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Sommerzauber in Paris

Eine Reise in den schönsten Buchladen von Paris

Grace kann es nicht fassen, als ihr Ehemann ihren gemeinsamen Jahrestag nicht in Paris feiern, sondern sich stattdessen scheiden lassen will. Doch weil Grace gern alle Fäden in der Hand hält, macht sie den Urlaub prompt alleine. Auch Audrey reist mit einem gebrochenen Herzen in die Stadt der Liebe. Ein Job als Buchhändlerin könnte ihre Rettung sein. Aber ohne Französischkenntnisse? Keine Chance! Bis sie ihre Nachbarin Grace kennenlernt. Zwischen den beiden entsteht eine ungewöhnliche Schicksalsgemeinschaft. Im Lauf eines magischen Sommers lernen sie, die Welt aus den Augen der anderen zu sehen. Nur welche Wendung nimmt ihr Leben, wenn sie einen Blick auf sich selbst wagen?

Ein Roman über eine ungewöhnlicheFreundschaft und die Kunst der Empathie,die manchmal mühsam gelernt werden muss.

  • »Sarah Morgans brillantes Talent überrascht immer wieder.« Romantic Times
  • »Ein fröhlicher und herzerwärmender Blick auf Freundschaft, Familie, Liebe und Neuanfänge.« Kirkus
  • »Morgan ist eine meisterhafte Geschichtenerzählerin, und die Leser werden in diesen magischen Sommer in Paris eintauchen. Vollgepackt mit Liebe, Verlust, Herzschmerz und Hoffnung, ist dies möglicherweise Morgans bisher bestes Buch.« Booklist

  • Erscheinungstag: 24.03.2020
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674591
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Susan Swinwood,
in Liebe und Dankbarkeit

GRACE

Grace Porter erwachte am Valentinstag, glücklich verheiratet und in seliger Ungewissheit, dass sich das bald ändern würde.

Unten in der Küche belegte sie das Brot, das sie am Tag zuvor gebacken hatte, mit Käsescheiben, packte Obst und Gemüse in die Lunchboxen und überprüfte dann ihre Liste.

Punkt vier ihrer heutigen Aufgaben:

Sophie an das Abendessen erinnern.

Sie blickte auf. »Vergiss nicht, dass Dad und ich heute Abend ausgehen. Dein Abendessen ist im Kühlschrank.«

Ihre Tochter Sophie schrieb eine Nachricht an eine Freundin. »Hmm …«

»Sophie!«

»Ich weiß! Kein Handy am Tisch – aber das hier ist dringend. Amy und ich schreiben einen Brief an die Zeitung wegen dieses Bauprojekts am Stadtrand. Dad hat versprochen, dass er ihn veröffentlichen wird. Kannst du dir vorstellen, dass sie die Hundeauffangstation schließen? Diese Hunde werden sterben, wenn niemand etwas unternimmt, und deswegen werde ich etwas unternehmen. So. Fertig.« Sophie sah endlich auf. »Mom, ich kann mir selbst meinen Lunch machen.«

»Würdest du frisches Obst und Gemüse dazu verwenden?«

»Nein. Das ist der Grund, weshalb ich es lieber selbst machen würde.« Sophie lächelte auf eine Art, die auch Grace zum Schmunzeln brachte. »Und du klingst allmählich wie Monica, was ein bisschen gruselig ist.«

Ihre Tochter war ein Sonnenschein. Sie machte die Welt zu einem fröhlicheren Ort. Jahrelang hatte Grace sich dafür gewappnet, dass sie rebellieren und Drogen nehmen würde oder nach einer verbotenen Party mit Freunden betrunken nach Hause käme, doch das war nicht geschehen. Sophie schien in Bezug auf ihr Sozialverhalten mehr nach Davids Familie zu kommen, was eine Erleichterung war. Wenn ihre Tochter überhaupt nach etwas süchtig war, dann war es Gerechtigkeit. Sie verabscheute Ungerechtigkeit, Ungleichheit und alles, was ihr als unfair erschien – vor allem wenn es dabei um Tiere ging. Sie war die Hüterin aller Hunde, vor allem der Streuner.

Grace beeilte sich, ihre Freundin zu verteidigen. »Monica ist eine wunderbare Mutter.«

»Mag sein, aber ich sage dir: Wenn wir diesen Sommer nach Europa fliegen, wird sich Chrissie als Allererstes über eine Tonne Pommes hermachen, um sich für all die Jahre zu entschädigen, in denen ihre Mutter sie sie nicht einmal anfassen ließ.« Sophie aß ihren letzten Löffel Haferbrei. »Hast du gerade irgendwas über das Abendessen gesagt?«

»Hast du vergessen, welcher Tag heute ist?« Grace verschloss die Lunchboxen und stellte eine neben Sophie. Die andere packte sie in ihre eigene Tasche.

»Valentinstag.« Sophie ließ sich vom Stuhl gleiten und griff nach ihrer leeren Schüssel. »Der Tag, an dem die Öffentlichkeit erfährt, dass niemand mich liebt.«

»Dad und ich lieben dich.«

»Nichts für ungut, aber ihr seid nicht jung, cool und gut gebaut.«

Grace nahm einen Schluck Kaffee. Wie weit konnte sie sich vorwagen? »Ist es immer noch Sam?«

Sophies Lächeln erlosch, als hätte jemand den Schalter ausgeknipst. »Er geht mit Callie. Sie laufen Händchen haltend umher. Sie wirft mir immer so ein arrogantes Lächeln zu. Ich kenne sie, seit ich drei bin. Deshalb kapiere ich nicht, warum sie das tut. Ich meine, dass sie sich mit ihm trifft, na gut, das nervt, aber so ist das Leben. Aber mir kommt es vor, als würde sie versuchen, mich zu verletzen.«

Grace spürte ein Brennen in ihrer Brust. Keinen Herzschmerz, sondern Elternschmerz. Als Mutter bestand ihre Rolle darin, von der Seitenlinie aus Unterstützung zu geben. Es war, als müsste man ein richtig schlechtes Spiel sehen ohne den Trost, dass man in der Halbzeit gehen konnte.

»Es tut mir leid, Liebes.«

»Muss es nicht.« Sophie stellte ihre Schüssel in die Geschirrspülmaschine und dann auch die, die ihr Vater auf dem Tisch stehen gelassen hatte. »Das mit uns hätte niemals funktioniert. Sophie und Sam klingt ziemlich lahm, meinst du nicht?«

Grace konnte den Schmerz ihrer Tochter tief in sich fühlen.

»Du gehst bald aufs College. Nach einem Monat in Kalifornien wirst du dich nicht einmal daran erinnern, dass Sam überhaupt existiert. Du hast dein ganzes Leben vor dir und alle Zeit der Welt, um jemand Besonderen kennenzulernen.«

»Ich werde studieren, als Beste meines Jahrgangs abschließen und an die juristische Fakultät gehen, wo ich lernen werde, wie ich Leute verklagen kann, die Arsch…«

»Sophie!«

»Ähm … die nicht sehr nett sind.« Sophie grinste, schwang sich ihren Rucksack über eine Schulter und legte sich ihren langen Pferdeschwanz über die andere. »Keine Angst, Mom. Jungs machen mich wahnsinnig. Ich möchte keine Beziehung.«

Das wird sich ändern, dachte Grace.

»Hab einen schönen Tag, Mom, und einen tollen Valentinstag. Fünfundzwanzig Jahre, in denen du Dad nicht angeschrien hast, wenn er die Socken auf dem Boden vergisst und sein schmutziges Geschirr oben auf dem Geschirrspüler. Ein großer Erfolg. Siehst du heute Mimi?«

»Heute Nachmittag.« Grace schob den Laptop in ihre Tasche. »Ich habe Macarons gebacken, so wie die, die sie immer in Paris gekauft hat. Du weißt ja, dass deine Urgroßmutter eine Vorliebe für Süßes hat.«

»Weil sie während des Kriegs in Paris gelebt hat und nichts zu essen hatte. Manchmal war sie sogar zu schwach zum Tanzen. Kann man sich das überhaupt vorstellen?«

»Vermutlich erzählt sie es dir genau deshalb. Sie möchte nicht, dass du die Dinge für selbstverständlich nimmst.« Grace öffnete die Schachtel, die sie heute Morgen sorgfältig gefüllt hatte, und enthüllte pastellfarbene Macarons in perfekter Regenbogen-Reihenfolge.

Sophie seufzte genüsslich. »Wow. Vielleicht könnte ich …?«

»Nein.« Bestimmt schloss sie den Deckel wieder. »Aber ich habe dir vielleicht zwei in deine Lunchbox getan.« Sie versuchte nicht an den Zucker zu denken oder daran, wie Monica auf die Zugabe von leeren Kalorien in der Lunchbox reagieren würde.

»Du bist die Beste, Mom.« Sophie küsste sie auf die Wange, und in Grace stieg ein warmes Gefühl der Liebe für ihre Tochter auf.

»Spekulierst du auf einen Gefallen oder so etwas?«

»Sei nicht zynisch.« Sophie griff nach ihrem Mantel. »Nicht viele Menschen würden in einem Heim für betreutes Wohnen Französischunterricht geben, das ist alles. Ich finde dich bewundernswert.«

Grace fühlte sich wie eine Betrügerin. Sie tat es nicht aus Wohltätigkeit, sondern weil sie die Zeit mit den Menschen dort genoss. Sie freuten sich immer so, sie zu sehen. Sie gaben ihr das Gefühl, geschätzt zu werden.

Der Gedanke, sie könnte in ihrem Alter noch bedürftig sein, war beschämend.

»Die Französischgruppe ist der beste Teil meiner Woche. Zum heutigen Valentinstag habe ich mir erlaubt, kreativ zu sein.« Sie nahm den Stapel Speisekarten, die sie gestaltet hatte. »Das Personal deckt die Tische mit rot-weißen Tischdecken. Es gibt französisches Essen, ich lege Musik auf … Da deine Urgroßmutter dabei ist, wird sicher auch getanzt. Wie findest du das?«

»Oh, là, là, ich finde, das klingt großartig.« Sophie grinste. »Aber denk daran, dass das Durchschnittsalter von Mimis Freundinnen bei neunzig liegt. Nicht dass sie alle einen Herzinfarkt bekommen.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass Robert ein Auge auf Mimi geworfen hat.«

»Mimi ist eine Charmeurin. Wenn ich neunzig bin, möchte ich wie sie sein. Sie hat dieses Funkeln im Blick … Es muss Spaß gemacht haben, dass sie bei euch gewohnt hat, als du Kind warst.«

Es hatte ihr damals das Leben gerettet. Und das war der Grund, warum Mimi überhaupt eingezogen war.

