einzelne queere oder trans* Kid, das unsere Website gefunden und sich dadurch auch nur ein kleines bisschen weniger allein gefühlt hat.«

Katie schluchzte auf. Lydia ballte die freie Hand zur Faust, um die Fassung zu bewahren.

»Auf die Nether Fields!«, riefen sie einstimmig. Dann stießen sie an und tranken die Fläschchen auf ex. Die anderen verzogen das Gesicht, doch Liz spürte den Whiskey kaum. Sein Brennen war rein gar nichts gegen die Schuldgefühle, die tief in ihrer Magengrube loderten.

***

Jane nötigte Liz dazu, als Strafe für ihr Zuspätkommen das Wohnzimmer aufzuräumen. Vorher schlüpfte Liz in ihrem Zimmer rasch in eine schwarze Jeans und ein petrolfarbenes T-Shirt mit V-Ausschnitt, das sie von Katie geklaut hatte. Sie blieb kurz stehen und warf ihrem Spiegelbild einen verzweifelten Blick zu. Ihr braunes Haar war auf einer Seite kurz geschoren und reichte auf der anderen bis zur Schulter, wo es in einer großen Welle auf die blasse Haut fiel. Am Anfang hatte ihr die Frisur noch gefallen, aber jetzt erschien ihr die Länge übertrieben feminin. Irgendwie passte kein Schnitt je so richtig. Mit einer maskulinen Frisur kam sie sich vor wie ein kleines Kind, das Verkleiden spielte und einen auf harter Kerl machte. Aber wenn sie sich für die femininere Variante entschied, fühlte sie sich unwohl und irgendwie eingegrenzt, als verschwände sie hinter einer Rolle, die sie nie hatte haben wollen. Hinzu kam, dass sie sich selten einen Friseurbesuch leisten konnte, sodass die Qualität ihres Haarschnitts stark davon abhing, welche*r ihrer Mitbewohner*innen ihn ihr verpasst hatte und wie deren Nüchternheitsgrad zu dem Zeitpunkt gewesen war.

Zum Glück war die Zeit zu knapp für Identitätskrisen. Jane rief aus der Küche, dass die Gäste bald da seien, und Liz wandte sich schulterzuckend von ihrem Spiegelbild ab.

Das Wohnzimmer und die Küche bildeten einen großen Raum, der nur durch den Küchentresen geteilt wurde. Im Wohnbereich standen zwei Sofas, ein bequemer Sessel und ein Sitzsack. Die Möbel hatten knallige, kontrastierende Farben, und es wäre eine echt gemütliche Sitzecke gewesen, wenn die vier sie nicht ständig als kollektive Rumpelkammer zweckentfremdet hätten.

Auf der anderen Seite des Küchentresens verpasste Jane dem Dinner den letzten Schliff. Sie hatte ihre langen Zöpfe zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug mehrere lange Halsketten übereinander zu einem lockeren roten Kleid, in dem sie noch umwerfender aussah als sonst.

Als Jane, die zwei Jahre älter war, Liz damals beim Magazin eingearbeitet hatte, war sie ihr unendlich cool und weise vorgekommen. Doch echte Freundinnen waren sie erst am darauffolgenden Weihnachtsfest geworden, das Jane eigentlich in Upstate New York bei der Familie ihrer damaligen Partnerin verbringen wollte. Als die Beziehung ausgerechnet an Heiligabend mit einem Riesenstreit in die Brüche ging, fragte Jane im Arbeitsgruppenchat, ob jemand eine Idee habe, wie man ohne Auto in die Stadt zurückkomme. Liz nahm drei Stunden Fahrt in Kauf, um sie abzuholen und zu ihren eigenen Eltern nach Massachusetts zu bringen. Jane blieb über die Feiertage, half ihrer Mom beim Backen und zog ihren Dad beim Scrabble ab. Als sechs Monate später in Janes und Katies WG ein Zimmer frei wurde, bot Jane es Liz an. Und hatte seitdem jedes Weihnachten mit Liz’ Familie verbracht.

Jane und Katie dagegen hatten sich auf einer Konferenz für junge Journalist*innen of Color kennengelernt und sich sofort gut verstanden. Katie arbeitete damals noch bei BuzzFeed, doch Jane stiftete Charlotte, die Nether Fields-Gründerin, kurzerhand dazu an, Katie fürs Medienressort abzuwerben. Bald darauf entschied Katie, dass sie es auf keinen Fall ein weiteres Jahr bei ihren Eltern in Jackson Heights aushalten würde, und so mieteten sie zusammen mit zwei anderen Journalist*innen das Apartment in Crown Heights, einem Viertel, in das sie sich verliebt hatten, weil es sowohl gut angebunden als auch nicht mehrheitlich weiß war. Die beiden anderen Mitbewohner*innen wollten irgendwann raus aus der Stadt, und Liz und Lydia zogen ein. Liz lebte jetzt seit drei Jahren hier und war glücklich – auch wenn das Wohnzimmer immer aussah wie Sau.

Liz fand einige Tiegel Body Glitter in verschiedenen Farben (von Lydia), ein verheddertes Knäuel Strickgarn (von Katie), ein vegetarisches Kochbuch (von Jane), einen Schlüpfer der Marke TomboyX (von Liz) und eine zerdrückte Dose White Claw, die sie in den Müll warf, bevor sie den Rest in die Abstellkammer stopfte.

»Hast du die Scheißservierplatte gesehen?« Jane knallte Schubladen auf und zu.

