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State of Terror

Als Buch hier erhältlich:

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Die Nummer-1-Bestsellerautorinnen Hillary Clinton und Louise Penny haben einen Thriller von unübertroffener Spannung und unvergleichlichem Insiderwissen geschrieben – State of Terror. Erscheint weltweit gleichzeitig am 12. Oktober 2021

Vier Jahre, nachdem die amerikanische Führung fast von der Weltbühne verschwunden ist, wird ein neuer Präsident vereidigt. Seine Konkurrentin wird die neue Außenministerin in seiner Regierung.

Eine Serie von Terroranschlägen stürzt die globale Ordnung ins Chaos - die Außenministerin muss ein Team zusammenstellen, um die tödliche Verschwörung aufzudecken. Der Komplott zielt darauf ab, von einer amerikanischen Regierung zu profitieren, die gefährlich isoliert ist und die Macht verloren hat, dort, wo diese am wichtigsten wäre.

Dieser Thriller über die hohen Einsätze im internationalen Intrigenspiel bietet einen Blick hinter die Kulissen des globalen Dramas, der Details preisgibt, die nur eine Insiderin kennen kann.

»Mit Louise Penny zusammen zu schreiben, ist ein wahr gewordener Traum. Ich habe jedes ihrer Bücher und ihre Figuren ebenso genossen wie ihre Freundschaft. Jetzt vereinen wir unsere Erfahrungen, um die komplexe Welt der Diplomatie mit hohen Einsätzen und des Verrats zu erkunden.« Hillary Rodham Clinton

»Als meiner Freundin Hillary und mir vorgeschlagen wurde, gemeinsam einen Politthriller zu schreiben, konnte ich nicht schnell genug ja sagen. Bevor wir begannen, sprachen wir über ihre Zeit als Außenministerin. Was war ihr schlimmster Albtraum? State of Terror ist die Antwort.« Louise Penny


»[…]Hillary Rodham Clinton und Louise Penny [erobern] das Genre des Polit-Thrillers für die weibliche
Leserschaft.«
Doris Kraus, Die Presse, 12.10.2021

»Feiner Humor gepaart mit viel Feminismus und Disziplin durchzieht das Buch.« Michael Wurmitzer, Der Standard, 15.10.2021

»Die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton hat mit Krimi-Autorin Louise Penny einen spannenden Thriller geschrieben.« Susan Vahabzadeh, Süddeutsche Zeitung, 15.10.2021

»"State of Terror" ist ein [...] raffiniertes Buch voller klug ausgedachter Wendungen.« »[...] spannend und amüsant.« Wolfgang Höbel, Spiegel Online, 16.10.2021


  • Erscheinungstag: 12.10.2021
  • Seitenanzahl: 560
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903184

Leseprobe

Editorische Notiz:
Aus dramaturgischen Gründen tragen einige der Figuren im Iran Burkas, um nicht erkannt zu werden und ihre Gesichter zu verstecken, obwohl die landesübliche Bekleidung Tschadors sind.

Gewidmet den tapferen Männern und Frauen, die uns vor dem Terror beschützen und gegen Gewalt, Hass und Extremismus aufstehen, unabhängig davon, woher er kommt.

Ihr inspiriert uns jeden Tag aufs Neue dazu, mutiger und besser zu sein.

Das Erstaunlichste, was sich zu meinen Lebzeiten ereignet hat, ist nicht, dass wir zum Mond geflogen sind oder dass Facebook jeden Monat zwei Komma acht Milliarden aktive Nutzerinnen und Nutzer hat. Das Erstaunlichste ist, dass in den fünfundsiebzig Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen seit Nagasaki keine Atombombe mehr gezündet wurde.

– TOM PETERS

KAPITEL 1

Madame Secretary«, sagte Charles Boynton, der neben seiner Chefin herlief, während diese durch die Mahogany Row zu ihrem Büro im Außenministerium eilte. »In acht Minuten müssen Sie im Kapitol sein.«

»Die Fahrt allein dauert schon zehn Minuten«, entgegnete Ellen Adams und begann zu rennen. »Und ich muss noch duschen und mich umziehen. Es sei denn …« Sie blieb stehen und drehte sich zu ihrem Stabschef um. »… ich kann so gehen?«

Sie breitete die Arme aus, damit er sie mustern konnte. Ihr flehender Blick fiel ihm unweigerlich auf, ebenso die Nervosität in ihrer Stimme und die Tatsache, dass sie aussah, als wäre sie von einem rostigen Pflug mitgeschleift worden.

Boynton verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das ihm Schmerzen zu bereiten schien.

Ellen Adams war Ende fünfzig, mittelgroß, schlank und elegant. Geschmackvolle Kleidung und figurformende Unterwäsche kaschierten ihre Liebe zu Eclairs. Ihr Make-up war dezent und betonte ihre intelligenten blauen Augen, ohne dass sie jedoch damit versuchte, ihr Alter zu verschleiern. Sie hatte es nicht nötig, so zu tun, als wäre sie jünger, aber älter erscheinen wollte sie auch nicht.

Ihre Friseurin bezeichnete sie immer als »ehrwürdig blond«, wenn sie die eigens für sie angemischte Haarfarbe auftrug.

»Bei allem Respekt, Madame Secretary, Sie sehen aus wie eine Landstreicherin.«

»Gott sei Dank hat er Respekt vor dir«, murmelte Betsy Jameson, Ellens engste Freundin und Beraterin.

Ellen hatte einen Vierundzwanzigstundentag hinter sich. Begonnen hatte er mit einem diplomatischen Frühstück in der US-amerikanischen Botschaft von Seoul, bei dem sie die Rolle der Gastgeberin übernommen hatte, gefolgt von Gesprächen mit hochrangigen Politikern über Fragen der regionalen Sicherheit und dem Versuch, ein extrem wichtiges und unerwartet auf der Kippe stehendes Handelsabkommen zu retten. Geendet hatte der mörderische Tag mit einer Führung durch eine Düngemittelfabrik in der Provinz Gangwon-do, was streng genommen lediglich eine Tarnung für einen kurzen Abstecher in die demilitarisierte Zone an der Grenze zu Nordkorea gewesen war.

Danach hatte sie sich an Bord ihrer Regierungsmaschine zum Rückflug nach Hause geschleppt. Kaum in der Luft, hatte sie als Erstes die Shapewear ausgezogen und sich ein großes Glas Chardonnay eingeschenkt.

Dann hatte sie mehrere Stunden damit verbracht, Berichte an ihren Stellvertreter sowie den Präsidenten zu versenden und die eingetroffenen Memos zu lesen. Zumindest hatte sie es versucht. Irgendwann war sie mit dem Gesicht auf einem Dossier über die Personalsituation der US-Botschaft in Island eingeschlafen.

Sie erwachte ruckartig, als ihre Assistentin sie an der Schulter berührte.

»Madame Secretary, wir landen gleich.«

»Wo denn?«

»In Washington.«

»Dem Bundesstaat?« Ellen setzte sich auf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, sodass diese zu Berge standen, als hätte sie entweder einen Schreck bekommen oder einen fantastischen Geistesblitz gehabt.

Sie hoffte, es wäre Seattle. Vielleicht mussten sie auftanken oder Essen an Bord laden, oder es hatte sich während des Flugs irgendein technischer Notfall ergeben.

Einen Notfall gab es in der Tat, allerdings war dieser keinesfalls technischer Natur.

Der Notfall bestand darin, dass sie eingeschlafen war und unbedingt noch duschen musste, um …

»DC

»Mein Gott, Ginny. Hätten Sie mich nicht früher wecken können?«

»Das wollte ich, aber Sie haben nur irgendetwas gemurmelt und sind gleich wieder eingeschlafen.«

Ellen erinnerte sich vage daran. Sie hatte es für einen Traum gehalten. »Danke, dass Sie es versucht haben. Ist noch Zeit zum Zähneputzen?«

Ein Signalton erklang, als der Pilot das Anschnallzeichen einschaltete.

»Ich fürchte, nicht.«

Ellen blickte aus dem Fenster der Regierungsmaschine, die sie scherzhaft »Air Force Three« getauft hatte. Sie sah die Kuppel des Kapitols, in dem sie in Kürze erwartet wurde.

Und sie sah sich selbst in der Spiegelung der Scheibe. Die Haare wirr, die Mascara verschmiert, die Kleidung zerknittert. Ihre blutunterlaufenen Augen brannten von den Kontaktlinsen, und in ihrem Gesicht entdeckte sie Sorgenfalten. Bei der Amtseinführung wenige Wochen zuvor hatte sie die noch nicht gehabt, an jenem hellen, strahlenden Tag, als die Welt noch neu und voller Möglichkeiten gewesen war.

Wie sehr sie ihr Land liebte. Diesen wundervollen, angeknacksten Leitstern.

Nachdem sie jahrzehntelang einen internationalen Medienkonzern aufgebaut und geleitet hatte, zu dem mehrere Fernsehsender, ein Nachrichtenkanal sowie diverse Websites und Tageszeitungen gehörten, hatte sie beschlossen, ihn an die nächste Generation weiterzugeben, und ihre Tochter Katherine zur Geschäftsführerin gemacht.

Vier Jahre lang hatte sie zusehen müssen, wie ihr geliebtes Land fast zugrunde gerichtet wurde. Nun war sie endlich in einer Position, in der sie aktiv zu dessen Heilung beitragen konnte.

Seit dem Tod ihres über alles geliebten Mannes Quinn war sie das Gefühl nicht losgeworden, dass ihr Leben nicht nur einsam, sondern inhaltslos war. Statt sich mit der Zeit zu legen, war dieses Gefühl immer stärker geworden, und in ihr war das Bedürfnis gereift, mehr zu tun. Wirklich zu helfen. Nicht nur über Leid und Elend zu berichten, sondern dagegen anzugehen. Sie wollte etwas zurückgeben.

Die Gelegenheit dazu war von denkbar unerwarteter Seite gekommen: in Gestalt des neu gewählten Präsidenten Douglas Williams. Wie schnell sich das Schicksal doch wenden konnte. Zum Schlechteren, ja. Aber auch zum Besseren.

Jetzt saß Ellen Adams an Bord der Air Force Three. Als frischgebackene amerikanische Außenministerin.

Nach der ans Kriminelle grenzenden Unfähigkeit des letzten Präsidenten war sie nun in der Lage, neue Brücken zu ihren Bündnispartnern zu schlagen. Sie konnte wichtige Beziehungen kitten und klare Botschaften an feindlich gesinnte Nationen senden. Nationen, die ihrem Land womöglich schaden wollten und über die Mittel verfügten, dies auch zu tun.

Ellen Adams konnte nicht nur über Veränderungen reden, sondern sie tatsächlich anstoßen. Sie konnte aus Feinden Freunde machen und daran arbeiten, Chaos und Terror von ihrem Land fernzuhalten.

Und dennoch …

Das Gesicht, das ihr aus der Scheibe der Flugzeugkabine entgegenblickte, wirkte nicht mehr ganz so selbstgewiss wie zu Beginn. Es war das Gesicht einer Fremden. Einer müden, zerzausten, abgearbeiteten Frau, die älter aussah, als sie war. Aber vielleicht auch ein wenig weiser. Oder war sie einfach nur zynischer geworden? Hoffentlich nicht. Sie fragte sich, weshalb es ihr auf einmal schwerfiel, den Unterschied zu erkennen.

Sie holte ein Papiertaschentuch hervor, befeuchtete es mit der Zunge und wischte die verschmierte Mascara weg. Dann strich sie sich die Haare glatt und setzte ein Lächeln auf.

Dies war das Gesicht, das sie für die Öffentlichkeit bereithielt. Das Gesicht, das die Menschen kannten – Presse, Kolleginnen und Kollegen, ausländische Staatschefs. Es war das Gesicht einer selbstbewussten, kultivierten, gebildeten Außenministerin, die die mächtigste Nation der Welt repräsentierte.

Doch letzten Endes war es nur eine Fassade. Ellen Adams erkannte etwas anderes in ihrem schemenhaften Spiegelbild. Etwas Unheimliches, das sie normalerweise sogar vor sich selbst verbarg. Die Erschöpfung hatte ihre Schutzmauern zum Einsturz gebracht und es sichtbar werden lassen.

Sie sah Furcht. Und deren nahen Verwandten, den Zweifel.

War es echt oder bloß Einbildung? Ein unsichtbarer Feind, der ihr einflüsterte, dass sie nicht gut genug sei. Ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Dass sie irgendwann einen Fehler machen würde, durch den sie das Leben von Tausenden, vielleicht Millionen Menschen gefährdete.

Sie schob den Gedanken beiseite. Er war alles andere als hilfreich. Trotzdem hallte er in ihr nach. Dass er ihr nicht gefiel, bedeutete keineswegs, dass er nicht der Wahrheit entsprach.

Nachdem die Maschine auf dem Andrews-Luftwaffenstützpunkt gelandet war, wurde Ellen sofort zu einer gepanzerten Limousine eskortiert. Hinter den Wagenfenstern glitt die Hauptstadt vorüber, von Ellen unbeachtet, weil sie sich während der Fahrt in weitere Memos, Berichte und E-Mails vertiefte.

In der Tiefgarage des monumentalen Harry S. Truman Building, das von den Alteingesessenen wohl nicht ohne gewisse Zuneigung als »Foggy Bottom« bezeichnet wurde, formierten sich ihre Personenschützer zu einer Phalanx, um sie so schnell wie möglich in den Aufzug und von dort aus in ihr privates Büro im siebten Stock zu bringen.