Über diese Zeit sprach sie nie mit ihrer Tochter. »Sie ist einzigartig. Kommst du heute Abend zurecht?« Sie überprüfte, ob die Küche sauber war. »Im Kühlschrank ist ein Auflauf. Du musst ihn nur warm machen.«

»Ich bin achtzehn, Mom. Du musst dir um mich keine Sorgen machen.« Sophie blickte aus dem Fenster, als ein Wagen vorfuhr. »Karen ist da. Ich muss los. Bye.«

Grace zu sagen, dass sie sich keine Sorgen machen solle, war genauso, als würde man einen Fisch bitten, nicht zu schwimmen.

Zwei Minuten nachdem Sophie gegangen war, zog sie sich ebenfalls den Mantel an, nahm ihre Schlüssel und ging zum Wagen.

Sie stellte die Heizung höher ein und konzentrierte sich aufs Fahren.

An vier Vormittagen in der Woche arbeitete Grace als Französisch- und Spanischlehrerin in der lokalen Realschule. Außerdem betreute sie Kinder mit Lernschwierigkeiten und gab gelegentlich Stunden für Erwachsene, die ihre Sprachkenntnisse auffrischen wollten.

Sie fuhr dieselbe Strecke, die sie immer nahm, sah dieselben Häuser, dieselben Bäume, dieselben Geschäfte. Ihr Ausblick veränderte sich nur mit dem Wandel der Jahreszeiten. Grace machte das nichts aus, denn sie schätzte Routine und Berechenbarkeit. Sie fand Trost und Sicherheit darin, zu wissen, was als Nächstes geschah.

Heute lag viel Schnee, der die Dächer und Gärten in einen weißen Mantel hüllte. In diesem Teil Connecticuts würde der Schnee wahrscheinlich noch viele Woche liegen bleibe. Manche Menschen begrüßten das. Grace gehörte jedoch nicht dazu. Es war März, und der Winter kam ihr vor wie ein Gast, der die Gastfreundschaft maßlos überstrapazierte. Sie sehnte sich nach Sonnenschein und Sommerkleidern, nach nackten Beinen und gekühlten Getränken.

Während sie noch in sommerlichen Fantasien schwelgte, klingelte ihr Handy.

Es war David.

»Hi, Gracie.« Der Klang seiner Stimme bewirkte noch immer, dass sie dahinschmolz. Tief und rau, aber sanft genug, um sie über alle alltäglichen Schwierigkeiten hinwegzutrösten.

»Hi, mein Hübscher. Du warst heute früh weg.« Und du hast dein Frühstücksgeschirr auf der Geschirrspülmaschine stehen gelassen.

»In der Redaktion ist viel los.«

David arbeitete als Redakteur bei der regionalen Tageszeitung, der Woodbrook Post, und seine letzten Artikel berichteten über den erstaunlichen Erfolg des Mädchentennisteams, die Gründung eines kommunalen Kinderchors und einen Überfall auf die lokale Tankstelle, bei dem nur eine Schachtel Donuts und eine Flasche Rum gestohlen wurden. Als die Polizei den Verantwortlichen ausfindig machte, hatte der die Beweisstücke schon konsumiert.

Wenn Grace die Zeitung las, erinnerte sie das an all die Gründe, warum sie in diesem malerischen Dorf mit seinen gerade mal zweitausendvierhundertachtundneunzig Einwohnern lebte.

Anders als andere Journalisten, die vielleicht größere Ziele im Visier hatten, hatte David nie den Wunsch geäußert, irgendwo anders zu arbeiten als in dieser Kleinstadt, in die sie sich beide verliebt hatten.

Er sah sich als die Stimme der Dorfgemeinschaft. Obwohl er die überregionalen Nachrichten eifrig verfolgte, war er doch davon überzeugt, dass vor allem die Geschehnisse vor Ort wichtig für die Leute waren. Er witzelte oft, dass er nur einen Nachmittag bei einem Gartenbarbecue verbringen und dem Tratsch zuhören müsse, um damit die ganze Zeitung füllen zu können. Da er mit dem Polizeichef und dem Leiter der Feuerwehr befreundet war, konnte er sicher sein, alles Aufregende als Erster zu erfahren.

In Woodbrook, einem Ort, von dem die meisten Menschen noch nie gehört hatten, geschah natürlich selten etwas Aufregendes, und das kam Grace entgegen.

»Glückwunsch zum Valentinstag und zum Jahrestag.« Sie bremste, als sie sich einer Kreuzung näherte. »Ich freue mich schon auf unser Abendessen heute.«

»Soll ich irgendwo einen Tisch buchen?«

Nur ein Mann konnte glauben, dass man am Valentinstag ohne Vorplanung noch einen Tisch bekam. »Habe ich schon gemacht, Schatz.«

»Gut. Ich sollte früh zu Hause sein. Ich mache Sophie etwas zu essen, damit du dich nicht darum kümmern musst.«

»Das habe ich schon. Der Kühlschrank ist gut gefüllt. Du kannst dich entspannen.«

Einen Moment lang war es still. »Du bist Superwoman, Grace.«

Sie strahlte. »Ich liebe dich.«

Ihre Familie war für sie das Wichtigste auf der Welt.

»Ich halte auf dem Heimweg kurz beim Laden und suche etwas für Stephens Geburtstag aus. Er sagt, er will kein Aufhebens, aber ich finde, wir sollten ihm etwas schenken, meinst du nicht?«

»Doch – weshalb ich ihm schon ein Geschenk gekauft habe, als ich letzte Woche shoppen war.« Grace wartete auf eine Lücke im Verkehr und bog bei der Schule ein. »Du findest es unter dem Bett im Gästezimmer.«

»Du hast schon etwas gekauft?«

»Ich wollte nicht, dass du dir deshalb den Kopf zerbrechen musst. Erinnerst du dich an das tolle Foto von Stephen mit Beth und den Kindern?«

»Das ich beim Sommerjahrmarkt aufgenommen habe?«

Sie kam auf dem Parkplatz zu stehen und löste den Sicherheitsgurt. »Ich habe es ausdrucken und rahmen lassen. Es sieht großartig aus.«

»Das ist … sehr aufmerksam …«

»Ich habe es auch verpackt. Du musst nur noch deinen Namen auf die Karte schreiben.« Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Tasche. »Ich bin jetzt an der Schule. Ich ruf dich später an. Du klingst müde. Bist du müde?«

»Ein bisschen.«

Mit einem Bein schon aus dem Wagen, hielt sie inne. »Du hast in letzter Zeit lange gearbeitet. Du solltest kürzertreten. Zu Hause gibt es nichts für dich zu erledigen, vielleicht solltest du dich also hinlegen und ausruhen, bevor wir gehen.«

»Ich bin nicht altersschwach, Grace.«

In seinem Ton lag eine ungewohnte Schärfe.

»Ich wollte dich nur ein bisschen verwöhnen, das ist alles.«

»Entschuldige.« Die Schärfe verschwand. »Ich wollte dich nicht anblaffen. Es ist viel los in letzter Zeit. Ich bestelle ein Taxi für heute Abend, damit wir etwas trinken können, ohne uns ums Fahren zu sorgen.«

»Das Taxi ist schon für sieben gebucht.«

»Vergisst du je etwas?«

»Es liegt an den Listen, das weißt du. Wenn ich meine Listen verliere, ist mein Leben vorbei.«

Ihr kam der Gedanke, dass jemand nach ihrem Tod ihre To-do-Listen nehmen und mit ihrem Leben weitermachen könnte, als wäre es niemals ihres gewesen.

Was sagte das über sie aus? Ein Leben sollte doch sicher einzigartig sein, oder? Würde jemand, der die Listen sah, etwas über sie erfahren können? Würde er wissen, dass sie den Duft von Rosen liebte und ihrer Vorliebe für französische Filme nachgab, wenn niemand zu Hause war? Würde er wissen, dass sie beim Kochen Mozarts Klavierkonzerte hörte?

»Gibt es irgendwas, wofür du mich brauchst?«

Grace lächelte auf eine Art, von der ihre Tochter sagen würde, dass sie Mimis Verführungslächeln ähnelte. »Ich kann mir da ein paar Dinge vorstellen … Ich habe vor, sie dir später zu zeigen.«

David beendete das Gespräch, und sie betrat das Schulgelände, wobei sie einigen Eltern zuwinkte, die gerade ihre kostbare Fracht ablieferten.

Fünfundzwanzig Jahre. Sie war seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet.

Bei dem Gedanken verspürte sie glühenden Stolz.

Nimm das, Universum.

David und sie waren ein perfektes Team. Sie hatten wie jedes Paar ihre guten und schlechten Zeiten, doch sie gingen alles gemeinsam an. Grace war der Mensch geworden, der sie sein wollte, und wenn eine winzige Stimme sie gelegentlich erinnerte, dass sie in ihrem Inneren jemand ganz anderes war, ignorierte sie sie. Sie hatte die Ehe, die sie wollte. Das Leben, das sie wollte.

Der Tag sollte auf ganz besondere Weise gefeiert werden, deshalb hatte sie einen Tisch im Bistro Claude reserviert, dem gehobenen französischen Restaurant in der nächstgelegenen Stadt. Claude selbst kam aus Texas, doch er hatte eine Marktlücke entdeckt, sich einen Akzent zugelegt und sein Restaurant nach einem Vorbild gestaltet, das er mal in einem französischen Film gesehen hatte.

Sogar Grace musste als Puristin und Frankophile zugeben, dass sein Lokal bezaubernd war. Zu gern hätte sie Mimi dorthin ausgeführt, doch ihre Großmutter ging nicht mehr gern außerhalb essen.

Das Bistro Claude war der ideale Rahmen für heute Abend, denn Grace hatte eine große Überraschung geplant. Die Organisation war ein größeres Unterfangen gewesen, doch sie hatte darauf geachtet, keine Hinweise oder Spuren zu hinterlassen.

Zum Glück hatte David in den letzten zwei Monaten immer bis spät abends gearbeitet, sonst wäre es unmöglich gewesen, ihre Recherchen geheim zu halten.

Sie stieß die Tür auf und betrat die Schule.

Die Kinder ihrer Klasse waren in dem Alter, in dem alles, was mit Sex oder Romantik zu tun hatte, als brüllend komisch oder abgrundtief peinlich galt. Insofern war sie ziemlich sicher, dass der Valentinstag für jede Menge Gekicher sorgen würde.

Sie hatte sich nicht geirrt.