»Auf dem Kühlschrank«, sagte Liz, ohne aufzusehen. »Da hast du sie letzte Woche abgestellt, als du Kekse gebacken hast.«

Jane war eine begnadete Journalistin und eine ausgezeichnete Köchin, aber definitiv kein Organisationstalent – sie hatte einfach zu viele kluge Gedanken, um sich auch noch damit aufzuhalten, wo sie ihr Handy oder ihren Schlüssel hingelegt hatte. Zum Glück hatte Liz die seltsame Fähigkeit, den Überblick zu behalten.

Sie war gerade dabei, die letzten Spuren des Chaos zu beseitigen (eine Handvoll Bananagrams-Buchstaben und eine kleine Sukkulente, die in ihrem Topf verkümmert war), als das Schrillen der Türklingel sie zusammenzucken ließ. Es klingelte noch dreimal, und jedes Mal wurde das Klingeln länger.

»Was soll der Scheiß«, murmelte Liz und drückte den Summer. Wer so penetrant klingelte, konnte nur ein*e Arbeitskolleg*in sein. Kurz darauf hämmerte es gegen die Tür. Liz öffnete sie und stand Charlotte Liu gegenüber, der Gründerin der Nether Fields. Charlotte war eine kleine, stämmige Frau Mitte vierzig mit chinesischen Wurzeln und raspelkurzen Haaren. Wie üblich trug sie ein schwarzes T-Shirt und schwarze Jeans.

»Du bist aber früh dran«, sagte Liz überrascht. »Habt ihr heute kein Die-in vor der City Hall? Kein Orgatreffen für den Dyke March?«

Ohne Liz Beachtung zu schenken, marschierte Charlotte einmal quer durch den Raum und trommelte gegen Katies Zimmertür.

»Katie!«, brüllte sie. »Komm da gefälligst raus! Und wo ist Lydia?«

Die Tür ging auf. »Ähm, wie wär’s mit Hallo?« Katie hatte ihr Handtuch gegen eine weiße kurzärmelige Hemdbluse getauscht und hielt einen Eyeliner in der Hand.

Lydia kam aus dem Badezimmer. »Was machst du denn hier? Du bist ja … pünktlich.«

Charlotte zog ihre Kunstlederjacke aus und warf sie nach Lydia. »Ich habe wichtige Neuigkeiten«, sagte sie, »die den Verlauf dieses Abends erheblich beeinflussen werden.«

»Kommt nicht in die Tüte! Untersteh dich, diese Party abzublasen!« Jane legte eine Rolle Alufolie ab und eilte zu ihnen. »Mir doch egal, wie traurig du bist. Ich steh schon den ganzen Nachmittag in der Küche.«

»Glaub mir«, sagte Charlotte. »Diese Neuigkeiten willst du hören.« Sie grinste leicht manisch. »Ich sollte wahrscheinlich warten, bis alle da sind. Aber euch mag ich sowieso am liebsten, also …« Sie machte eine dramatische Pause, wie um sich an ihren verwirrten Blicken zu weiden, bevor sie sich plötzlich an Lydias Schulter abstützte und auf den Couchtisch stieg.

»Was zur Hölle machst du da?«, fragte Liz. »Zieh sofort deine Schuhe aus und komm da runter.« Sie versuchte Charlotte vom Tisch zu schieben, doch die entzog sich ihrem Griff trotz Springerstiefeln mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit. Lydia kicherte.

»Ladys und Gentlethems!« Charlotte breitete die Arme aus wie eine Priesterin. »Wir sind gerettet.«

»Ohne Scheiß, Charlotte«, sagte Jane. »Wenn du nicht sofort von unserem Tisch runterkommst, hast du ab sofort Hausverbot.«

»Bist du besoffen oder was?«, fragte Liz.

»Nö.« Charlotte wedelte mit dem Zeigefinger vor Liz’ Gesicht herum. »Aber wir alle werden es bald sein. Denn die Nether Fields werden nicht eingestellt.«

»Bitte was?«, fragte Liz.

Lydia schlug die Hände vors Gesicht wie Kevin aus Kevin – Allein zu Haus. Jane hielt sich den Mund zu, als traute sie sich nicht zu sprechen.

»Wie denn das?«, fragte Katie.

Charlotte streckte ihr Handy in die Höhe und schwenkte es triumphierend hin und her. »Hab heute Morgen eine Mail bekommen. Wir sind gekauft worden.«

Alle starrten sie wie versteinert an, Jane immer noch mit der Hand vor dem Mund, während Charlotte ganz in einer dramatischen Darbietung des Tagesgeschehens aufging: wie sie die Mail bekommen hatte. Wie sie die Mail nicht hatte fassen können. Wie sie auf die Mail hin nachgehakt hatte. Dann ging sie dazu über, ihnen den gesamten E-Mail-Verlauf laut vorzulesen, obwohl darin exakt das Gleiche stand, was sie gerade erzählt hatte: Heather Media, ihr Mutterkonzern, hatte das Kaufangebot einer Privatperson angenommen.

»Ich wusste gar nicht, dass irgendeine Person einfach ein Magazin kaufen kann«, sagte Liz. »Das ist doch abgefahren.«

»Wer hat es denn gekauft?« Jane hatte ihre Sprache wiedergefunden.

»Bestimmt eine Promilesbe!«, platzte es aus Katie heraus. »Zum Beispiel Kristen Stewart!«

»Kristen Stewart?« Lydia grinste abschätzig. »Warum sollte ausgerechnet sie ein Magazin kaufen?«

»Es ist niemand Berühmtes.« Charlotte benutzte Lydias Kopf als Stütze, um vom Couchtisch zu klettern. »Irgendeine reiche Lesbe, von der ich noch nie etwas gehört habe.«

»Aber vielleicht hat sie es ja für Kristen gekauft, weil Kristen es geheim halten wollte«, rätselte Katie. Sie führte auf Instagram einen überraschend erfolgreichen queeren Meme-Account und postete mindestens zweimal im Jahr eine aktualisierte Liste namens »Queere Promis, für die ich sterben und/oder morden würde«. Kristen ergatterte fast immer den ersten Platz.