Ihr Stabschef Charles Boynton erwartete sie am Fahrstuhl. Die Stabschefin des Präsidenten hatte ihn persönlich für den Posten ausgewählt. Er war groß und schlaksig, allerdings hatte er seine schlanke Figur eher einem Übermaß an nervöser Energie als körperlicher Ertüchtigung oder gesunder Ernährung zu verdanken. Im Gegenteil: Seine Haare und seine Muskelmasse schienen sich ein Wettrennen darum zu liefern, wer als Erster den Kampf ums Überleben aufgab.

Boynton war seit sechsundzwanzig Jahren in der Politik tätig. Er hatte sich hochgearbeitet und irgendwann eine Stellung als Stratege in Douglas Williams’ Wahlkampf ergattert. Ein Wahlkampf, der sich als ungewöhnlich brutal entpuppt hatte.

Einmal im innersten Kreis der Macht angekommen, war Charles Boynton entschlossen, dort zu bleiben. Er sah es als seine gerechte Belohnung dafür an, dass er jahrelang Befehle befolgt und bei der Wahl des Präsidentschaftskandidaten ein gutes Händchen bewiesen hatte.

Boynton legte Regeln fest, die ungehörige Kabinettssekretäre auf Linie hielten. Seiner Auffassung nach handelte es sich bei ihnen lediglich um vorübergehende politische Ernennungen, bloße Schaufensterdekoration. Er hingegen war das Rückgrat des Ganzen.

Gemeinsam eilten Ellen und ihr Stabschef, gefolgt von Referenten, Assistenten und Sicherheitspersonal, nun den holzgetäfelten Flur namens Mahogany Row entlang in Richtung des Büros der Außenministerin.

»Mach dir keinen Kopf«, sagte Betsy, die sich beeilen musste, um mit dem Pulk Schritt zu halten. »Sie warten mit der Rede zur Lage der Nation, bis du da bist. Du kannst dich also entspannen.«

»Nein, nein«, widersprach Boynton, wobei seine Stimme eine Oktave höher rutschte. »Sie können sich definitiv nicht entspannen. Der Präsident ist stinkig. Und übrigens ist es keine offizielle Rede zur Lage der Nation.«

»Ich bitte Sie, Charles. Hören Sie auf mit der Haarspalterei.« Ellen blieb plötzlich stehen und sorgte fast für eine Kollision. Sie streifte sich ihre schlammverkrusteten Pumps von den Füßen und lief auf Strümpfen weiter über den weichen Teppich. Dabei zog sie das Tempo noch einmal an.

»Und der Präsident ist immer stinkig«, rief Betsy von hinten. »Ach so. Sie meinen, er ist wütend? Na ja, das ist er doch auch immer – jedenfalls auf Ellen.«

Boynton warf ihr einen strafenden Blick zu.

Er mochte diese Elizabeth Jameson nicht. Betsy. Sie kam nicht aus der Politik und war nur aus einem Grund hier: weil sie seit Langem eine enge Freundschaft mit der Außenministerin verband. Boynton wusste, dass es Letzterer zustand, eine persönliche Vertraute und Beraterin zu ernennen, doch es gefiel ihm ganz und gar nicht. Als Außenseiterin brachte Betsy zwangsläufig ein Moment der Unberechenbarkeit mit.

Außerdem konnte er Betsy nicht leiden. Insgeheim nannte er sie Mrs. Cleaver, weil sie so aussah wie die von Barbara Billingsley verkörperte Mutter in der alten Fernsehserie Erwachsen müsste man sein. Eine perfekte Fünfzigerjahrehausfrau.

Verlässlich. Bodenständig. Fügsam.

Nur dass diese Mrs. Cleaver sich weigerte, dem Klischee gerecht zu werden. Sie lebte getreu Bette Midlers Motto »Scheiß auf die Leute, wenn sie keinen Spaß verstehen«, und obwohl er die göttliche Miss M durchaus schätzte, hielt er sie dennoch nicht für eine geeignete Beraterin der Außenministerin.

Im vorliegenden Fall allerdings traf Betsys Einschätzung zu, so ungern Charles Boynton es sich auch eingestand. Douglas Williams mochte seine Außenministerin nicht besonders. Und zu sagen, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte, wäre eine Untertreibung.

Es war ein großer Schock gewesen, als der neu gewählte Präsident einer politischen Gegnerin, die ihre beträchtlichen Ressourcen dazu genutzt hatte, seinen größten Kontrahenten bei den Vorwahlen zu unterstützen, einen derart wichtigen und prestigeträchtigen Posten übertragen hatte.

Noch größer war die Überraschung gewesen, als Ellen Adams ihr Medienimperium an die Tochter übergeben und den Posten tatsächlich angenommen hatte.

Politiker, Experten und Pressekollegen hatten sich auf die Neuigkeit gestürzt. Die Ernennung war wochenlang Thema Nummer eins in sämtlichen politischen Talkshows gewesen. Die Personalie wurde bei Dinnerpartys überall in DC diskutiert. Im Off the Record, der Bar im Untergeschoss des Hay-Adams-Hotels, sprach man praktisch über nichts anderes mehr.

Warum hatte sie den Posten angenommen?

Wobei die weitaus wichtigere und interessantere Frage lautete: Warum hatte Präsident Williams seiner schärfsten und lautesten Kritikerin einen Platz in seinem Kabinett angeboten? Noch dazu das Außenministerium?

Die vorherrschende Theorie war, dass Douglas Williams dem Vorbild Abraham Lincolns folgte und ein Kabinett der Rivalen um sich versammelte. Oder vielleicht hatte er sich auch ein Beispiel am antiken chinesischen Militärstrategen Sun Tsu genommen, der die Auffassung vertrat, man solle seine Freunde nahe und seine Feinde noch näher bei sich haben.

In Wahrheit waren beide Theorien falsch.

Doch Charles Boynton – Charles, wie ihn seine Freunde nannten – interessierte sich nur insoweit für seine Chefin, als ihre Fehler auch ihn in einem schlechten Licht dastehen ließen. Und er würde verdammt sein, wenn er mit ihr unterging.

Nach dem Staatsbesuch in Südkorea hatte ihr und somit auch sein Glück eine dramatische Wendung zum Schlechteren erfahren, und jetzt war sie auch noch daran schuld, dass der Präsident seine Rede zur Lage der Nation, die verdammt noch mal eigentlich keine Rede zur Lage der Nation war, nicht pünktlich beginnen konnte.

»Kommen Sie, kommen Sie. Schnell!«

»Es reicht.« Ellen blieb erneut ruckartig stehen. »Ich lasse mich nicht hetzen und herumkommandieren. Wenn ich so gehen muss, wie ich bin, dann sei es drum.«

»Das geht nicht«, rief Boynton mit vor Panik weit aufgerissenen Augen. »Sie sehen aus wie …«

»Ja, das sagten Sie bereits.« Sie wandte sich an ihre Freundin. »Betsy?«

Eine Pause trat ein, in der man nichts hörte außer Boyntons missbilligendes Schnauben.

»Du siehst vollkommen okay aus«, meinte Betsy leise. »Vielleicht noch ein bisschen Lippenstift.« Sie reichte Ellen einen Lippenstift aus ihrer Handtasche, zusammen mit einer Haarbürste und einer Puderdose.

»Beeilung, Beeilung«, quiekte Boynton.

Betsy blickte in Ellens gerötete Augen und flüsterte: »Kommt ein Oxymoron in eine Bar …«

Ellen überlegte kurz, dann schmunzelte sie. »Und es herrscht ohrenbetäubende Stille.«

Betsy strahlte. »Perfekt.« Sie sah, wie ihre Freundin noch ein letztes Mal tief durchatmete, ihre große Reisetasche an eine Assistentin übergab und sich dann an Boynton wandte.

»Wollen wir?«

Ellen wirkte äußerlich gefasst, doch ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie auf Strümpfen, die verdreckten Schuhe in der Hand, kehrt machte und zurück in Richtung der Aufzüge ging, um wieder nach unten zu fahren.

»Schnell, schnell.« Amir bedeutete seiner Frau, sich zu beeilen. »Sie sind vor dem Haus.«

Hinter sich hörten sie lautes Klopfen und Männer, die Befehle brüllten. Sie sprachen mit hartem Akzent, doch die Bedeutung ihrer Worte war klar. »Dr. Bukhari, kommen Sie sofort heraus!«

»Los.« Amir schob Nasrin weiter durch die Gasse. »Lauf.«

»Und du?«, fragte sie, die Tasche an die Brust gepresst.

Das Splittern von Holz war zu hören, als die Tür ihres Hauses in Kahuta nahe Islamabad eingetreten wurde.

»Sie sind nicht hinter mir her. Du bist diejenige, die sie aufhalten wollen. Ich lenke sie so lange ab. Geh, geh.«

Doch als sie sich abwenden wollte, fasste er sie noch einmal am Arm und zog sie an sich, um sie fest zu drücken. »Ich liebe dich. Und ich bin unglaublich stolz auf dich.«

Er küsste sie so heftig, dass ihre Zähne gegeneinanderstießen und sie das Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe schmeckte. Aber sie klammerte sich weiterhin an ihn. Und er sich an sie. Erst als die Rufe der Männer immer näher kamen, lösten sie sich voneinander.

Fast hätte er ihr gesagt, sie solle sich melden, sobald sie am Ziel angekommen sei. Doch er tat es nicht. Er wusste, dass sie keine Möglichkeit haben würde, ihn zu kontaktieren.

Und er wusste auch – sie beide wussten es –, dass er dies hier nicht überleben würde.

KAPITEL 2

Ein Murmeln war zu hören, als der stellvertretende Sergeant at Arms die Außenministerin ankündigte. Es war zehn nach neun Uhr abends, und alle anderen Kabinettsmitglieder saßen bereits auf ihren Plätzen.

Es hatte Spekulationen gegeben, Ellen Adams’ Fehlen könne eventuell damit zusammenhängen, dass sie die designierte Überlebende war, allerdings lautete der allgemeine Konsens, dass der Präsident diese Aufgabe eher seiner Socke anvertraut hätte als ihr.

Als Ellen den Saal betrat, schien sie das ohrenbetäubende Schweigen gar nicht wahrzunehmen.

Kommt ein Oxymoron in eine …

Sie folgte dem Sergeant at Arms hocherhobenen Hauptes und lächelte den Kabinettsmitgliedern zu beiden Seiten des Ganges zu, als wäre alles in bester Ordnung.

»Sie sind spät dran«, zischte der Verteidigungsminister, als sie ihren Platz in der ersten Reihe zwischen ihm und dem Direktor der Nationalen Nachrichtendienste einnahm. »Wir haben mit der Rede auf Sie gewartet. Der Präsident ist außer sich. Er glaubt, Sie haben das mit Absicht gemacht, damit sich die Fernsehkameras auf Sie konzentrieren statt auf ihn.«

»Der Präsident irrt sich«, entgegnete der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste. »So etwas würden Sie niemals tun.«

»Danke, Tim«, sagte Ellen. Es kam höchst selten vor, dass sie von einem der treuesten Gefolgsleute des Präsidenten Rückendeckung bekam.

»Wenn man das Desaster in Südkorea betrachtet«, fuhr Tim Beecham fort, »kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie die Aufmerksamkeit der Presse auf sich lenken wollen.«

»Wie in Gottes Namen sehen Sie überhaupt aus?«, wollte der Verteidigungsminister wissen. »Waren Sie wieder beim Schlammringen?« Er rümpfte die Nase.

»Nein, ich habe meine Arbeit gemacht. Manchmal wird man dabei schmutzig.« Sie taxierte den Minister von oben bis unten. »Sie hingegen sehen so makellos aus wie immer.«

Der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste auf ihrer anderen Seite lachte, ehe sich alle von ihren Plätzen erhoben und der Sergeant at Arms verkündete: »Mr. Speaker, der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Dr. Nasrin Bukhari rannte durch die vertrauten Gassen, während sie den verstreut herumliegenden Kisten und Dosen auswich, um keinen Krach zu machen und sich so zu verraten.

Sie blieb kein einziges Mal stehen. Schaute nicht zurück. Auch nicht, als die ersten Schüsse krachten.

Sie redete sich ein, dass ihr Ehemann, mit dem sie seit achtundzwanzig Jahren verheiratet war, hatte fliehen können. Dass er überlebt hatte. Er war denen, die sie aufhalten wollten, entkommen.

Er war nicht getötet oder gar gefangen genommen worden. Man würde ihn nicht foltern, bis er alles verriet, was er wusste.

Als die Schüsse verstummten, interpretierte sie dies als ein Zeichen dafür, dass Amir sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Genau das musste sie jetzt auch tun.

Davon hing alles ab.

Einen halben Straßenblock von der Bushaltestelle entfernt verlangsamte sie ihre Schritte. Sie versuchte wieder zu Atem zu kommen und lief dann ruhig und gemessen weiter, um sich in die Schlange der Wartenden einzureihen. Ihr Herz raste, doch ihre Miene gab nichts preis.

Anahita Dahir saß an ihrem Schreibtisch im Referat für zentral- und südostasiatische Angelegenheiten des Außenministeriums.

Sie hielt in ihrer Arbeit inne, um zum Fernseher an der gegenüberliegenden Wand zu gehen und die Regierungserklärung des Präsidenten einzuschalten.