»Wir haben ein Gedicht für Sie geschrieben, um Ihren Hochzeitstag zu feiern.«

»Ein Gedicht? Ich Glückliche.« Grace hoffte, dass sie ihr die entschärfte Version präsentieren würden. »Wer wird es vorlesen?«

Darren kletterte auf seinen Stuhl und räusperte sich.

»Fünfundzwanzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, selbst ein Verbrecher ist schneller wieder in Freiheit.«

Grace wusste nicht, ob sie lachen oder das Gesicht in den Händen vergraben sollte.

Als sie zur Mittagszeit zurück zum Parkplatz ging, war sie erschöpft und erleichtert, dass sie nur vormittags arbeitete. Zum Glück würde ihr die Fahrt zum Seniorenheim, in dem ihre Großmutter lebte, die Gelegenheit geben, sich zu entspannen.

Die Strecke führte über eine Panoramastraße, die sich durch Wälder und verschlafene Dörfer schlängelte. Im Herbst war sie überfüllt mit Touristen, die die Farben des Laubs bewunderten, doch jetzt waren die Bäume und Berge in Schnee gehüllt. Die Straße folgte der Windung des Flusses, der während der Schneeschmelze meist über die Ufer trat.

Grace fuhr am Naturschutzgebiet vorbei und bog rechts in die Straße ein, die zur Seniorenresidenz Rushing River führte, vor der sie parkte.

Sie war entsetzt gewesen, als Mimi ihr eröffnet hatte, dass sie hierherziehen wolle.

Ihre Großmutter hegte nicht nur eine Vorliebe fürs Tanzen und alles Hedonistische, sondern war auch eine gefeierte Fotografin gewesen. Sie war zu einer Zeit mit ihrer Kamera durch die Welt gereist, als das für eine Frau noch sehr ungewöhnlich war. Ihre Bilder aus dem Paris der Nachkriegszeit waren berühmt, und Grace hatte immer bewundert, wie ihre Großmutter die persönlichen Nöte von Menschen in einem einzigen Bild einfing. Mimis lebhafte und überschwängliche Persönlichkeit stand im Widerspruch zu ihren düsteren atmosphärischen Bildern von verregneten Straßen oder Paaren, die sich in einer verzweifelten Umarmung aneinanderklammerten. Die Fotos erzählten eine Geschichte, die ihre Großmutter nur selten in Worten wiedergab. Sie erzählten von Hunger und Entbehrung. Von Angst und Verlust.

Dass ihre weit gereiste und weltgewandte Großmutter sich für einen Ort wie Rushing River entscheiden würde, hatte Grace als Allerletztes erwartet. Sie hatte versucht, sie umzustimmen. Wenn Mimi so alt war, dass sie nicht mehr allein zurechtkam, sollte sie bei Grace und David einziehen.

Mimi hatte entgegnet, dass sie ihre Unabhängigkeit viel zu sehr genoss, um mit anderen Menschen zusammenzuwohnen – und sei es ihre geliebte Enkelin. Sie hatte das Geld investiert, ohne Grace miteinzubeziehen.

Das war fünf Jahre her, doch Grace hatte schon nach wenigen Besuchen verstanden, warum ihre Großmutter sich diesen Ort ausgesucht hatte.

Er war eine Oase. An anstrengenden Tagen stellte sie sich vor, ebenfalls hier zu leben. Es gab ein Fitnessstudio mit Pool, Wellnessbereich und Kosmetikbehandlungen, das Mimi liebte. Doch das Beste waren die Menschen. Sie waren interessant, freundlich, und dank des hervorragenden Managements wirkte der ganze Ort wie eine Gemeinschaft.

Ihre Großmutter lebte in einem Dreizimmergartencottage, von dem aus man über die Wiesen hinunter zum Fluss blickte. Wenn die Türen und Fenster im Sommer offen standen, konnte man das Wasser hören. Mimi hatte eines der Zimmer in eine Dunkelkammer verwandelt, wo sie noch immer ihre Fotos entwickelte. Das andere Zimmer, ihr Schlafzimmer, wirkte mit der verspiegelten Wand und der Ballettstange, an der ihre Großmutter sich dehnte, wie die Garderobe einer Tänzerin.

Die Haustür öffnete sich, noch bevor Grace die Hand zur Klingel geführt hatte.

»Wie findest du das? Je suis magnifique, non?« Ihre Großmutter vollführte eine Drehung und streckte dann rasch die Hand aus, um sich abzustützen. »Ups!«

»Vorsichtig!« Grace ergriff ihre Hand. »Vielleicht ist es an der Zeit, mit dem Tanzen aufzuhören. Du könntest das Gleichgewicht verlieren.«

»Wenn ich schon falle, dann lieber beim Tanzen. Außer ich falle beim Sex aus dem Bett. Das wäre auch akzeptabel – allerdings unwahrscheinlich, solange die Männer hier nicht in die Puschen kommen.«

Grace lachte und stellte ihre Taschen ab. Sie liebte den schelmischen Ausdruck in den Augen ihrer Großmutter. »Bleib, wie du bist.«

»Ich bin zu alt, um mich zu ändern – und warum sollte ich? Das Wichtigste, was man beherrschen sollte, ist immer man selbst zu sein.« Mimi strich über ihr Kleid. »Also, wie findest du es?«

»Ist das das Kleid, das du als Balletttänzerin in Paris getragen hast?«

Sie hatte Bilder aus der Zeit gesehen. Wie ihre Großmutter, unfassbar zart und das Haar zu einem Dutt zusammengefasst, en pointe stand. Laut Mimis Erzählungen hatte ihr halb Paris zu Füßen gelegen, was Grace ohne Weiteres glaubte.

»Ich wusste nicht, dass du es noch hast.«

»Habe ich auch nicht. Das hier ist eine Kopie. Mirabelle hat es genäht. Sie ist wirklich begabt. Natürlich war ich damals jünger, und meine Beine waren nicht so dürr wie jetzt, deswegen hat sie es länger gemacht.«

»Du siehst unglaublich aus.« Grace beugte sich vor und küsste ihre Großmutter auf die Wange. »Ich habe schon alles für unsere Französischgruppe vorbereitet. Ich muss los und dem Personal beim Aufbau helfen, doch erst wollte ich dir das hier geben.« Sie überreichte ihr die Macaronschachtel, die sie mit einer hübschen Schleife verziert hatte. »Ich habe sie selbst gebacken.«

»Selbst gemachte Geschenke sind immer die besten.« Mimi fuhr mit dem Finger über das Seidenband. »Ich hatte ein Paar Ballettschuhe mit Bändern in genau dieser Farbe.« Sie öffnete die Schachtel mit einer Begeisterung, die ihre neunzig Lebensjahre nicht hatten schmälern können. »Sie sehen genauso aus wie die, die ich immer in Paris gekauft habe. Sie lagen wie Juwelen im Schaufenster. Ich erinnere mich an einen Mann, der sich morgens aus meinem Apartment hinausschlich, um mir eine Schachtel zum Frühstück zu kaufen – wir haben sie im Bett gegessen.«

Grace liebte die Geschichten aus der schillernden Vergangenheit ihrer Großmutter. »Wie hieß er?«

Sprach Mimi vielleicht über den Mann, der sie geschwängert hatte?

Grace hatte bei verschiedenen Gelegenheiten versucht, ihre Großmutter dazu zu bringen, über jenen geheimnisvollen Verehrer zu sprechen, der ihr Großvater war, doch sie tat es nie. »Er war eine Affäre«, sagte sie dann nur.

Wie immer blieb ihre Großmutter auch diesmal vage. »Ich weiß seinen Namen nicht mehr. Ich erinnere mich nur an die Macarons.«

»Du bist eine durchtriebene Frau, Mimi.« Grace nahm ihr die Schachtel ab und schloss sie. Es fühlte sich merkwürdig an, nichts über ihren Großvater zu wissen. Lebte er überhaupt noch?

»Seit wann ist es durchtrieben, Spaß zu haben? Und warum machst du die Schachtel zu? Ich wollte eines essen.«

»In unserer Französischstunde bekommst du jede Menge zu essen. Es wird ausreichend Nachschlag vorhanden sein.«

»Aber ich genieße gern den Moment.« Mimi öffnete die Schachtel und bediente sich. Sie biss in ein Macaron und schloss die Augen. »Wenn du den Moment auskostest, wirst du das Gestern niemals bedauern.«

Grace fragte sich, ob sie an Paris dachte oder an den Mann, der ihr Macarons ans Bett gebracht hatte. Sie wusste, dass ihre Großmutter manche Geschichten nicht erzählte. Sie betrafen die Zeiten, an die sie nicht gern dachte. Grace verstand das. Auch in ihrem Leben hatte es Zeiten gegeben, an die sie nicht gern dachte.

»Gut?«

»Hervorragend.« Mimi öffnete die Augen und griff nach ihrem Mantel und einem Seidenschal. Heute wählte sie den pfauenblauen. »Wie geht es Sophie?«

»Sie ist entsetzt darüber, dass man das Tierheim schließen will. Sie schreibt Briefe und ruft deswegen jeden an, der ans Telefon geht.«

»Ich bewundere Menschen, die bereit sind, aufzustehen und sich für das, woran sie glauben, einzusetzen. Und erst recht, wenn meine Urenkelin so ein Mensch ist. Du solltest stolz sein, Grace.«

»Ich bin stolz – auch wenn ich nicht sicher bin, ob ihr Wesen viel mit mir zu tun hat. Sie kommt eher nach David.«

Mimi konnte ihre Gedanken lesen. »Entspann dich. Sophie hat nichts von deiner Mutter in sich.« Sie hakte sich bei Grace ein, als sie das Cottage verließen und den gepflasterten Weg zum Haupthaus betraten. »Wann kommt Sophie mich besuchen?«

»Am Wochenende.«

»Und David?« Mimis Züge wurden weicher. »Er kam gestern vorbei und hat den Türgriff repariert. Der Mann ist perfekt. Er hat Zeit für jeden. Und habe ich schon erwähnt, dass er jeden Tag attraktiver wird? Dieses Lächeln …«

»Ich weiß.« Sie hatte sich damals sofort in Davids Lächeln verliebt. »Ich habe Glück.«

Mimi blieb stehen. »Nein, Liebes. Er ist derjenige, der Glück hat. Du hast so viel durchgemacht, und trotzdem hast du solch eine Familie – nun, ich bin stolz auf dich. Du hältst deine Familie zusammen, Grace. Und du bist eine wunderbare Mutter.«

Ihre Großmutter war ihre größte Unterstützerin. Grace umarmte sie vor allen, die zufällig gerade zusahen. Als sie sie im Arm hielt, bemerkte sie erst, wie zerbrechlich Mimi geworden war. Es machte ihr Angst. Sie konnte sich kein Leben ohne sie vorstellen.