»Jetzt mach dich doch nicht lächerlich«, gab Lydia zurück. »Warum sollte Kristen das geheim halten wollen?«

»Wer ist es denn jetzt?«, unterbrach Jane die beiden. »Hast du einen Namen?«

Charlotte setzte sich aufs Sofa und rückte betont langsam die Kissen zurecht. Es bereitete ihr sichtlich Vergnügen, die anderen auf die Folter zu spannen. »Ihr Name«, sagte sie schließlich, »ist Bailey Cox.«

Lydia zog sofort deren Handy hervor. »Hab sie!«, rief dey binnen Sekunden und ließ den Daumen in schwindelerregender Geschwindigkeit übers Display gleiten. Lydia behauptete immer, das viele Getippe auf dem Smartphone sei der Grund, warum dey im Bett so fingerfertig sei. »Bailey Cox. War auf dem Smith College – wo sonst. Aufgewachsen in New York. Lebt in Manhattan. In der Immobilienbranche tätig. Im Vorstand bei zig Wohltätigkeitsorganisationen und all so ’nem Zeug. Uuuuund da haben wir’s. Ein Foto.«

Alle drängten sich um Lydia, um einen Blick aufs Display zu erhaschen. Zu sehen war eine Porträtaufnahme neben einer Kurzbiografie auf einer Firmenwebsite. Das Foto zeigte eine weiße Frau Anfang dreißig mit rotbraunem Haar und einem fröhlichen Lächeln. Sie trug eine Bluse und hatte schulterlange Haare. Die meisten hätten sie wohl für hetero gehalten, doch irgendwas an ihrem Gesicht schrie förmlich »lesbisch«. Vielleicht die ausgeprägte Kinnpartie oder die selbstbewusst zurückgeworfenen Schultern.

»Hm«, sagte Jane. »Sie sieht nett aus.«

»Sie sieht aus wie eine Person, der man auf einer Hochzeit begegnet und über die man sich dann den restlichen Abend den Kopf zerbricht, ob sie wohl lesbisch ist«, sagte Liz.

»Sie ist süß«, sagte Lydia.

»Also ich würde sie vögeln«, sagte Katie.

»Irgendwer muss es wohl tun.« Lydia wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

»Wovon redest du?« Jane nahm Lydia das Handy aus der Hand, um das Bild genauer zu betrachten.

»Denkt mal drüber nach.« Lydia lehnte sich mit dem Rücken gegen Katie, die sofort den Arm um demm legte. »Warum sonst sollte eine reiche Lesbe in ihren Dreißigern ein queeres Magazin kaufen?«

»Um Journalismus zu fördern?«, warf Jane ein. »Zumal bei einem queeren Magazin, dessen Chefredakteurin auch noch eine Frau of Color ist?« Sie warf Charlotte einen bedeutungsvollen Blick zu, die fröhlich zurückzwinkerte.

»Pustekuchen«, sagte Lydia. »Sie hatte offensichtlich viele schlechte Dates, und sie hat das Magazin gekauft, um auf einen Schlag um die zwanzig Singles kennenzulernen. Wo sonst tummeln sich so viele Queers auf einem Haufen?«

»Lesbenbar, Kreuzfahrt, Tinder«, zählte Liz an den Fingern ab und setzte sich auf die Kante des Couchtisches.

»Echt mal, sorry, Lydia, aber das ist doch durchgeknallt«, sagte Charlotte. »Niemand würde ein ganzes Magazin kaufen, nur um Frauen kennenzulernen.«

»Wieso nicht, wenn man Milliarden von Dollar rumliegen hat?«

»Milliarden?«, wiederholte Liz.

Lydia nahm Jane das Handy wieder ab und scrollte weiter durch die Suchergebnisse.

»Oh, wohl doch nur ein paar Millionen«, sagte dey enttäuscht und ließ sich neben Charlotte aufs Sofa sinken. »Definitiv keine Milliarden.«

»Oh mein Gott, nur Millionen?«, fragte Liz. »Reicht dir das etwa nicht?«

»Sei doch mal realistisch, Liz.« Lydia schüttelte abfällig den Kopf. »Wenn sie Milliarden hätte, wären die Nether Fields ein netter Zeitvertreib. Aber wenn sie bloß ein paar Millionen hat, muss das Magazin Geld bringen. Also wird sie entweder lauter Sachen verändern, bis es Gewinn macht, oder es wieder verkaufen wollen, wenn es das nicht tut. Und dann, wenn sie einsehen muss, dass es keinen Markt für gescheiterte Lesbenmagazine gibt, wird sie endgültig den Stecker ziehen.«

Alle starrten Lydia schweigend an.

Dey zuckte mit den Schultern. »Ist doch so.«

Katie ließ sich mit einem lauten Seufzer in den Sessel plumpsen. Jane, die neben ihr stand, legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

In dem Moment verpasste Charlotte Lydia einen Schlag mit einem Zierkissen. »Versau mir das bloß nicht! Das ist der Oberhammer. Wir machen nicht dicht. Wir sind nicht alle arbeitslos. Und Nether Fields ist jetzt in queerer Hand und hat mit Heather Media nichts mehr am Hut. Aber …« Sie holte tief Luft. »In einem Punkt hast du recht. Irgendwer wird mit ihr schlafen müssen.«

Liz lachte.

»Ich mein’s ernst, das ist die einzige Möglichkeit, ihr das Magazin für immer ans Bein zu binden. Irgendwer muss sie verführen, um unsere Jobs zu sichern.«

»Ich mach’s«, sagte Lydia beiläufig. Katies Kopf schnellte hoch, als befürchtete sie ernsthaft, Lydia könnte mit einer millionenschweren Magazinbesitzerin durchbrennen.