Es war einundzwanzig Uhr fünfzehn. Die Rede hatte mit einigen Minuten Verspätung begonnen. Schuld an der Verzögerung, so sagten es die Berichterstatter, sei das Fehlen der Außenministerin, Anahitas neuer Chefin.

Die Kamera folgte dem Präsidenten, als dieser unter frenetischem Applaus seiner Parteigenossen und eher verhaltenem Beifall der noch immer angeschlagenen Opposition den reich verzierten Plenarsaal betrat. Da seine Vereidigung erst wenige Wochen zurücklag, war zu bezweifeln, dass Präsident Williams wirklich über die Lage der Nation Bescheid wusste. Und selbst wenn, würde er die Wahrheit wohl kaum aussprechen.

Die Regierungserklärung würde, da waren sich alle Experten einig, ein Drahtseilakt werden. Es galt Kritik an der Vorgängerregierung für den von ihr hinterlassenen Scherbenhaufen zu üben und gleichzeitig einen hoffnungsvollen Ton anzuschlagen, wobei Ersteres nicht allzu scharf und Letzteres nicht allzu überschwänglich ausfallen durfte.

Hauptsächlich ging es darum, die hohen Erwartungen, die während des Wahlkampfs geweckt worden waren, zu dämpfen und gleichzeitig jegliche Verantwortung für die Zustände von sich zu weisen.

Der Auftritt von Präsident Williams vor dem Kongress war politisches Kabukitheater: Gesten hatten mehr Gewicht als Worte. Und wenn Douglas Williams eins wusste, dann wie man einen präsidialen Eindruck machte.

Doch während er beim Betreten des Saals übertrieben jovial Hände schüttelte, politische Freunde wie Feinde gleichermaßen begrüßte und anlächelte, schwenkte die Kamera immer wieder zur Außenministerin.

Denn dort spielte sich das wahre Drama ab, die eigentliche Geschichte des Abends.

Die Kommentatoren überschlugen sich förmlich mit Mutmaßungen darüber, was Präsident Williams tun würde, wenn er seiner Außenministerin gegenüberstand. Ellen Adams, wie sie nicht ohne Genugtuung wieder und wieder betonten, war eben erst von einer desaströsen ersten Auslandsreise nach Südkorea zurückgekehrt, wo sie das Kunststück fertiggebracht hatte, einen wichtigen Bündnispartner zu verprellen und eine ohnehin bereits unsichere Region noch weiter zu destabilisieren.

Der Augenblick, in dem die beiden hier in diesem Plenarsaal aufeinandertrafen, würde von Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt live im Fernsehen verfolgt und unzählige Male in den sozialen Netzwerken geteilt werden.

Die Spannung war mit Händen zu greifen.

Die Kommentatoren beugten sich nach vorn, begierig darauf, die Signale zu entschlüsseln, die der Präsident sendete.

Anahita Dahir war, abgesehen von ihrem unmittelbaren Vorgesetzten in seinem Eckbüro, allein in ihrer Abteilung. Gespannt, was zwischen dem neuen Präsidenten und ihrer Chefin passieren würde, trat sie näher an den Bildschirm heran. Sie war dermaßen gefesselt von den Fernsehbildern, dass sie das Ping einer eingehenden E-Mail gar nicht hörte.

Während Präsident Williams langsam weiterging, dabei hin und wieder stehen blieb, um zu winken oder ein paar Worte an jemanden zu richten, vertrieben sich die Kommentatoren die Zeit, indem sie sich über Ellen Adams’ Haar, ihr Make-up und den Zustand ihrer Kleidung ausließen, die zerknittert und mit etwas bespritzt war, von dem man nur hoffen konnte, dass es sich um Schlamm handelte.

»Sie sieht aus, als käme sie gerade von einem Rodeo.«

»Und von da geht es jetzt direkt ins Schlachthaus.«

Gelächter.

Schließlich wies einer der Kommentatoren darauf hin, dass die Außenministerin es vermutlich nicht darauf angelegt habe, so zerzaust auszusehen. Ihr Erscheinungsbild sei vielmehr ein Beweis dafür, wie hart sie arbeite.

»Ihre Maschine aus Seoul ist eben erst gelandet«, gab er zu bedenken.

»Wo unseren Informationen nach die Gespräche abgebrochen wurden.«

»Tja«, räumte der Erste ein. »Ich habe nur gesagt, dass sie hart arbeitet. Von Effektivität war nicht die Rede.«

Danach widmeten sie sich in ernstem Ton der Frage, welche negativen Konsequenzen ihr Versagen in Südkorea haben würde – für die Außenministerin selbst, die neue Regierung und für die amerikanischen Beziehungen zu diesem Teil der Welt.

Auch das war politisches Theater, das wusste die junge Mitarbeiterin. Ein einziges verpatztes Treffen würde auf keinen Fall zu dauerhaften Verstimmungen führen. Doch als sie ihre neue Chefin im Fernsehen beobachtete, erkannte sie, dass nichtsdestoweniger ein Schaden entstanden war.

Anahita war noch recht neu im Auswärtigen Dienst, hatte jedoch bereits gelernt, dass in Washington der Anschein oft mächtiger war als die Realität. Mehr noch: Der Anschein konnte mitunter seine eigene Realität erschaffen.

Die Kamera verweilte auf Außenministerin Adams, während diese genüsslich von den Kommentatoren zerpflückt wurde.

Anders als die Experten im Fernsehen sah Anahita Dahir eine Frau im Alter ihrer Mutter, die aufrecht und mit hocherhobenem Kopf dastand. Aufmerksam. Respektvoll. Den Blick auf den Mann gerichtet, der langsam auf sie zukam, erwartete sie ruhig ihr Schicksal.

Ihr unordentliches Äußeres ließ sie in Anahitas Augen nur noch würdevoller erscheinen.

Bis zu diesem Moment hatte die junge Frau geglaubt, was sowohl die Experten als auch ihre Kollegen behaupteten: dass der gerissene Präsident Ellen Adams aus reiner Arglist zur Außenministerin ernannt hatte.

Doch während sie zusah, wie ihre Chefin sich für die Begegnung mit Williams wappnete, fragte sich Anahita, ob sie sich nicht womöglich geirrt hatte.

Irgendwann hatte sie genug gehört und schaltete den Ton aus.

Als sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, bemerkte sie die neue E-Mail und öffnete sie. Dort, wo normalerweise der Name des Absenders stand, war bloß eine Reihe unzusammenhängender Buchstaben zu sehen, und auch die kurze Nachricht selbst bestand nicht aus Text, sondern lediglich aus Zahlen und Symbolen.

Als der Präsident sich ihr näherte, glaubte Ellen Adams zunächst, er würde sie ignorieren.

»Mr. President«, grüßte sie ihn.

Er blieb stehen und sah an ihr vorbei. Durch sie hindurch. Lächelnd nickte er den rechts und links von ihr stehenden Kabinettsmitgliedern zu, dann streckte er den Arm aus, um der Person hinter ihr die Hand zu schütteln, wobei er sie fast mit dem Ellbogen anstieß. Erst danach drehte er sich betont langsam zu ihr um. Er strahlte eine solche Feindseligkeit aus, dass sowohl der Verteidigungsminister als auch der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste unwillkürlich zurückwichen.

»Stinkig« beschrieb seine Stimmungslage nicht einmal ansatzweise, und die Umstehenden wollten nach Möglichkeit nichts davon abbekommen.

Für die Kameras und die Millionen von Fernsehzuschauern wirkte sein attraktives Gesicht zwar streng, aber eher enttäuscht als wütend. Ein trauriger Vater, der seinem missratenen Kind gegenübersteht.

»Madame Secretary.« Sie inkompetente Versagerin.

»Mr. President.« Sie arrogantes Arschloch.

»Vielleicht könnten Sie morgen früh vor der Kabinettssitzung zu mir ins Oval Office kommen?«

»Selbstverständlich, Sir.«

Als er seinen Weg fortsetzte, schaute sie ihm mit freundlicher Miene nach. Ein loyales Mitglied der Regierungsmannschaft.

Sie nahmen Platz, und Präsident Williams begann mit seiner Regierungserklärung. Zunächst hörte Ellen nur aus Höflichkeit zu, doch mit der Zeit wurde sie immer aufmerksamer. Nicht wegen seiner Rhetorik, sondern weil sie etwas heraushörte, das viel tiefer ging als Worte.

Es war die Feierlichkeit, die historische Bedeutung, die Tradition dieses besonderen Augenblicks. Sie ließ sich von der Erhabenheit und der stillen Größe des Ereignisses mitreißen. Von der Symbolwirkung, wenn schon nicht vom Inhalt der Rede.

Williams sandte eine machtvolle Botschaft an Freunde und Feinde zugleich. Eine Botschaft der Beständigkeit, der Stärke und Entschlossenheit. Die Botschaft, dass man den Schaden, den die vorherige Regierung angerichtet hatte, reparieren würde. Dass Amerika auf die Weltbühne zurückgekehrt war.

Ellen Adams verspürte eine Ergriffenheit, die so intensiv war, dass sie darüber sogar ihre Abneigung gegen den Präsidenten vergaß. Ihr Misstrauen und ihr Argwohn verschwanden im Hintergrund, und zurück blieben Stolz und Ehrfurcht. Das Leben hatte sie hierhergeführt. An diesen Ort, in eine Position, die sie dazu befähigte, ihrem Land zu dienen.

Sie mochte aussehen wie eine Landstreicherin und nach Düngemittel stinken, aber sie war die Außenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie liebte ihr Land und würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um es zu verteidigen.

Dr. Nasrin Bukhari suchte sich einen Platz ganz hinten im Bus und blickte starr geradeaus. Nicht aus dem Fenster. Nicht auf die Tasche in ihrem Schoß, die sie mit weiß hervortretenden Knöcheln umklammert hielt.

Auch nicht auf die anderen Passagiere. Es war von äußerster Wichtigkeit, dass sie jeden Blickkontakt vermied.

Sie zwang sich zu einem neutralen, fast schon gelangweilten Gesichtsausdruck.

Der Bus fuhr von der Haltestelle los und rumpelte in Richtung Grenze. Man hatte einen Flug für sie gebucht, doch sie hatte andere Pläne gemacht, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Nicht einmal Amir wusste Bescheid. Die Leute, die sie aufhalten wollten, würden damit rechnen, dass sie so schnell wie möglich versuchte, das Land zu verlassen. Sie würden am Flughafen auf sie lauern. Falls nötig, würden sie auf jedem Auslandsflug einen ihrer Leute unterbringen. Sie würden alles tun, um sie daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen.

Wenn Amir gefangen genommen und gefoltert wurde, würde er den Plan verraten. Deswegen hatte sie ihr Vorhaben ändern müssen.

Nasrin Bukhari liebte ihr Land. Sie würde tun, was nötig war, um es zu verteidigen.

Auch wenn das bedeutete, alles, was ihr lieb und teuer war, zurückzulassen.

Anahita Dahir starrte mit gerunzelter Stirn auf ihren Computermonitor. Nach wenigen Augenblicken kam sie zu dem Schluss, dass es sich bei der Mail um Spam handeln musste. So etwas kam häufiger vor, als allgemein angenommen wurde.

Trotzdem wollte sie lieber noch eine zweite Meinung einholen. Sie klopfte an die Tür ihres Vorgesetzten und öffnete sie. Er verfolgte gerade kopfschüttelnd die Rede des Präsidenten im Fernsehen.

»Was gibt’s denn?«

»Eine Mail. Ich glaube, es ist Spam.«

»Lassen Sie mal sehen.«

Sie zeigte ihm die Nachricht.

»Und sie kommt definitiv nicht von einer unserer Quellen?«

»Definitiv nicht, Sir.«

»Gut. Dann löschen Sie sie.«

Sie befolgte die Anweisung. Allerdings nicht, ohne sich vorher die Zahlen zu notieren. Nur für den Fall der Fälle.

19/0717, 38/1536, 119/1848

KAPITEL 3

Herzlichen Glückwunsch, Mr. President«, sagte Barbara Stenhauser. »Das lief gut.«

Doug Williams lachte. »Das lief sogar sehr gut. Besser, als ich zu hoffen gewagt habe.«

Er lockerte seine Krawatte und schwang die Füße auf den Schreibtisch.

Sie waren im Oval Office. Man hatte eine Bar aufgestellt, und es gab eine Auswahl kleiner Häppchen für Familie, Freunde und wohlhabende Unterstützer, die man eingeladen hatte, um die erste Rede des Präsidenten vor dem Kongress zu feiern.

Doch Williams wollte zunächst einen Moment mit seiner Stabschefin allein sein, um sich zu entspannen. Die Rede hatte genau das bewirkt, was er beabsichtigt hatte, wenn nicht noch mehr. Doch das beinahe schwindlig machende Hochgefühl, das er gerade empfand, hatte eine andere Ursache.

Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und wippte auf seinem Stuhl vor und zurück, während ein Kellner ihm einen Scotch sowie einen kleinen Teller mit in Speck gewickelten Jakobsmuscheln und frittierten Shrimps reichte.

Er bat Barb, sich zu ihm zu gesellen, bedankte sich beim Kellner und bedeutete ihm, sich zu entfernen.

Barb Stenhauser setzte sich und trank einen tiefen Schluck aus ihrem Rotweinglas.

»Wird sie das überleben?«, fragte er.