»Ich liebe dich.«

»Natürlich tust du das. Ich bin die Buttercreme auf dem trockenen Kuchen des Lebens.«

Grace ließ sie los. »Heute sind es fünfundzwanzig Jahre. Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist?«

»Meine Knochen knacken, und ich habe Krampfadern, aber mein Gedächtnis ist bestens. Natürlich weiß ich, welcher Tag heute ist. Dein Hochzeitstag! Ich freue mich für dich. Jede Frau sollte zumindest einmal in ihrem Leben aufrichtig lieben.«

»Du hast das nicht getan. Warst du nie versucht zu heiraten? Nicht einmal, als du schwanger warst?«

Mimi schlang sich den Schal um den Hals und hakte sich bei Grace unter. »Ich war nie der Typ, der heiratet. Du dagegen bist das immer schon gewesen. Ich hoffe, du trägst deine aufregendste Unterwäsche zur Feier des Tages.«

»Ich weigere mich, meine Unterwäsche mit dir zu erörtern, aber ich kann dir verraten, dass ich für das Abendessen einen Tisch reserviert habe. Und dann gebe ich ihm sein Geschenk.«

»Ich bin neidisch. Ein ganzer Monat in Paris. Kleine Straßen mit Kopfsteinpflaster im Sonnenlicht und die Gärten … Paris hat eine ganz besondere Atmosphäre – erinnerst du dich? Sie kriecht dir unter die Haut und erfüllt die Luft, die du atmest …«

Mimi schien mit sich selbst zu reden, und Grace lächelte.

»Ich erinnere mich – aber ich war erst einmal dort, und das nur kurz. Du bist dort geboren. Du hast dort gelebt.«

»Das habe ich. Und ich habe wirklich gelebt.« Wenn sie über Paris sprach, war Mimi immer besonders lebendig. »Ich erinnere mich, dass wir uns eines Abends auszogen und …«

»Mimi!« Grace hielt an der Tür zum Speisesaal inne. »Du bist gleich in der Öffentlichkeit. Schockier sie nicht alle. Wir wollen doch nicht, dass du mit deinen sündhaften Geschichten Anstoß erregst.«

»Langeweile ist eine Sünde. Man ist nie zu alt für ein bisschen Aufregung. Ich tue ihnen einen Gefallen.« Mimi schnippte mit den Fingern. »Pierre! Das ist es.« Triumphierend sah sie Grace an.

»Pierre?«

»Der Mann, der mir die Macarons brachte. Wir hatten uns die ganze Nacht geliebt.«

Grace war fasziniert. »Wo hast du ihn kennengelernt? Was hat er beruflich gemacht?«

»Ich traf ihn bei einer Vorführung, zu der er gekommen war, um mich tanzen zu sehen. Ich habe keine Ahnung, was er beruflich tat. Wir haben nicht geredet. Mich interessierte nicht seine Karriere, sondern nur seine Ausdauer.«

Grace schüttelte den Kopf und zog den Schal ihrer Großmutter zurecht. »Du solltest zurückgehen.«

»Nach Paris? Ich bin zu alt. Heute ist sicher alles anders. Und die Menschen, die ich geliebt habe – sie sind tot.«

Ihre Großmutter sah in die Ferne und schüttelte dann kurz den Kopf.

»Zeit zu tanzen.« Sie öffnete die Tür und betrat den Raum wie eine Primaballerina die Bühne.

Sie wurden von einem Chor fröhlicher Stimmen empfangen, und Grace packte ihre Tasche auf dem Tisch aus. Sie hatte an der Bäckerei in der Main Street angehalten, um Baguettes zu kaufen. Sie waren nicht so kross und perfekt wie die, die sie in Frankreich gegessen hatte, doch verglichen mit allem, was das ländliche Connecticut diesbezüglich zu bieten hatte, kamen sie deren Vorbild am nächsten.

Während das Personal half, die Tische vorzubereiten, wählte Grace die Musik aus.

»Edith Piaf!« Mimi glitt graziös in die Mitte des Raums und forderte Albert auf.

Einige andere taten es ihnen nach, und rasch war der Raum voller tanzender Menschen.

Als sie sich zum Essen setzten, wurde Grace mit Fragen bombardiert.

Hatte sie alles für Davids Überraschung vorbereitet? Wie genau würde sie ihm von der Reise erzählen, die sie geplant hatte?

Sie hatte Mimi in ihre Pläne eingeweiht, weil sie wusste, wie sehr sie es genoss, Teil einer Verschwörung zu sein.

Es war ursprünglich Davids Idee gewesen, sich zum Hochzeitstag nichts zu schenken, sondern sich stattdessen Erfahrungen zu gönnen. Er hatte es ihr Glückliche-Erinnerungen-Projekt genannt. Er wollte ihr viele schöne Erinnerungen verschaffen, um die schlechten Erinnerungen ihrer Kindheit wettzumachen.

Das war das Romantischste, was ihr jemals jemand gesagt hatte.

Letztes Jahr hatte sie ein Wochenende an den Niagarafällen gebucht. Sie hatten eine gute Zeit gehabt, doch Grace wollte für dieses Jahr etwas Größeres und Besseres.

Der Nachmittag verstrich rasch, und sie räumte gerade auf, als ihre Freundin Monica eintraf, um eine Yogastunde zu geben.

Grace und Monica hatten sich kennengelernt, als sie schwanger waren. Niemand verstand Elternängste besser als eine andere Mutter, und es tat gut, mit Monica zu sprechen, auch wenn sie sich im Vergleich zu ihrer Freundin oft unzureichend fühlte.

Monica war besessen von einem gesunden Lebensstil. Für sie war rotes Fleisch für mindestens die Hälfte allen Unrechts dieser Welt verantwortlich. Sie presste frischen Saft, baute ihr eigenes Gemüse an und unterrichtete Yoga. Sie bestand darauf, dass die ganze Familie vegetarisch lebte, auch wenn David schwor, dass er Monicas Mann dabei gesehen hatte, wie er in einem Steakhaus in der Nachbarstadt ein Vierhundert-Gramm-Steak verschlungen hatte. Sie hatten sich nur einmal zu einem gemeinsamen Pärchenabend getroffen – zu einem Abendessen, das nahezu ausschließlich aus Linsen bestand und nach dem David das Badezimmer vierundzwanzig Stunden lang nicht verlassen konnte.

»Nie wieder!«, hatte er durch die Badezimmertür gebrüllt. »Sie ist deine Freundin.«

Grace, in deren Magen und Darm es ebenfalls rumort hatte, hatte zugestimmt.

Von diesem Tag an war die Freundschaft auf die beiden Frauen begrenzt gewesen.

Sie trafen sich zum Kaffee oder zum Mittagessen oder gelegentlich zu einem Wellnesstag.

Grace liebte Monica trotz Davids Vorbehalte. Sie hatte ein gutes Herz, und dass sie hier in Rushing River Yogastunden gab, zeigte das deutlich.

Grace half Monica, ihr Equipment im Übungsraum auszubreiten. »Wie geht es Chrissie?«, fragte sie ihre Freundin.

»Sie ist furchtbar aufgeregt. Sie weiß nicht, was sie tun soll, wenn sie nicht die Zulassung für das College ihrer Wahl bekommt. Die Wartezeit treibt uns in den Wahnsinn. Ich habe schon Meditationstechniken probiert, aber sie scheinen nicht zu funktionieren.«

»Sophie ist auch gestresst. Vor nächstem Monat werden sie keine Antwort erhalten.«

Beide Mädchen hofften auf einen Platz an einem Elite-College, und Grace und Monica wussten, dass sie sehr enttäuscht sein würden, wenn man sie ablehnte.

»Chrissie möchte auf die Brown University, weil ihr das Angebot gefällt … ich hoffe ebenfalls auf die Brown – aber vor allem, weil sie in der Nähe ist.« Monica zog ihr Sweatshirt aus und entblößte dabei ihre muskulösen Arme. »Ich möchte sie ab und zu besuchen können.« Sie warf Grace einen schuldbewussten Blick zu. »Entschuldige, das war taktlos.«

Grace hätte ihre Tochter gern in einem College an der Ostküste gesehen, doch Sophie wollte unbedingt nach Stanford und war ganz aufgeregt, dann nach Kalifornien zu ziehen. Grace wollte sie nicht davon abhalten oder sie drängen, ein College zu wählen, das näher an ihrem Zuhause lag. Sie freute sich, dass Sophie das Selbstvertrauen hatte, so weit fortzugehen.

»Denkst du viel daran? Wie das Leben sein wird, wenn sie fort ist?« Monica holte das Mikrofon hervor, das sie im Unterricht verwendete. »Chrissie wirkt noch so jung. Todd hat Angst vor ihrem Auszug, auch wenn wir uns zumindest keine Sorgen machen müssen, dass sie plötzlich auf die falsche Spur gerät. Sie ist so ein zuverlässiges, vernünftiges Mädchen. Wie geht es David damit?«

»Er scheint das entspannt zu sehen. Wir sprechen nicht wirklich darüber.« Grace wollte die letzten Monate, die sie Sophie zu Hause hatte, nicht damit verderben, dass sie sich ständig mit ihrem Auszug beschäftigte. Sie hielt ihre Ängste verborgen, damit sie sie nicht irgendwie an ihre Tochter weitergab. Wie David und sie damit zurechtkamen, lag nicht in Sophies Verantwortung.

Grace hielt sich an diesen Vorsatz, sogar bei Freundinnen. »Es wird natürlich sehr anders, aber wir freuen uns beide, Zeit füreinander zu haben.«

Lange Sommertage lagen vor ihnen, nur David und sie … Keine Sophie, die in die Küche gehüpft kam und den Kühlschrank plünderte. Keine im Haus verstreute Kleidung und offene Bücher auf den Möbeln. Keine versandfertigen Protestbriefe auf dem Küchentresen.

Wenn Sophie fort war, würde sich in ihrem Leben ein klaffendes Loch auftun. Es gab Momente, in denen ihr das Angst machte, doch sie wusste, dass es an David und ihr lag, dieses Loch zu füllen.

»Ihr seid beide so ausgeglichen.« Monica befestigte das Mikrofon an ihrem Top. »Ich dachte, Todd würde explodieren, als Chrissie zum ersten Mal von der Möglichkeit sprach, mit Sophie diesen Sommer nach Europa zu reisen. Ich sage ihm immer, dass sie kein Kind mehr ist und dass sie mit ihren Freunden zusammen sein will. Aber ich mache mir auch ein bisschen Sorgen. Meinst du, wir hätten sie ermuntern sollen, etwas weniger Abenteuerliches zu machen?«

»Ich war in dem gleichen Alter, als ich zum ersten Mal nach Paris ging. Es war ein unvergessliches Erlebnis.«

Erinnerungen tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Die regennassen Straßen von Paris, die Sonnenstrahlen zwischen den Blättern der Bäume im Jardin des Tuileries, ihr erster richtiger Kuss im Mondschein an der funkelnden Seine. Der flüchtige Blick in ein Leben, das so weit von dem ihrem entfernt war, dass ihr schwindlig wurde. Das aufregende Wissen, dass eine ganze Welt vor ihr lag und auf sie wartete.