»Das Wichtigste ist doch, dass wir uns noch ein kleines bisschen über Wasser halten«, sagte Charlotte. »Und das heißt, dass aus der Abschlussparty eine Abschussparty wird!«

»Aber so was von!« Lydia sprang auf und rannte in die Küche. »Das schreit nach Shots.«

Alle protestierten. Widerwillig stellte Lydia den Wodka zurück und verteilte stattdessen Hard-Seltzer-Dosen.

»Wir sollten in die Gruppe schreiben«, sagte Jane und öffnete ihr Getränk. »Damit alle Bescheid wissen.«

»Ich mach’s!« Katie klemmte sich die Dose in die Armbeuge und zückte ihr Handy.

Jane schüttelte ungläubig den Kopf, während sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Oh mein Gott«, sagte sie. »Oh. Mein. Gott. Das ist der absolute Wahnsinn.« Sie durchquerte den Raum und warf die Arme um Liz. »Ist das nicht der absolute Wahnsinn?«

»Ja!« Liz versuchte ebenso begeistert zu klingen. »Mega! Ich bin gleich wieder da.«

Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Mit dem Hard Seltzer in der Hand sperrte sie hinter sich ab, zog den Pride-Duschvorhang zur Seite und stieg in die Wanne, wo sie, dicht ans winzige Fenster gepresst, die frische Luft einsog. Auf der anderen Seite der Tür begann laut »Stayin’ Alive« zu spielen. Sie spürte, wie ihr Handy in der Hosentasche brummte – Katies Nachricht an alle –, gefolgt von noch mehr Vibrieren, als die Antworten der restlichen Belegschaft eintrudelten.

Liz stellte ihr Handy auf stumm und starrte in die dunkle Gasse zwischen den Wohnhäusern.

Nether Fields stand nicht mehr vor dem Aus. Liz sollte glücklich sein. Sie war nicht arbeitslos. Ihre Freund*innen waren nicht arbeitslos. Charlotte musste nicht das Onlinemagazin aufgeben, das sie seit fast zwei Jahrzehnten führte. Es hatte noch mal eine Chance bekommen.

Doch das hieß auch, dass Liz’ Plan dahin war. Jener Plan, den sie in der Sekunde gefasst hatte, als Charlotte die Schließung verkündet hatte. Mit der Kombination aus Abfindung und Arbeitslosengeld hätte Liz es sich leisten können, mindestens drei Monate lang nicht zu arbeiten. Was ihr wiederum die Zeit und Muße verschafft hätte, um sich auf das zu konzentrieren, was sie schon immer hatte machen wollen – einen Roman zu schreiben.

Als Liz nach dem College die Stelle bei den Nether Fields ergattert hatte, war sie völlig aus dem Häuschen gewesen, dass sie tatsächlich fürs Schreiben bezahlt werden sollte. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie tagsüber im Büro und nach Feierabend an ihrem bewegenden, preiswürdigen Roman sitzen würde, der davon handelte, queer in der Kleinstadt aufzuwachsen. Die Art von Buch, die Liz auf der Highschool so dringend gebraucht hätte, als sie gerade erst angefangen hatte, auf ihre Sexualität klarzukommen, und überfordert und einsam gewesen war.

Doch daraus war nichts geworden. Tagsüber saßen ihr ständig irgendwelche Deadlines im Nacken, sodass sie abends weder Zeit noch Energie übrig hatte, um etwas Tiefsinniges zu Papier zu bringen. Das einzig Nennenswerte, was sie in den letzten Jahren geschrieben hatte, war ein Blog namens Geständnisse einer New Yorker Lesbe, der von der fiktiven Lesbe Colby handelte. Er basierte lose auf Liz’ Leben (Colby trieb sich verdächtig oft dort herum, wo Liz selbst gerne abhing), doch das meiste war reines Wunschdenken: Colby war sexy und selbstsicher; die Art von Frau, die homophobe Fremde in der U-Bahn zur Rede stellte und keine Lesbenbar betreten konnte, ohne eine Serviette mit einer Telefonnummer zugeschoben zu bekommen. Als Liz frisch nach New York gezogen war, hatte sie fast wöchentlich gepostet und es auf eine beachtliche Followerzahl gebracht, doch dann war es ihr immer erbärmlicher vorgekommen, über Colbys aufregendes Liebesleben zu schreiben, während Liz selbst keines vorzuweisen hatte.

In den letzten vier Jahren hatte Liz’ Begeisterung immer weiter nachgelassen – sowohl für ihren Job als auch für den Blog. Sie hatte immer seltener und unregelmäßiger Beiträge hochgeladen. Mittlerweile dachte Liz nur noch an Colby, wenn ein neuer Kommentar reinkam, in dem um ein Update gebettelt wurde. Doch schon bei der Vorstellung, einen neuen Post zu schreiben, fühlte sie sich genauso wie jedes Mal, wenn sie den x-ten Artikel mit den »Top-10-Anzeichen, dass deine hetero Freundin in dich verknallt ist« einreichte: frustriert und festgefahren.

Das Aus des Magazins hätte ihr goldenes Ticket sein sollen. Die einmalige Gelegenheit, ihren Träumen nachzugehen. Ohne die Abfindung würde Liz es sich niemals leisten können, in Vollzeit zu schreiben.