»Ich bezweifle es. Den Rest können wir den Medien überlassen. Die werden sie zerfleischen. Soweit vor Ihrer Rede ersichtlich war, haben sie schon damit angefangen. Sie wird erledigt sein, noch ehe sie heute Abend nach Hause kommt. Und nur um ganz sicherzugehen, habe ich einige unserer Senatoren gebeten, angesichts des Fiaskos in Südkorea vorsichtige Bedenken in Bezug auf ihre Eignung für den Posten der Außenministerin zu äußern.«

»Gut. Welches Land steht als Nächstes an?«

»Ich hatte Kanada vorgesehen.«

»Oh Gott. Wir werden uns noch vor Ende der Woche im Krieg befinden.«

Barb lachte. »Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich habe immer schon von einem Haus in Quebec geträumt. Die ersten Berichte über Ihre Rede sind übrigens durchweg sehr positiv, Sir. Man erwähnt insbesondere Ihren würdevollen Ton und die versöhnliche Note der Opposition gegenüber. Es gibt allerdings Gemunkel, dass die Ernennung von Ellen Adams zwar mutig, aber eine Fehlentscheidung war, erst recht nach dem Südkoreadebakel.«

»Mit Gegenwind war zu rechnen. Solange sie einen Großteil der Scheiße abbekommt, spielt das keine Rolle. Außerdem gibt das den Kritikern ein Thema, an dem sie sich abarbeiten können, während wir in Ruhe unseren Job erledigen.«

Stenhauser lächelte. Sie hatte selten einen so fähigen Politiker erlebt. Jemanden, der sich nicht scheute, eine Fleischwunde in Kauf zu nehmen, wenn das den Tod eines Kontrahenten bedeutete.

Obwohl er, das wusste sie jetzt schon, am Ende weit mehr davontragen würde als eine bloße Fleischwunde.

Douglas Williams widerte sie an, aber das vermochte sie zu ignorieren, wenn es bedeutete, endlich die Agenda durchsetzen zu können, an die sie von ganzem Herzen glaubte.

Sie lehnte sich über den Schreibtisch und reichte ihm ein Blatt Papier. »Ich habe eine kurze Stellungnahme vorbereitet, in der Sie Außenministerin Adams Ihre volle Unterstützung zusichern.«

Er las sie, dann warf er das Blatt auf den Schreibtisch. »Perfekt. Würdevoll, aber unverbindlich.«

»Kritik unter dem Deckmantel des Lobes.«

Er lachte, dann seufzte er vor Erleichterung auf. »Schalten Sie den Fernseher ein. Mal sehen, was sie sagen.«

Er richtete sich auf und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, als der große Bildschirm an der Wand zum Leben erwachte. Er war versucht gewesen, seiner Stabschefin zu verraten, wie schlau er wirklich gewesen war. Doch er wagte es nicht.

»Hier.«

Katherine Adams reichte ihrer Mutter und ihrer Patentante je ein großes Glas Chardonnay, dann holte sie sich ihr eigenes Glas, packte die Flasche am Hals und setzte sich damit zwischen die beiden aufs große Sofa. Gleich darauf landeten drei Paar Füße in Pantoffeln nebeneinander auf dem Couchtisch.

Katherine griff nach der Fernbedienung.

»Noch nicht.« Ihre Mutter legte eine Hand auf ihren Arm. »Geben wir uns noch einen Moment lang der Illusion hin, dass alle meinen Triumph in Südkorea feiern.«

»Und dir zu deiner neuen Frisur und deinem Stilbewusstsein gratulieren«, ergänzte Betsy.

»Und zu deinem Parfüm.«

Ellen lachte.

Sowie sie nach Hause gekommen war, hatte sie geduscht und sich einen Jogginganzug angezogen. Nun saßen die drei Frauen nebeneinander in ihrem gemütlichen Wohnzimmer. Regale mit Büchern und gerahmten Fotos ihrer Kinder und ihres verstorbenen Mannes säumten die Wände. Dies war ihr ganz privater Raum, ein Refugium, zu dem nur Familie und engste Freunde Zutritt hatten.

Ellen hatte ihre Brille aufgesetzt und eine Aktenmappe herausgeholt, deren Inhalt sie kopfschüttelnd studierte.

»Was ist denn?«, fragte Betsy.

»Die Verhandlungen. Ich verstehe nicht, warum sie abgebrochen wurden. Das Vorbereitungsteam hat solide Arbeit geleistet.« Sie hielt die Unterlagen hoch. »Wir waren gut aufgestellt, genau wie die Südkoreaner. Ich hatte bereits Gespräche mit meinem Amtskollegen geführt. Eigentlich hätte es wie am Schnürchen laufen müssen.«

»Und? Was ist schiefgegangen?«, wollte Katherine wissen.

Ihre Mutter seufzte. »Ich weiß es auch nicht. Das versuche ich gerade herauszufinden. Wie viel Uhr ist es?«

»Fünf nach halb zwölf«, sagte Katherine.

»Also mittags in Südkorea. Ich bin versucht, dort anzurufen, aber ich lasse es lieber. Erst brauche ich weitere Informationen.« Sie sah Betsy an, die auf ihrem Smartphone durch die Nachrichten scrollte. »Irgendwas Neues?«

»Jede Menge aufmunternde Mails und Textnachrichten von Freunden und Verwandten.«

Ellen sah ihre Freundin weiterhin erwartungsvoll an. Die schüttelte den Kopf. Ihr war klar, was Ellen wirklich wissen wollte, ohne dass diese es aussprechen musste.

»Ich kann ihm schreiben«, bot Katherine an.

»Nein. Er weiß Bescheid. Wenn er sich melden wollte, würde er es tun.«

»Er hat viel um die Ohren, Mom.«

Ellen deutete auf die Fernbedienung. »Warum schalten wir nicht die Nachrichten ein? Bringen wir es hinter uns.«

Das Fernsehen, so wussten sowohl Betsy als auch Katherine, sollte sie von der Textnachricht ablenken, die sie nicht bekommen hatte. Ein Ärgernis gegen das andere.

Ellen widmete sich wieder ihrer Akte und versuchte einen Hinweis darauf zu finden, was genau in Seoul schiefgelaufen sein könnte. Den sogenannten Experten im Fernsehen hörte sie nur mit halbem Ohr zu.

Sie wusste ohnehin, was sie sagen würden. Selbst die Medien ihres eigenen Unternehmens, das internationale Nachrichtensyndikat, die Zeitungen und Websites würden kein gutes Haar an ihrer ehemaligen Chefin lassen.

Wahrscheinlich wären sie sogar die Ersten, die sich Ellen vorknöpften, damit man ihnen keine Parteinahme nachsagen konnte. Und sie würden nicht zimperlich sein. Sie konnte sich die vernichtenden Kommentare lebhaft vorstellen.

Ehe sie den Posten der Außenministerin angenommen und die Anteile am Unternehmen an ihre Tochter übertragen hatte, war schriftlich verfügt worden, dass Katherine sich niemals in die Berichterstattung über die Regierung Williams im Allgemeinen und seine Außenministerin im Besonderen einmischen dürfe.

Ihrer Tochter war es nicht schwergefallen, ihr dieses Versprechen zu geben, schließlich war sie nicht die Journalistin in der Familie. Ihre Expertise und ihre Interessen lagen ausschließlich auf der betriebswirtschaftlichen Seite. In dieser Hinsicht kam sie ganz nach ihrer Mutter.

Betsy berührte Ellen am Arm und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Fernseher.

Ellen blickte von ihren Unterlagen auf. Nachdem sie eine Weile zugeschaut hatte, setzte sie sich kerzengerade hin.

»Ach du Scheiße«, fluchte Doug Williams. »Soll das ein Witz sein?«

Er funkelte seine Stabschefin an, als erwartete er, dass sie etwas unternähme.

Sie wechselte den Sender. Dann noch einmal. Und noch einmal. Doch irgendwie schien sich zwischen Präsident Williams’ Rede zur Lage der Nation und dem zweiten Glas Scotch etwas Grundlegendes verändert zu haben.

Katherine begann zu lachen. Ihre Augen blitzten.

»Oh mein Gott, auf allen Kanälen.« Sie zappte sich durch die Sender und hielt immer nur so lange inne, um zu hören, wie die Experten und politischen Alleswisser Außenministerin Adams zu ihrem unermüdlichen Einsatz und ihrer bewundernswerten Arbeitsmoral beglückwünschten. Dass sie sogar mit zerzausten Haaren im Kapitol erschien und der Schmutz nach ihrem letzten Einsatz noch an der Kleidung klebte.

Ja, der Koreabesuch habe sich unerwartet zum Debakel entwickelt, aber die viel wichtigere Botschaft sei doch, dass Ellen Adams – und somit auch die USA – sich nicht unterkriegen ließ. Sie hatte keine Scheu, sich die Hände dreckig zu machen. Sie war bereit, in den Schützengraben zu steigen, das ihrige zu tun, um den Schaden, der in den vergangenen vier Jahren des Chaos angerichtet worden war, wiedergutzumachen.

An ihrem Scheitern in Südkorea sei der Schlamassel schuld, den der unfähige vorherige Präsident und ihr Amtsvorgänger hinterlassen hatten.

Katherine stieß einen Jubelschrei aus. »Schaut euch das an!« Sie hielt ihrer Mutter und Betsy ihr Handy unter die Nase.

In den sozialen Netzwerken war ein Meme von ihr viral gegangen.

Nachdem Ellen im Kongress angekündigt worden und durch den Plenarsaal zu ihrem Platz gelangt war, um die Rede des Präsidenten zu hören, hatten die Kameras einen Senator der Oppositionspartei eingefangen, der sie voller Verachtung ansah und »Liederliches Weibsstück« murmelte.

»Was zur Hölle!« Doug Williams warf einen Shrimp mit so viel Schwung zurück auf seinen Teller, dass er abprallte, auf den Schreibtisch rollte und schließlich auf dem Teppich landete. »So eine Scheiße.«

Anahita Dahir lag bereits im Bett, als ihr ein Gedanke kam.

Was, wenn die seltsame Mail von Gil war?

Ja. Das war durchaus möglich. Vielleicht wollte er wieder Kontakt mit ihr aufnehmen. Und noch anderes.

Sie spürte noch seine Haut, feucht vom Schweiß der schwülheißen, klebrigen Nachmittage in Islamabad. Sie hatten sich heimlich in ihrem kleinen Zimmer getroffen, das fast genau auf halber Strecke zwischen seinem Arbeitsplatz bei der Presseagentur und ihrem Arbeitsplatz in der Botschaft lag.

Sie war so unwichtig, dass niemand merkte, wenn sie zwischendurch verschwand. Und Gil Bahar war ein geachteter Journalist, dessen Abwesenheit niemand hinterfragte. Man ging davon aus, dass er einer Story auf der Spur war.

Im eng umgrenzten Kosmos der pakistanischen Hauptstadt wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit heimliche Treffen abgehalten. Zwischen Informanten und denen, die mit Informationen handelten. Zwischen Anbietern und Verwendern von Drogen, Waffen, Tod.

Zwischen Botschaftsmitarbeiterinnen und Journalisten.

Es war ein Ort, an dem jeden Moment alles passieren konnte. Die jungen Korrespondenten und Entwicklungshelfer, die Ärzte und Schwestern, Botschaftsangestellten und Informanten trafen sich in Untergrundbars oder winzigen Wohnungen. Auf Partys. Sie liefen sich über den Weg und landeten manchmal miteinander im Bett.

Das Leben um sie herum war kostbar und zerbrechlich. Doch sie selbst waren unsterblich.

Sie bewegte sich rhythmisch, während sie in ihrem Bett in DC lag und sich daran erinnerte, wie sein harter Körper sich auf ihrem angefühlt hatte.

Einige Minuten später stand sie auf. Obwohl sie wusste, dass sie sich damit nur Ärger einhandelte, griff sie nach ihrem Smartphone.

Hast du mir eine Mail geschickt?

Im Laufe der Nacht wachte sie mehrmals auf und warf einen Blick auf ihr Telefon. Keine Antwort.

»Blödmann«, brummelte sie, während ihr gleichzeitig sein Moschusgeruch in die Nase stieg und sie seinen hellen, nackten Körper spürte, der sich an ihrer dunklen, feuchten Haut rieb, die in der Nachmittagssonne glänzte.

Sie spürte das Gewicht seines Körpers. Es lastete schwer auf ihrem Herzen.

Nasrin Bukhari saß im Wartebereich der Abflughalle.

Der müde Zollbeamte an der Grenze hatte sich flüchtig ihren Pass angesehen und nicht bemerkt, dass er gefälscht war. Oder vielleicht kümmerte es ihn auch nicht.

Er hatte erst in den Pass, dann in ihr Gesicht geschaut. Was er sah, war eine erschöpfte Frau mittleren Alters. Ein traditioneller Hidschab, verwaschen und zerschlissen, umrahmte ihr von Falten gezeichnetes Gesicht.

Sicherlich keine Bedrohung. Er hatte sich dem nächsten Passagier zugewandt, der darauf wartete, die Grenze zwischen Gefahr und zerbrechlicher Hoffnung zu überqueren.

Dr. Bukhari wusste, dass sie in ihrer Tasche besagte Hoffnung bei sich trug. Und in ihrem Kopf die Gefahr.

Sie erreichte den Flughafen drei Stunden zu früh. Vielleicht war das etwas zu viel Zeit, wie ihr allmählich bewusst wurde.