Philippe.

Ihre erste Liebe.

Und dann der Anruf, der alles verändert hatte.

Es schien alles so lange her zu sein.

»Aber sie fahren auch nach Rom und Florenz.« Monica war nicht beruhigt. »Ich habe üble Dinge über Florenz gehört. Donnas Tochter wurde dort ihr Portemonnaie gestohlen, und sie sagte, sie hätten sich nur zu zweit nach draußen gewagt – selbst tagsüber. Sie wurden die ganze Zeit angegrapscht. Und was, wenn ihnen jemand etwas in ihre Drinks tut? Überhaupt möchte ich nicht, dass Chrissie ihrem Körper Gift zuführt. Sie hat noch nicht mal Antibiotika genommen.«

Grace löste sich aus der Vergangenheit. Sie war ziemlich sicher, dass Chrissie ihrem Körper jede Menge Gift zuführen würde, wenn sie erst mal auf dem College war. »Sie sind vernünftig. Falls sie in Schwierigkeiten geraten – was nicht geschehen wird –, können sie uns anrufen. David und ich werden einen Monat lang in Paris sein.«

Es klang exotisch, und plötzlich fühlte es sich an, als hätte sich eine Tür einen Spalt weit geöffnet. Ein Teil von ihr würde sich immer nach jenen Tagen sehnen, als ihre Tochter im schützenden Kokon der Familie sicher aufgehoben gewesen war, doch es gab viele andere Dinge in der Zukunft, auf die sie sich freuen konnte.

Vor ihr lagen endlose Möglichkeiten.

Davids Eltern waren zu einem frühen Zeitpunkt in ihrer Ehe gestorben, und er hatte keine weitere Familie. Er hatte oft gesagt, dass Grace und Sophie seine ganze Welt seien, und Grace war glücklich darüber, denn ihr ging es genauso. Und sie hatte Mimi. Sie lächelte. Ihre Buttercreme.

Der Gedanke an einen ganzen Monat in Europa, in dem jeder Tag nur ihnen gehörte, machte sie fast schwindlig. Sie würden im Bett herumlungern, ausgiebige Frühstücke auf dem Balkon ihres Hotels genießen, ein bisschen Sightseeing machen. Sie würden die Zeit und die Energie für Sex haben und müssten sich nicht sorgen, dass Sophie sie stören könnte.

Sie würde Sophie vermissen, doch je mehr sie daran dachte, desto mehr freute sie sich darauf, mehr Zeit mit ihrem Ehemann zu verbringen.

Als sie später mit David beim Abendessen saß, sprach sie das Thema an.

»Ich habe an all die Dinge gedacht, die wir tun können, wenn Sophie auf dem College und nicht mehr zu Hause ist.«

Das Restaurant war voll. Eine Geräuschkulisse von Gesprächen, dem Klirren von Gläsern und gelegentlichem Auflachen umgab sie. Auf den Tischen flackerten Kerzen, silbernes Besteck blitzte im Licht.

»Wir wissen noch nicht, wohin sie geht.« Er aß sein Bœuf bourguignon. Der Duft von Kräutern und Rotwein verbreitete sich. »Vielleicht wird sie nicht angenommen.«

»Das wird sie. Sie ist klug. Und sie arbeitet hart. Unser Baby ist erwachsen.«

Hinter ihnen erklang Applaus. Grace wandte sich um. Ein paar Tische weiter kniete ein Mann und überreichte einer weinenden Frau einen Ring. Grace klatschte ebenfalls und blickte dann wieder zu David. Sie hatte erwartet, dass er ihr zuzwinkern oder vielleicht die Augen verdrehen würde angesichts dieser kitschigen Szene, doch David lächelte nicht. Er betrachtete das Paar mit einem Ausdruck, den Grace nicht recht deuten konnte.

»Es werden nur noch wir beide sein«, sagte er. Er sah zu, wie der Mann der Frau den Ring ansteckte. »Denkst du manchmal darüber nach?«

Grace kehrte dem Paar den Rücken zu und widmete sich wieder ihrem Teller. Sie hatte das Enten-Confit bestellt, und es war köstlich. »Selbstverständlich. Ich denke auch an all die Dinge, die wir tun können. Ich freue mich darauf. Du dich nicht auch?«

Sie war so sehr in ihrer eigenen Heiterkeit gefangen, dass sie einen Moment brauchte, um zu bemerken, dass er nicht antwortete. Er betrachtete noch immer das Paar hinter ihr.

»David?«

Er legte die Gabel zur Seite. »Ich fühle mich alt, Grace. Es kommt mir vor, als ob die besten Jahre meines Lebens hinter mir liegen.«

»Was? David, das ist verrückt. Du bist auf dem Höhepunkt! Falls es dir hilft: Mimi findet dich attraktiver als je zuvor.«

Sie fand das ebenfalls. Wenn man mit jemandem zusammenlebte, sah man ihn nicht immer so, wie Fremde ihn sahen. Doch in letzter Zeit hatte sie sich ertappt, wie sie Davids breite Schultern oder seinen Dreitagebart ansah und dachte: Sexy! Das Alter verlieh ihm eine Distinguiertheit, die sie unwiderstehlich fand.

Als sie Mimi erwähnte, entspannten sich seine Gesichtszüge. Seine Augenfältchen vertieften sich – ein Vorbote jenes Lächelns, das sie so sehr liebte. »Du erörterst meinen Sex-Appeal mit deiner Großmutter?«

»Du weißt, wie sie ist. Ich schwöre, wenn wir nicht schon verheiratet wären, würde sie dich heiraten. Nein, eigentlich …« Sie runzelte die Stirn. »Heiraten ist Mimi zu bürgerlich. Sie würde nicht gebunden sein wollen. Sie würde mit dir schlafen und dich dann ausmustern und sich nicht einmal mehr an deinen Namen erinnern. Paris ist gepflastert mit all den Herzen, die Mimi dort gebrochen hat.«

Und bald würde sie ebenfalls dort sein. Vielleicht war dies der richtige Zeitpunkt, es ihm zu sagen.

Er spielte mit seinem Messer. »Ich kann mich noch an den Tag von Sophies Geburt erinnern. Kaum zu glauben, dass sie bald auszieht.«

»Es ist nur natürlich, dass wir so empfinden, aber wir sollten stolz sein. Wir haben eine kluge, freundliche und unabhängige Erwachsene herangezogen. Das war unsere Aufgabe als Eltern. Sie denkt selbstständig, und nun wird sie auch ihr Leben selbstständig gestalten. So sollen die Dinge laufen.«

Der Umstand, dass es bei ihr nicht so gelaufen war, hatte ihre Entschlossenheit, ihrer Tochter alles zu ermöglichen, noch verstärkt.

David legte das Messer weg. »Ein Meilenstein wie dieser bringt einen wirklich dazu, das eigene Leben genau zu betrachten. Ich habe über uns nachgedacht, Grace.«

Sie nickte erfreut. »Ich habe auch über uns nachgedacht. Wir sollten unseren Neustart feiern. Und unser Sommer wird nicht leer sein, weil ich weiß, wie wir ihn auf perfekte Weise füllen. Herzlichen Glückwunsch zum Hochzeitstag, David.«

Sie reichte ihm das Päckchen, das sie unter dem Stuhl versteckt hatte. Das Geschenkpapier zierten kleine Bilder von Pariser Sehenswürdigkeiten. Der Eiffelturm. Der Arc de Triomphe. Der Louvre. Sie hatte zwei Stunden im Internet gesucht, um es zu finden.

»Was ist das?«

»Das ist meine Überraschung zum Hochzeitstag. Jedes Jahr unternehmen wir eine Reise, um uns neue Erinnerungen zu schaffen. Dies ist eine ganz besondere. Und vielleicht inspiriert sie dich, an deinem Roman zu arbeiten.« Er schrieb an dem Buch, seit sie ihn kannte, hatte es aber nie beendet.

»Eine Reise?« Er wickelte das Geschenk langsam aus, als wäre er nicht sicher, ob er wissen wollte, was sich unter dem Papier verbarg.

Das Paar am Tisch neben ihnen sah fasziniert herüber. Grace kannte sie vage – so wie man sich in einer Kleinstadt wie dieser eben kannte. Die Gesichter waren einem immer vertraut. Der Cousin von jemandem. Die Tante von jemandem. Der Mann von jemandem.

David holte den Stadtplan von Paris hervor, den sie ebenfalls im Internet bestellt hatte. »Wir fliegen nach Paris?«

»Ja!« Sie war geradezu lächerlich zufrieden mit sich. »Es ist alles gebucht. Wir fliegen für einen Monat hin, direkt im Juli. Du wirst es lieben, David.«

»Einen ganzen Monat?«

»Wenn du dir Sorgen machst, ob du dir so lange freinehmen kannst, musst du das nicht. Ich habe schon mit Stephen gesprochen, und er hält es für eine großartige Idee. Du hast so viel gearbeitet, und Juli ist ein ruhiger Monat und …«

»Warte. Du hast mit meinem Chef gesprochen?« Er rieb sich das Kinn, als hätte er dort einen Schlag abbekommen. Seine Wangenknochen färbten sich rot, und sie wusste nicht, ob es aus Verärgerung oder Beschämung war.

»Ich musste wissen, ob du dir die Zeit freinehmen kannst.« Vielleicht hätte sie es nicht tun sollen, auch wenn Stephen es bezaubernd gefunden hatte.

»Grace, du musst nicht jedes Detail meines Lebens für mich erledigen.«

»Ich dachte, du freust dich.« Wollte er sich nicht die anderen Gegenstände in der Schachtel ansehen? Das waren ein Ticket für die Metro, die Pariser U-Bahn, eine Postkarte des Eiffelturms und eine Hochglanzbroschüre des Hotels, das sie gebucht hatte. »Diese Reise ist für uns. Wir haben einen Monat im Sommer, in dem wir gemeinsam die Stadt erkunden. Wir können in Straßenbistros draußen zu Abend essen, zusehen, wie die Leute vorbeigehen, und entscheiden, wie unser zukünftiges Leben aussehen soll. Nur wir beide.«

Sie war entschlossen, diese neue Lebensphase als ein Abenteuer zu betrachten – und nicht als eine Zeit des Bedauerns und der Nostalgie.