Sie hatte niemanden in ihren Plan eingeweiht. Ihren Eltern davon zu erzählen, kam nicht infrage – ihr Vater war Schreiner und ihre Mutter Grundschullehrerin für die erste Klasse, und auch wenn es ihr als Kind an fast nichts gefehlt hatte, war das Geld immer knapp gewesen. Das Letzte, was sie wollte, war, dass ihre Eltern sich Sorgen um ihre finanzielle Zukunft machten. Sie hatte sich nicht mal Jane oder Katie anvertraut. Zu groß war die Angst, dass ihre Freund*innen insgeheim dachten, mehr als irgendwelche Listen und Sexkolumnen habe sie nicht drauf – und noch viel größer die Angst, dass sie vielleicht recht haben könnten.

Doch jetzt würde sie nie die Möglichkeit bekommen, das herauszufinden.

Das Schrillen der Türklingel kündigte weitere Gäste an. Liz holte tief Luft, öffnete die Hard-Seltzer-Dose, leerte sie in einem Zug und zerdrückte sie. Dann zupfte sie den vergilbten Regenbogenvorhang zurecht und ging zurück zur Party.

2

Obwohl Liz mit drei ihrer Arbeitskolleg*innen zusammenwohnte, fuhr sie fast immer allein ins Büro. Jane war gerne eine Stunde vor allen anderen da, um eingehüllt in ihren bunten Strickschal (ein stümperhaftes DIY-Weihnachtsgeschenk von Liz von vor zwei Jahren) Tee zu trinken und sich durch fünf verschiedene Zeitungen zu lesen. Katie und Lydia stolperten meist erst gegen zehn durch die Tür, mit Glitzer im Gesicht und Klubstempeln auf dem Handrücken. Damit war Liz auf sich allein gestellt, wenn sie morgens den Massen von Midtown trotzte, die sich aus grimmigen Anzugträgern und arglosen Touris zusammensetzten.

Der Montag nach der Party hatte es in sich. Kaffee war alle, Liz hatte seit Wochen keine Waschmaschine angeschmissen, und dann leuchtete auch noch eine typische Nachricht ihrer Mom auf dem Handydisplay: Na, irgendwelche neuen Ladys in deinem Leben? Dein Dad und ich hätten ja nichts gegen ein Enkelkind oder zwei! Die einzigen sauberen Klamotten in ihrem Schrank waren eine Cargohose und ein knallblaues T-Shirt aus dem College mit der Aufschrift ALLES, WAS ICH ÜBER RUGBY WEISS, HAT MIR DEINE FREUNDIN BEIGEBRACHT. Liz betrachtete sich im Spiegel und seufzte. Sie wusste genau, wie unpassend ihr Outfit war, brachte aber nicht die Energie auf, etwas darauf zu geben. Dies hätte ihre letzte Arbeitswoche sein sollen. Doch so wie es aussah, war heute ein stinknormaler Montag, auf den noch unendlich viele stinknormale, langweilige, frustrierende Montage folgen würden.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, die ersten Stunden damit zu verbringen, Kaffee zu trinken und mit niemandem zu sprechen. Doch schon nach ein paar Minuten tauchte Charlotte auf und setzte sich mitten auf ihren Schreibtisch.

»Du verdeckst meinen Bildschirm«, grummelte Liz nur halb im Spaß. »Wie sollen deine Angestellten unter diesen Bedingungen produktiv sein?«

»Oh bitte.« Charlotte stellte die Füße auf einer der Armlehnen von Liz’ Drehstuhl ab und begann, Liz vor- und zurückzurollen. »Als ob du die nächste Stunde irgendwas anderes machst außer BuzzFeed-Quizze.«

Liz rollte sich außer Reichweite. »Entschuldige mal. Konkurrenzanalyse ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Was machst du überhaupt schon hier?«

Charlotte steckte viel Herzblut ins Magazin, fing aber selten vor elf Uhr an, weil sie meist bis spätnachts unterwegs war – entweder als Aktivistin für eine der vielen Organisationen, der sie angehörte, oder auf der Art exklusiver queerer Party, zu der Liz nicht mal im Traum eingeladen wurde.

»Bin gar nicht erst ins Bett.« Charlotte zwinkerte. »Ich war bei der Undergroundpremiere eines Burlesqueballetts in Bushwick und bin danach noch im House of Yes gelandet. Hab neue Bekanntschaften geknüpft.« Sie zwinkerte noch mal.

»Wusstest du eigentlich, dass die meisten Menschen Schlaf brauchen, um durch den Tag zu kommen?« Liz hoffte, dass ihr Tonfall auf einer Skala von frotzelnd bis neidzerfressen am unteren Ende lag. Als sie damals beim Magazin angefangen hatte, hätte sie sich ohne Charlotte, die in Flushing aufgewachsen war, niemals zurechtgefunden. Charlotte hatte für sie das U-Bahn-Netz entwirrt und ihr einen Crashkurs gegeben, wie man jung und arm in New York überlebte: wie das Geld bis zum Monatsende reichte, wo man zur Happy Hour zwei Drinks zum Preis von einem bekam und welche Newsletter die coolsten Gratisevents bewarben. Liz war sich nicht sicher, ob sie es ohne Charlottes Ratschläge in der Stadt ausgehalten hätte. Doch jetzt, vier Jahre später, fühlte es sich manchmal so an, als müsste sie ihr immer noch beweisen, dass sie tatsächlich erwachsen war. Liz wollte nicht mehr Charlottes Schützling sein. Sie wollte, dass Charlotte sie ins geheime Burlesqueballett mitnahm.