Sie setzte sich so, dass sie aus dem Augenwinkel den Mann beobachten konnte, der auf der gegenüberliegenden Seite der Abflughalle an der Wand lehnte. Er war beim Sicherheits-Check-in gewesen, als sie die Kontrollen durchlaufen hatte. Und sie war sich ziemlich sicher, dass er ihr bis zum Wartebereich gefolgt war.

Sie hatte nach einem Pakistaner Ausschau gehalten. Einem Inder oder Iraner. Das waren die Leute, die sie aufhalten wollten. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass sie einen Weißen schicken könnten. Die bloße Tatsache, dass er auffiel, war seine Tarnung. Diesen genialen Schachzug hätte Dr. Bukhari ihren Feinden niemals zugetraut.

Aber möglicherweise bildete sie sich das alles auch nur ein. Zu wenig Schlaf, zu wenig Essen, zu viel Angst – das hatte sie paranoid gemacht. Sie spürte förmlich, wie ihr Verstand sich verabschiedete. Schwindlig vom Schlafmangel, glaubte sie bisweilen, außerhalb ihres Körpers zu schweben.

Als Akademikerin, als Wissenschaftlerin war dies für Dr. Bukhari die bisher beängstigendste Erfahrung ihres Lebens. Sie konnte ihren eigenen Gedanken nicht länger trauen. Und ihren Gefühlen auch nicht.

Sie war haltlos.

Nein, dachte sie. Das war sie nicht. Sie hatte klare Anweisungen. Ein klares Ziel. Sie musste es nur erreichen.

Nasrin Bukhari warf einen Blick auf die alte Uhr an der Wand des verdreckten Wartebereichs. Nicht zum ersten Mal. Noch zwei Stunden und dreiundfünfzig Minuten bis zu ihrem Flug nach Frankfurt.

Am Rande ihres Blickfelds sah sie, wie der Mann an der Wand sein Handy zückte.

Die Nachricht kam um ein Uhr dreißig in der Nacht.

Hab dir nicht gamilt bin aber froh das du dich meldest. Vielleicht kannst du mir helfen. Brauche Infos über eine Wissenschaftlerin.

Ana schaltete ihr Handy aus. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seinen Text auf Rechtschreibfehler zu kontrollieren, ehe er ihn abgeschickt hatte.

Das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Sie hatte gewusst oder zumindest geahnt, dass sie für ihn nur eine Informationsquelle war, nicht mehr. Wahrscheinlich war sie das von Anfang an gewesen. Ihr Wert für ihn bestand darin, dass sie in der Botschaft beziehungsweise jetzt fürs Außenministerium arbeitete. Seine Informantin im Referat für zentral- und südostasiatische Angelegenheiten.

Anahita fragte sich, wie viel sie wirklich über Gil Bahar wusste. Er war ein angesehener Journalist bei Reuters. Aber es hatte Gerüchte über ihn gegeben. Getuschel hinter vorgehaltener Hand.

Andererseits bestand ganz Islamabad aus Gerüchten und Getuschel. Selbst die Alteingesessenen waren nicht in der Lage, Wahrheit von Fiktion und Realität von Paranoia zu unterscheiden. Im Hexenkessel dieser Stadt verschmolzen die beiden miteinander und wurden eins. Nicht mehr auseinanderzuhalten.

Was sie wusste, war, dass Gil Bahar einige Jahre zuvor in Afghanistan vom Pathan-Clan entführt und acht Monate lang als Geisel festgehalten worden war, ehe er hatte flüchten können. Auch bekannt als »die Familie«, zählten die Pathan zu den schlimmsten, brutalsten Terroristen im pakistanisch-afghanischen Stammesgebiet. Da sie enge Verbindungen zur El Kaida unterhielten, waren sie selbst bei anderen Talibangruppierungen gefürchtet.

Während andere Journalisten gefoltert und enthauptet worden waren, hatte es Gil Bahar geschafft, unverletzt freizukommen.

Wieso? fragte man sich. Wie war es ihm gelungen, den Pathan zu entfliehen?

Anahita Dahir hatte beschlossen, die widerlichen Andeutungen zu ignorieren. Doch als sie nun allein in ihrem Bett lag, ließ sie diese Gedanken zu.

Kurz nachdem sie aus Pakistan nach DC versetzt worden war, hatte Gil sich zum letzten Mal bei ihr gemeldet. Er hatte sie auf ihrer Privatnummer angerufen und nach ein paar höflichen Floskeln gefragt, ob sie Informationen für ihn habe.

Sie hatte ihm natürlich nichts gesagt, aber drei Tage später hatte es ein Attentat auf genau die Person gegeben, über die Gil sie hatte ausfragen wollen.

Und jetzt wollte er schon wieder Informationen. Über irgendeine Wissenschaftlerin.

KAPITEL 4

Ja?«, sagte Ellen, die augenblicklich aus tiefem Schlaf erwacht war. »Was ist passiert?«

Während sie den Anruf entgegennahm, checkte sie die Uhrzeit. Fünf nach halb drei Uhr morgens.

»Madame Secretary?«, sagte Charles Boynton. Er klang ernst und gefasst. »Es hat eine Bombenexplosion gegeben.«

Sie setzte sich auf und griff nach ihrer Brille. »Wo?«

»London.«

Eine Woge der Erleichterung stieg in ihr hoch, dicht gefolgt von Schuldgefühlen. Wenigstens nicht auf amerikanischem Boden. Trotzdem. Sie schwang die Beine aus dem Bett und schaltete das Licht ein.

»Sagen Sie mir, was Sie wissen.«

Eine Dreiviertelstunde später saß Ellen Adams im Lageraum des Weißen Hauses.

Um Verwirrung und unnötiges Aufsehen zu vermeiden, war lediglich der harte Kern des Nationalen Sicherheitsrates einberufen worden. Am Tisch saßen der Präsident, die Vizepräsidentin, die Außenministerin, der Verteidigungsminister, der Heimatschutzminister, der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste sowie der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs.

Diverse Mitarbeiter und die Stabschefin des Weißen Hauses hatten auf Stühlen entlang der Wand Platz genommen.

Die Mienen waren ernst, aber nicht panisch. Der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs hatte eine ähnliche Situation schon einmal erlebt, wenngleich sie für den Präsidenten und sein Kabinett neu war.

Die Medien fingen gerade an, über die Ereignisse zu berichten.

Auf dem großen Bildschirm an der Wand war ein Stadtplan von London zu sehen. Ein Punkt, rot wie ein Blutstropfen, zeigte den genauen Ort der Explosion an.

An der Piccadilly unmittelbar vor dem Kaufhaus Fortnum & Mason, stellte Ellen fest, die sogleich ihr gesamtes Wissen über die britische Hauptstadt aktiviert hatte. Am Ende der Straße lag das Ritz, und Hatchards, der älteste Buchladen Londons, befand sich direkt unter der roten Markierung.

»Und es steht zweifelsfrei fest, dass es eine Bombe war?«, fragte Präsident Williams.

»Ja, Mr. President«, antwortete Tim Beecham, der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste. »Wir sind in ständigem Austausch mit dem MI5 und MI6. Sie arbeiten fieberhaft daran, die Ereignisse zu rekonstruieren, aber angesichts des Ausmaßes der Zerstörung kann es sich nur um eine Bombe gehandelt haben.«

»Weiter«, sagte Präsident Williams und beugte sich vor.

»Sie befand sich allem Anschein nach in einem Bus«, sagte Armeegeneral Albert »Bert« Whitehead, der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs. Seine Uniformjacke war schief zugeknöpft, und die hastig gebundene Krawatte hing ihm wie eine Schlinge um den Hals.

Doch seine Stimme war fest, sein Blick klar. Er war hoch konzentriert.

»Allem Anschein nach?«, fragte Williams.

»Die Zerstörung ist zu groß, als dass man im Moment Genaueres sagen könnte. Es hätte auch eine Autobombe sein können oder ein Laster, der explodiert ist, als der Bus gerade vorbeifuhr. Wie man sieht, liegen überall Trümmer herum.«

General Whitehead betätigte eine Taste auf seinem gesicherten Laptop, woraufhin der Stadtplan einem Satellitenbild des Anschlagsortes wich. Aus mehreren Meilen Entfernung im Weltraum aufgenommen, war es dennoch verblüffend klar.

Alle blickten angestrengt darauf.

In der Mitte der berühmten Straße befand sich ein Krater, die unmittelbare Umgebung war übersät mit verbogenen Metallteilen und Schutt. Rauch stieg von Fahrzeugen auf. Die Fassaden jahrhundertealter Gebäude, die die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs überstanden hatten, waren komplett zerstört worden.

Doch nirgendwo Leichen, wie Ellen auffiel. Wahrscheinlich waren sie in Stücke gerissen worden, die zu klein waren, als dass man sie ohne Weiteres als menschliche Überreste hätte identifizieren können.

Die Explosion war nur von den Gebäuden zu beiden Seiten der Straße eingegrenzt worden. Nicht auszudenken, wie verheerend sie sonst gewesen wäre.

»Mein Gott«, entfuhr es dem Verteidigungsminister. »Was kann das gewesen sein?«

»Mr. President?«, meldete sich Barbara Stenhauser zu Wort. »Wir haben ein Video reinbekommen.«

Auf ein zustimmendes Nicken ihres Chefs hin rief sie es auf. Es war von einer der Zehntausenden von Überwachungskameras in London aufgenommen worden.

Unten rechts am Bildrand sah man den Zeitstempel.

7:17:04

»Wann ist die Bombe explodiert?«, wollte Präsident Williams wissen.

»Um sieben Uhr siebzehn und dreiundvierzig Sekunden westeuropäischer Zeit, Sir«, antwortete General Whitehead.

Ellen schlug sich beim Betrachten der Bilder die Hand vor den Mund. Es war der Beginn des Berufsverkehrs. Ein grauer Morgen Anfang März, an dem die gerade aufgehende Sonne Mühe hatte, die Wolkendecke zu durchdringen.

7:17:20

Männer und Frauen strömten die Gehsteige entlang. Autos, Lieferfahrzeuge und Taxis warteten an der Ampel, während die Zeit unerbittlich weiterlief. Auf das Ende zu.

7:17:32

»Lauft weg«, hörte Ellen den Heimatschutzminister flüstern. »Flieht.«

Doch natürlich flohen sie nicht.

Ein leuchtend roter Doppeldeckerbus hielt am Straßenrand.

7:17:39

Eine junge Frau trat zur Seite, um einem älteren Herrn beim Einsteigen den Vortritt zu lassen. Er drehte sich um und bedankte sich bei ihr.

7:17:43

Sie sahen die Explosion wieder und wieder aus unterschiedlichen Perspektiven, als immer neue Aufnahmen über den großen Bildschirm an der Wand des Lageraums flimmerten.

Im zweiten Video konnte man den Bus deutlicher erkennen. Die Perspektive erlaubte es ihnen sogar, die Gesichter einzelner Fahrgäste auszumachen. Unter ihnen befand sich auch ein kleines Mädchen, das im Oberdeck in der ersten Reihe saß. Auf dem besten Platz. Der, um den sich alle Kinder rissen. Bei Ellens Kindern war dies nicht anders gewesen.

Obwohl sie es wollte, vermochte Ellen den Blick nicht von dem kleinen Mädchen abzuwenden.

Lauf. Lauf.

Doch in jedem Video, ganz egal aus welcher Perspektive, blieb das kleine Mädchen sitzen. Und dann war es auf einmal nicht mehr da.

Als die offizielle Bestätigung aus Großbritannien kam, war das reine Formsache. Es war klar, dass es sich um eine Bombe handelte. Jemand hatte sie im Bus deponiert. Sie war zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt am schlimmstmöglichen Ort hochgegangen.

Während der Rushhour mitten im Zentrum von London.

»Hat sich schon jemand zu dem Anschlag bekannt?«, fragte Präsident Williams.

»Bisher noch nicht«, sagte der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste und konsultierte die ihm vorliegenden Berichte.

Inzwischen kamen stetig neue Informationen herein. Das Wichtigste, so wussten alle, war es, den Überblick zu behalten. Sich nicht von der schieren Menge lähmen zu lassen.

»Nicht mal Gerüchte?«, hakte Williams nach.

Er blickte in die Gesichter derer, die sich an dem langen blank polierten Tisch versammelt hatten und den Kopf schüttelten. Bei Ellen hielt er inne.

»Nichts«, bestätigte sie. Doch er starrte sie weiterhin an, als wäre das alles allein ihre Schuld.

Und ihr wurde eine fundamentale Wahrheit vor Augen geführt.

Er vertraut mir nicht, begriff sie. Wahrscheinlich hätte sie das schon viel früher erkennen sollen, doch sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, sich in ihren neuen Job einzuarbeiten, dass sie keine Sekunde lang darüber nachgedacht hatte.

In ihrer Vermessenheit war sie davon ausgegangen, dass Williams sie trotz der offenen Feindschaft zwischen ihnen zu seiner Außenministerin ernannt hatte, weil er wusste, dass sie ihre Sache gut machen würde.

Nun begriff sie, dass er sie nicht nur nicht mochte, sondern darüber hinaus auch kein Vertrauen in sie hatte.

Warum hatte er ihr dann einen derart wichtigen Posten gegeben?

Ein Teil der Antwort ging ihr in diesem Moment auf.