Würde es sich merkwürdig anfühlen, mit David in Paris zu sein? Nein, sicher nicht. Ihr letzter Besuch lag Jahrzehnte zurück. Er war ein Teil der Vergangenheit, an die zu denken sie sich nicht erlaubte.

»Du hättest mit mir darüber sprechen sollen, Grace.«

»Ich wollte, dass es eine Überraschung ist.«

Er sah elend aus. Auch sie begann sich elend zu fühlen. Der Abend verlief nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Er schloss die Schachtel. »Du hast schon alles gebucht? Ja, natürlich hast du das. Du bist du.«

»Was soll das heißen?« Sollte sie sich für eine ihrer besten Eigenschaften entschuldigen? Organisiert zu sein war eine gute Sache. Sie war mit dem Gegenteil aufgewachsen und wusste, wie schlimm das war.

»Du tust alles – obwohl ich durchaus in der Lage bin, Dinge selbst zu tun. Du musst nicht das Geschenk für meinen Chef kaufen, Grace. Ich kann das selbst erledigen.«

»Ich weiß, dass du das erledigen kannst, aber ich tue es gern, damit du es nicht tun musst.«

»Du organisierst jedes winzige Detail in unserem Leben.«

»Damit nichts vergessen wird.«

»Ich verstehe, warum das wichtig für dich ist. Das tue ich wirklich.«

Seine Stimme wurde sanft, und das Mitgefühl in seinen Augen sorgte dafür, dass sie sich innerlich krümmte. Es war, als ginge man in einen Raum voller Menschen und entdeckte, dass man sein Hemd nicht zugeknöpft hatte.

»An einem Abend wie diesem sollten wir nicht über schlechte Dinge sprechen.«

»Vielleicht sollten wir das. Vielleicht hätten wir viel häufiger darüber sprechen sollen.«

»Es ist unser Hochzeitstag. Eine Feier. Du machst dir Sorgen, dass ich zu viel erledige? Es ist in Ordnung, David. Ich tue das gern. Es ist kein Problem.«

Sie griff über den Tisch nach seiner Hand, doch er zog sie fort.

»Für mich ist es ein Problem, Grace.«

»Warum? Du hast viel zu tun, und ich verwöhne dich gern.«

»Du gibst mir das Gefühl …« Er rieb sich übers Kinn. »… unfähig zu sein. Manchmal frage ich mich, ob du mich überhaupt brauchst.«

Ihr Magen schien sich umzudrehen. Sie hatte das Gefühl, von einer Klippe zu fallen. »Wie kannst du das sagen? Du weißt, dass ich das tue.«

»Weiß ich das? Du planst jedes Detail unseres Lebens. Du bist die unabhängigste Frau, die ich kenne. Was genau trage ich zu dieser Ehe bei?«

Zu jeder anderen Zeit hätte sie gesagt: »Großartigen Sex!«, und sie hätten sich beide vor Lachen ausgeschüttet, doch heute Abend lachte David nicht, und ihr war auch nicht danach zumute.

Die Menschen am Tisch neben ihnen starrten sie an.

Grace kümmerte es nicht.

»Du trägst vieles bei! David …«

»Wir müssen reden, Grace.« Er schob seinen halb vollen Teller zur Seite. »Ich wollte dir das nicht heute Abend sagen, aber …«

»Aber was? Worüber möchtest du reden?« Unbehagen erfasste sie. Er klang nicht wie er selbst. David war immer sicher, zuversichtlich und verlässlich. Sie wusste fast immer, was er dachte. »Warum reibst du dir immer über den Kiefer?«

»Weil er schmerzt.«

»Du solltest zum Zahnarzt gehen. Vielleicht hast du einen Abszess oder so etwas. Ich mache dir morgen früh einen – « Sie hielt mitten im Satz inne. »Oder du machst den Termin selbst, wenn dir das lieber ist.«

»Ich möchte die Scheidung, Grace.«

Ein merkwürdiges Klingeln ertönte in ihren Ohren. Die Hintergrundgeräusche und das Geschirrklappern hatten seine Worte verschluckt. Er konnte unmöglich gesagt haben, was sie verstanden hatte.

»Wie bitte?«

»Die Scheidung.« Er zog am Kragen seines Hemdes, als würde es ihn ersticken. »Ich fühle mich schrecklich, das zu sagen. Ich wollte dir niemals wehtun, Gracie.«

Sie hatte ihn nicht falsch verstanden.

»Ist es, weil ich Stephen ein Geschenk gekauft habe?«

»Nein.« Er murmelte etwas und lockerte dann wieder den Kragen. »Ich sollte das nicht jetzt tun. Ich hatte es nicht geplant. Ich sollte …«

»Ist es, weil Sophie auszieht? Ich weiß, das ist beunruhigend …«

Panik ergriff sie. Drückte ihr Herz zusammen. Und dann ihre Lungen. Sie bekam keine Luft. Sie würde ohnmächtig werden und in ihr Enten-Confit fallen. Sie stellte sich den Artikel in der morgigen Ausgabe der Woodbrook Post vor.

Einheimische erstickt, nachdem sie kopfüber in ihr Essen fiel.

»Es ist nicht wegen Sophie. Es ist wegen uns. Die Dinge sind schon seit einiger Zeit nicht mehr richtig.«

In Davids Augen lag ein Ausdruck, den sie nie zuvor gesehen hatte.

Mitleid. Ja, da war Trauer und auch Schuld, doch es war das Mitleid, das sie in Stücke riss.

Das hier war David. Ihr David – derselbe Mann, der an ihrem Hochzeitstag geweint hatte, weil er sie so sehr liebte. Der sie gehalten hatte, während ihre Tochter sich auf die Welt gekämpft hatte, und der mit Grace durch dick und dünn gegangen war. David, ihr bester Freund und der einzige Mensch, der sie wirklich kannte.

Er würde sie niemals verletzt sehen wollen, geschweige denn sie selbst verletzen. Dieses Wissen verwandelte ihre Verwirrung in pure Angst. Er wollte sie nicht verletzen, aber er tat es dennoch – was bedeutete, dass das hier ernst war. Er hatte entschieden, ihr lieber wehzutun, als bei ihr zu bleiben.

»Ich verstehe das nicht.« Wenn irgendwas nicht in Ordnung wäre, hätte sie es doch gemerkt, nicht wahr? Seit sie denken konnte, waren sie und David ein Team. Ohne ihn wäre sie vor vielen Jahren vor die Hunde gegangen. »Was ist nicht richtig, David?«

»Unser Leben ist irgendwie … ich weiß nicht … langweilig geworden.« Seine Stirn glänzte vor Schweiß. »Vorhersehbar. Ich gehe jeden Tag an denselben Ort zur Arbeit, sehe dieselben Leute und komme jeden Tag heim zu …«

»… zu mir.« Es war allzu einfach, den Satz zu beenden. »Was du also wirklich sagen willst, ist, dass ich vorhersehbar bin. Dass ich langweilig bin.« Ihre Hände zitterten, und sie verschränkte sie im Schoß.

»Es liegt nicht an dir, Grace. Es liegt an mir.«

Dass er die Schuld auf sich nahm, machte die Sache nicht besser. »Wie kann es alles an dir liegen? Ich bin diejenige, mit der du verheiratet bist, und du bist unglücklich – was bedeutet, dass ich irgendetwas falsch mache.« Und das Problem war, dass es ihr gefiel, dass ihr Leben vorhersehbar war. »Ich bin mit Unvorhersehbarkeit aufgewachsen, David. Glaub mir, sie wird überschätzt.«

»Ich weiß, wie du aufgewachsen bist.«

Natürlich tat er das.

War sie wirklich langweilig? Herrje, stimmte das?

Es stimmte, dass sie ein bisschen besessen davon war, gute Eltern für Sophie zu sein, doch das war David ebenfalls wichtig.

Er öffnete einen weiteren Knopf an seinem Hemd und bedeutete dem Kellner, mehr Wasser zu bringen. »Warum ist es so heiß hier drin? Mir ist nicht gut … Ich weiß nicht, was ich gerade sagte …«

Ihr war ebenfalls nicht allzu gut. »Du sagtest, du möchtest die Scheidung.«

Sie hätte nie gedacht, dass dieses Wort in einem Gespräch zwischen ihr und David fallen würde, und sie wünschte, es wäre nicht hier gefallen, an einem öffentlichen Ort. Mindestens zwei der Gäste im Bistro hatten Kinder in ihrer Klasse – was angesichts des Inhalts ihres Gesprächs äußerst unangenehm war.

»Mommy sagt, Sie lassen sich scheiden, Mrs. Porter, stimmt das?«

»Grace …«

David nippte an seinem Wasser, und sie bemerkte ein Zittern an seiner Hand. Er sah blass und krank aus.

Sie war ziemlich sicher, dass sie das Gleiche von sich denken würde, wenn sie in den Spiegel sah.

Was war mit Sophie? Sie würde am Boden zerstört sein. Was, wenn sie zu verstört wäre, um im Sommer wegzufahren? Das Timing war furchtbar.

Monica würde vermutlich dem roten Fleisch die Schuld geben. Zu viel Testosteron.

»Wir können zu einer Eheberatung gehen, wenn du meinst, dass das hilft. Woran auch immer wir arbeiten müssen, wir werden daran arbeiten.«

»Unsere Ehe zu retten ist nichts, was du auf deine To-do-Liste setzen kannst, Grace.«

Sie spürte, wie ihr Röte in die Wangen stieg, weil sie gedanklich genau das getan hatte. »Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet. Es gibt nichts, rein gar nichts, was wir nicht wieder in Ordnung bringen könnten.«

»Ich habe eine Affäre.«

Die Worte trafen sie wie ein Schlag in den Magen.

»Nein!« Ihre Stimme brach. Und genau so fühlte sie sich. Gebrochen. Zerschmettert. Als ob sie ein Stück Chinaporzellan wäre, das er gegen den Schrank geworfen hätte. »Sag mir, dass das nicht wahr ist.«

Ihr wurde übel. Direkt hier in dem netten, kleinen französischen Bistro, vor einem Publikum von ungefähr fünfzig Menschen wurde ihr übel.

Sie konnte sich vorstellen, wie die Kinder in ihrer Klasse darauf reagieren würden.

»Haben Sie sich übergeben, Mrs. Porter?«

»Ja, Connor. Ich habe mich übergeben, aber es hatte nichts mit der Ente zu tun.«

David sah noch elender aus, als sie sich fühlte. »Ich habe es nicht geplant, Grace.«

»Soll ich mich deshalb besser fühlen?«

Sie hatte tausend Fragen.