»Klingt langweilig. Was zur Hölle hast du da eigentlich an?« Charlotte fuhr sich durch die Haarstoppeln. »Du siehst aus, als wolltest du gleich auf den Appalachian Trail.«

Liz rieb sich die Augen. »Alles andere war schmutzig. Ich kann mich seit Wochen nicht aufraffen, in den Waschsalon zu gehen.«

»Müsste dir da nicht schon längst die Unterwäsche ausgegangen sein?«

Liz sah Charlotte über die Fingerspitzen hinweg an. »Doch.«

»Igitt.« Charlotte hob abwehrend die Hand. »So genau will ich das gar nicht wissen. Aber es könnte sein, dass du deine Kleiderwahl in zwei Stunden ernsthaft bereust.«

»Wieso?«

Charlotte legte mit den Händen einen kleinen Trommelwirbel auf der Schreibtischplatte hin. »Die neuen Eigentümerinnen kommen rein, um ihre Ware zu begutachten.«

Liz stöhnte. »Sag das doch nicht so. Das ist creepy. Und was meinst du überhaupt mit Eigentümerinnen? Ich dachte, es gibt nur eine.«

»Anscheinend gibt es noch eine Minderheitsinvestorin. Irgendeine Daria.«

»Yippie. Noch mehr Superreiche.«

Charlotte lachte und stieß sich vom Schreibtisch ab. Sie warf einen vielsagenden Blick auf Liz’ T-Shirt, bevor sie in Richtung ihres Büros ging. »Du machst sicher einen tollen ersten Eindruck.«

Keine Minute später landete mit einem Ping eine Termineinladung in ihrem Postfach, die Charlotte allen Angestellten geschickt hatte. Betreff: Zeit zu kuschen, ihr Luschen. Die Mail selbst war ein Einzeiler: Reißt euch ausnahmsweise mal am Riemen. Liz blickte auf ihr zusammengeschustertes Outfit herab und schloss die Augen.

»Scheiße«, murmelte sie. Ausgerechnet heute.

***

Um zwölf hatte sich die gesamte Nether Fields-Belegschaft im größten Besprechungsraum versammelt, dem Rosie (benannt nach Rosie O’Donnell, wem auch sonst).

Um Viertel nach zwölf waren Charlotte und die neuen Eigentümerinnen immer noch nicht aufgetaucht, und latente Panik hatte sich breitgemacht. Auf dem Stuhl neben Liz strich Jane wieder und wieder über die Falten ihres geblümten Rocks, bis Liz unvermittelt ihre Hand packte. Erschrocken blickte Jane auf. »Alle, aber auch wirklich alle lieben dich«, sagte Liz. »Ich kann dir keine einzige Person auf dieser Welt nennen, die dich kennt und nicht leiden kann. Wenn sich hier jemand keine Gedanken um den ersten Eindruck machen muss, dann du.«

Jane lächelte. Sie strich noch mal ihren Rock glatt, erwischte sich dabei und setzte sich auf ihre Hände. »Ich kann nicht anders. Wie kannst du nur so ruhig bleiben?«

»Zum Glück muss ich mir auch keine Gedanken um den ersten Eindruck machen. Meine Chancen, einen guten zu hinterlassen, stehen nämlich bei null Prozent.«

»Wovon redest du?«, fragte Jane. »Du kommst doch immer super an.«

»Jane«, sagte Liz gedehnt. »Schau mich mal an. Ich trage eine Cargohose

Jane warf einen Blick auf Liz’ Hose und verzog das Gesicht. Da blieben sogar ihr die Argumente aus.

Liz hatte ernsthaft in Betracht gezogen, vor dem Meeting noch schnell eine neue Hose kaufen zu gehen, doch ein kurzer Check ihres Kontostands hatte diese Idee im Keim erstickt. Dann hatte sie überlegt, nach Hause zu fahren und Katies Kleiderschrank zu plündern, doch nach zwei Stunden U-Bahn-Fahrt hätte sie ihre Ratgeberkolumne nie im Leben zur Deadline fertig bekommen. In ihrer Not hatte sie sich einen alten Cardigan von der Finanzchefin geliehen. Sie hatte gehofft, damit professioneller zu wirken, doch vermutlich verstärkte das Jäckchen nur den Eindruck, sie hätte ihre Klamotten aus der Fundkiste einer achten Klasse gefischt.

Jane versuchte immer noch krampfhaft, sich irgendwas Aufmunterndes aus den Rippen zu leiern, als sie dank Lydias Kreischen davon verschont wurde: »Da sind sie!«

Alle brachten sich in Position. Kurz darauf betrat Charlotte den Besprechungsraum, dicht gefolgt von den beiden neuen Eigentümerinnen. Die erste, die durch die Tür preschte, als könnte sie ihre Begeisterung kaum zurückhalten, war offensichtlich Bailey Cox. Sie trug dunkle Jeans und einen blauen Blazer über einem cremeweißen Shirt mit U-Ausschnitt, dazu zweckmäßige Halbschuhe und eine filigrane Goldkette. Sie lächelte in die Runde, doch Liz’ Blick wanderte auf der Stelle an ihr vorbei zur zweiten Person, die im Türrahmen stehen geblieben war. Das war also die andere Reiche, die Charlotte erwähnt hatte. Die Minderheitsinvestorin. Im Gegensatz zu Bailey wirkte sie weder freundlich noch begeistert. Sondern … sexy.

Sie war weiß und masc, mit schlankem Körperbau und ausgeprägten Wangenknochen. Ein Hauch von Wachs hielt ihr kurzes dunkles Haar in Form, das akkurat gescheitelt war. Sie trug einen maßgeschneiderten marineblauen Anzug sowie eine schmale hellblaue Krawatte und ein passendes Einstecktuch. Sie sah aus wie einer Brooks-Brothers-Werbung entsprungen – wenn Brooks Brothers plötzlich einen queeren Imagewandel vollzogen hätte.

Liz spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, und obwohl ihr auf einmal viel zu warm war, zog sie den Cardigan enger um den Körper. Warum hatte sie ausgerechnet heute diese oberhässlichen Klamotten an?