Präsident Douglas Williams hatte nicht damit gerechnet, gleich zu Beginn der Amtszeit mit einer internationalen Krise konfrontiert zu werden. Er hatte nicht damit gerechnet, ihr vertrauen zu müssen.

Was also war sein Plan gewesen?

All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, doch im Moment hatte sie keine Zeit, sich näher mit ihnen zu befassen. Es gab wesentlich drängendere Probleme.

Endlich wandte Präsident Williams den Blick von ihr ab und fixierte stattdessen Tim Beecham. »Ist das nicht ungewöhnlich?«, fragte er. »Dass man gar nichts hört?«

»Nicht unbedingt«, sagte Beecham. »Nicht, wenn es sich um eine einmalige Aktion handelt. Ein einsamer Wolf, der sich selbst mit in die Luft gesprengt hat.«

»Trotzdem.« Ellen ließ den Blick in die Runde schweifen. »Wollen diese Leute nicht, dass alle Welt erfährt, was sie getan haben? Stellen Sie nicht normalerweise ein Bekennerschreiben oder ein Video ins Internet?«

»Es gibt vielleicht einen Grund, weshalb niemand …«, begann General Whitehead, ehe er von der Stabschefin des Präsidenten unterbrochen wurde.

»Sir, ich habe den britischen Premierminister in der Leitung.«

Wie alle anderen hatte auch Barb Stenhauser sich in aller Eile angezogen. Kein Make-up verbarg die Anspannung in ihrem Gesicht. Das wäre wohl auch unmöglich gewesen.

Die Bilder der Verwüstung auf dem Monitor machten dem ernsten Gesicht von Premierminister Bellington Platz, dem wie immer die Haare in alle Richtungen vom Kopf abstanden.

»Premierminister, das amerikanische Vo…«, setzte Douglas Williams an.

»Jaja, wie auch immer. Sie wollen wissen, was passiert ist. Geht mir genauso. Offen gestanden, kann ich Ihnen nichts sagen.«

Er warf einen strafenden Blick auf jemanden abseits der Kamera, höchstwahrscheinlich die Vertreter des MI5 und MI6.

»Galt der Anschlag einer bestimmten Zielperson?«, fragte Williams.

»Kann ich noch nicht sagen. Wir haben eben erst die Bestätigung erhalten, dass die Bombe sich im Bus befand. Wir wissen noch nicht, wer drin saß oder sich in der Nähe aufhielt. Die Fahrgäste und Passanten wurden förmlich in Stücke gerissen. Ich kann Ihnen das Videomaterial schicken.«

»Kein Bedarf. Wir haben es bereits gesehen.«

Bellington zog die Augenbrauen hoch. Es war schwer zu sagen, ob er beeindruckt oder verärgert war. Am Ende beschloss er, nicht weiter darauf einzugehen.

Der Premierminister befand sich im dritten Jahr seiner ersten Amtszeit. Er war beim rechten Flügel seiner Partei und bei der konservativen Wählerschaft extrem populär, weil er den Briten mehr Sicherheit und Unabhängigkeit von anderen Staaten versprochen hatte. Das Bombenattentat würde seinen Bemühungen zur Wiederwahl nicht gerade förderlich sein.

»Es wird noch dauern, bis wir die Leichen endgültig identifiziert haben«, fuhr er fort. »Wir sind dabei, das Videomaterial zu analysieren. Vielleicht hilft uns die Gesichtserkennung weiter, und wir können einen möglichen Terroristen oder eine Zielperson identifizieren. Für Hilfe wären wir sehr dankbar.«

»Könnte das Ziel auch ein Gebäude statt eine Person gewesen sein? So wie bei den Anschlägen vom 11. September?«, fragte der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste.

»Vielleicht«, räumte der Premierminister ein. »Aber es gibt lohnendere Anschlagsziele in London als Fortnum & Mason.«

»Kann doch sein, dass jemand keine Lust hatte, hundert Pfund für einen Nachmittagstee auf den Tisch zu blättern«, warf der Verteidigungsminister ein und blickte um Anerkennung heischend in die Runde.

Niemand lächelte.

»Die Royal Academy of Arts liegt auch in der Nähe«, warf Ellen ein.

»Kunst, Frau Außenministerin?«, sagte Premierminister Bellington. »Sie glauben, jemand würde ein solches Massaker anrichten, um eine Ausstellung zu stören?«

Ellen versuchte sich von seinem hochnäsigen Tonfall nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Für ihre amerikanischen Ohren klang fast jeder mit einem britischen Akzent hochnäsig. Sobald ein Engländer den Mund aufmachte, hörte sie ein unausgesprochenes Sie ungehobelter Idiot mitschwingen.

So auch jetzt. Aber Bellington stand unter Druck, und einen Teil dieses Drucks entlud er bei ihr. Sie würde es ihm durchgehen lassen. Diesmal.

Der Fairness halber musste man sagen, dass Premierminister Bellington seit Jahren ein Lieblingsthema ihrer Medien war. Sie stellten ihn gerne als unfähig und oberflächlich hin. Als einen Hohlkopf aus der Oberschicht, dessen Integrität, falls er jemals welche besessen hatte, längst durch Snobismus und lateinische Sprichwörter ersetzt worden waren.

Von daher nahm es wohl nicht wunder, dass er sie so ansah. Im Gegenteil. Ellen fand, dass er erstaunliche Zurückhaltung bewies.

»Nicht nur Kunst, Premierminister«, sagte sie. »Dort befindet sich auch die Geological Society.«

»Stimmt.« Auf einmal wurde sein Blick scharf, sogar stechend. Er sah regelrecht intelligent aus, was sie niemals für möglich gehalten hätte. »Sie kennen sich gut aus in London.«

»Eine meiner Lieblingsstädte. Der Anschlag ist eine schreckliche Tragödie.«

Das entsprach zweifellos der Wahrheit. Allerdings konnte es sein, dass es dabei noch um weit mehr ging als um die zahlreichen Toten und die Zerstörung eines Teils der reichen Geschichte der Stadt.

»Geologie?«, sagte der Verteidigungsminister. »Warum sollte jemand ein Gebäude in die Luft sprengen, in dem Steine erforscht werden?«

Statt einer Antwort wandte sich Ellen dem Bildschirm zu und fing den nachdenklichen Blick des britischen Premierministers ein.

»In der Geologie geht es nicht nur um Steine«, sagte dieser. »Sondern auch um Öl. Kohle. Gold. Diamanten.« Er brach ab und sah Ellen auffordernd an, als wollte er ihr beim nächsten Punkt auf der Liste den Vortritt lassen.

»Uran«, sagte sie.

Er nickte. »Aus dem man eine Atombombe bauen könnte. Factum fieri infectum non potest, Geschehenes kann man nicht ungeschehen machen. Aber vielleicht können wir einen weiteren Anschlag verhindern.«

»Sie glauben, es wird noch einen Anschlag geben, Premierminister?«, fragte Präsident Williams.

»In der Tat, Sir.«

»Aber wo?«, murmelte der Direktor der Nationalen Nachrichtendienste.

Als die Besprechung zu Ende war, achtete Ellen darauf, gemeinsam mit General Whitehead den Raum zu verlassen.

»Sie wollten vorhin sagen, dass es einen Grund geben könnte, weshalb sich niemand zu dem Anschlag bekannt hat, nicht wahr?«

Er nickte.

Der Vorsitzende der Vereinigten Generalstabschefs sah eher aus wie ein Bibliothekar als wie ein Soldat.

Kurioserweise war es beim Leiter der Kongressbibliothek genau umgekehrt.

General Whiteheads Gesicht war freundlich, seine Stimme sanft. Er musterte sie durch runde Brillengläser, die ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Eule verliehen.

Doch sie kannte seine Bilanz als Soldat im Kampfeinsatz. Er war bei den Army Rangers gewesen. Er hatte an vorderster Front gekämpft und sich dadurch nicht nur den Respekt, sondern auch die Loyalität und das Vertrauen der Männer und Frauen erarbeitet, die ihm unterstanden.

General Whitehead stoppte und ließ die anderen vorbeigehen. Er musterte Ellen. Sein Blick war prüfend, jedoch nicht feindselig.

»Wie lautet dieser Grund, General?«

»Es hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt, Madame Secretary, weil das gar nicht nötig ist. Das Ziel des Anschlags war – ist – nicht Terror. Es geht um etwas viel Wichtigeres.«

Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und sich ein schwerer Druck auf ihre Brust legte.

»Und was wäre das?«, fragte sie, erstaunt und zugleich froh, dass ihre Stimme trotz des inneren Aufruhrs gefasst klang.

»Vielleicht war es ein Attentat. Oder eine punktuelle Aktion, dazu gedacht, eine Botschaft an eine ganz bestimmte Person oder Gruppe zu senden. Keine Ankündigung notwendig. Vielleicht wissen die Verantwortlichen auch, dass ihr Schweigen unsere Ressourcen sehr viel effektiver bindet als jedes Bekennerschreiben.«

»Ich würde das, was in London passiert ist, nicht als ›punktuell‹ bezeichnen.«

»Sie haben recht. Ich meinte es eher in Bezug auf den Zweck des Anschlags. Eine klar definierte Zielsetzung. Wir sehen Hunderte von Toten, aber sie sehen vielleicht nur einen einzigen. Wir sehen ein Bild der Verwüstung, sie ein einzelnes zerstörtes Gebäude. Alles eine Frage des Blickwinkels.« Er betastete seine Krawatte und schien sich zu wundern, dass sie nicht korrekt gebunden war. »Aber eins kann ich Ihnen auf jeden Fall sagen, Madame Secretary. Nach meiner Erfahrung gilt: Je lauter das Schweigen, desto größer das Ziel.«

»Dann sind Sie also derselben Meinung wie der britische Premierminister? Dass es noch einen zweiten Anschlag geben wird?«

»Ich weiß es nicht.« Er hielt ihren Blick fest, während er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, ihn dann aber wieder schloss.

»Sie können es mir ruhig anvertrauen, General.«

Er lächelte kaum merklich. »Ich weiß nur, dass wir es hier in strategischer Hinsicht mit einem ziemlich lauten Schweigen zu tun haben.«

Sein Lächeln war verschwunden, er presste grimmig die Lippen zusammen.

Der Täter war dort draußen. Irgendwo. Und versteckte sich hinter einem ohrenbetäubenden Schweigen.

Sie mussten nicht lange warten.

Es war kurz vor zehn Uhr morgens, als Ellen Adams in ihr Büro im Außenministerium zurückkehrte.

Dort herrschte aufgeregte Geschäftigkeit. Bevor sie auch nur einen Fuß in den Aufzug gesetzt hatte, wurde sie bereits von ihren Pressereferenten umlagert, die wissen wollten, was sie den Medien sagen sollten. Kaum aus dem Fahrstuhl gestiegen, eskortierte man sie im Laufschritt in ihr Büro. Männer und Frauen eilten über den Flur, nachdem sie ihre Büros verlassen hatten, um kurz darauf wieder darin zu verschwinden. Niemand wollte Textnachrichten schreiben oder auch nur telefonieren. Fragen wurden sich auf den Gängen zugerufen und Anweisungen erteilt, während Assistenten jeder nur erdenklichen Spur nachjagten.

»Wir haben alle unsere Quellen kontaktiert«, berichtete Boynton, der mit schnellen Schritten neben ihr herging. »Die internationalen Nachrichtendienste sind an der Sache dran. Wir haben uns auch an mehrere Antiterror-Thinktanks gewandt. Zentren für strategische Studien.«

»Und?«

»Bisher noch ohne Ergebnis. Aber irgendjemand wird schon etwas wissen.«

Sobald sie an ihrem Schreibtisch saß, nahm sich Ellen ihre persönlichen Kontakte vor. »Ich habe hier einige Namen für Sie. Leute, denen ich auf meinen Reisen begegnet bin. Journalisten und ein paar Querulanten, die wenig sagen, aber umso mehr hören.« Sie schickte ihm mehrere Kontakte aufs Handy. »Sagen Sie, dass Sie in meinem Namen anrufen. Entschuldigen Sie sich für die Störung und erklären Sie die Situation.«

»Wird gemacht. Sie müssten jetzt in den sicheren Videokonferenzraum umziehen. Die anderen warten schon.«

Sobald sie dort war, erschienen mehrere Gesichter auf dem Bildschirm.

»Willkommen, Madame Secretary.«

Die Konferenz der Fünfaugenallianz hatte begonnen.

Anahita Dahir saß an ihrem Schreibtisch im Außenministerium.

Sämtliche Mitarbeiter weltweit hatten den Auftrag erhalten, relevante Informationen an das Ministerium weiterzuleiten. Das Büro war erfüllt von einer beinahe frenetischen Energie, während Nachrichten gesendet und empfangen, verschlüsselt und entschlüsselt wurden.

Anahita ging die Unterlagen durch, die im Laufe der Nacht auf ihrem Schreibtisch gelandet waren, während sie gleichzeitig die Fernsehnachrichten verfolgte.

Sie gewann mehr und mehr den Eindruck, dass die internationale Presse über ein besseres Informationsnetzwerk verfügte als CIA, NSA oder das Außenministerium.

Ihre Gedanken wanderten unwillkürlich zu Gil, und sie überlegte, ob sie ihn vielleicht doch noch einmal kontaktieren sollte. Möglicherweise wusste er etwas. Allerdings hatte sie den Verdacht, dass diese Idee nicht ihrem Gehirn, sondern einer weitaus tiefer gelegenen Körperregion entsprang. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um solchen Impulsen nachzugeben.