Wer ist diese Frau? Kenne ich sie? Wie lange geht das schon?

Am Ende stellte sie nur eine: »Liebst du sie?«

David fuhr sich mit den Fingern über die Stirn. »Ich … ja. Ich glaube, ja.«

Sie krümmte sich fast. Also nicht nur Sex, sondern Gefühle. Starke Gefühle.

Das war der ultimative Verrat.

Sie stand auf, auch wenn ihre Beine nicht einverstanden zu sein schienen mit dieser Entscheidung. Sie fühlten sich an wie Gummi. Sie wollte nicht, dass die Leute noch mehr von diesem Gespräch mitbekamen – nicht um seinetwillen, sondern zu ihrem und zu Sophies Schutz. Wie viel hatten die anderen Bistrobesucher gehört? Würde sie im Supermarkt angesprochen werden?

»Ich habe gehört, David liebt dich nicht mehr. Das muss hart sein.«

»Lass uns gehen.«

»Grace, warte!« David fummelte nach ein paar Geldscheinen und warf sie auf den Tisch, ohne sie zu zählen.

Grace war schon auf halbem Weg zur Tür, die Schachtel mit den Paris-Plänen fest unter den Arm geklemmt. Sie wusste nicht, warum es ihr so wichtig schien, sie mitzunehmen. Vielleicht wollte sie ihre Träume nicht herumliegen lassen. Der glückliche Sommer, den sie monatelang geplant hatte, würde nicht kommen. Stattdessen würden sie die Zeit damit verbringen, Eigentum und Habseligkeiten aufzuteilen und Anwälte zu konsultieren.

Die Realität des Ganzen überwältigte sie.

David war die Liebe ihres Lebens. Er war das solide Fundament, auf dem sie ihre wunderbar sichere und vorhersehbare Welt aufgebaut hatte. Ohne ihn würde alles zusammenbrechen.

Sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Ihre Gedanken waren sonst wo, während ihr Körper sich noch im Bistro befand und alle Bewegungen ausführte. Lächeln, sich verabschieden – »Danke, ja, das Essen war köstlich!« –, als sei nicht gerade ihr Leben in die Luft gesprengt worden.

David presste erneut die Hand gegen die Brust und schüttelte den Kopf, als der Kellner ihm in den Mantel helfen wollte. »Grace, mir geht es nicht gut …«

Ach wirklich?

»So seltsam es klingen mag, mir geht es auch nicht gut.«

Erwartete er etwas Mitgefühl?

»Ich habe das Gefühl, als ob … ich kann nicht …«

David taumelte und brach dann zusammen, wobei er einen Serviertisch und einen Garderobenständer mitriss. Mit einem dumpfen Klatschen schlug sein Körper auf dem Boden auf.

Grace konnte sich nicht bewegen.

War das eine Reaktion auf den Schock? Erstarrte man dadurch zu einem unnützen Objekt?

Im Restaurant war es still geworden. Vage nahm sie wahr, dass ein paar Gäste aufstanden, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Kellner hatten sich zu ihr umgedreht, Angst und Erwartung standen in ihren Augen.

David lag auf dem Boden, seine Stirn war schweißbedeckt, und seine Augen traten hervor.

Er hatte eine Hand auf die Brust gepresst, während die andere seinen Hemdkragen umklammerte.

Sein Blick traf ihren, und sie sah die Todesangst darin.

»Hilf mir … hilf mir.«

»Rufen Sie einen Krankenwagen.« Sie war fasziniert, wie normal ihre Stimme klang.

Sie hatte einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, doch ihr Körper und Geist waren paralysiert von dem Wissen, dass ihr Ehemann, mit dem sie fünfundzwanzig Jahre verheiratet war, sie nicht mehr liebte.

Er war ihr untreu gewesen. Er hatte Sex mit einer anderen Frau gehabt. Vermutlich nicht nur einmal. Wie lange ging das schon? Wo? In ihrem gemeinsamen Schlafzimmer oder woanders?

Ein rasselndes Geräusch kam aus Davids Mund, und Grace analysierte ihre Reaktion darauf mit einer Mischung aus Schauer und Neugier. Erwog sie ernsthaft, ihn nicht wiederzubeleben?

Ich heiße Grace Porter, und ich habe meinen Ehemann ermordet.

Nein, kein Mord. Mord erforderte Vorsatz. Das hier war eher … eine Gelegenheit.

Wenn er starb, wüsste sie nicht einmal, wen sie anrufen sollte, um die Nachricht zu überbringen. Sie würde sich bei der Beerdigung umsehen müssen, um die eine Frau zu identifizieren, die ebenso sehr weinte wie sie.

Während sie wie durch einen Nebel die allgemeine Panik und das Geklappere um sie herum registrierte, starrte Grace auf ihn hinunter. Was sich wie Minuten anfühlte, waren tatsächlich nur wenige Sekunden.

Dies war der Mann, den sie liebte. Sie hatten ein Kind zusammen. Sie war davon ausgegangen, dass sie zusammen alt werden würden.

Wenn er mit seinem Leben unzufrieden war, warum hatte er nichts gesagt?

Diese Ungerechtigkeit erstickte beinahe ihr Verantwortungsgefühl. Er hatte ihr nicht einmal die Chance gegeben, die Dinge anders zu machen. Er hatte die Entscheidung für sie beide getroffen. Wie hatte er das tun können?

Als in der Ferne eine Sirene zu hören war, gab David einen erstickten Laut von sich und schloss dann die Augen.

Grace erwachte aus ihrer Erstarrung.

Sie konnte einen anderen Menschen nicht sterben lassen, auch wenn sie das Gefühl hatte, diese Person hätte ihr gerade ein Messer ins Herz gerammt.

Sie kniete neben ihm nieder, fühlte seinen Puls, überprüfte seine Atmung und legte dann ihre Hände auf seine Brust, um mit der Wiederbelebung anzufangen.

Eins, zwei, drei – verdammter David … verdammter David …

Sie zählte, während sie pumpte, und hielt ihm dann die Nase zu für die Mund-zu-Mund-Beatmung. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie diese Lippen eine andere Frau geküsst hatten.

Wenn sie zu Hause war, würde sie als Erstes die Laken wechseln.

Die Sirenen kamen näher. Sie betete, dass sie sich beeilten. Sie wollte nicht, dass er starb. Das wäre ein zu bequemer Ausweg für ihn, und Grace wollte ihm keinen bequemen Ausweg liefern.

Sie wollte Antworten.

AUDREY

Tausende Kilometer entfernt in London saß Audrey gerade auf ihrem Bett, um für eine Chemie-Klausur zu lernen, als die Tür aufgerissen wurde.

»Welches Kleid? Das grüne oder das pinkfarbene?« Panik schwang in der Stimme ihrer Mutter mit. »Das grüne hat einen größeren Ausschnitt.«

Audrey hob den Kopf nicht von ihrem Laptop. Warum klopfte ihre Mutter nie an? »Ich arbeite.« Und jedes Wort kam mühsam. Wer auch immer ihr Gehirn zusammengebaut hatte, hatte einen miesen Job gemacht.

Es gab Tage, an denen sie ihr Leben einfach hasste, und dieser war einer davon.

»Es ist Valentinstag. Du solltest bei einem Date sein. In deinem Alter war ich schon ein Partygirl.«

Audrey wusste nur allzu gut, was für ein Partygirl ihre Mutter gewesen war. »Mein Examen beginnt im Mai.«

»Du meinst Juli.«

»Ich bin Mitte Juni fertig.« Warum machte es ihr etwas aus, dass ihre Mutter das nicht wusste? Sie sollte eigentlich daran gewöhnt sein. »Die Klausuren sind wichtig.«

Audrey machte sich Sorgen deswegen. Sie war entsetzlich schlecht in Prüfungen. Dass die Lehrer ständig betonten, die Ergebnisse würden ihre ganze Zukunft beeinflussen, machte die Sache nicht besser. Wenn das tatsächlich stimmte, war ihre Zukunft bereits vorbei.

Alle in ihrer Klasse hatten Eltern, die sie nervten.

Lernst du auch genug?

Solltest du ausgehen, wenn am nächsten Tag Schule ist?

Nein, du brauchst keine Softdrinks und Pizza.

Audrey sehnte sich nach jemandem, der ihr so viel Aufmerksamkeit und Sorge schenkte. Überhaupt irgendeine Aufmerksamkeit und Sorge. Sie sehnte sich danach, dass ihre Mutter ihr übers Haar strich, ihr einen Becher Tee brachte und ein paar ermutigende Worte sagte. Doch ihre Mutter tat nichts dergleichen, und sie hatte es aufgegeben, darauf zu hoffen.

Sie war sechs Jahre alt gewesen, als sie begriffen hatte, dass ihre Mutter anders war als andere Mütter.

Während die Eltern ihrer Freundinnen schon vor dem Schultor warteten, stand Audrey allein da und wartete auf eine Mutter, die regelmäßig gar nicht auftauchte.

Sie hasste es, anders zu sein, sodass sie sich angewöhnte, allein nach Haus zu gehen. Die Schule hatte strenge Regeln, nach denen ein Kind nur in die Obhut eines Erwachsenen übergeben werden durfte, doch Audrey fand einen Weg, das zu umgehen. Wenn sie in die Richtung einer Müttergruppe lächelte und winkte, gingen die Lehrer davon aus, dass eine der Frauen ihre Mutter war. Sie verschwand dann in der Menge, und wenn sie außer Sichtweite war, trat sie den Heimweg an. Es war nicht weit, und sie kannte die Strecke. Beim roten Briefkasten abbiegen. Beim großen Baum wieder abbiegen.

Tag für Tag betrat Audrey das leere Haus, öffnete ihren Schulranzen und kämpfte mit den Hausarbeiten. Immer wenn sie ein Buch aus dem Ranzen zog, hatte sie ein schlechtes Gefühl. Ihre Handschrift sah aus, als wäre eine Spinne übers Papier gekrabbelt, und sie konnte ihre Gedanken nie so ordnen, dass sie aufgeschrieben einen Sinn ergaben. Die Lehrer verzweifelten. Sie verzweifelte. Sie bemühte sich, erreichte nichts und hörte auf, sich zu bemühen. Was machte es für einen Sinn?

Als sie versuchte ihrer Mutter zu sagen, dass sie Lesen schwierig fand, hatte diese vorgeschlagen, stattdessen fernzusehen.

Nach vielen Jahren fehlerhafter Hausaufgaben und verstrichener Abgabetermine hatte ein neuer Lehrer an der Schule darauf bestanden, dass Audrey getestet wurde.