»Hallo zusammen«, sagte Charlotte, als alle drei vorne standen. »Das sind Bailey Cox und Daria Fitzgerald. Die neuen Eigentümerinnen der Nether Fields

Bailey strahlte. Daria reagierte mit einem kaum merklichen Kopfnicken.

»Tja, äh.« Charlotte wandte sich leicht verlegen an Bailey. »Wie geht’s jetzt weiter?«

Bailey lächelte wieder und zog sich einen Stuhl heran.

»Ich denke, wir können es kurzhalten.« Sie setzte sich und legte die Ellbogen auf der Tischplatte ab. »Wir möchten uns einfach kurz vorstellen und euch versichern, wie sehr wir uns freuen. Ich hoffe, duzen geht für alle klar.«

Charlotte drehte sich um und bot Daria den anderen freien Platz am Konferenztisch an, doch die winkte ab und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. Das kam Liz sehr gelegen, denn so konnte sie ungehindert Daria anstarren und ihre eng geschneiderten Hosen und langen, beweglich aussehenden Finger bewundern, während es so wirkte, als wären ihre Augen auf Charlotte und Bailey gerichtet.

»Ich heiße Bailey Cox«, sagte Bailey gerade und sah sich im Raum um. »Ich bin seit Jahren ein riesengroßer Nether Fields-Fan, und als ich gehört habe, dass es eingestellt werden soll, musste ich einfach etwas tun. Es gibt sowieso viel zu wenige Plattformen für Menschen wie uns. Zum Glück konnte ich meine Freundin Daria mit ins Boot holen.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Liz, wie Lydia mit den Lippen das Wort »Freundin« formte und Katie mit dem Ellbogen einen Knuff in die Seite verpasste. Waren sie wirklich bloß Freundinnen? Würden »bloß Freundinnen« sich zusammentun, um ein ganzes Magazin zu kaufen?

»Wir sind nicht hier, um alles Mögliche zu verändern«, fuhr Bailey fort. »Charlotte ist eine unglaubliche Führungskraft, und ihr kennt dieses Magazin viel besser als wir. Wir bemühen uns, euch nicht im Weg zu sein. Aber wir wollen euch tatkräftiger unterstützen und enger eingebunden sein als Heather Media vor uns.«

Daria Fitzgerald räusperte sich. »Ein paar Sachen werden sich schon verändern«, sagte sie. Ihre Stimme war tief und weich und beunruhigend heiß. Liz verschränkte die Beine. Sie fühlte sich auf einmal wie auf dem Präsentierteller, als stünde es ihr ins Gesicht geschrieben, dass sie nur noch Augen für Daria hatte.

»Ja klar.« Bailey machte eine abwiegelnde Handbewegung. »In den nächsten Monaten werden wir Finanzen und Prozesse genau unter die Lupe nehmen und herausfinden, wie wir uns am besten von Heather Media abnabeln.«

Bailey sprach schon jetzt von »wir«. Liz sah sich forschend um, ob das nur ihr merkwürdig vorkam. Noch vor fünf Minuten hatte keine Person hier je mit Bailey zu tun gehabt, und jetzt sollten sie plötzlich eine verschworene Einheit sein, die gemeinsam ums Überleben kämpfte?

»Wir sind hier, um euch zu helfen«, sagte Bailey, »und gemeinsam Abläufe zu entwickeln, die es uns bestenfalls ermöglichen, noch jahrelang weiter zu bestehen. Daria, willst du etwas ergänzen?«

»Nein danke.« Daria verlagerte ihr Gewicht, sodass sie noch mehr gegen die Wand sackte.

»Na gut«, sagte Bailey mit einem weiteren Lächeln. Liz hatte erwartet, dass sie etwas von einem schmierigen Autoverkäufer haben würde, doch sie musste zugeben, dass ihre Begeisterung echt wirkte.

»Dann würden wir jetzt gerne die Runde machen und euch persönlich kennenlernen.«

Damit streckte sie der Person neben sich die Hand entgegen. Erst herrschte ungemütliches Schweigen, während alle zuhörten, wie Bailey fragte, was sie beim Magazin mache. Dann brachen allmählich im Raum verteilt leise Gespräche aus.

Liz wandte sich Jane zu und zog die Augenbrauen hoch. Jane erwiderte die hochgezogenen Brauen, doch Liz war sich nicht sicher, ob sich das auf Baileys Ansprache oder Darias Aussehen bezog. Liz schielte zu Daria. Sie und Charlotte folgten Bailey, die händeschüttelnd von einer Person zur nächsten ging. Oh Gott. Liz würde Daria die Hand geben müssen. Schwitzte sie? So unauffällig wie möglich wischte sie sich die Handflächen an ihrer abscheulichen Hose ab.

»Da kommen sie«, flüsterte Jane und strich schon wieder über ihren Rock. Liz versuchte tief durchzuatmen, wusste aber plötzlich nicht mehr, wie atmen eigentlich geht.

»Das ist Jane Wilson, unsere leitende Redakteurin«, sagte Charlotte, als sie, Bailey und Daria näher kamen. »Sie ist fürs Politikressort zuständig.«

Jane stand auf, um Bailey die Hand zu geben. »Freut mich.«

»Ich bin übrigens ein großer Fan«, sagte Bailey, als sie die Hand entgegennahm. »Deine Artikel sind einer der Gründe, warum ich dieses Magazin so liebe. Allein die Reportage letzten Monat über obdachlose trans* Jugendliche! Die war unglaublich. Meine ganze Timeline war voll davon. Sie war einfach … wunderschön, bewegend und wichtig.«

»Oh! Vielen Dank.« Jane sah erfreut und verlegen aus. »Danke, echt.« Sie senkte den Blick, schien zu bemerken, dass sie immer noch Baileys Hand hielt, und ließ sie hastig los.