Als relativ rangniedrige Mitarbeiterin im Pakistanreferat hatte Anahita keinen Zugriff auf Geheiminformationen. Über ihren Schreibtisch wanderten lediglich banale Nachrichten von weniger wichtigen Informanten, etwa darüber, wann wo was und mit wem verschiedene ausländische Politiker zu Mittag aßen.

Doch selbst diese Nachrichten mussten gründlicher gelesen werden als sonst.

Die Fünfaugenallianz war ein Zusammenschluss von Nachrichtendiensten der englischsprachigen Länder Australien, Neuseeland, Kanada, Großbritannien und den USA. Bis vor ihrem Amtsantritt hatte Ellen noch nie etwas von dieser Organisation gehört.

Aufgrund ihrer strategischen Lage deckten die Fünf Augen fast den gesamten Planeten ab. Doch auch hier hatte niemand etwas gehört. Keine Gerüchte im Vorfeld des Anschlags. Keine triumphierenden Bekenntnisse danach.

Neben Außenministerin Adams nahmen ihre ausländischen Amtskollegen sowie deren wichtigste Nachrichtendienstchefs an der Videokonferenz teil. Die fünf Geheimdienstler und fünf Außenminister berichteten zunächst kurz, was sie bisher über ihre jeweiligen Netzwerke in Erfahrung gebracht hatten: im Wesentlichen nichts.

»Gar nichts?«, fragte der britische Außenminister. »Wie ist das möglich? Über hundert Menschen sind tot, viele weitere verletzt. Das Zentrum von London sieht aus wie nach einem Blitzkrieg. Das war kein Feuerwerkskörper, das war eine riesige Bombe.«

»Sehen Sie es doch ein, Eure Lordschaft«, sagte der australische Außenminister, wobei er das letzte Wort unnötig stark betonte. »Es gibt keine Informationen. Wir haben Kanäle aus Russland, dem Nahen Osten und Asien angezapft. Wir suchen unermüdlich weiter, aber bislang herrscht Schweigen.«

Ein lautes Schweigen, dachte Ellen, die sich an die Worte des Generals erinnerte.

»Es muss ein verrückter Einzeltäter mit dem entsprechenden Know-how auf einem persönlichen Rachefeldzug gewesen sein«, meinte der neuseeländische Außenminister.

»Sehe ich genauso«, sagte der Direktor der CIA. »Wenn es eine ausländische Terrororganisation wie die El Kaida oder der IS war …«

»Oder die al-Shabaab-Miliz«, warf das neuseeländische Auge ein.

»Oder die Pathan«, ergänzte der Australier.

»Wollen Sie jetzt alle auflisten, die irgendwie infrage kommen?«, fragte der britische Außenminister. »Für so etwas fehlt uns die Zeit.«

»Was ich sagen wollte, war …«, setzte das australische Auge an.

Der Brite fiel ihm sogleich ins Wort. »Ja. Was wollten Sie sagen?«

»Also gut«, klinkte sich das kanadische Auge ein. »Es reicht jetzt. Wir sollten nicht untereinander streiten. Wir wissen doch alle, was der Kollege sagen wollte: Wenn eine von den Hunderten uns bekannten Terrororganisationen für die Bombe verantwortlich wäre, hätte sie sich längst dazu bekannt.«

»Und was ist mit denen, die wir nicht kennen?«, fragte der CIA-Direktor. »Mal angenommen, es gibt eine neue?«

»Na ja, die schießen nicht einfach wie Pilze aus dem Boden, oder?«, sagte die neuseeländische Geheimdienstchefin und wandte sich um Zustimmung heischend an ihren australischen Kollegen.

»Eine neue Organisation, der ein solcher Anschlag gelungen ist«, meinte der Australier, »würde nicht lange unbekannt bleiben. Sie würde es in alle Welt hinausposaunen.«

»Wäre es auch denkbar«, sagte Ellen, »dass sich niemand zu dem Anschlag bekannt hat, weil das gar nicht nötig war?«

Alle sahen sie an, als wären sie erstaunt, dass ein leerer Stuhl plötzlich das Sprechen erlernt hatte. Der britische Außenminister schnaubte verärgert. Wahrscheinlich fand er, dass die Neue ihre Zeit verplemperte, weil sie glaubte, irgendetwas Wichtiges zum Gespräch beitragen zu können.

Der amerikanische Geheimdienstchef wirkte peinlich berührt.

Doch Ellen ließ sich davon nicht beirren und erläuterte, was General Whitehead zu ihr gesagt hatte. Da die Theorie von einem General, noch dazu dem Vorsitzenden der Vereinigten Generalstabschefs, kam, schenkten die anderen ihr mehr Glauben, als wenn sie von Ellen Adams gekommen wäre. Ihr war es egal. Sie brauchte weder die Zustimmung noch den Respekt der anderen. Lediglich ihre Aufmerksamkeit.

»Madame Secretary«, sagte der britische Außenminister. »Ziel von Terroristen ist es, Terror zu verbreiten. Angst und Schrecken. Bescheidenheit in Bezug auf ihre Taten steht nicht in ihrem Regelbuch.«

»Ja, herzlichen Dank«, sagte Ellen.

»Vielleicht sind sie ja Fans von Alfred Hitchcock«, meinte die Kanadierin.

»Sicher«, sagte der britische Außenminister. »Oder von Monty Python. Aber jetzt weiter im Text …«

»Wie meinten Sie das?«, unterbrach Ellen ihn.

»Na ja, Hitchcock wusste, dass eine verschlossene Tür weitaus furchteinflößender ist als eine offene. Denken Sie an Ihre Kindheit – daran, wie es war, abends im Bett zu liegen, die Tür des Kleiderschranks anzustarren und sich zu fragen, was da wirklich drin ist. Diese Ungewissheit haben wir mit unserer Fantasie ausgefüllt, und seien wir ehrlich: Wir haben uns doch nicht vorgestellt, dass im Schrank eine gute Fee mit einem kleinen Hündchen auf dem Arm und einer Schüssel Pudding auf uns wartet.« Sie hielt inne, und Ellen schien es, als würde sie sie direkt ansehen. »Wenn jemand etwas wahrhaft Verheerendes plant, wird er uns nicht erlauben, die Tür zu öffnen und nachzuschauen, was es ist. Er allein bestimmt, wann sie aufgeht. Ihr General hat recht, Madame Secretary. Die wahre Natur des Terrors liegt im Ungewissen. Das eigentliche Grauen ist die Stille.«

Ellen saß da, ohne sich zu rühren. Doch gleich darauf zuckte sie auf ihrem Stuhl zusammen, als alle verschlüsselten Telefone auf einmal klingelten und das Schweigen im Raum durchbrachen.

Auf dem Bildschirm der Briten war zu sehen, wie jemand dem Außenminister etwas ins Ohr flüsterte.

»Gütiger Himmel«, flüsterte er, ehe er sich mit bestürzter Miene zu ihnen umdrehte, gerade als Boynton sich zu Ellen herunterbeugte.

»Madame Secretary, es gab eine Bombenexplosion in Paris.«

KAPITEL 5

Die Maschine landete mit zehnminütiger Verspätung am Frankfurter Flughafen, aber Nasrin Bukhari hatte trotzdem noch mehr als genug Zeit, ihren Bus zu erwischen.

Als das Flugzeug in Richtung Terminal rollte, sah sie auf ihre Uhr und stellte die aktuelle Ortszeit ein. Es war sechzehn Uhr drei. Sie hatte kein Telefon dabei, nicht einmal ein Prepaidhandy. Das Risiko wäre zu groß gewesen.

Atomphysiker, so hatte sie ihrem Mann, einem Lehrer, oft erklärt, waren von Natur aus extrem risikoscheu. Er hatte dann immer lachen müssen und sie darauf hingewiesen, dass es doch wohl kaum eine Arbeit gebe, die riskanter sei als ihre.

Was sie jetzt gerade tat, war so weit außerhalb ihrer Komfortzone, dass sie sich genauso gut auf einem anderen Planeten hätte befinden können.

Oder eben in Frankfurt.

Die anderen Flugzeugpassagiere verloren keine Zeit, ihre Telefone wieder einzuschalten. Ein Raunen ging durch die Kabine, einige stöhnten, andere schrien leise auf. Etwas Schlimmes musste passiert sein.

Dr. Bukhari wagte nicht, jemanden anzusprechen, sondern wartete, bis sie im Terminal war. Dort ging sie zu einem der Fernsehmonitore. Eine kleine Menschenmenge hatte sich davor versammelt, und selbst wenn sie der fremden Sprache mächtig gewesen wäre, hätte sie zu weit hinten gestanden, um etwas zu verstehen.

Aber sie sah die Bilder und konnte einige der Worte entziffern, die im Ticker am unteren Bildrand entlangliefen.

London. Paris. Szenen einer Zerstörung von beinahe apokalyptischem Ausmaß. Wie gelähmt starrte sie auf den Monitor. Sie wünschte, Amir wäre bei ihr. Nicht um ihr zu sagen, was sie tun sollte, sondern einfach nur, um ihre Hand zu halten. Damit sie nicht allein war.

Sie wusste, dass es sich um einen Zufall handelte. Es hatte nichts mit ihr zu tun. Das war völlig ausgeschlossen.

Und dennoch: Als sie sich abwandte, erhaschte sie einen Blick auf den jungen Mann, der mit ihr zusammen aus dem Flugzeug gestiegen war und nun wenige Meter von ihr entfernt stand.

Er schaute nicht auf den Bildschirm. Er hatte keine Augen für das Blutbad. Sein Blick ruhte auf ihr, und sie war sich ziemlich sicher, dass er wusste, wer sie war. Und dass er sie verachtete.

»Setzen Sie sich«, wies Präsident Williams sie an, der nur kurz von seinen Notizen aufblickte und dann gleich wieder den Kopf senkte.

Ellen Adams nahm auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz. Er war noch warm vom Oberhaupt der Nationalen Nachrichtendienste. Oder vielmehr von dessen Hinterteil.

Auf den Bildschirmen hinter ihr liefen verschiedene Fernsehsender. Alle zeigten entweder Korrespondenten, die über die Anschläge berichteten, oder Aufnahmen der Unglücksstellen.

Auf der Fahrt ins Weiße Haus, begleitet vom Sirenengeheul des diplomatischen Sicherheitsdienstes, hatte Ellen sich einen Überblick über die erschreckend spärlichen Nachrichten verschafft, die sie aus internationalen Sicherheitskreisen erhalten hatten. Die meisten Geheimdienste baten um Informationen und hatten selbst keine zu bieten.

»In zwanzig Minuten haben wir eine Kabinettssitzung«, eröffnete Williams das Gespräch. Er nahm seine Brille ab und starrte sie an. »Aber vorher muss ich mir ein Bild davon machen, was genau passiert ist und ob eine Gefahr für uns besteht. Was meinen Sie?«

»Ich weiß es nicht, Mr. President.«

Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, und von ihrem Platz auf der gegenüberliegenden Seite des riesigen Schreibtischs konnte sie hören, wie er tief einatmete. Wahrscheinlich versuchte er seine Wut im Zaum zu halten.

Es gelang ihm nicht, sein Ärger entlud sich explosionsartig, begleitet von einer Wolke aus Speicheltröpfchen.

»Verdammte Scheiße! Was soll das heißen?«

Er schleuderte ihr die Worte förmlich entgegen. So etwas hörte Ellen beileibe nicht zum ersten Mal, aber noch nie war sie das Ziel eines solchen Ausbruchs gewesen. Einer solch unfairen Behandlung.

Doch jetzt war nicht die Zeit, um über Fairness zu diskutieren.

Er schrie sie an, weil er sich Sorgen machte, das wurde ihr klar, während sie sich bemühte, nicht den Speichel von ihrer Wange zu wischen.

Ihr machte die Lage auch Angst, doch für den Präsidenten ging es um mehr. Er befürchtete, dass die nächsten Bilder aus New York oder Washington, Chicago oder Los Angeles kommen könnten, wenn er nicht vorsichtig, nicht schnell und nicht klug genug handelte.

Er war erst wenige Wochen im Amt, hatte immer noch Probleme, den Weg zur Bowlingbahn des Weißen Hauses zu finden, und jetzt das. Noch dazu hatte er es mit einer brandneuen Regierungsmannschaft zu tun. Alles kluge Männer und Frauen, zweifellos, aber ohne jede Erfahrung im Umgang mit Situationen wie dieser.

Doch weitaus schlimmer war, dass er einen bürokratischen Apparat geerbt hatte, der von den inkompetenten Ignoranten bevölkert wurde, die die vorherige Regierung hinterlassen hatte.

Er war nicht bloß besorgt. Die jüngsten Ereignisse hatten den Präsidenten der Vereinigten Staaten in einen nahezu permanenten Zustand der Angst versetzt. Und das ging nicht nur ihm so.

»Ich kann Ihnen sagen, was wir wissen, Mr. President. Die Fakten, keine Spekulationen.«

Er funkelte sie an. Seine umstrittenste Ministerin, das schwächste Glied in einer ohnehin schon sehr schwachen Kette.