Diese Tests zeigten, dass sie eine ausgeprägte Lese-Rechtschreib-Schwäche hatte. Auf eine gewisse Weise war die Diagnose eine Erleichterung. Sie bedeutete, dass sie nicht dumm war. Auf der anderen Seite fühlte sie sich noch immer dumm, und nun hatte sie auch noch einen Stempel.

Sie gaben ihr bei Klausuren mehr Zeit, doch alles war immer noch ein Kampf. Sie brauchte Hilfe, doch wenn ihre Mutter von der Arbeit nach Haus kam, schlief sie normalerweise auf dem Sofa ein.

Jahrelang hatte Audrey geglaubt, dass ihre Mutter einfach müder war als andere Mütter. Als sie jedoch älter und aufmerksamer wurde, bemerkte sie, dass die anderen Eltern nicht jeden Abend eine oder zwei Flaschen Wein tranken. Manchmal kam ihre Mutter später nach Hause, und dann wusste Audrey, dass sie schon früher mit dem Trinken begonnen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie ihre Mutter es schaffte, ihren Job als Sekretärin zu behalten, doch sie war dankbar, dass ihr das gelang.

Eine funktionale Alkoholikerin. Sie hatte einmal im Internet recherchiert und empfand diesen Begriff als die perfekte Beschreibung für ihre Mutter.

Audrey erzählte niemandem davon. Es war zu peinlich.

Die schönsten Tage waren die, wenn eine Schulfreundin Audrey zum Tee oder zum Übernachten einlud. Audrey sah anderen Müttern und gelegentlich auch Vätern zu, wie sie ein Aufhebens um selbst gekochtes Essen und Hausaufgaben machten, und fragte sich, warum ihre Mutter nicht wusste, dass es genau so sein sollte. Sie versuchte, nicht an den leeren Kühlschrank zu Hause zu denken oder an die leeren Flaschen vor der Hintertür. Noch peinlicher waren die Männer, die ihre Mutter von ihren Trinkrunden nach der Arbeit mitbrachte. Glücklicherweise hatte das aufgehört, seit sie Ron kennengelernt hatte. Audrey setzte all ihre Hoffnungen auf ihn.

»Deine Prüfungen sind im Juni vorbei?« Ihre Mutter lehnte sich gegen die Schreibtischkante, wobei sie ein paar Papiere zerknickte. »Ich hatte keine Ahnung. Das hättest du mir doch sagen sollen!«

Das hättest du wissen müssen. Audrey zog an den Papieren und legte sie weg. »Ich dachte, es würde dich nicht interessieren.«

»Was soll das heißen? Natürlich interessiert es mich. Ich bin deine Mutter.«

Audrey achtete darauf, sich nichts anmerken zu lassen. »Richtig. Nun …«

»Du weißt, dass ich damit beschäftigt bin, die Hochzeit zu planen. Wenn du Mitte Juni fertig bist, bedeutet das, dass du den ganzen Sommer da bist.«

Nicht, wenn es nach ihr ging. »Ich werde im Sommer nicht hier sein. Ich gehe auf Reisen.«

Es war eine aus dem Moment geborene Entscheidung, angetrieben von der tief sitzenden Angst, zu Hause zu bleiben.

Von ihrem Samstagsjob im Haarsalon hatte sie etwas Geld gespart und es in dem Kuscheltier versteckt, das sie seit ihrer Kindheit hatte. Sie traute ihrer Mutter nicht, dass sie mit dem Geld nicht doch etwas zu trinken kaufte, und dieses Geld war ihre Zukunftshoffnung. Immer wenn sie spürte, wie sie in der Dunkelheit versank, sah sie zu dem Bären, den sie jeden Tag in die Mitte des Bettes setzte. Ein Auge fehlte, und das Fell war ausgeblichen, doch für sie war er wie ein Freund. Ein Mitverschwörer in ihrem Fluchtplan. Es sollte für sie reichen, um ein Ticket zu besorgen. Vor Ort würde sie einen Job finden. Alles war besser, als hier in diesem ewigen erschöpfenden Kreislauf gefangen zu sein, den das Leben mit ihrer Mutter bedeutete.

»Das ist gut. Denn wenn Ron und ich frisch verheiratet sind, nun ja, du weißt …« Sie zwinkerte Audrey von Frau zu Frau zu.

Ja, Audrey wusste es. Die Wände im Haus waren dünn. Sie wusste vermutlich viel zu viel für ihr Alter.

Sie bemerkte, dass ihre Mutter nicht fragte, wohin sie reiste oder mit wem. Ihr war nur wichtig, dass Audrey nicht da war, damit sie nicht beim romantischen Intermezzo störte.

Das schmerzte, auch wenn es das nicht sollte. Doch Audrey war daran gewöhnt, mit widersprüchlichen Gefühlen umzugehen. Und ehrlich gesagt, war sie erleichtert, dass ihre Mutter und Ron heirateten. Ron behandelte ihre Mutter gut, und wenn sie heirateten, würde Audrey sich nicht länger für sie verantwortlich fühlen.

Ein ganz neues Leben lag zum Greifen nah.

»Ich verbringe den Sommer in Paris.« Die Idee war ihr vergangene Woche gekommen. Paris im Sommer musste schön sein. Die Männer waren heiß, der Akzent war sexy, und wenn sie Mist redeten, wie es die meisten Jungs ihrer Erfahrung nach taten, spielte es keine Rolle, weil sie sie sowieso nicht verstand. Und vor allem war sie von zu Hause fort, das war das Beste von allem.

Wenn sie erst einmal ihr eigenes Zimmer hatte, würde sie als Allererstes ein Schloss an der Tür anbringen.

Ihre Mutter ließ sich auf Audreys Bett sinken und ignorierte die Kleiderstapel, die sortiert werden mussten. »Sprichst du Französisch?«

»Nein, deshalb will ich in Frankreich leben.« Tatsächlich war das nicht der Grund, aber er war so gut wie jeder andere. Und ihre Mutter war kein Mensch, der irgendetwas hinterfragte. »Ich brauche eine Fremdsprache.«

»Das wird gut für dich sein. Du musst ein bisschen leben! In deinem Alter …«

»Ja, ich weiß, da hattest du die beste Zeit deines Lebens.«

»Kein Grund, diesen Ton anzuschlagen. Man ist nur einmal jung, Audie.«

An den meisten Tagen fühlte sie sich, als wäre sie hundert. »Ich muss jetzt arbeiten. Ich schreibe morgen eine Klausur.«

Ihre Mutter erhob sich und schlang die Arme um Audrey. »Ich liebe dich. Ich bin stolz auf dich. Vermutlich sage ich dir das nicht oft genug.«

Audrey blieb so steif, dass sie sich fragte, ob ihr Rückgrat brechen konnte. Die Duftwolke von dem Parfum ihrer Mutter erstickte sie fast.

Ein Teil von ihr wollte in die Arme ihrer Mutter sinken und ausnahmsweise ihr die Verantwortung überlassen, doch sie wusste, dass sie ihre Schutzmauern nicht sinken lassen durfte. Innerhalb weniger Minuten konnte ihre Mutter sie anschreien, Sachen nach ihr werfen und gemeine Dinge sagen.

Audrey hatte nie verstanden, warum gemeine Worte lauter klangen als freundliche.

»Du bist sehr angespannt.« Ihre Mutter ließ sie los. »Würde dir ein Drink helfen, dich zu entspannen?«

»Nein danke.« Sie wusste, dass ihre Mutter ihr keine Tasse Tee bringen würde.

»Ich habe einen Wein aufgemacht. Ich könnte dir ein Glas abgeben.«

Wein erklärte das Glitzern in ihren Augen und die Stimmungsschwankungen. Er erklärte auch das Parfum. »Hast du gegessen?«

»Was? Nein.« Linda strich das Kleid über ihren Hüften glatt. »Ich möchte nicht dick werden. Was lernst du?«

Audrey blinzelte.

Ihre Mutter hatte nie das leiseste Interesse an dem gezeigt, was Audrey in ihrem Leben tat. Am Eröffnungsabend der Schule, als über die Wahl der Hauptfächer und über Universitäten gesprochen wurde, war Audrey als Einzige allein aufgetaucht. Wie gewöhnlich hatte sie gelogen und gesagt, dass ihre Mutter arbeitete. Es klang viel besser, als zuzugeben, dass ihre Mutter sich nicht die Mühe machte und ihr Vater nur bei ihrer Empfängnis anwesend gewesen war. Sie log so oft über ihr Leben, dass sie manchmal selbst die Wahrheit vergaß.

Sie räusperte sich. »Biochemie.« Und sie würde durchfallen. Sie hatte Naturwissenschaften gewählt, damit sie Essays und dem Lesen ausweichen konnte, doch es gab dennoch viel zu lesen und zu schreiben. Nach alldem hier würde sie nie wieder irgendwas lernen.

»Ich glaube, dieser Bio-Trend ist Unsinn.« Ihre Mutter betrachtete sich in dem Spiegel, der auf Audreys Schreibtisch stand. »Er ist nur ein Vorwand, damit die Supermärkte die Preise erhöhen können.«

Audrey starrte mit herabhängenden Schultern und innerlich elend auf ihren Laptop. Geh weg! Geh einfach weg! Manchmal konnte sie kaum glauben, dass ihre Mutter und sie verwandt waren. An den meisten Tagen hatte sie das Gefühl, sie wäre von einem Storch im falschen Haus abgeliefert worden.

»Mum …«

»Du hast schon immer langsam gelernt, Audrey. Das musst du einfach akzeptieren. Aber sieh auch die gute Seite: Du bist hübsch, und du hast große …« Ihre Mutter legte die Hände unter ihre Brüste, um zu verdeutlichen, was sie meinte. »Sieh zu, dass du einen Mann als Chef hast, und sie werden nie merken, dass du nicht gut lesen kannst.«

Audrey stellte sich das Vorstellungsgespräch vor.

»Was halten Sie für Ihre besten Eigenschaften?«

»Das ist doch offensichtlich, oder?«

Nie im Leben.

Wenn ein Kollege oder Vorgesetzter jemals ihre Brüste berührte, würde Audrey ihm den Arm brechen.

»Mum …«

»Ich sage nicht, dass das College keinen Spaß macht, aber jeder macht heute einen Abschluss. Es ist nichts Besonderes. Du zahlst ein Vermögen für etwas, was am Ende wenig bedeutet. Lebenserfahrung, darauf kommt es an.«

Audrey atmete tief ein. »Nimm das grüne Kleid.«

Sie war erschöpft. Sie konnte nachts nicht schlafen. Ihre Hausaufgaben litten darunter.

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