»Und das ist Liz Baker. Sie schreibt über Sex, Beziehungen und die Ratgeberkolumne«, sagte Charlotte.

»Freut mich.« Bailey streckte Liz lächelnd die Hand entgegen. Über Baileys Schulter hinweg bemerkte Liz, wie Daria stirnrunzelnd ihr Outfit musterte. Ihr Magen verkrampfte sich.

»Ich bekomme wohl kein Kompliment für meinen wunderschönen, bewegenden und wichtigen Artikel zu Analplugs von letzter Woche«, sagte Liz und bereute den Witz schon, bevor er ihr vollständig über die Lippen gekommen war.

Alle starrten sie ausdruckslos an. Liz hätte schwören können, dass ihr Herz einen Aussetzer machte. Sie vermied es, Daria anzusehen.

Bailey fing sich als Erste und lachte kurz auf. »Der muss wohl an mir vorbeigegangen sein. Aber das hole ich gerne nach.«

Liz tat ihr Bestes, um wie ein normales, funktionsfähiges Mitglied der Gesellschaft zu wirken, doch in dem Moment löste sich ihr Cardigan aus ihrem Klammergriff und gab den Blick auf ihr anstößiges T-Shirt frei. »Mach das. Da sind echt gute Tipps dabei, falls Bedarf besteht.«

Eine weitere, längere Pause entstand, bis Bailey schließlich sagte: »Und das ist Daria, meine Businesspartnerin.«

»Freut mich«, murmelte Liz und klappte den Mund zu, bevor sie noch etwas sagen konnte. Daria nickte ihr zu, machte aber keine Anstalten, ihr die Hand zu geben.

»Es hat mich jedenfalls sehr gefreut, dich kennenzulernen«, wandte Bailey sich wieder an Jane. »Wir sollten diese Woche Mittagessen gehen. Mich würde interessieren, was dir für den Reportagebereich des Magazins so vorschwebt.«

»Sehr gern«, sagte Jane.

»Und das ist Mary St. James, unsere Finanzchefin«, führte Charlotte das Grüppchen weiter.

Liz beugte sich zu Jane und flüsterte: »Gehen wir.« Kaum waren sie auf halber Höhe des Flurs, zog sie Jane in den Laverne, einen der kleineren Besprechungsräume (benannt nach Laverne Cox, wem auch sonst).

»Bitte sag mir, dass ich mich nicht gerade vor unserer neuen Chefin komplett blamiert habe.«

Jane zog eine Grimasse und machte die Tür zu. »Also den allerbesten Eindruck hast du nicht gerade gemacht.«

»Ich habe ihr quasi gesagt, sie soll sich einen Analplug kaufen. Sekunden nachdem wir uns kennengelernt haben.«

»Ja.« Jane nickte langsam. »Hast du echt.«

Liz setzte sich an den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich weiß nicht, was los war. Ich war nervös, und oh mein Gott, wie hot ist Daria bitte, und dann hatte sie auch noch diesen umwerfenden Anzug an, und das hat mich alles so überfordert, dass mir das einfach so rausgerutscht ist.«

Jane streichelte Liz’ Rücken. »Ist doch nicht so schlimm. Du wirst noch zig Gelegenheiten haben, die beiden zu beeindrucken.«

»Wenn ich nicht fristlos entlassen werde, weil ich ein kleiner Perversling bin.«

»Du wirst nicht entlassen«, sagte Jane sanft. »Erst recht nicht, wenn sie deinen Artikel lesen und sich den besten Analplug ihres Lebens holen.«

Liz hob den Kopf lange genug, um die Augen zu verdrehen.

»Im Ernst«, sagte Jane. »Du machst deine Sache super, und deine Artikel sind für ungefähr die Hälfte unserer Seitenaufrufe verantwortlich. Du wirst nicht entlassen. Du warst eben nervös!«

Liz stöhnte. »Na ja, immerhin du hast einen guten Eindruck gemacht.«

»Meinst du wirklich?« Jane senkte den Blick und drehte den goldenen Armreif, den sie immer am Handgelenk trug.

»Ähm, ja-ha. Sie hat quasi gesagt, dass sie deinetwegen das ganze Magazin gekauft hat.«

»Hat sie gar nicht.« Jane konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

»Und zum Essen seid ihr auch schon verabredet. Du bist drin, Jane.«

»Ich mag sie.« Jane fummelte schon wieder an ihrem Armreif herum. »Sie wirkt echt nett.«

»Ich weiß nicht«, sagte Liz. »Das alles ist einfach so … komisch. Die tauchen aus dem Nichts hier auf und haben plötzlich das Sagen, und wir müssen uns bei ihnen einschleimen.«

»Gib ihnen einfach eine Chance, Lizzie.«

Liz seufzte.

»Ich versuch’s.« Sie stand auf. »Jetzt muss ich aber meine Kolumne schreiben, sonst wird das nichts mehr mit der Deadline.«

»Du kannst ja darüber schreiben, wie man einen guten ersten Eindruck macht.« Jane öffnete die Tür.

»Viel zu früh, Jane.«

Jane lachte, und Liz folgte ihr zu dem Bereich, wo die Redaktion saß. Die anderen waren schon wieder an ihren durch Trennwände voneinander abgeschirmten Schreibtischen, also war die Vorstellungsrunde wohl zu Ende.

Liz wollte sich gerade hinsetzen, als ihr mit einem Stöhnen auffiel, dass sie ihre Wasserflasche im Besprechungsraum vergessen hatte. Sie lief den Flur hinunter Richtung Rosie, blieb aber ungefähr einen Meter vor der Tür stehen, als Baileys Stimme an ihr Ohr drang. Offenbar war ihr nicht klar, wie hellhörig die Türen hier waren.

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