Sie hatte ein Dossier auf dem Schoß liegen, das sie nun aufschlug. Sie rückte ihre Brille zurecht und begann daraus vorzulesen. »Die Detonation in Paris ereignete sich um fünfzehn Uhr sechsunddreißig Ortszeit. Die Bombe befand sich in einem Bus, der gerade die Rue du Faubourg Saint-Denis im zehnten …«

»Ja, das weiß ich doch alles. Die ganze Welt weiß es.« Er deutete auf die Fernsehbildschirme. »Geben Sie mir etwas Neues. Etwas, was uns weiterhilft.«

Die zweite Explosion lag kaum zwanzig Minuten zurück, und sie wollte ihn darauf hinweisen, dass sie noch gar keine Zeit gehabt hatten, Informationen zusammenzutragen. Doch auch das wusste er bereits.

Stattdessen nahm sie ihre Brille ab, rieb sich die Augen und sah ihn an. »Ich habe aber nichts.«

Die Luft war wie elektrisch aufgeladen von seinem Zorn.

»Gar nichts?«, fragte er rau.

»Wollen Sie, dass ich Sie anlüge?«

»Ich will, dass Sie halbwegs kompetent Ihre Arbeit machen.«

Ellen holte tief Luft und überlegte, was sie ihm sagen konnte, um ihn nicht noch weiter zu erzürnen und somit kostbare Zeit zu verlieren.

»Die Geheimdienste unserer Bündnispartner analysieren sämtliche Posts und Nachrichten. Sie durchforsten das Darknet auf der Suche nach Beiträgen in Foren und verborgenen Seiten. Wir sichten die Videoaufnahmen, um so vielleicht den Täter oder eine Zielperson ausfindig zu machen. Bisher konnte in London ein mögliches Ziel identifiziert werden.«

»Und das wäre?« Hellhörig geworden, beugte er sich nach vorn.

»Die Geological Society.« Während sie sprach, sah sie vor ihrem inneren Auge das Gesicht des Mädchens im oberen Fenster des Busses. Wie sie in Richtung Piccadilly schaute, in eine Zukunft, die es für sie nicht mehr gab.

Präsident Williams wollte etwas einwerfen, etwas Geringschätziges, das sah Ellen ihm an. Doch dann dachte er nach. Schließlich nickte er.

»Und in Paris?«

»Paris ist ein interessanter Fall. Man hätte erwartet, dass sich die Explosion an einem bekannten Ort ereignet. Der Louvre, Notre-Dame. Der Amtssitz des Präsidenten.«

Williams beugte sich interessiert vor.

»Aber der Bus der Linie 38 befand sich nicht einmal in der Nähe eines nachvollziehbaren Anschlagsziels. Es fuhr einfach nur eine breite Straße entlang. Es war keine Hauptverkehrszeit. Es gab keinen erkennbaren Grund für den Anschlag. Und trotzdem muss es einen gegeben haben.«

»Könnte die Bombe versehentlich hochgegangen sein?«, fragte er. »Zu früh oder zu spät?«

»Möglich wäre es. Allerdings verfolgen wir derzeit eine andere Theorie. Die Linie 38 führt an mehreren Bahnstationen vorbei. Der Bus war auf dem Weg zum Gare du Nord, als die Bombe detonierte.«

»Gare du Nord«, wiederholte Williams. »Dort fährt der Eurostar von London ein.«

Er war klüger, als Ellen ihm zugetraut hatte. Oder zumindest weiter gereist.

»Genau.«

»Sie glauben, in dem Bus saß jemand, der auf dem Weg nach London war?«

»Es wäre zumindest eine Möglichkeit. Wir analysieren die Aufnahmen von jeder Haltestelle, aber in Paris gibt es nicht annähernd so viele Überwachungskameras wie in London.«

»Nach den Vorfällen von 2015 müsste man ja eigentlich meinen …«, murmelte Williams. »Sonst noch Neuigkeiten aus London?«

»Bisher nicht. Keine Treffer, was eine mögliche Zielperson eines Attentats angeht, und leider trug fast jeder Fahrgast im Bus eine Tasche, einen Rucksack oder etwas anderes bei sich, das Sprengstoff hätte enthalten können. Zusätzlich zu den regulären Kanälen habe ich auch meine ehemaligen Kollegen bei den Nachrichtenagenturen gebeten, alles weiterzuleiten, was ihre Reporter und Informanten aufgeschnappt haben.«

Eine Pause trat ein. Sie dauerte gerade so lange, dass Barbara Stenhauser sich bemüßigt fühlte, von ihrem Platz auf dem Sofa aufzublicken, von wo aus sie sowohl die Unterredung als auch den Strom eingehender Informationen überwachte.

»Schließt das Ihren Sohn mit ein?«, fragte Williams. »Wenn ich mich recht erinnere, ist er ja recht gut vernetzt.«

Die Luft zwischen ihnen gefror zu Eis. Der fragile Waffenstillstand, den sie geschlossen hatten, war dahin.

»Mr. President, ich finde nicht, dass Sie meinen Sohn in die Sache mit hineinziehen sollten.«

»Und ich, Madame Secretary, finde nicht, dass Sie eine direkte Frage von Ihrem Oberbefehlshaber ignorieren sollten.«

»Er arbeitet nicht für mein altes Unternehmen.«

»Das war weder meine Frage noch das Thema.« Williams’ Stimme klang gepresst. »Er ist Ihr Sohn. Er hat Verbindungen. Nach den Ereignissen vor ein paar Jahren weiß er vielleicht etwas.«

»Ich weiß noch sehr gut, was damals passiert ist, Mr. President«, sagte sie eisig. »Sie brauchen mich nicht daran zu erinnern.«

Feindselig starrten sie einander an. Barbara Stenhauser wusste, dass es vermutlich klug gewesen wäre, dazwischenzugehen und das Gespräch wieder in konstruktive Bahnen zu lenken.

Aber das tat sie nicht. Sie war neugierig, wie die Konfrontation weitergehen würde. Wenn das Gespräch schon nicht konstruktiv war, so wäre es vielleicht wenigstens aufschlussreich.

»Wenn er etwas über die Anschläge wüsste, hätte er es mir gesagt.«

»Hätte er das?«

Die Kluft zwischen ihnen war zu einem gähnenden Abgrund angewachsen. Beide hatten zunächst eine Weile schwankend am Rand gestanden, doch nun waren sie in die Tiefe gestürzt.

Barb Stenhauser war stets davon ausgegangen, dass der Präsident Ellen Adams nicht leiden konnte, weil sie mit ihrer gewaltigen Medienmaschinerie seinen direkten Rivalen unterstützt hatte, ohne eine Gelegenheit auszulassen, Doug Williams zu demütigen. Sie hatte ihn lächerlich gemacht, ihn als inkompetent, manipulativ und nicht regierungsfähig hingestellt.

Als einen Feigling.

Sie hatte sogar einen Wettbewerb veranstaltet und die Leserinnen und Leser dazu aufgerufen, sich Anagramme zu seinem Namen auszudenken.

Aus Doug Williams wurde »Aglow Dim Luis«, und nachdem er die Vorwahlen in Iowa verloren hatte, »Glum Iowa Slid«.

Diese Anagramme verfolgten ihn immer noch. Politische Gegner murmelten sie hinter vorgehaltener Hand. Auch Ellen Adams war seine Gegnerin gewesen. Und wie es schien, hatte ihre Ernennung zur Außenministerin daran nichts geändert.

»Al Go Mud Swill.«

Stenhauser war so sehr auf ihren Boss fokussiert gewesen, dass sie sich nie die Frage gestellt hatte, weshalb Adams den Präsidenten so sehr verabscheute.

Während sie die beiden nun beobachtete, erkannte sie, dass sie ihre Gefühle unterschätzt hatte. Hier ging es nicht um bloße Antipathie. Es war keine gewöhnliche Wut, die das Oval Office erfüllte. Es war Hass, so extrem, dass die Stabschefin befürchtete, er könnte mit seiner Wucht die Fensterscheiben zum Bersten bringen.

Sie fragte sich, worum es ging. Was war vor ein paar Jahren vorgefallen?

»Fragen Sie ihn«, knurrte Präsident Williams. »Jetzt sofort. Sonst sind Sie gefeuert.«

»Ich weiß nicht, wie.« Ellens Wangen brannten, als sie dies eingestand. »Wir stehen nicht miteinander in Kontakt.«

»Dann stellen Sie den Kontakt her.«

Sie ließ sich vom Chef des Sicherheitsteams, der draußen vor der Tür stand, ihr Smartphone aushändigen und schickte Betsy eine Nachricht, in der sie sie bat, ihren Sohn zu kontaktieren und ihn zu fragen, ob er irgendetwas über die Bombenanschläge wusste.

Bereits wenige Augenblicke später kam eine Antwort.

»Zeigen Sie her«, befahl Williams und hielt die Hand auf.

Ellen zögerte, ehe sie ihm das Telefon reichte. Williams las die Nachricht und runzelte die Stirn.

»Was soll das bedeuten?«

Jetzt war sie diejenige, die die Hand nach dem Telefon ausstreckte. »Das ist ein Code, den meine Beraterin und ich uns in der Schule ausgedacht haben, um sicherzugehen, dass wir auch wirklich die sind, die wir zu sein vorgeben.«

Auf dem Display war zu lesen: Kommt eine unlogische Schlussfolgerung in eine Bar …

Er gab ihr das Handy zurück. »Intellektueller Schwachsinn«, brummte er.

Ignorantes Arschloch, dachte Ellen, während sie eine Antwort tippte. Bei starkem Wind können sogar Truthähne fliegen. Dann legte sie das Telefon auf den Tisch. »Es könnte eine Weile dauern. Ich weiß nicht, wo er sich gerade aufhält. Er könnte überall auf der Welt sein.«

»Zum Beispiel in Paris«, sagte Williams.

»Wollen Sie damit etwa andeuten …«

»Mr. President«, meldete sich Stenhauser zu Wort. »Es wird Zeit für die Kabinettssitzung.«

Hin und wieder blickte Anahita Dahir auf, um die Fernsehbilder zu betrachten, doch meistens nur, um den Newsticker am unteren Rand des Bildschirms zu lesen. Sie wollte sehen, ob die Presse mehr wusste als sie – was kein Kunststück gewesen wäre.

Die erste Bombe in London war um zwei Uhr siebzehn in der Nacht hochgegangen, die zweite in Paris vor weniger als einer Stunde, um neun Uhr sechsunddreißig.

Doch während sie die ewig gleichen Aufnahmen der Bombenexplosionen anschaute, die in Endlosschleife über den Bildschirm flimmerten, wurde Anahita klar, dass das keinen Sinn ergab. Es war hell in London, es konnte also kaum mitten in der Nacht gewesen sein. Und in Paris sah es nicht aus wie zur Hauptverkehrszeit.

Dann erkannte sie ihren Denkfehler und schüttelte über sich den Kopf. Die amerikanischen Nachrichtensender hatten die Zeit in Ostküstenzeit umgerechnet. In Europa war es …

Sie rechnete rasch nach. Dann erstarrte sie. Stocksteif saß sie da und blickte ins Leere.

Voller Entsetzen begriff sie, was sie schon viel früher hätte erkennen sollen.

Sie begann hektisch Unterlagen von ihrem Tisch zu fegen.

»Was machst du denn da?«, fragte die Mitarbeiterin am Nachbartisch. »Stimmt was nicht?«

Doch Anahita hörte nicht zu. »Bitte, bitte, sei noch da«, murmelte sie vor sich hin.

Ja. Da war er.

Sie griff nach dem Zettel, aber ihre Hände zitterten so heftig, dass sie ihn wieder auf den Schreibtisch legen musste, um ihn lesen zu können.

Es war die Abschrift der E-Mail, die sie am Abend zuvor erhalten hatte. Der mysteriöse Code. Sie schnappte ihn sich und rannte damit zum Büro ihres Vorgesetzten.

Er war nicht da.

»In einer Besprechung«, sagte seine Assistentin.

»Wo? Ich muss ihn sprechen. Es ist dringend.«

Die Assistentin wusste, dass Anahita noch sehr neu war, und wirkte skeptisch. Sie deutete nach oben – gen Himmel oder in den siebten Stock, wo sich die Mahogany Row befand. »Sie wissen doch selbst, was hier gerade los ist. Ich werde ihn ganz bestimmt nicht aus einer Besprechung mit dem Stabschef holen.«

»Das müssen Sie aber. Es geht um eine Mail, die gestern Nacht reinkam. Bitte.«

Die Assistentin zögerte, doch als sie die Panik im Gesicht der jungen Mitarbeiterin sah, nahm sie das Telefon und wählte eine Nummer. »Es tut mir sehr leid, Sir, aber Anahita Dahir ist hier. Eine der Neuen im Pakistanreferat, genau. Sie sagt, sie hat eine wichtige Nachricht, die gestern Abend per Mail gekommen ist.« Die Assistentin lauschte eine Weile, dann sah sie Anahita an. »Ist es dieselbe Nachricht, die Sie ihm gestern bereits gezeigt haben?«

»Ja, ja.«

»Ja, Sir.« Sie lauschte abermals, nickte und legte auf. »Er sagt, er kommt zu Ihnen, wenn er zurück ist.«

»Und wann wird das sein?«

»Wer weiß das schon so genau?«

»Nein. Nein, nein, nein. Er muss sie sich jetzt ansehen.«

»Dann lassen Sie den Zettel hier. Ich zeige ihn ihm, sobald er wieder da ist.«

Anahita presste den Zettel an ihre Brust. »Nein. Das mache ich selbst.«

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